Der Tag 4 - Momentum Kongress

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Der Tag 4 - Momentum Kongress
4
Der Tag

          Zeitung zum Kongress

                                 Kritik
Der Tag 4 - Momentum Kongress
Kritik

  4
 Der Tag

                                                                                             Momentum16:
                                                                                             Ein Ausblick

Inhalt
                                             POLITISCHER
                                             SPRENGSTOFF.
                                             Zwei Trackleiterinnen und eine
                                             Kongressleiterin diskutieren
                                             bei Moment am Mittagstisch                      Das Momentum15 neigt              Entwicklung einer egalitären
                                             über Herausforderungen und                      sich dem Ende zu. Doch kein       Gesellschaft nachgedacht und
                                             Perspektiven der Arbeit.                        Grund zur Panik! Auch nächs-      diskutiert.
                                                       ... mehr auf Seite 4 & 5
                                                                                             ten Herbst treffen wieder rund
                                                                                             300 Wissenschafter_innen, po-     Eingeladen sind all jene, die
                                                                                             litisch Engagierte sowie Men-     sich gerne Gedanken über die
                                                                                             schen aus unterschiedlichen       Weiterentwicklung       unserer
                                                                                             gesellschaftlichen Bereichen      Gesellschaft aus einer progres-
                                             FREIE
                                                                                             beim Momentum-Kongress            siven Perspektive machen. Die
                                             ZEIT.
                                                                                             zusammen, um gemeinsam            Form der Beiträge kann vari-
                                             Arbeit als Ausbeutung: Wir ar-
                                             beiten immer mehr.                              über progressive Alternativ-      ieren: Neben Forschungspa-
                                                                                             konzepte nachzudenken.            pieren und Policy Papers sind
                                                          ... mehr auf Seite 6 & 7                                             auch Praxisberichte aus dem
                                                                                             Auf Kritik als Generalthema       Arbeitsalltag gerne gesehen.
                                                                                             dieses Jahr folgt 2016 Macht.
                                                                                             Von 13. bis 16. Oktober wird      Der Call for Papers läuft ab so-
                                                                                             über Vorraussetzungen für die     fort bis 14. April 2016.

                                             WAS IST
                                             KRITIK?                                         Abreiseinformation:
                                             Rahel Jaeggi und Tilo Wesche
                                                                                             Für alle, die sich für den Mo-    Die Bushaltestelle befindet
                                             versuchen Antworten zu liefern.
                                                                                             mentum-Bus nach Wien über         sich am Ende der Seestraße
                                                              ... mehr auf Seite 8           Linz angemeldet haben, ist die    gleich neben dem Schranken.
                                                                                             Abreise um 12.00 Uhr am
                                                                                             Parkplatz am Ende der See-        Bus: SV170 nach Steeg Gosau
                                                                                             straße. Falls jemand doch nicht   über Bad Goisern nach Bad
                                                                                             mit dem Bus zurück fährt aber     Ischl
                                                                                             angemeldet ist, bitte beim Or-
                                                                                             ganisationsteam melden (es        Abfahrtszeiten:
                                                                                             gibt bereits eine Warteliste).    10.55 Uhr
                                                                                                                               12.21 Uhr
                                                                                             OEBB-Reisende:                    12.55 Uhr
                                                                                             ACHTUNG! Boots-           bzw.    14.21 Uhr
                                                                                             Schienenersatzverkehr!

IMPRESSUM:
Momentum - Verein für kritische Wissenschaft und Politik
Redaktion: Flora Eder (FE), Anna Ellmer (AE), Vanessa Gaigg (VG), Johanna Griesmayr (JG), Amina Lehner (AL)
Layout: Susi Aichinger, Fotos: Org-Team, Clemens Sauerwein, Amina Lehner
Kritik

Hinter den Kulissen
Während in den Tracks fleißig präsentiert, disku-
tiert und Kritik geübt wird, sorgt das Organisa-
tionsteam rund um Sabine Wandl für einen rei-
bungslosen Ablauf des Kongresses.
Sie sind die ersten die Aufste-      touren und Fragen aller Art –
hen und die letzten, die am          von A wie Abreise, bis Z wie
Abend ins Bett kommen. Das           Zigaretten. Auch bei kleineren
Org-Team ist rund um die Uhr         und größeren Problemen hel-
im Einsatz. In aller Frühe wird      fen sie gerne weiter. Sei es ein
die Zeitung ausgetragen, denn        Pflaster für kleine Wehweh-
das Frühstück ist derMoment          chen oder Kopfwehtablette
des Tages, da darf eine qua-         nach durchdiskutierten Näch-
litativ hochwertige Lektüre          ten – das Org-Team ist da,
natürlich nicht fehlen. Enden        wenn man es braucht.
tut ihr Tag erst, wenn alle Teil-
nehmer_innen wieder zurück           Als einzige Angestellte des
ins eigene Bett gefunden haben       Vereins Momentum hat Sa-
und die druckfrische Zeitung         bine das ganze Jahr über viel
für den nächsten Tag bereit          zu tun. Bereits eineinhalb Jah-
liegt. Aber auch dazwischen          re im Vorfeld beschließt der
gibt es immer was zu tun.            Vorstand die inhaltliche Aus-
                                     richtung des nächsten Kon-
Während die An- und Abreise-         gresses. Operativ ist es dann
tage Großkampftage sind, sieht       sie, die alles möglich macht:
man das Org-Team während             Von der Keynote bis hin zum        tag Abend vor Ort, damit alles    Das sechsköpfige Org-Team ar-
dem Kongress auch mal ent-           Momentum-Bus ist sie für die       steht, bevor die ersten Busse,    beitet rund um die Uhr im Hin-
spannt in der Sonne stehen –         Organisation verantwortlich.       Autos und Boote mit Teilneh-      tergrund, damit der Kongress ein
allzeit bereit versteht sich. Für    Gemeinsam mit Wolfgang und         mer_innen an Board in Hallsatt    Erfolg wird.
Abholfahrten, Versorgungs-           Demir ist sie schon seit Mon-      eintreffen.              (JG)

Jill ist anders
Jill ist neu in der Klasse und was   tersexualität auseinandersetzt.    büchern die Existenz von
                                                                                                            Kritik für
                                                                                                             Kinder
sie „anders“ macht, ist, dass sie    Geschrieben für den Bildungs-      zwischengeschlechtlichen
weder Junge noch Mädchen ist.        kontext - für Kindergarten und     Menschen zu thematisieren.
Jill ist intersex oder: zwischen-    Volksschule - handelt es auch      Es erklärt auf altersgerechte,
geschlechtlich. Was bedeutet         genau dort. Als Jill neu in die    schöne und einfache Weise,
das? Gemeinsam begeben sich          Klasse kommt, versuchen die        dass es Menschen gibt, die
die Kinder auf die Suche nach        anderen Kinder, ihn einem der      weder Junge noch Mädchen
Antworten auf die Fragen: Was        beiden Geschlechter zuzuord-       sind und dass „eindeutige“ Zu-
macht Jungen, was macht Mäd-         nen. Doch das ist schwieriger      weisungen und das System der
chen aus? Kann mensch ein-           als gedacht: Denn in Stereo-       Zweigeschlechtlichkeit     (für
fach „dazwischen“ sein?              type und Geschlechterrollen        Kinder) nicht notwendig sind.
                                     lässt sich keines der Kinder in                              (AL)
Mit Jill ist anders hat Ursula       der Klasse wirklich zwängen.       Jill ist anders,
Rosen das erste deutschspra-                                            Ursula Rosen
chige Kinderbuch verfasst,           Jill ist anders zeigt, dass es     Salmo Verlag, 44 Seiten
das sich mit dem Thema In-           nicht schwer ist, in (Kinder)      für Kinder ab 4 Jahren
                                                                                                                                    SEITE 3
Kritik

  4
Der Tag

                                       „Das ist
                                       Sprengstoff“
                                       Bei Moment am Mittagstisch diskutierten Barbara
                                       Blaha, Sandra Breiteneder und Katja Mayer über die
                                       zunehmende Prekarisierung der Arbeitswelt, die Si-
                                       tuation von AsylwerberInnen am Arbeitsmarkt und
                                       wie eine subversive Kritik am Arbeitsbegriff ausse-
                                       hen könnte.

                                                                          Barbara Blaha: Auch in Kultur      Barbara: Das Prekariat hat sich
                                                                          und Wissenschaft kommt es          ausgeweitet und erreicht mitt-
                                                                          zu einer Destabilisierung von      lerweile auch gebildete Schich-
                                                                          Arbeitsverhältnissen. Werk-        ten. Es reicht von Working
                                                                          verträge werden zum Regel-         Poor, der Billa-Angestellten bis
                                                                          vertrag, um Lohnnebenkosten        hin zur Uni-Absolventin.
                                                                          zu verhindern. Und Arbeiten
                                                                          im Wissenschaftsbereich – das      Sandra: Hinzu kommen Ent-
                                                                          muss man sich erst leisten kön-    lassungswellen, die den Druck
                                                                          nen. Vollzeitanstellungen vor      erhöhen. Und neue Formen
                                                                          30 oder 35 Jahren sind unrea-      der Heimarbeit, von gering wie
                                                                          listisch. Permanent ohne Pers-     gut ausgebildeten Personen.
                                                                          pektive und immer am Sprung
   Barbara Blaha ist politische Lei-   derMoment: Welche aktuellen        zu sein, bringt auch eine hohe     Vor welche Probleme stellt
   terin des Momentum-Kongres-         Tendenzen in eurem persön-         psychische Belastung mit sich.     Prekarisierung die Gewerk-
   ses, der heuer zum achten Mal       lichen Arbeitsumfeld stellt ihr                                       schaften?
   stattfindet.                        derzeit fest?                      Katja Mayer: Im Wissen-
                                                                          schaftsbereich kommt die           Sandra: Es ist wichtig, die
                                       Sandra Breiteneder: Als            Geschlechterschere        hinzu.   Leute zu organisieren, denn
                                       GPA-djp bemerken wir eine          Eine weitere neue Herausfor-       das Problem ist, dass das ei-
                                       Prekarisierung der Arbeit:         derung bringen die Bachelor-       gentlich nicht die Kernschich-
                                       Arbeitsverhältnisse     werden     Abschlüsse: Was macht man          ten der Gewerkschaften sind.
                                       gestrichen, Vollzeitarbeit ver-    damit am Arbeitsmarkt? Zu-         Für uns stellt sich die Frage:
                                       hindert, Flexibilisierung gefor-   mindest ein positiver Aspekt       Wie können sie inkludiert
                                       dert. Bei Kollektivvertragsver-    ist zu bemerken: Die jungen        werden in Arbeitsverhältnisse,
                                       handlungen wird die Situation      Generationen gehen emanzi-         in Kollektivvertragslöhne und
                                       immer härter. Zusätzlich zur       pierter mit ihren Beiträgen um     Sozialversicherungssysteme?
                                       Prekarisierung kommt die           und kämpfen für eine Aner-
                                       Tendenz im grenznahen Be-          kennung ihrer Arbeitsleistung.     Ähnliches gilt vermutlich auch
                                       reich, in Billig-Nachbarlän-       Diese Anerkennung drückt           für Menschen auf der Flucht.
                                       dern zu produzieren. Wien ist      sich aber selten finanziell aus.   Wie öffnet man den Arbeits-
                                       daher betroffen, wenn in der                                          markt für AsylwerberInnen?
                                       Slowakei der Mindestlohn bei       Inwiefern unterscheidet sich
                                       zwei Euro liegt – für uns be-      das heutige Prekariat von frü-     Katja: So wie Flüchtlinge
                                       deutet das großen Druck.           heren Formen?                      derzeit in den Medien darge-

SEITE 4
Kritik

stellt werden, macht man es        Barbara: Mich regt das wahn-
sich besonders schwer. Man         sinnig auf. Ich will überhaupt
sieht nur Mobs, die Barrika-       nicht, dass auch nur einer eine
den durchbrechen und von           Vorlesung verpasst oder sei-
PolizistInnen in voller Moni-      ne Arbeitszeit dafür hergeben
tur begleitet werden. So kann      muss und sich das Innenmi-
man keinen Rückhalt bekom-         nisterium und die Regierung
men. Es geht nicht nur um          zurücklehnen und zuschauen.
Spezifika des Arbeitsmarktes,      Wieviel Arbeitszeit da verlo-
sondern auch um Image und          ren geht, bei der Arbeitslosen-
Repräsentanz.                      quote! Das ist der Kernbereich
                                   der Politik und staatliche Ver-
Barbara: Das für mich wich-        antwortung, die nicht wahrge-     Jahren aber versucht die GPA-      Sandra Breiteneder ist Mitar-
tigste Argument in der Debatte     nommen wird. Dass die Regie-      djp, Leute in prekären und fle-    beiterin des Internationalen Se-
ist: Arbeit schafft Perspektive    rung hier so versagt, entsetzt    xiblen Arbeitsverhältnissen zu     kretariats der Gewerkschaft für
und Integration. Wer keinen        mich.                             vernetzen.                         Privatangestellte, Druck, Journa-
Zugang zum Arbeitsmarkt hat,                                                                            lismus, Papier (GPA-djp).
wird niemals in dieser Gesell-     Barbara, du hast im Zuge dei-     Gibt es Bestrebungen, arbeits-
schaft ankommen. Das ist der       ner Eröffnungsrede gesagt,        lose Menschen einzubinden          Katja Mayer ist Soziologin und
Schlüsselpunkt.                    dass Kritik für dich geistige     und zu organisieren?               arbeitet an der Schnittstelle
                                   Subversion ist. Was heißt das                                        Wissenschaft - Technik - Gesell-
Katja: Das sagt ja sogar die In-   im Bezug auf Arbeitskritik?       Sandra: Es ist eigentlich nicht    schaft. Sie lehrt Wissenschafts-
dustriellenvereinigung!                                              unsere Zielgruppe. Mitglied        und   Technikforschung       sowie
                                   Barbara: Wir müssen die Dis-      kann man immer sein, aber          Webwissenschaften an den Uni-
Sandra: Innerhalb der Gewerk-      kussion innerhalb der Linken      es ist eine andere Sphäre. Ich     verstitäten Wien und Linz.
schaftsbewegung wird das dif-      erweitern. Es gibt zum einen      weiß allerdings, dass die größ-
ferenziert diskutiert. Aber die    das klassisch-sozialdemokra-      te englische Gewerkschaft
Position der GPA-djp ist klar:     tische      Arbeitsverständnis:   arbeitslose Menschen organi-
Wir sind für die Öffnung des       Wenn du arbeitest, bist du et-    siert. Sie werden community
Arbeitsmarktzugangs. Auch          was wert. Da reden wir immer      members gennant und müssen
weil Spracherwerb vor allem        über Lohnarbeit. Wir müssen       nur einen geringen Beitrag
durch den Arbeitsplatz ver-        das System der 38,5 Stunden-      zahlen. Sie machen sehr viel
mittelt wird. Allerdings werden    Jobs neu denken. Da sind wir      sogennante direct actions und
Ängste geschürt, Asylwerbe-        mitten drinnen in der Debat-      vertreten Beschäftigte, die kei-
rInnen seien LohndrückerIn-        te um Arbeitszeitverkürzung.      ne Aktionen machen können,
nen. Das darf sich nicht reali-    Außerdem: Was wird als Ar-        weil die Gewerkschaftsrechte
sieren, denn dann würde man        beit definiert, was nicht? Wie    so in Gefahr sind.
Ängsten, die da sind, eine reale   ist es um die Sichtbarkeit von
Grundlage geben. Ein Grund         Arbeit im unbezahlten Bereich     Barbara: Nicht blöd! Man
mehr, zu verhindern, dass die      bestellt? Darüber gibt es viel    muss sich überhaupt darüber
Leute ausgebeutet werden.          zu wenig Diskussion. Gerade       Gedanken machen, was man
                                   in Bezug auf die Gewerkschaft,    mit strukturell zehn Prozent
Engagement wie jenes der           die ja – was ich gut verstehen    Arbeitslosen macht. Die Zei-
Train-of-Hope-Bewegungen           kann – noch immer sehr klas-      ten der Vollbeschäftigung sind
wird vor allem von Menschen        sisch organisiert ist.            vorbei. Sie werden aus der
getragen, die sich die Zeit neh-                                     Gesellschaft ausgeschlossen.
men konnten und nicht voll-        Sandra: Die Gewerkschaft ist      Was heißt das für ihren Selbst-
ständig im Erwerbsleben stan-      eben die Organisation der Ar-     wert und Identität? Wir haben
den. Immer mehr Menschen           beitnehmerInnen. Sie vertritt     nichts für sie und richten ih-
haben keine Zeit, sich neben       die Interessen ihrer Mitglie-     nen trotzdem ständig aus, dass
der Lohnarbeit zu engagieren.      der und es geht nicht wirklich    sie selber Schuld seien. Das ist
Wie geht man damit um?             darüber hinaus. Seit ein paar     Sprengstoff.       (FE, VG)

                                                                                                                                     SEITE 5
Kritik

  4
 Der Tag
                                    Die Freiheit,
                                    die sie meinten
                                    „Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und
                                    acht Stunden Freizeit und Erholung.“

                                                                     ist zentrales Element im In-      doch in der Regel letzteren
                                                                     teressenskonflikt     zwischen    zugute. Das zeige sich auch
                                                                     Unternehmer_innen und Ar-         in der Paradoxie „mehr Druck
                                                                     beitnehmer_innen. Mit Zeit        durch mehr Freiheit“, von der
                                                                     als zentralem Moment von          moderne Arbeitsverhältnis-
                                                                     Verteilungskämpfen und der        se zunehmend geprägt seien.
                                                                     damit einhergehenden Reg-         Hielscher und Hildebrandt
                                                                     lementierung und Verrecht-        folgend sprechen Berger und
                                                                     lichung von Arbeitszeit be-       Ziolkowski von einem „Fle-
                                                                     schäftigen sich auch Christian    xibilisierungsparadox“. Das
                                                                     Berger und Maria Ziolkowski       Recht zur selbstbestimm-
                                                                     in ihrem Beitrag. Im Zent-        ten Zeiteinteilung kollidiert
                                                                     rum steht dabei das ambi-         demnach mit steigenden
                                                                     valente Verhältnis zwischen       Arbeitsanforderungen.     Die
                                                                     Zwang und Freiheit, zwi-          scheinbar gewonnene Freiheit
                                                                     schen Fremdherrschaft und         entpuppt sich als Zwang zur
                                                                     Selbstbestimmung, das jede        Selbstoptimierung.
                                                                     Debatte um Regulierung und
 Der durchschnittliche Stunden-     Was während der frühen           Deregulierung von Arbeits-        Während sich die Regulierung
 lohn bei Amazon Mechanical Turk    1830er-Jahre als zentrale        verhältnissen seit jeher be-      von Arbeitszeit in fordisti-
 beträgt weniger als zwei Dollar    Forderung der britischen Ge-     gleitet. Dabei setzen sie sich,   schen Großbetrieben relativ
 pro Stunde. Rund 20 Prozent ar-    werkschaftsbewegung seinen       Michel Foucault folgend, mit      einfach gestalten ließ, steht
 beiten auf der Plattform haupt-    Ausgang nahm, entspricht in      „Herrschafts- und Selbsttech-     die Politik heute vor neuen
 beruflich. Diese so genannten      Österreich auch heute noch       niken“ auseinander, denen im      Herausforderungen.       Neue
 Powerturker erledigen 80 Pro-      der „Normalarbeitszeit“. Eine    Zusammenhang mit Entgren-         (informations)technologische
 zent der Arbeit. Um zumindest      Norm, die von der fortschrei-    zung, Subjektivierung und         und arbeitszeitrechtliche Ent-
 auf das Niveau des US-Mindest-     tenden Prekarisierung zuneh-     Flexibilisierung von Arbeit       wicklungen haben einen un-
 lohns zu kommen, benötigen sie     mend ausgehöhlt wird und         eine zentrale Rolle zukomme.      überschaubaren Graubereich
 allerdings zwei Jahre Erfahrung.   aus der arbeitsrechtliche Be-    Mittels Arbeitsvertrag über-      zwischen emanzipatorischer
 (vgl. Warter, 2015)                stimmungen hervorgegangen        lassen Arbeiternehmer_innen       Selbstbestimmung und be-
                                    sind, die immer mehr Men-        – unter zuvor verhandelten        trieblicher Rationalisierung
                                    schen keinen ausreichenden       Bedingungen und im Rahmen         geschaffen, der einer sinnvol-
                                    Schutz vor ausbeuterischen       arbeitsrechtlicher     Bestim-    len Reglementierung erhaben
                                    Arbeitsverhältnissen bieten      mungen – ihre Arbeitskraft        zu sein scheint. Wie in vie-
                                    können.                          ihren       Arbeitgeber_innen.    len anderen Bereichen auch,
                                                                     Da dieses Vertragsverhältnis      hinkt hier die Gesetzgebung
                                    Der Kampf um die Dauer und       nie frei von Herrschaft sein      der Realität hinterher.
                                    Einteilung der Arbeitszeit hat   könne, sind Flexibilisierungs-
                                    die Arbeiter_innenbewegung       möglichkeiten immer kritisch      Dass die Grenzen zwischen
                                    von Beginn an begleitet und      zu betrachten, kommen sie         Freizeit und Arbeitszeit zu-

SEITE 6
Kritik

nehmend        verschwimmen,       zeige. Bezahlt wird nur, was
ist eine Erkenntnis, die für       gefällt. Abnahmegarantie gibt
viele schon längst selbstver-      es keine, direkte Kommunika-
ständlicher Alltag geworden        tion mit den Arbeitgeber_in-
ist. Im Zeitalter ständiger Er-    nen genauso wenig.
reichbarkeit ist der Grad zwi-
schen flexibler Zeiteinteilung,    Warter beschreibt ein neues
Homeoffice und ausbeuteri-         Prekariat, das ähnlich orga-
scher Selbstoptimierung ein        nisiert sei, wie das vorindus-
schmaler. Die existenzielle        trielle Verlagswesen. Neben
Notwendigkeit zur Verwer-          zahlreichen Parallelen sieht
tung der eigenen Arbeitskraft      er den zentralen Unterschied
lässt vielen keine Alternative     darin, dass an die Crowdwor-
zum Drahtseilakt Prekariat,        ker_innen nicht mehr nur die
während zeitgleich sozial-         Herstellung von Gütern, son-
staatliche Sicherheitsnetze an     dern Arbeiten der gesamten
Tragfähigkeit verlieren.           Wertschöpfungskette – von
                                   Forschung und Entwicklung
Kommunikationstechnologi-          über die Produktion bis hin
en ermöglichen mittlerweile        zum Marketing und Vertrieb
sogar die vollkommene Ent-         – übernehmen. Diese Ähn-
grenzung von Arbeit. Eine der      lichkeiten in der Organisati-
Schattenseiten der digitalen       on führen auch zu ähnlichen
Vernetzung beleuchtet Johan-       Problemen. Sogar die soziale
nes Warter in seinem Beitrag.      Zusammensetzung der da-
Crowdworking als „digita-          maligen Heimarbeiter_innen
le Akkordarbeit“ lässt nicht       ähnelt jener der heutigen        schaften neuer Technologien       Auch bei der Debatte um länge-
nur zeitliche und räumliche        Crowd: überwiegend Neben-        bedienen müssen, um neuen         re Öffnungszeiten im Handel sei
Dimensionen verschwinden,          erwerbsarbeiterinnen – mit       Ausbeutungsverhältnissen zu       das emanzipatorische Moment
sondern macht sogar die Ar-        kleinem i.                       begegnen. Auf arbeitsrechtli-     trügerisch. Frauen, die mit 70
beiter_innen selbst fast gänz-                                      cher Seite bleibe vorerst abzu-   Prozent die deutliche Mehrheit
lich unsichtbar. Dem Prinzip       Zur Verbesserung der Ar-         warten, ob Crowdworker_in-        in diesem Sektor stellen, würden
des Taylorismus folgend, wer-      beitsbedingungen      bietet     nen vom Heimarbeitsgesetz         von einer Flexibilisierung nicht
den Arbeiten in kleine Ein-        Warter zwei Lösungsansätze:      aus dem Jahr 1918 erfasst         profitieren. U.a. weil sie immer
zelteile zerlegt und in „digital   Recht und kollektive Maß-        werden. Eine nachhaltige und      noch den Großteil der reproduk-
sweatshops“, wie Amazon            nahmen. Am Beispiel von          sinnvolle Regulierung dieses      tiven Arbeit übernehmen. (vgl.
Mechanical Turk oder Click-        Turkopticon – einem Tool,        neuen Niedriglohnsektors sei      Berger/Ziolkowski, 2015)
worker, komplett entpersona-       mit dem Crowdworker_in-          laut Warter nur durch ein in-
lisiert von der Reservearmee       nen ihre Arbeitgeber_innen       ternational koordiniertes Vor-
des 21. Jahrhunderts abgear-       bewerten können – zeigt er       gehen möglich.
beitet. Stundenlohn? Fehlan-       auf, dass sich auch Gewerk-                                 (JG)

Lösungen zum kritischen Rätselspaß:
1. FRANKFURTER                     7. RANICKI                        13. KARLPOPPER
2. SCHIEDSRICHTER                  8. HEIDEN                         14. NEINQUARTERLY
3. MICHELIN                        9. CRITICALMASS                   15. SATIRE
4. PHASE                           10. BETTE                         16. MARX
5. DAVIS                           11. BOBDYLAN                      17. SANDWICH
6. ASYLKRITIK                      12. KANT                          18. CRITICALWHITENESS

                                                                                                                                 SEITE 7
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                   Kritik

                                         Was ist Kritik?
Der Tag                                  Alles könnte auch anders sein. Diese utopische
                                         Voraussetzung steckt in jeder Kritik - führen Ra-
                                         hel Jaeggi und Tilo Wesche in ihrem lesenswerten
                                         Sammelband aus.

                                                                            gi und Wesche Kritik entlang      ten, Zwang und Leiden zum
                                                                            von vier Kategorien. Kritik im    Hauptanliegen der Philoso-
                                                                            Sinne der Aufklärung habe         phie wird - und über sie hin-
                                                                            im Übergang von Mythos zu         aus: Kritik differenzierte sich
                                                                            Logos die Bühne betreten. Sie     in Anschluss an Hegel in den
                                                                            dient als Erkenntniskritik, die   aufkommenden modernen
                                                                            hilft, zwischen Wissen und        Sozial-, Human- und Kultur-
                                                                            Glauben zu unterscheiden -        wissenschaften als Schlüssel-
                                                                            ähnlich des Begriffs des Kri-     begriff all dieser Disziplinen.
                                                                            tizismus bei Kant und in der
                                                                            Antike der Abgrenzung von         Kritik setzt dabei immer eines
                                                                            Sokrates und Platon von den       voraus: Dass es auch anders
                                                                            Sophisten. Die zweite Bestim-     sein könnte. Das Bewusst-
                                                                            mung der AutorInnen ist die       sein, dass es Handlungs-
                                                                            historische Kritik: Kritik vo-    möglichkeiten, Spielräume,
                                                                            rangegangener großer Wer-         Denk- und Entscheidungs-
                                                                            ke - wie Marx’ Hegel-Kritik,      möglichkeiten gibt, macht
                                                                            Aristoteles’ Platonkritik und     Kritik möglich und nötig.
                                                                            so weiter. Dabei gewinnt Kri-     Doch wie verhält sich das
                     Was ist Kritik?     Was ist Kritik? Diese Frage        tik durch Positionierung und      heute in einer Gesellschaft,
            Suhrkamp Taschenbuch         stellen sich mit den Philoso-      Abgrenzung an Schärfe.            in der Herrschaft vermittelt
               Wissenschaft, 2009        phInnen Rahel Jaeggi und Tilo                                        ausgeübt wird, Handlungs-
          Rahel Jaeggi, Tilo Wesche      Wesche zahlreiche weitere          Für den Momentum-Kon-             möglichkeiten verstellt sind
                            375 Seiten   AutorInnen in dem im Suhr-         gress die vielleicht passendste   und nicht nur Praxis sondern
                                         kamp Verlag erschienenen           Kategorie: Die „emanzipa-         eben auch Kritik dement-
                                         gleichnamigen Sammelband.          torische Kritik“. Hierunter       sprechend nur komplex be-
                                         Um es gleich vorweg zuneh-         wird die Rolle der „Kritischen    stimmbar ist?
                                         men: Den einen Begriff der         Intellektuellen“ gefasst - und
                                         Kritik finden auch sie nicht.      jegliche Formen der „Einmi-       Dazu ist abschließend Jaeg-
                                         Was sie jedoch liefern, ist eine   schung“ verstanden, wie der       gis Beitrag „Was ist Ideolo-
                                         präzise     Zusammenstellung       Partizipation der Wissen-         giekritik“ ans Herz zu legen.
                                         des aktuellen Kanons kriti-        schaften an Prozessen der         Hier entstaubt sie den alten
                                         scher Sozialwissenschaften         Meinungsbildung über das          Klassiker Ideologiekritik und
                                         rund um Kritik als Praxis, ihre    Schaffen von Öffentlichkeit       zeigt, wie diese wie gemacht
                                         normativen Grundlagen und          bis zum politischen Engage-       ist für die Kritik strukturel-
                                         die Frage, welche Position die     ment.                             ler Herrschaft. Wie sie Herr-
                                         Kritikerin zu ihrem Gegen-                                           schaftsverhältnisse noch da
                                         stand einnehmen soll.              Als vierte Form gilt den Au-      aufspürt, wo sie unscheinbar
                                                                            torInnen die philosophische       und fast unsichtbar sind. Ei-
                                         Um ihrem eigenen Gegen-            Kritik, im Sinne Hegels: Kri-     gentlich spannender als jeder
                                         stand, dem der Kritik, näher       tik als Negativität, in der die   Krimi. Aber lest selbst!
                                         zukommen, bestimmen Jaeg-          Befreiung von Befangenhei-                                  (FE)

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