Ausstellungs- und Vermittlungsprogramm Kunstverein Hannover 2022
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Ausstellungs- und Vermittlungsprogramm Kunstverein Hannover 2022 1.) Ausstellungen Kameelah Janan Rasheed »i am not done yet« 05.02.–10.04.2022 Christiane Möbus »seitwärts über den Nordpol« 30.04.–24.07.2022 Preis des Kunstvereins Hannover Sven-Julien Kanclerski, Luise Marchand, Till Wittwer 20.08.–09.10.2022 Yuri Ancarani 04.11.2022–08.01.2023 2.) Kunstvermittlung Der Kunstverein Hannover wird vom Kulturbüro der Landeshauptstadt institutionell gefördert
Kameelah Janan Rasheed i am not done yet 05.02.–10.04. Sprache und Text. Komplexe Assemblagen im Ausstellungsraum. Historische Schriftstücke – das sind die Formen und Fundstücke, mit denen die 1985 geborene Künstlerin Kameelah Ja- nan Rasheed arbeitet. Der Kunstverein Hannover wird im Frühjahr 2022 als erste Institution in Deutschland eine Einzelausstellung der Künstlerin zeigen können. Kameelah Janan Rasheed stammt aus Palo Alto, Kalifornien, und lebt und arbeitet in New York. Ihr Werk setzt sich maßgeblich mit Sprache und Text auseinander. Sie geht der Frage nach, wie wir mittels Sprache und Bild Bedeutung schaffen und in welcher Form der Bedeutungsinhalt buchstäblich lesbar sein kann. Ein essenzieller Bestandteil dieser Arbeitsweise ist, dass Kameelah Janan Rasheed historische Schriftstücke einbezieht, wie beispielsweise das Bilali Muhammad Dokument – der erste Theorie-Text zum Islam, der auf amerikanischem Festland verfasst wurde. Er stellt somit seit 1802 ei- nen wichtigen Orientierungspunkt dar, auch für die Konzeption von Rasheeds Ausstellung in Hannover. Rasheed hat zunächst African Studies und Public Policy studiert; vielleicht lässt sich auch damit ihre künstlerische Beschäftigung mit theoretischen Texten ganz unterschiedlicher Wissensbereiche er- klären. Diese Studien haben sie jedenfalls eine Sensibilität im Umgang mit Sprache gelehrt. Im Fokus ihrer Arbeiten stehen die sozialen und politischen Verwerfungen innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft, von denen sie als Schwarze* gläubige Muslima unmittelbar betroffen ist und die sie mit komplexen Textformationen kritisch kommentiert. Ihrem Umgang mit Sprache liegt die künstlerische Idee zugrunde, Text als Arbeitsmaterial zu verwenden. So entnimmt sie beispielsweise öffentlichen Werbeflächen Slogans oder Satzteile und transferiert sie als langgezogene, glänzende Typografie auf Papier, Vinyl oder Kunststoffbanner. Kameelah Janan Rasheed betrachtet Text nicht nur als Träger sprachlicher Information, sondern sieht darin gleichfalls eine ästhetische Qualität, die sie sich zunutze macht. Sie produziert ihre Werke teils mit Xerox-Druckern und platziert sie im Sinne politischer Pamph- lete im Ausstellungsraum. Für den Kunstverein plant Kameelah Janan Rasheed eine weitläufige Präsentation von textlichen Werken. Hier wird ihre grundlegende Neugier deutlich, mit der sie die Materialität der Sprache als Kommunikationsmedium untersucht. Durch kleinste syntaktische Änderungen gelingen ihr Sinn- und Bedeutungsverschiebungen. Die Werkreihe »How to Suffer Politely (and Other Etiquette)« aus dem Jahr 2014 greift beispielsweise den in der US-amerikanischen Gesellschaft weitverbreiteten zynischen Vorwurf auf, Schwarze Menschen hätten in der Vergangenheit nicht ausreichend auf die gegen sie ge- richtete Gewalt reagiert, wodurch die gegenwärtige Diskriminierung und Ungleichbehandlung und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Unruhen überhaupt erst ermöglicht worden seien. Rasheed präsentierte die Reihe als großflächige Plakate im öffentlichen Raum an Bushaltestellen oder Schau- fensterfassaden; weitere hintersinnige Kommentare lauteten »Lower the Pitch of your Suffering« oder »Tell your Struggle with Triumphant Humor« (etwa: »Verringern Sie die Tonhöhe Ihres Leidens!« Und: »Erzählen Sie von Ihrem Kampf mit siegesgewissem Humor!«). Rasheed greift auf wissenschaftliche Texte aus historischen Archiven zurück, die sie optisch verändert; so entstehen neue Sinnzusammen- hänge, die den Blick auf vermeintlich eindeutige Sichtweisen lenken. So bedient sich die Künstlerin u. a. politischer Slogans, mathematischer Gleichungen und prägnanter Zitate aus dem Koran, die sie gestalterisch miteinander verknüpft, um damit insbesondere westliche (weiße) »Gewissheiten« und Interpretationen von historischen Ereignissen in Frage zu stellen.
Für den Kunstverein Hannover wird Kameelah Janan Rasheed ihre Installationen speziell auf die Ausstel- lungsräume zuschneiden und mit Fotografie, Fotodruck und Film arbeiten. Darüber hinaus wird sich die Ausstellung auf neuralgische Orte des öffentlichen Raums erstrecken, avisiert ist beispielsweise das Ihme- Zentrum. Da Vermittlung wesentlicher Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis ist, wird Rasheed gemeinsam mit der Vermittlungsleiterin im Kunstverein, Kristina Sinn, ein Angebot entwickeln, das Erwachsene, Ju- gendliche und Kinder zur Interaktion in die Bibliothek des Kunstvereins einlädt. Begleitend zur Ausstellung entsteht eine Publikation, die das Thema der gesellschaftlichen Betrachtung von Schwarzen Menschen in der dargelegten künstlerischen Form behandeln wird. Dazu gibt es verschiedene Kooperationen: So be- reitet der Kunstverein zusammen mit dem Lehrgebiet »American Studies« der Leibniz Universität Hanno- ver ein Vortragsprogramm vor. In Kooperation mit dem Kommunalen Kino Hannover wird eine Filmreihe zum Thema »Black Lives Matter« stattfinden, und in Zusammenarbeit mit der »ISD Hannover – Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e. V.« erstellen wir ein diskursives Rahmenprogramm mit dem Fokus auf in Deutschland lebenden Schwarzen Menschen – Gelegenheit für alle, sich mit spezifischen gesell- schaftlichen Herausforderungen und ihrer ganz besonderen künstlerischen Interpretation auseinanderzu- setzen. ____ *Schwarz im Zusammenhang mit Menschen wird im Folgenden großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt und nicht um eine reelle »Eigenschaft«, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist. So bedeutet Schwarz-Sein in diesem Kontext nicht, einer tat- sächlichen oder angenommenen »ethnischen Gruppe« zugeordnet zu werden, sondern ist auch mit der gemeinsamen Rassismus-Erfahrung verbunden, auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen zu werden. (in Anlehnung an „Glossar für diskriminierungssensible Sprache“, Amnesty International) Die Ausstellung wird gefördert durch
Kameelah Janan Rasheed »How to Suffer Politely (and other Eti- quette)?«, Außenansicht, The Museum of Contemporary African Diasporan Arts, New York City, 2015 Kameelah Janan Rasheed »ECOSYSTEMS«, Ausstellungsansicht, New Museum, New York City, USA, 2018 Kameelah Janan Rasheed »Are We There Yet?«, Installationsan- sicht, Ausstellung »Future Generation Art Prize«, Pinchuk Art Centre, Venedig, 2017
Christiane Möbus seitwärts über den Nordpol 30.04.–24.07. (Sprengel Museum bis 11.09.) Kennzeichnend für Christiane Möbus’ Schaffen ist das sprichwörtliche »um die Ecke Denken«. Es lässt die Dinge in einem meist humorvollen und bisweilen melancholischen Licht erscheinen. Gera- de darin legt es auch die genannten Absurditäten unseres Alltags und Lebens offen. Gemeinsam richten das Sprengel Museum und der Kunstverein Hannover eine große Übersichtsausstel- lung des Werks von Christiane Möbus anlässlich ihres 75. Geburtstags aus. Versammelt werden Arbeiten aus den frühen 1970er-Jahren bis hin zu neuen Installationen, die eigens für die Räume der beiden Häuser geschaffen werden. Zudem wird eine neue Monografie zum Werk der in Hannover ansässigen Künstlerin herausgeben. Das künstlerische, oft poetisch verdichtete Werk von Christiane Möbus weist eine beeindruckende Scharf- sinnigkeit auf. Die Künstlerin beschäftigt sich mit Grundfragen des Daseins – und dies in einer medial breiten Spanne aus Fotografie, Bildhauerei, Installation, Textarbeiten und Film. Sowohl durch ihre Werke als auch durch ihre langjährigen Lehrtätigkeiten an der Hochschule für Bildende Künste (HBK) in Braun- schweig und an der Universität der Künste (UdK) in Berlin ist Christiane Möbus einflussreich und prägend für die ihr nachfolgenden Künstler*innen-Generationen. Für die Ausstellung werden zahlreiche Fotografien versammelt, die das Fortbewegen im Geist und Körper dokumentieren. Sie werden im Verbund mit den Skulpturen und Installationen an beiden Orten gleicher- maßen präsentiert. Die physische wie geistige Bewegung zeigt sich durch Spuren im Schnee, durch den Versuch der Künstlerin, selbst zu fliegen oder durch die in diesem Ausstellungsprojekt erstmalig komplett präsentierte Serie »Gestiefelte Katze«, bei der »die Möbus« (wie sie sich am Telefon meldet) die eigenen, elegant beschuhten Füße in Aufsicht fotografiert und in Relation zu diversen Kontexten setzt. Standortbe- stimmung und Maßnahmen im Verhältnis zu Raum und Zeit sind grundlegende Fragen, die die Künstlerin seit nunmehr über 50 Jahren beschäftigen. Handschriftliche Textarbeiten werden in der Ausstellung ebenfalls den Humor sowie die besondere Beob- achtungsgabe der Künstlerin durchscheinen lassen. Werktitel ergänzen die sprachliche Ebene des Werks, das von einem intelligenten Beobachten und ideenreichen, konzeptionellen Denken gespeist ist. Natürlich ist und bleibt Christiane Möbus, die zwar eine Gesamtwerk-Künstlerin ist, vor allem Bildhauerin, die Räume verwandelt, indem sie diese mit ihren ganz persönlichen Protagonist*innen bestückt: Da wä- ren mit Stroh gestapelte Holzboote (»Rette sich, wer kann«, 2001) oder Tierpräparate, die weniger in ihrer Eigenart als Raub- oder Flugtiere präsentiert werden, sondern vielmehr in Pose und Ausdruck wie Wesen einer anderen Welt die Besucher*innen mit ihrer Existenz in den Bann ziehen. So wird das Krokodil aus der Sammlung des Sprengel Museums plötzlich im Kunstverein auf aufgetürmten Koffern ruhen, oder eine Giraffe wird sich – platziert auf einem ad absurdum geführten Zirkussockel, der an Spannseilen befestigt über dem Boden schwebt – in die Deckenhöhe des Sprengel Museums strecken. Gern verändert Christiane Möbus die Bedeutung der Dinge oder nimmt eben diese besonders genau. An Tische erinnernde Objekte oder wie Grabplatten anmutende Rechtecke nehmen sich zwar aus wie Dinge des Lebens, doch werden sie von der Künstlerin niemals nur als Readymades verwandt, sondern jeweils verformt oder häufig extra angefertigt. Zwar lässt sich an die ursprüngliche Funktion der Gegenstände durchaus noch denken, doch geht es wie immer im Möbusschen Werk um das genaue Hinsehen. Mit dieser gemeinsam konzipierten Werkschau würdigen das Sprengel Museum und der Kunstverein Hannover nicht zuletzt eine wichtige Künstlerin unserer Gegenwart, der große Beachtung gebührt. Mit einer deutsch-englischsprachigen Publikation und mit der umfangreichen Ausstellung, die sich auf über 4000 qm erstreckt, möchten wir auch international auf eine Künstlerin aus Hannover aufmerksam machen, die schon früh bedeutende künstlerische Maßstäbe gesetzt hat – sogar bis seitwärts über den Nordpol. Die Ausstellung wird gefördert durch
Christiane Möbus »bei den sieben Zwergen«, 1983 acht Turnpferde, sieben Paar Reitstiefel, 140 x 650 x 180 Foto: Bernd-Peter Keiser, Braunschweig Christiane Möbus »rette sich wer kann«, 2001. zwei Ret- tungsboote Foto: Achim Kukulies Christiane Möbus »über Eck«, 1996 Fotogafie Cibachrome Christiane Möbus »Tracks on the roof of 225 EAST 53 STREET, N.Y.C.«, 1970 Fotografie-Triptychon
Preis des Kunstvereins Hannover Sven-Julien Kanclerski, Luise Marchand, Till Wittwer 20.08.–09.10. Die Ausstellung zum »Preis des Kunstvereins Hannover« vereint die künstlerischen Positionen der drei ehemaligen Preisträger*innen des »Atelierstipendiums Villa Minimo«: Sven-Julien Kanclerski, Luise Marchand und Till Wittwer werden in parallel stattfindenden Einzelausstellungen neue Arbei- ten zeigen, die speziell für die einzigartigen Kunstvereinsräume entwickelt wurden. Der »Preis des Kunstvereins Hannover« wird seit 1983 vergeben. Die ein- und zweijährigen Stipen- dien setzen dort an, wo es für die künstlerische Entwicklung am notwendigsten ist: bei der Siche- rung des Wohn- und Arbeitsraumes sowie der Lebenshaltungskosten für junge Künstler*innen. Das Residenzstipendium wird kontinuierlich durch die großzügige Förderung der Gundlach GmbH & Co sowie des Kulturbüros der Landeshauptstadt Hannover und des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur ermöglicht. Der vielbeachtete regional und national ausgerichtete Preis wird durch den Kunstverein Hannover betreut, dessen Räumlichkeiten den Stipendiat*innen für eine abschließende Ausstellung zur Verfügung gestellt werden. Sven-Julien Kanclerski (*1988 in Langenhagen, lebt in Han- nover) Einjähriges Nachwuchsstipendium Niedersachsen Januar – Dezember 2021 Die Fetischisierung und ironische Wendung gewöhnlicher All- tagsgegenstände zeichnen die eher großformatigen Arbeiten des Hannoveraners Sven-Julien Kanclerski aus. Seine häufig aus wiederverwerteten Materialien geschaffenen Skulpturen er- innern an Dinge des alltäglichen Gebrauchs. Die überzeugende Formensprache seines bildhauerischen Werks, das von klugem Humor und Hintersinn geprägt ist, zieht sich als roter Faden durch sein künstlerisches Schaffen, das vielfach für den öffentli- chen Raum konzipiert ist und eine Aufladung des Ausstellungs- ortes bewirkt. Kennzeichnend für Kanclerskis künstlerische Arbeit ist die Berücksichtigung einer Formgebung, die bewusst mit Referenzen zur Alltagskultur spielt und dabei grundlegen- de Mechanismen der Kulturproduktion beschreibt. Sven-Julien Kanclerski schloss sein Studium an der Hochschule der Bilden- den Künste Braunschweig im Jahr 2019 als Meisterschüler von Prof. Thomas Rentmeister ab.
Luise Marchand (*1988 in Blankenburg im Harz, lebt in Berlin) Einjähriges Nationales Nachwuchsstipendium Januar – Dezem- ber 2020 Die Arbeiten von Luise Marchand bewegen sich im Dazwischen von Fotografie und Film und hinterfragen unsere Wahrnehmung inmitten der digitalen und medialen Übermacht. Der Künstlerin dient insbesondere der Alltag mit seinen Objekten und Hand- lungen als Schöpfungsquelle, aus dem sie unbewusste Gesten wie die des Haltens oder Dinge des Wohlstands ableitet und diese mit nahezu sachlichem Blick vorführt. Inmitten dieser Alltagwelt voller unaufhörlicher Optimierungen, stereotypischer Ideale und Rollenbilder befindet sich das Selbst, welches sich diesen grundlegenden gesellschaftlichen Wandlungen nicht ent- ziehen kann. Luise Marchand studierte an der Hochschule für Buchdruck und Kunst in Leipzig, wo sie als Meisterschülerin von Peter Piller ihr Studium im Jahr 2016 abschloss. Till Wittwer (*1985 in Stuttgart, lebt in Barsinghausen und Berlin) Zweijähriges Förderstipendium Niedersachsen Januar 2019 – Dezember 2020 Till Wittwer begreift sich nicht nur als Künstler, sondern auch als Schriftsteller und Wissenschaftler, dessen Hauptinteresse der Narration gilt. Mit dem Hybridformat aus akademischem Vortrag und künstlerischer Darbietung, der »Lecture Perfor- mance«, legt er bewusst existentielle Fragen offen – nach dem Ausgangspunkt einer Kultur im Visuellen und durch den Ver- such, diese Kultur ins tiefste Schwarz zur projizieren. Diese einzelnen Geschichten und Gedankenexperimente bilden das zentrale künstlerische Instrument, um Entwürfe von Realität zu verhandeln – insbesondere im Kontext von Ökonomie, Politik, Geschichte und vermeintlich neuen Phänomenen wie »Fake News«. Mit seinen Arbeiten erstellt Till Wittwer rechercheba- sierte Narrationen, die er in Form von Essays, Publikationen, Lectures, Performances, Filmen und Spielen präsentiert. Diese große Bandbreite an künstlerischen Ausdrucksmitteln zeichnet Wittwer aus, der an der Universität der Künste Berlin studiert Die Ausstellung wird gefördert durch Das Residenzstipendium »Preis des Kunstverein Hannover« wird außerdem gefördert durch:
Till Wittwer Ghosts in a Feedback Loop, 2016 Video / Lecture Performance 25:34 Min Sven-Julien Kanclerski »Hippie Crack«, 2019 glasierte Keramik Installationsansicht 89. Herbstausstellung des Kunstvereins Hannover Foto: Raimund Zakowski Luise Marchand »Arm und Tapes« Fotografie, aus der Fotoserie Die Zeichen stehen gut, 2014/2017
Yuri Ancarani 04.11.2022–08.01.2023
Yuri Ancarani 04.11.2022–08.01.2023 Mit der Einzelausstellung von Werken des italienischen Künstlers Yuri Ancarani präsentiert der Kunstverein Hannover die erste institutionelle Übersichtsschau in Deutschland. Die ästhetische Wirkung der teils abendfüllenden Filme von Yuri Ancarani ist eine ganz besondere: Sie haben eine teilweise hypnotische Qualität. Gleichzeitig jedoch dokumentieren sie blinde, verborgene Felder unserer Gesellschaft, die in ihren anachronistischen, patriarchalischen Strukturen Erinnerungen an längst vergangene Tage wecken. Da sind zum Beispiel die weltberühmten Marmorsteinbrüche im italienischen Carrara, da ist das im Volksmund als »San Siro« bezeichnete Stadion in Mailand oder der überbordende Reichtum in Katar: Immer setzt Ancarani den einzelnen Menschen in den Dialog mit seinem mechanisier- ten Umfeld, sodass filmische Feldstudien entstehen, die ein faszinierendes Porträt des Menschseins, ins- besondere des Patriarchats, schaffen. Ancaranis Filme gehen in ihrer präzisen Beobachtung und experimentellen Inszenierung weit über das Format einer traditionellen Dokumentation hinaus. Typische Stilmittel wie Kamerabewegungen werden vom Künstler bewusst sehr sparsam eingesetzt. Eher fokussiert Ancarani auf konkrete Motive, die als bewegte Einzelbilder poetischen Kompositionen gleichen und eine skulpturale Qualität entwickeln. Für seine Arbei- ten hat der in Ravenna geborene Künstler zahlreiche Filmpreise erhalten, so unter anderem den Jury-Preis des Film Festivals von Locarno – und das, obwohl seine Filme nicht als klassische Dokumentarfilme inten- diert sind. Die künstlerische Qualität seiner Arbeiten zeigt sich in einer virtuosen filmischen Inszenierung der genannten blinden Felder, die wie unter einem Brennglas von der Kamera eingefangen und für die Zuschauer*innen sichtbar gemacht werden. Der zeitliche Aufwand dieser Vorgehensweise ist immens: Bei einem seiner bekanntesten Werke »Il Capo« (2010) betrugen die Dreharbeiten beinahe drei Jahre. In dieser Zeit hat der Künstler sich nicht nur Zugang zu einer archaischen, von Männern dominierten Welt verschafft – dem Marmorabbau in Carrara –, sondern akribisch Bildmaterial von der tagtäglichen Arbeit und ihren Akteuren gesammelt. Der Protagonist des Films ist der titelgebende »Chef« (Capo), der gleich einem Dirigenten aufwendige Choreografien von Baggern und Arbeitern aufführen lässt. In ruhigen Schuss-Ge- genschuss-Einstellungen setzt Ancarani die atemberaubende, teils gleißende Marmorlandschaft mit dem einzelnen Menschen in Verbindung, der sich mittels seiner monströsen »Prothesen« (Bagger) in dieser surrealen Umgebung behauptet. In Ancaranis bislang längstem Film »The Challenge« (2016, vgl. Abb. 2) steht die ausufernde Dekadenz unserer Gesellschaft im Fokus, die sich in reichen arabischen Staaten herauskristallisiert. In dem knapp 70-minütigen Film porträtiert der Künstler den Alltag junger Scheiche aus Katar, die sich zwischen westli- chem Materialismus und traditionellen arabischen Gesellschaftsnormen bewegen. Während die dominante gesellschaftliche Stellung des Mannes nicht hinterfragt wird, sind Frauen nahezu unsichtbar im öffentlichen Leben des Emirates. Ancarani begleitet mit seiner Filmkamera die jungen Männer beim alltäglichen Zeit- vertreib, der den eigenen Luxus offensiv zur Schau stellt: Neben vergoldeten Motorrädern, Luxusautos und Privat-Jets sind es insbesondere der Erwerb und das Sammeln von Prestige-Objekten wie Falken oder anderen exotischen Tieren. Diesen titelgebenden Wettbewerb (challenge) verfolgt Ancarani kommentarlos mit seiner Kamera und zwingt damit die Betrachter*innen, sich der gezeigten Dekadenz, dem Materialis- mus, dem Geschlechterbild zu stellen und eine eigene Haltung zu entwickeln. Yuri Ancarani thematisiert patriarchalische Strukturen, die über Jahrhunderte gewachsen sind und auf de- nen unsere westliche Gesellschaft nach wie vor fußt. Die Entzauberung ungerechter männlicher Privilegien zieht sich wie ein roter Faden durch die gezeigten Werke. Ancarani bezeichnet sich selbst als »filmema- chenden Künstler« und nicht als Filmemacher, da sein künstlerisches Selbstverständnis eine Auseinander- setzung mit dem filmischen Medium vorsieht, die die traditionellen Filmkonventionen sprengt.
Für seine Ausstellung im Kunstverein wird Yuri Ancarani bis zu acht Filme präsentieren, die in installativer Form in den Räumen zu sehen sein werden. Die Raum-Settings laden zum Verweilen ein, zeichnen sie sich doch durch ihre monochrom gehaltene Großzügigkeit und ihre Ausstattung mit bequemen Sitzmöbeln aus. Anders als bei üblichen Black-Box-Präsentationen in Museen sorgte Ancarani bereits vor Corona für genügend Platz zwischen den Zuschauer*innen, um die Nachhaltigkeit des Seherlebnisses zu verstärken. Die Ausstellung wird gefördert durch
Yuri Ancarani »Il Capo« (Still), 15 min, 2010 Yuri Ancarani »The Challenge« (Still), 70 min, 2016 Courtesy des Künstlers, ZERO... Galerie, Mailand, Isabella Bortolozzi Galerie, Ber- lin Yuri Ancarani »The Challenge« (Still), 70 min, 2016 Courtesy des Künstlers, ZERO... Galerie, Mailand, Isabella Bortolozzi Galerie, Ber- lin
Vermittlung im Kunstverein Hannover
Vermittlung Der Kunstverein Hannover steht für eine innovative Kunstvermittlung. Das Vermittlungsprogramm für alle Altersstufen und Interessengruppen wächst stetig und erobert zunehmend auch den digitalen Raum. Die Kunstvermittlung findet vor allem anhand der jeweiligen Ausstellung statt. Ziel ist es, hiermit die Kunst nicht nur durch die Präsentation selbst zu vermitteln, sondern verschiedene Interessierte anzusprechen und Möglichkeiten der Teilhabe anzubieten. Highlight: LeseKunstKombi Kooperation mit dem Friedrich-Bödecker-Kreis Niedersachsen Zuhören und kreativ sein: Das können Kinder von 9 bis 12 Jahren bei der Aktion »LeseKunstKombi« im Kunstverein Hannover. Die »LeseKunstKombi« knüpft an ihre erfolgreiche Premiere 2021 an. Die eingeladenen Autor*innen lesen aus ihren altersgerechten Büchern vor, die als Basis für den dar- auf folgenden praktischen Teil dienen. Ausgehend von den Textauszügen der Autor*innen werden die Kinder zur Auseinandersetzung mit den Themen des Buches eingeladen. Aus den Anregungen des Gehörten heraus entstehen in konzentrierter Arbeitsatmosphäre Skizzen der Figuren, welche über ein Transferverfahren mit Overhead-Projektoren auf große Feinwellpappen und somit auch in die Wirklich- keit übertragen werden. Ziel ist es, das Gelesene und Gehörte nachhaltig zu verzahnen. Die Kinder werden kreativ gefördert und setzten sich intensiv mit dem Buchinhalt auseinander. Realität und Fantasie vermischen sich, und den liebenswert-chaotischen Figuren des Buches wird Leben einge- haucht. Di. 05.– Do. 07.04., jeweils 10.00–13.00 Uhr mit Will Gmehling (Kinderbuchautor) Di. 18.– Do. 20.10., jeweils 10.00–13.00 Uhr mit Christina Wolff (Kinderbuchautorin) für Kinder im Alter von 9 bis 12 Jahren Weitere Formate der Kunstvermittlung: Kunsttauchkurse Kunstkontakte: Schule im Kunstverein - vor Ort oder online Ferienprogramme Partnerkindergärten Führungen Vorträge
Das Vermittlungsprogramm wird unterstützt durch Kooperationspartner
Vermittlungsprogramm im Kunstverein Hannover Foto: China Hopson Vermittlungsprogramm im Kunstverein Hannover Vermittlungsprogramm im Kunstverein Hannover Foto: China Hopson
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