Für eine Reform der "Integrationskurse mit Alphabetisierung"
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Christoph Schroeder, Dorotheé Steinbock, FES impuls Miguel Rezzani, Cosima Lemke-Ghafir Für eine Reform der „Integrationskurse mit Alphabetisierung“ AUF EINEN BLICK Eine besondere Herausforderung besteht bei den „Inte- grationskursen mit Alphabetisierung“ (oft abgekürzt als Al- Das Integrationsinstrument der Deutschsprach- pha-Kurse), also den Alphabetisierungskursen für Zugewan- förderung, bestehend aus Integrationskursen derte, die wenig oder keine Deutschkenntnisse und wenig und berufsbezogenen Sprachkursen, stellt Mi- oder keine Schriftkenntnisse (in irgendeiner Sprache) mit- grant_innen ohne oder mit nur wenig formaler bringen. Durch Krieg, Flucht oder andere Umstände sind Vorbildung vor große Herausforderungen. Das ihre Bildungsbiografien häufig unterbrochen oder sie kom- für sie vorgesehene Modell der Alphabetisie- men aus ländlichen Gebieten in Ländern des Nahen Ostens rungskurse ist nicht ausreichend auf ihre Vo- oder Afrikas, wo insbesondere Mädchen der Zugang zur raussetzungen und Potenziale abgestimmt. Da- schulischen Bildung erschwert ist (siehe Lemke-Ghafir her bedarf es hier einer Loslösung der Fixie- 2021: 5–6; Brücker et al. 2016: 37f.). rung auf die Niveaustufen des Gemeinsamen Die Bedeutung dieser Kurse hat zwischen 2015 und 2017 Europäischen Referenzrahmes (GER) für Spra- stark zugenommen, da die in diesem Zeitraum nach chen, die bisher gesetzlich verankert ist. Zu- Deutschland geflüchteten Menschen in größerem Umfang dem ist eine umfassende Diagnostik über den als vorausgegangene Fluchtkohorten wenig bis keine forma- Lernprozess hinweg erforderlich, und entspre- le Schulbildung in ihren Herkunftsländern hatten. Seitdem chend der Heterogenität der Zielgruppe sollten ist der Anteil an diesen Kursen wieder gesunken. So betrug unterschiedliche didaktische Methoden An- im ersten Halbjahr 2021 der Anteil an Alpha-Kursen laut wendung finden. Neu zu bewerten ist auch der Integrationskursstatistik des BAMF noch 9,8 Prozent zeitliche Rahmen der Alphabetisierungskurse. (BAMF 2021: 5). Inwiefern bei dieser Entwicklung die Co- Und schließlich braucht es vonseiten des ronapandemie und die dadurch zunehmende digitale Um- BAMF verbindliche und praktikable Qualifizie- setzung von Kursangeboten eine Rolle gespielt hat, lässt sich rungsangebote für das Lehrpersonal. momentan nicht gesichert beurteilen. Jedoch dürfte ein di- gitales Sprachlernangebot die Zielgruppe der Alpha-Kurse nochmals vor größere Herausforderungen stellen, als das für EINLEITUNG: Personen mit Literalitätserfahrung1 anzunehmen ist. DIE HERAUSFORDERUNG DER Die Erfolgsquoten der Alpha-Kurse, gemessen am Errei- ALPHA-KURSE chen der im „Deutschtest für Zuwanderer“ (DTZ) gesetz- ten Level A2 bzw. B1 des GER (vgl. Council of Europe Die mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 eingerichteten 2018), liegen weit unter denen der „Allgemeinen Integrati- und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) onskurse“. Schon das Konzept für die Alpha-Kurse dämpft verantworteten Integrationskurse für Zugewanderte haben hier die Erwartungen und geht davon aus, dass „als sich zu einem wichtigen und wirkungsmächtigen Instru- ment einer Integrationspolitik des „Forderns und Förderns“ entwickelt. Gleichzeitig stehen sie dafür in der Kritik, der 1 Mit Literalität ist hier gemeint: „die Fähigkeit, geschriebene, gedruck- te und digitale Informationen zu nutzen, um an gesellschaftlichen Prozes- Heterogenität ihrer Teilnehmenden nicht gerecht zu werden sen teilzuhaben, um selbstgewählte Ziele zu verwirklichen und eigene (vgl. Schroeder/Zakharova 2015; Ohliger et al. 2017; Hün- Kenntnisse und Möglichkeiten weiterzuentwickeln […]“ (Lemke-Ghafir et lich/Schöningh 2021). al. 2021: 4). Für eine Reform der „Integrationskurse mit Alphabetisierung“ — FES impuls 1
sprachliches Ziel im Rahmen der individuellen Maximal- LITERALITÄT UND NICHT SPRACHNIVEAU förderung für den großen Teil der Lerner das Sprachniveau ALS ZENTRALES ZIEL FÜR KURSTEIL- A2.2“ und „für einen kleineren Teil der Lerner, vorwie- NEHMENDE OHNE ODER MIT GERINGER gend primäre Analphabeten, […] das Niveau A2.1 realis- FORMALER BILDUNG tisch“ ist (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015: 13). Der erste Zwischenbericht zur Evaluation der Integra- Wir haben es bei dem Thema einer Alphabetisierung in der tionskurse (Tissot et al. 2019) macht in einer näheren Be- Zweitsprache im Rahmen der Integrationskurse mit einer dop- trachtung der Ergebnisse des DTZ nach sprachlichen Fer- pelten Herausforderung für die Lernenden und die Lehrenden tigkeiten und Kursart deutlich, dass die Teilnehmenden zu tun: Die Lernenden sollen sowohl den Zugang zur Zweit- der Alpha-Kurse besonders in der Fertigkeit Schreiben so- sprache erwerben als auch den Zugang zur Schriftlichkeit in wie in den schriftlich geprüften Fertigkeiten Lesen und dieser zweiten Sprache. Die Komplexität dieser doppelten He- Hören nicht das Ziel eines angestrebten Niveaus A2 errei- rausforderung zieht sich durch alle didaktischen Ansätze, Cur- chen (54 bzw. 38 Prozent unter A2), während die Ergebnis- ricula und diagnostischen Instrumente. se in der Teilfertigkeit Sprechen mit einem sehr großen Dem steht der gesetzliche Rahmen gegenüber, in dem sich Anteil dem angestrebten Niveau A2 (83 Prozent über A2) die Alpha-Kurse wie alle anderen Integrationskurse verorten: entsprechen (vgl. Tissot et al. 2019: 37). Sie müssen sich an den sprachlichen Anforderungen des Auf- Die relativ geringe Erfolgsquote beim DTZ für diese Kur- enthaltsgesetzes und der Integrationskursverordnung orientie- se insbesondere in den schriftlichen Fertigkeiten weist ei- ren. Diese wiederum formulieren ihre sprachlichen Erwartun- nerseits auf die große Problematik des Testformats hin. An- gen auf Grundlage der Skalen und Niveaustufen des GER. dererseits zeigt sich, dass die erfolgreiche Sprach- und Dieser ist aber ursprünglich für den Fremdsprachenunterricht Schriftvermittlung an Migrant_innen, die wenig oder keine in Schule und Erwachsenenbildung entworfen worden und Erfahrung mit institutionell vermitteltem Lernen und wenig geht selbstverständlich davon aus, dass die Sprachlernenden oder keinen Zugang zu Literalität und Literalitätspraktiken bereits einen Zugang zur Schriftlichkeit haben. Daher kann mitbringen, zu einer der größten Herausforderungen der In- der GER schwerlich als Rahmensetzung für Alpha-Kurse die- tegrationskurse zählt. nen, ohne die Lernerfolge der Teilnehmenden zu verzerren. Im Herbst 2021 veröffentlichten die Verfasser_innen die- Die Lösung, die das BAMF für dieses Dilemma gefunden ses Artikels, unterstützt von einer Projektförderung der hat, besteht darin, die sprachlichen Ansprüche an die „Inte- Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), eine umfangreiche Experti- grationskurse mit Alphabetisierung“ auf der GER-Skala he- se. Sie trägt nationale und internationale Erkenntnisse zu runterzusetzen. Das reicht jedoch nicht aus, wie die Kurseva- den Herausforderungen des Schriftspracherwerbs und der luationen und die (wiederum nur an den GER-Skalen orien- Schriftsprachvermittlung in der Zweitsprache für erwachse- tierten) Statistiken zeigen. ne Migrant_innen mit geringer formaler Bildung zusammen Unsere dringende Empfehlung lautet daher, die „Integra- (Lemke-Ghafir et al. 2021). In diesem Artikel entwickeln tionskurse mit Alphabetisierung“ aus der „Zwangsjacke“ der wir Schlussfolgerungen aus der Studie, die wir als Vorschlä- GER-Skalen zu entlassen und sich auf Literalität im Kontext ge für eine Reform der Alpha-Kurse des BAMF verstehen. des Zweitspracherwerbs als zentrales Diagnosekriterium zu Das geschieht vor dem Hintergrund einer weiteren aktu- konzentrieren. Jede Diagnostik in diesen Kursen, sei es die ellen Entwicklung innerhalb des EU-Projektes „Literacy Einstufungsdiagnostik, die Überprüfung des Lernstands oder And Second Language for the Linguistic Integration of die Abschlussdiagnostik, muss den Stand der Literalitätsent- Adult Migrants” (LASLLIAM), die richtungsweisend für wicklung der Teilnehmenden berücksichtigend in den Vorder- eine Reform sein sollte. Gemeint ist die Konzeption eines grund stellen. Es gibt berechtigte Hoffnungen, dass die LAS- am aktuellen GER orientierten Referenzrahmens für Kom- LLIAM-Deskriptoren diese Ansprüche erfüllen. petenzen, die unterhalb der bisher niedrigsten GER-Niveau- stufe A1 liegen, mit spezieller Berücksichtigung von Schrift- lichkeitskriterien: das „European Framework of Reference NOTWENDIGKEIT EINER UMFASSENDEN for Literacy and Second Language“ (vgl. Council of Europe UND ANGEPASSTEN BEGLEITDIAGNOSTIK i. E.). Die Veröffentlichung der LASLLIAM-Deskriptoren ist Diagnostische Verfahren sind ein zentrales Instrument in- für Juni 2022 vorgesehen. nerhalb von Sprach-Lehr-Lern-Settings, so auch im Bereich Das Instrument soll zur Planung von Unterricht, zur Er- der Alpha-Kurse. Sie unterstützen bei unterrichtsrelevanten stellung von Konzepten und Curricula, zur Entwicklung von Entscheidungen seitens der Lehrkraft, bei der Planung von Unterrichtsmaterialien und nicht zuletzt auch zur Erarbei- Inhalten und deren Ablauf sowie bei der Auswahl von Lehr- tung von Einstufungstests und weiteren diagnostischen Ver- methoden und Unterrichtsgestaltung für das Erreichen der fahren dienen. Das neue „Rahmencurriculum für Alphabe- curricular festgelegten Ziele. Gleichzeitig dienen sie am tisierungskurse“ des Österreichischen Integrationsfonds von Ende der unterrichtlichen Maßnahme als weitgehend objek- 2022 ist bereits an diesem Instrument orientiert (vgl. Feld- tiver Nachweis über die zu erreichenden (Schrift-)Sprach- meier García 2022). kompetenzen seitens der Teilnehmenden (vgl. Lemke-Gha- . fir et al. 2021: 21; Bulut/Linnemann 2015: 23). Von großer Bedeutung sind die zugrunde gelegten Referenzmodelle der Diagnoseverfahren. Diese sollten nicht normativ gesetzten Zielen folgen, sondern zielgruppenspezifisch fundiert sein Für eine Reform der „Integrationskurse mit Alphabetisierung“ — FES impuls 2
(vgl. Euringer 2015: 75). Im Bereich der Diagnostik in Didaktische Methoden müssen durch die Lehrkraft zu- zweitsprachlichen Alphabetisierungskursen für Teilnehmen- nächst schrittweise eingeführt werden, bevor sie sinnvoll de mit geringer oder ohne formale Bildung zeigt sich für die eingesetzt werden können. Zu bevorzugen ist der Einsatz Alpha-Kurse ein Bedarf an mehreren Punkten. Ein Punkt ist von binnendifferenzierenden Methoden, die unterschiedli- die Ausrichtung der genutzten Diagnostik an einem passen- che Lernzugänge im Unterricht und dadurch differenzierte den Referenzrahmen. Hier ist aktuell noch eine zu starke Lernanforderungen innerhalb eines Kontinuums ermögli- Ausrichtung an den Niveaustufen des GER für Sprachen er- chen. Dabei sollten die gewählten didaktischen Methoden kennbar, der, wie oben argumentiert, nicht für die Zielgrup- die individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse sowie die pe von Menschen ohne oder mit nur geringer formaler Bil- Lernbiografien, die kognitiven Kompetenzen und Lernmoti- dung konzipiert wurde. Die Entwicklung der Schriftlich- vationen der heterogenen Lerngruppe berücksichtigen und keitskriterien berücksichtigenden Niveaustufen in dem die Lernautonomie durch das Verlegen der Handlungsinitia- LASLLIAM-Framework erscheinen durch ihre kleinschritti- tive von der Lehrperson hin zu den Lernenden fördern (vgl. geren und zielgruppenspezifischen Kompetenzziele als ein Feldmeier García 2022: 8f.). Auch zeigen Ergebnisse didakti- vielversprechendes zukünftiges Referenzmodel. Ein weiterer scher Interventionsstudien, dass die Nutzung der mündli- Punkt betrifft den bevorzugten Einsatz ganzheitlicher Diag- chen Sprachkenntnisse der Teilnehmenden sowie das Ein- nostikinstrumente zur Erfassung individueller sprachlicher binden kontrastiver Alphabetisierungsmethoden vorteilhaft und metakognitiver Kompetenzentwicklung unter Berück- ist (Spracherfahrungsansatz, vgl. Lemke-Ghafir et al. 2021). sichtigung der Perspektive lebenslangen Lernens nach dem So muss der Alphabetisierungsunterricht eine Vielfalt di- Vorbild Finnlands oder Kanadas (Lemke-Ghafir et al. 2021: daktischer Ansätze einbeziehen, deren Mehrwert eine indi- 25). Zudem sollte die Diagnostik kontext- und lebenswelt- viduelle und ganzheitliche Förderung der Lernenden mit ih- bezogen im Sinne der Teilnehmenden ausfallen und so den ren Fähig- und Fertigkeiten darstellt. Dies setzt wiederum Fokus auf die kommunikative Funktion von Lesen und das Wissen und die Überzeugung seitens der Lehrkräfte vo- Schreiben gegenüber dem technischen Aspekt (z. B. Recht- raus, dass Schriftlernende über ein potenzielles Können ver- schreibung und Grammatik) verschieben (Schramm 2020: 3). fügen und in der Lage sind, sich an neue Lernformen und Beispielsweise würde eine (Test-)Aufgabe darin bestehen, Methoden zu gewöhnen. einen Einkaufszettel für ein Familienmitglied zu schreiben, und bei der Bewertung würden orthografische Fehler nicht ZEITLICHE RAHMENBEDINGUNGEN VON negativ bewertet werden, solange sie den kommunikativen ALPHA-KURSEN Erfolg nicht beeinträchtigen. Schließlich sollte der Einsatz von Diagnostikinstrumenten kontinuierlich vor, während Ein wichtiger Faktor für einen erfolgreichen Schriftsprach- und nach den Fördermaßnahmen stattfinden. Die Instru- erwerb mit dem Ziel funktionaler Alphabetisierung liegt in mente selbst sollten standardisiert und wissenschaftlich er- der zur Verfügung gestellten Zeit. Die Alpha-Kurse gehen probt sein. Zudem sollten sie individuelle Rückmeldungen von einer Grundförderung mit 900 Unterrichtseinheiten und Tipps zum weiteren (eigenverantwortlichen/autono- (UE) aus; bei ordnungsgemäßer Teilnahme am Kurs können men) Lernen integrieren. High-Stake-Tests und damit Prü- weitere 300 UE Wiederholungsförderung in Anspruch ge- fungen, bei denen das Ergebnis gewichtige Konsequenzen nommen werden. Der erste Zwischenbericht zur Evaluation für die einzelne Person nach sich zieht, sind für die Gruppe der Integrationskurse verweist bereits darauf, dass 1.200 UE der Alpha-Kursteilnehmenden abzulehnen (vgl. Feldmeier bei vielen Alpha-Kursteilnehmenden nicht ausreichen, um García 2022: 14). das angestrebte Niveau A2.1 zu erreichen (vgl. Tissot et al. 2019: 81). Eine wichtige Studie aus den Niederlanden zum VIELFALT DER DIDAKTISCHEN ANSÄTZE Literalitätserwerb von Erwachsenen in der Zweitsprache be- ALS ANTWORT AUF DIE HETEROGENITÄT tont ebenfalls die ungemein großen individuellen Unter- DER TEILNEHMENDEN schiede im Literalitätserwerb, für den nicht wenige Lernen- de über 2.000 UE benötigten (vgl. Kurvers 2015: 71–72). Für einen erfolgreichen Unterricht in Alpha-Kursen ist ne- Auch können wir davon ausgehen, dass die 31 Prozent der ben den Inhalten, die einen stark lebensweltlichen Bezug DTZ-Teilnehmenden, die im ersten Halbjahr 2021 auch aufweisen sollten, die Wahl der didaktischen Methoden von nach dem Wiederholungskurs noch unter dem Niveau von hoher Bedeutung. Seitens der Teilnehmenden in zweit- A2 bleiben, vor allem aus den Alpha-Kursen kommen (siehe sprachlichen Alphabetisierungskursen ist von nur wenig BAMF 2021: 14)2 . Aus all dem lässt sich ableiten: Ein starrer Lernerfahrungen im schulischen Kontext sowie wenig Ver- zeitlicher Rahmen steht dem Ziel einer grundlegenden Lite- trautheit mit Arbeits- und Sozialformen des Lernens im ralitätsvermittlung für diese Lerngruppe entgegen. Zielfüh- Klassenverband auszugehen. Gleichzeitig besteht innerhalb rend erscheinen vielmehr individuell festgelegte Meilenstei- der Lerngruppe eine hohe Heterogenität hinsichtlich der ne bzw. Stundenpläne, die immer wieder reflektiert und neu Kompetenzen und Vorerfahrungen. Das aktuelle Konzept angepasst werden, wie dies beispielsweise in Finnland prak- für die Alpha-Kurse (BAMF 2015) berücksichtigt zwar die- tiziert wird (Lemke-Ghafir et al. 2021: 10). Auch in der Fra- se Heterogenität, es mangelt jedoch unserer Einschätzung nach an konkreten, ausführlichen didaktisch-methodischen 2 Die Integrationskursgeschäftsstatistiken differenzieren bei den DTZ- Hinweisen, wie Lehrkräfte damit im Unterricht umgehen Prüfungserfolgen der Kurswiederholer_innen leider nicht zwischen den sollten. Kursarten. Für eine Reform der „Integrationskurse mit Alphabetisierung“ — FES impuls 3
ge täglicher Lernzeiten ist auf die Individuen bezogene Fle- ellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaut (Goethe- xibilität notwendig. Traumata, die komplexen Lebensbedin- Institut 2020). Vergleichbares fehlt für die Kursleitenden in gungen, die Gewöhnung an Lernautonomie und auch die den Alpha-Kursen. kulturellen Herausforderungen der institutionellen Wissens- Deshalb sind hier einerseits die Universitäten gefragt, das vermittlung können ein konzentriertes Lernen über einen Thema der Alphabetisierung in der Zweitsprache stärker in längeren täglichen Zeitraum erschweren. So ist insgesamt den universitären Studiengängen für Deutsch als Zweit- und von einem in seinem zeitlichen Umfang schwer generalisier- Fremdsprache zu berücksichtigen. Gleichzeitig ist das baren Prozess des Literalitätserwerbs auszugehen. BAMF gefordert, die Ausbildung von Kursleiter_innen für Alphabetisierungskurse ebenso ernst zu nehmen wie die STÄRKERE INHALTLICHE (UND MODU- Ausbildung von Kursleiter_innen für die „Allgemeinen Inte- LARISIERTE) RAHMENSETZUNG DER grationskurse“. AUSBILDUNG DER LEHRKRÄFTE Um Lernende mit sehr geringer Bildungserfahrung erfolg- reich beim Literalitätserwerb anzuleiten und zu begleiten, LITERATURVERZEICHNIS der noch dazu in einer neuen Sprache stattfindet, sind Er- fahrung, Kompetenzen und Wissen in mindestens vier Be- Brücker, Herbert; Rother, Nina; Schupp, Jürgen (Hrsg.) 2016: IAB- BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Überblick und erste Ergebnis- reichen notwendig. Das betrifft erstens sprach- und kogniti- se, Studiendesign, Feldergebnisse sowie Analysen zu schulischer wie onswissenschaftliche Kompetenzen. Hierzu zählt das Wissen beruflicher Qualifikation, Sprachkenntnissen sowie kognitiven Potenzia- über sprachliche Strukturen, insbesondere die Phonologie, len, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Nürnberg, https:// über Mehrsprachigkeit, Schriften und Schriftlichkeit und www.ssoar.info/ssoar/handle/document/67871 (28.2.2022). die strukturellen wie kognitiven Dimensionen von Literali- Bulut, Necle; Linnemann, Markus 2015: AdISLA: Adaptives Instru- tät sowie Sprach- und Schrifterwerb. Zweitens müssen die ment zur Schriftsprachdiagnostik von Lernenden in Alphabetisie- Lehrenden über didaktische und unterrichtspraktische rungskursen, in: Projekt „Rahmencurriculum und Kurskonzept für die Kompetenzen verfügen. Dazu zählen einerseits allgemeine abschlussorientierte Grundbildung“, Bonn, S. 23–32. Kompetenzen wie Klassenmanagement, Unterrichtsplanung Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2015: Konzept und Medienkompetenz und andererseits spezifische Kompe- für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs, überarbeitete Neuauf- lage, Nürnberg, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Integra- tenzen wie ein angepasstes Repertoire von Materialien, Me- tion/Integrationskurse/Kurstraeger/KonzepteLeitfaeden/konz-f-bun- thoden und diagnostischen Instrumenten der Alphabetisie- desw-ik-mit-alphabet.pdf?__blob=publicationFile (28.2.2022). rung, die flexibel und kombinierend und unter Einbezug Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2021: Bericht neuer Medien angewendet werden können. Drittens sind zur Integrationskursgeschäftsstatistik für das erste Halbjahr 2021, Kenntnisse und praktische Erfahrungen zu den Besonder- https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/Integrations- heiten der Erwachsenenpädagogik vonnöten. Diese unter- kurszahlen/Bundesweit/2021-1-hj-integrationskursgeschaeftsstatistik- scheiden sich deutlich vom Unterricht mit Kindern oder Ju- gesamt_bund.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (3.4.2022). gendlichen. Das liegt nicht zuletzt im Weltwissen, der Le- Council of Europe 2018: Common European Framework of Reference benserfahrung und in der Selbstwahrnehmung der Lernen- for Languages, Companion Volume with New Descriptors, Straßburg: den begründet, auf denen der Unterricht aufbauen kann Council of Europe Publishing, https://rm.coe.int/cefr-companion-volu- me-with-new-descriptors-2018/1680787989 (28.2.2022). und soll. Ein vierter Qualifikationsbereich bilden interkul- turelle Kompetenzen und ein fundiertes Wissen zu Migrati- Council of Europe i. E.: Literacy and Second Language Learning for on und Flucht und den damit verbundenen Besonderheiten the Linguistic Integration of Adult Migrants (LASLLIAM), Straßburg. in der Lebenssituation der Teilnehmenden, nicht zuletzt Euringer, Caroline 2015: Verlinkungsstudie: Empirischer Vergleich von auch den Auswirkungen von Traumatisierungen und ande- Alpha-Levels und den Stufen des Gemeinsamen Europäischen Referenz- rahmens für Sprachen, in: Grotlüschen, Anke; Zimper, Diana (Hrsg.): ren psychischen und mentalen Einschränkungen auf Lern- Lern- und Adressatenforschung zur Grundbildung, Alphabetisierung prozesse (Lemke-Ghafir et al. 2021: 32). und Grundbildung, Bd. 11, Münster, New York, S. 61–77. Das Thema der Alphabetisierung in der Zweitsprache ist Feldmeier García, Alexis 2022: Rahmencurriculum für Alphabetisie- bisher nicht systematisch in den universitären Studiengän- rungskurse, Österreichischer Integrationsfonds, https://www.integra- gen für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache verankert. Für tionsfonds.at/fileadmin/user_upload/Rahmencurriculum_fuer_Alphabe- Kursleitende in Alphabetisierungskursen des BAMF wird tisierungskurse_2022.pdf (21.4.2022). seit 2017 eine Zusatzqualifizierung verlangt. Bestehende Goethe-Institut (Hrsg.) 2020: Zusatzqualifizierung für Lehrkräfte im Fortbildungsangebote müssen sich an einem „Rahmenpa- Bereich Deutsch als Zweitsprache in der Erwachsenenbildung, Mün- pier“ des BAMF orientieren, das in 16 nacheinander abzuar- chen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Integration/Inte- beitenden „Bausteinen“ Wissensbereiche auflistet und kurz grationskurse/Lehrkraefte/konzeption-fuer-die-zusatzqualifikation-von- lehrkraeften-neu-pdf.pdf;jsessionid=7B2E4D4BCF440C15F93608F2FFB beschreibt. Das Rahmenpapier bleibt allerdings in seiner 4C280.internet551?__blob=publicationFile&v=5 (28.2.2022). Vagheit und in seinem Umfang weit hinter dem zurück, was das BAMF in Hinblick auf die „Allgemeinen Integrations- Hünlich, David; Schöningh, Ingo 2021: Weniger ist mehr! Die IDS- Goethe-Studie in den Integrationskursen und Vorschläge für die Praxis, kurse“ unternommen hat. Hier wurde am Goethe-Institut in: Hinzmann, Friederike; Storz, Coretta; Hülsmann, Annemarie; Rosner, im Jahr 2020 im Auftrag des BAMF eine umfangreiche Zu- Ulrike; Dupke, Benjamin (Hrsg.): Vermitteln – verbinden – verstehen, 46. satzqualifizierung entwickelt, die als kompetenzorientierte Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremd- und Zweitsprache modulare Präsenzveranstaltung konzipiert ist und auf aktu- an der Technischen Universität Chemnitz 2019, Göttingen, S. 193–220. Für eine Reform der „Integrationskurse mit Alphabetisierung“ — FES impuls 4
Kurvers, Jeanne 2015: Emerging Literacy in Adult Second-Language DIE AUTOR_INNEN Learners: A Synthesis of Research Findings in the Netherlands, in: Wri- Cosima Lemke-Ghafir arbeitete in Berlin, Damaskus, Beirut, Alexan- ting Systems Research 7 (1), S. 58–78. DOI:10.1080/17586801.2014. dria, Buenos Aires und Montevideo als Lehrkraft, Fortbildnerin und 943149. Lektorin für das Goethe-Institut, den DAAD und die Zentralstelle für Lemke-Ghafir, Cosima; Rezzani, Miguel; Schroeder, Christoph; das Auslandsschulwesen. Seit mehreren Jahren ist sie als Lehrkraft Steinbock, Dorothée 2021: Erste Schrift und zweite Sprache: Mi- für Alphabetisierung in Berliner Willkommensklassen tätig. Sie pro- grant_innen ohne oder mit geringer formaler Bildung in Alphabetisie- moviert an der Universität Potsdam im Bereich primärer Alphabeti- rungskursen, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Stu- sierung junger Migrant_innen. dien (IMIS) der Universität Osnabrück, IMIS Working Paper 11, Osna- Miguel Rezzani studierte Deutsch als Fremdsprache in Buenos Ai- brück, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-202106255174 res und in Potsdam. Er arbeitet als Kursleiter in Alphabetisierungs- (18.2.2022). und Integrationskursen in Berlin und ist als Fortbildner für das Goe- Ohliger, Rainer; Polat, Filiz; Schamman, Hannes; Thränhardt, Diet- the-Institut in Deutschland und im Ausland tätig. rich 2017: Integrationskurse reformieren: Steuerung neu koordinieren: Christoph Schroeder ist Professor für Deutsch als Zweit- und Fremd- Schritte zu einer verbesserten Sprachvermittlung, Heinrich-Böll-Stiftung sprache an der Universität Potsdam. Er ist Mitglied im Rat für Mi- (Hrsg.), https://heimatkunde.boell.de/de/e-paper-integrationskurse-refor- gration (RfM) und im Beirat „Sprache” des Goethe-Instituts. mieren (28.2.2022). Dorotheé Steinbock studierte Germanistik und BWL (B.A.) sowie Schramm, Karen 2020: Handlungskompetenzen im DaZ-Alphabetisie- Fremdsprachenlinguistik (M.A.) an der Universität Potsdam. Aktuell rungskurs aufbauen: Vielfältige Unterrichtsmethoden und profilgerech- arbeitet sie als akademische Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Deutsch te Handlungsziele, Vortrag Tagung, Verein AlphaDaZ, Fribourg, https:// als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Potsdam und an www.alphadaz.ch/app/download/18752446125 Prof.+Dr.+Karen+ ihrem Promotionsprojekt im Bereich primärer Alphabetisierung jun- Schramm.pdf?t=1603173247 (27.3.2022). ger Migrant_innen. Schroeder, Christoph; Zakharova, Natalia 2015: Sind die Integra- tionskurse ein Erfolgsmodell? Kritische Bilanz und Ausblick, in: Zeit- IMPRESSUM schrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 35 (8), S. 257–262. ISBN: 978-3-98628-179-3 Tissot, Anna; Croisier, Johannes; Pietrantuono, Giuseppe; Baier, Juni 2022 Andreea; Ninke, Lars; Rother, Nina; Babka von Gostomski, Christian © Friedrich-Ebert-Stiftung 2019: Zwischenbericht 1 zum Forschungsprojekt „Evaluation der Inte- grationskurse (EvIk)“: Erste Analysen und Erkenntnisse, Forschungsbe- Herausgeberin: Abteilung Analyse, Planung und Beratung richt 33 des Forschungszentrums des BAMF, Nürnberg, https://www. Godesberger Allee 149, 53175 Bonn bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Forschungsberichte/fb33- www.fes.de/apb zwischenbericht-evik-I.pdf?__blob=publicationFile&v=9 (27.3.2022). Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich: Susan Javad Bestellungen/Kontakt: apb-publikationen@fes.de Satz: minus design, Berlin, www.minus.de Foto Seite 1: picture alliance/dpa | Sven Hoppe Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung. Eine ge- werbliche Nutzung der von der FES herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustimmung durch die FES nicht gestattet. Publikatio- nen der Friedrich-Ebert-Stiftung dürfen nicht für Wahlkampfzwecke verwendet werden. Für eine Reform der „Integrationskurse mit Alphabetisierung“ — FES impuls 5
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