Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit
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MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit Aufsätze Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit Der Beitrag will vor diesem Hintergrund die Proble- matik der Sanktionierung von Nutzerkonten auf sozi- Aden Sorge1 alen Plattformen herausarbeiten und die Differenzie- rung zwischen Nutzerkonten politischer Amtsträ- ger:innen und sonstigen Nutzer:innen untersuchen. 2021 ist ein Superwahljahr. In sechs Bundesländern wird die Zusammensetzung der Landesparlamente I. Das digitale Hausrecht der Betreiber:innen so- neu bestimmt, außerdem findet im Herbst die Wahl zialer Netzwerke zum 20. Deutschen Bundestag statt. Die Wahlen ste- Soziale Netzwerke sind aus unserer digitalisierten hen unter besonderen Vorzeichen – die aktuelle pan- Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. 94 Prozent demische Lage wird uns aller Voraussicht nach noch der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren bis in den Spätsommer begleiten, sodass wir in die- nutzt das Internet, jede:r Vierte nutzt mindestens wö- sem Jahr wohl den Höhepunkt einer Entwicklung er- chentlich das soziale Netzwerk „Facebook“.2 Die so- leben werden, die sich schon in den vergangenen zialen Netzwerke haben im digitalen Bereich neue Jahren stark abgezeichnet hat: die Verlagerung des Kommunikationsräume und Kommunikationsmög- Wahlkampfes von den öffentlichen Straßen und lichkeiten geschaffen, insofern kommt ihnen insge- Marktplätzen in den digitalen Raum, in die sozialen samt und der Plattform „Facebook“ im Besonderen, Medien und damit einem Bereich, dessen intensive eine tragende Rolle im Bereich der öffentlichen Nutzung gleichermaßen gefragt wie umstritten ist. Kommunikation zu. Die Rahmenbedingungen, unter Der digitale Wahlkampf eröffnet den politischen denen der tägliche Diskurs, die freie Meinungsäuße- Parteien neue Chancen der politischen Kommunika- rung und die politische und gesellschaftliche Debatte tion mit Wähler:innen. Mit vergleichsweise gerin- geführt wird, sind zunächst privatrechtlich gesetzt. gem Aufwand wird eine reichweitenstarke, zeit- und Die Nutzer:innen stimmen bei der Registrierung den ortsunabhängige, zielgruppengenaue politische Nutzungsbedingungen und Gemeinschaftsrichtlinien Kommunikation möglich, die eine umfassende Parti- zu, die die (häufig US-amerikanischen) Unterneh- zipation gerade junger Bürger:innen am Prozess der men einseitig vorgeben. Dass die konkrete Anwen- politischen Willensbildung attraktiver und wahr- dung und Durchsetzung dieser Nutzungsbedingun- scheinlicher macht. gen eine große Sprengkraft entfalten kann, zeigte sich jüngst in den gesellschaftlichen Debatten, die Ist die Nutzung von digitalen Plattformen wie Twit- durch die prominente Sperrung des Twitter-Ac- ter, Facebook, Instagram & Co. also eine Bereiche- counts des 45. Präsidenten der USA ausgelöst wur- rung für den politischen Wettstreit? den. Sie offenbaren ein grundsätzliches Problem im Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA zeigte Umgang mit und den Erwartungen an die insbesondere die Schattenseiten der digitalen politi- Betreiber:innen sozialer Netzwerke: Einerseits wird schen Kommunikation auf: das Verbreiten von gefordert, dass private Unternehmen Inhalte ihrer Falschinformationen, rassistischen und beleidigen- Nutzer:innen nicht nach eigenem Ermessen löschen den Äußerungen, das Sähen von Zweifel über die In- oder deren Accounts sperren dürfen3, anderseits wird tegrität der Wahlen und Aufrufe zu gewalttätigen den Betreiber:innen vorgeworfen, sie würden gerade Ausschreitungen. Dies führte unter anderem zur im Bereich von Hassbotschaften nicht konsequent Sperrung des Twitter-Accounts des 45. Präsidenten reagieren und ihrer gesellschaftlichen Verantwor- der USA und wirkte wie ein Brennglas auf das Pro- tung damit nicht gerecht werden.4 blem des „Deplatforming“. Das Sperren von Nutzer- konten und Löschen von Beiträgen von Politiker:in- 2 nen und Nutzer:innen aus der Mitte der Gesellschaft, Ergebnis der ARD/ZDF-Onlinestudie 2020, abrufbar unter: www.ard-zdf-onlinestudie.de/ardzdf-onlinestudie/pressemittei gerade im Zusammenhang von Wahlen, kann ein in- lung/. tensiver Eingriff in den sensiblen Bereich der Mei- 3 U.a. äußerte Bundeskanzlerin Merkel, die Meinungsfreiheit nungsfreiheit und Chancengleichheit im politischen als Grundrecht von elementarer Bedeutung könne nur durch Wettbewerb sein, der die Literatur und Rechtspre- den Gesetzgeber, nicht nach Maßgabe von Unternehmen ein- chung nun schon seit einigen Jahren beschäftigt. geschränkt werden, vgl. https://www.tagesschau.de/inland/ merkel-trump-twitter-103.html. 4 Das zögernde Verhalten der Betreiber:innen sozialer Netzwer- 1 Aden Sorge ist studentische Hilfskraft am Institut für Deut- ke nahm der Gesetzgeber zum Anlass, im Jahr 2017 das Ge- sches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung setz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen (PRuF) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Netzwerken (NetzDG) zu verabschieden. doi:10.24338/mip-202137-45 37
Aufsätze Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Dieses Spannungsfeld ist für unsere Rechtsprechung rung zur Teilnahme an der Wahl, irreführende Infor- kein Unbekanntes. In den letzten Jahren sind zu der mationen über Wahlergebnisse und auch die Fäl- Problematik der Sperrung von Nutzerkonten und Lö- schung von Nutzerkonten politischer Amtsträger:in- schung von Beiträgen zahlreiche Urteile ergangen, nen, Kandidat:innen und Parteien als sanktionsfähi- die die stark divergierenden Beurteilungen der Ge- ges Verhalten.8 richte zu der Verantwortung der Betreiber:innen so- Wenngleich diese „Verhaltensregeln“ für die aller- zialer Netzwerke offenlegen. meisten von uns Standards einer zivilisierten Debat- 1. Grundrechtsbindung der Betreiber:innen sozi- tenkultur sind, könnten Äußerungen, die gegen diese aler Netzwerke ausschließlich in den Gemeinschaftsrichtlinien ver- ankerten Verhaltensregeln verstoßen, trotzdem von Schon die Frage nach dem „ob“ der Zulässigkeit ei- den Betreiber:innen der sozialen Netzwerke hinge- ner Sanktionierung wird von den Gerichten unter- nommen werden müssen – nämlich dann, wenn diese schiedlich beurteilt. Einigkeit besteht zunächst in von der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG ge- zwei Punkten. Erstens in der Selbstbindung der Be- deckt sind und die sozialen Netzwerke als private treiber:innen sozialer Netzwerke durch die Nut- Akteur:innen unmittelbar oder mittelbar an das zungsbedingungen, wonach eine Sanktionierung von Grundrecht gebunden sind. Inhalten nicht willkürlich erfolgen darf, sondern nur, wenn auch objektiv eine Verletzung vorliegt.5 Zwei- a) Verstärkte/unmittelbare Grundrechtsbindung tens darin, dass den sozialen Netzwerken das Recht der Betreiber:innen und die Pflicht zukommt rechtswidrige Inhalte, also beispielsweise solche, die gegen das Netzwerkdurch- Art. 5 Abs. 1 GG hat ohne Zweifel eine tragende Be- setzungsgesetz verstoßen, zu löschen und in diesem deutung für unsere parlamentarische Demokratie, die Zusammenhang (zumindest temporäre) Sperrungen Gewährleistung einer freien und offenen Kommuni- von Nutzerkonten durchzuführen. Problematisch kation gehört zu ihren Grundprinzipien. Bezugneh- sind jedoch die viel häufigeren Fälle6, in denen die mend auf den hohen Stellenwert der Meinungsfrei- Löschung einzelner Beiträge oder die zeitweise heit „für die menschliche Person und die demokrati- Sperrung der Nutzerkonten ausschließlich auf sche Ordnung“ leitet u.a. das OLG München ab, Grundlage der Gemeinschaftsrichtlinien erfolgt. dass sozialen Netzwerke kein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage zukommen kann, ob zulässige Twitter und Facebook beispielsweise führen in ihren Meinungsäußerungen sanktioniert werden dürfen.9 Gemeinschaftsrichtlinien aus, welche Verhaltens- Für eine solche Einschätzung würde die mittelbare weisen zu einer Sanktionierung führen können. Die Drittwirkung der Grundrechte plädieren. Nach der Erfahrungen aus den Wahlkämpfen der vergangenen ständigen Rechtsprechung des BVerfG können Jahre zeigen uns, dass hier insbesondere die Katego- Grundrechte eine „Ausstrahlungswirkung“ auf das rien „Hassrede“, „Falschmeldungen“ und die auf der einfache Recht haben und als „verfassungsrechtliche Plattform „Twitter“ eigens konzipierte „Richtlinie Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“ zur Integrität staatsbürgerlicher Prozesse“7 relevant auch das Privatrecht beeinflussen.10 Insofern sei in sind. Hassrede wird dabei als „Angriff auf Personen Bezug auf die Löschung von Inhalten oder Sperrung aufgrund geschützter Eigenschaften“, wie beispiels- von Nutzerkonten insbesondere § 241 Ab. 2 BGB, weise ihrer Abstammung, nationalen Herkunft, Reli- der beide Vertragsparteien zur Rücksichtnahme auf gion, sexuellen Orientierung u.w. definiert. In Bezug die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen auf Wahlen gelten die Verbreitung irreführender In- Teils verpflichtet, so auszulegen, dass die Meinungs- formationen, die Unterdrückung und Einschüchte- freiheit der Nutzer:innen weitgehend Wirksamkeit 5 erhalte. Damit sei es unvereinbar, wenn den Betrei- LG Frankfurt, Urteil v. 03.09.2020 – 2-03 O 48/19, juris Rn. ber:innen sozialer Netzwerke ein „virtuelles Haus- 101; Beurskens, „Hate-Speech“ zwischen Löschungsrecht und Veröffentlichungspflicht, in: NJW 2018, 3418 (3420). 8 6 Im Jahr 2020 sperrte oder löschte „Facebook“ von 1276 In- Aus den Gemeinschaftsrichtlinien der Plattform „Twitter“, ab- halten, die über das NetzDG-Meldeformular übermittelt wur- rufbar unter: https://help.twitter.com/de/rules-and-policies/ den, nur 154 Inhalte wegen eines Verstoßes gegen das twitter-rules. 9 NetzDG. Die Sanktionierung der übrigen Inhalte erfolgte auf- So u.a.: OLG München, Beschluss v. 24.08.2018 – 18 grund der eigenen Gemeinschaftsrichtlinien, abrufbar unter: W1294/18, juris Rn. 30; OLG Oldenburg, Urteil v. https://about.fb.com/de/wp-content/uploads/sites/10/2021/01/ 01.07.2019 – 13 W 16/19, juris Rn. 9; Holznagel, Put-back- Facebook-NetzDG-Transparenzbericht-Januar-2021.pdf. Ansprüche gegen soziale Netzwerke: Quo Vadis?, in: CR 7 Abrufbar unter: https://help.twitter.com/de/rules-and-poli 2019, 518 (520). 10 cies/election-integrity-policy. BVerfGE 7, 198 (205). 38 doi:10.24338/mip-202137-45
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit Aufsätze recht“ zustehen würde, dass die Sanktionierung von schen16 zu dulden. Dies würde wohl zu einer weite- Inhalten ermögliche, die innerhalb der Grenzen zu- ren Verschärfung des ohnehin „rauen“ Tons führen lässiger Meinungsäußerungen liegen.11 Die privat- und der Debattenkultur mehr schaden als nützen. rechtlichen Nutzungsbedingungen der sozialen Netz- werke, denen jede:r Nutzer:in zustimmen musste, b) Mittelbare („normale“) Grundrechtsbindung dürften also dort keine Anwendung finden, wo das der Betreiber:innen Grundrecht auf Meinungsfreiheit seine Wirkung ent- Der überwiegende Teil der Literatur17 und der bishe- faltet. Die Nutzer:innen hätten demnach grundsätz- rigen Rechtsprechung18 steht einer staatsähnlichen lich das Recht, zulässige Meinungsäußerungen in oder staatsgleichen Bindung von Betreiber:innen so- den sozialen Netzwerken zu tätigen. Daraus ergeben zialer Netzwerke, trotz einer ggf. marktbeherrschen- sich nach Ansicht des LG Frankfurt auch Ansprüche den Stellung, kritisch gegenüber. Nach ihrer Auffas- gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB auf die Wie- sung würde eine zu starke Bindung der Betreiber:in- derherstellung eines gelöschten Beitrages und Ent- nen an die Grundrechte ihre eigenen grundrechtli- sperrung des Nutzerprofils.12 chen Garantien, z.B. aus Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 Das LG Bamberg hat sogar eine nahezu unmittelbare Abs. 1 GG außer Acht lassen. Die Meinungsfreiheit Bindung der Betreiber:innen sozialer Netzwerke an der Nutzer:innen dürfte nicht prinzipiell Vorrang ge- Art. 5 Abs. 1 GG angenommen und dies mit einer genüber den Grundrechten der Betreiber:innen sozi- „Quasi-Monopolstellung“ begründet, die einzelne aler Netzwerke genießen.19 Die Vergleichbarkeit ei- Plattformen wie „Facebook“ in allen Bereichen des ner marktbeherrschenden Stellung privater Platt- öffentlichen Lebens einnehmen würden.13 Dass eine formbetreiber:innen mit der Monopolstellung staat- staatsnahe oder staatsgleiche Grundrechtsbindung lich geführter oder beherrschter Unternehmen sei Privater möglich ist, hat auch das BVerfG in seiner nicht gegeben.20 Vorzugswürdiger sei aus diesem Entscheidung zum „Recht auf Vergessen I“ festge- Grund, dass die mittelbare Drittwirkung zu einer stellt. Dies sei jedenfalls dann der Fall, „wenn private „normalen Abwägung“ zwischen den sich gegen- Unternehmen eine staatsähnlich dominante Position überstehenden Grundrechten der Betreiber:innen so- innehaben oder die Bereitstellung der Rahmenbedin- zialer Netzwerke und Nutzer:innen führt.21 Im Rah- gungen öffentlicher Kommunikationsräume über- men der praktischen Konkordanz müssten die Rech- nehmen.“14 te der betroffenen Nutzer:innen einerseits mit den Rechten der Betreiber:innen und andererseits mit Danach müssten die Betreiber:innen sozialer Netz- den Rechten aller sonstigen Nutzer:innen abgewo- werke bei der Durchsetzung ihrer Nutzungsbedin- gen werden, die an der Plattform partizipieren.22 Im gungen restriktiv vorgehen. Im Zusammenhang von Wege der Abwägung der widerstreitenden Interessen Wahlen und Prozessen der politischen Meinungsbil- können nach überwiegender Auffassung unterneh- dung könnten die Richtlinien, die die sozialen Netz- merische Faktoren rechtfertigen, dass auch rechtlich werke entwickelt haben, immer dann zu Makulatur werden, wenn die Inhalte von der Meinungsfreiheit 16 Siehe Entscheidung des OLG Brandenburg, Beschluss v. geschützt sind. Nach den Urteilen, die sich auf diese 06.04.2020 – 1 U 44/19, juris. Ansicht stützen, sind beispielsweise Beiträge, die 17 Dazu u.a. Lüdemann, Grundrechtliche Vorgaben für die Lö- Geflüchteten unterstellen „mehrheitlich kriminelle schung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, in: MMR 2019, 279 ff.; Muckel, Grundrechtsberechtigung und Grund- Invasoren“ zu sein, die in Deutschland „vergewalti- rechtsverpflichtung, in: JA 2020, 411 (416); Ruffert, Privat- gen und morden“15 oder auch die Verwendung von rechtswirkung der Grundrechte, in: JuS 2020, 1 (4). abwertenden Bezeichnungen für dunkelhäutige Men- 18 U.a. OLG Schleswig, Urteil v. 26.02.2020 – 9 U 125/19, juris Rn. 78; OLG Brandenburg, Beschluss v. 27.07.2018 – 1 W 11 OLG München, Beschluss v. 24.08.2018 – 18 W1294/18, ju- 28/18, juris; LG Leipzig, Urt. v. 12.07.2019 – 08 O 2491/18, ris Rn. 30; OLG Oldenburg, Urteil v. 01.07.2019 – 13 W in: GRUR-RS 2019, 38785, Rn. 50. 16/19, juris Rn. 9. 19 OLG Dresden, Beschluss vom 08.08.2018 – 4 W 577/18, in: 12 LG Frankfurt, Beschluss v. 14.05.2018 – 2-03 O 182/18, juris NJW 2018, 3111 (3114); Friehe, Löschen und Sperren in so- Rn. 10. zialen Netzwerken, in: NJW 2020, 1967 (1699). 13 20 LG Bamberg, Urteil v. 18.10.2018 – 2 O 248/18, juris Rn. 84. OLG Hamm, Beschluss v. 15.09.2020 – I-29 U 6/29, juris 14 BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13, in: NJW Rn. 155. 21 2020, 300 (307, Rn. 88); Schwartmann/Mühlenbeck, NetzDG Bußmann-Welsch, Hate Speech und Art. 5 GG, jurisPR-ITR und das virtuelle Hausrecht sozialer Netzwerke, in: ZRP 8/2020, S. 3. 2020, 170 (171). 22 VG München, Urteil v. 27.10.2017 – M 26 K 16.5928, juris 15 Siehe LG München I, Urteil v. 22.02.2019 – 26 O 5492/18, Rn. 19; Beurskens, „Hate-Speech“ zwischen Löschungsrecht BeckRS 2019, 38395 Rn. 40. und Veröffentlichungspflicht, in: NJW 2018, 3418 (3420). doi:10.24338/mip-202137-45 39
Aufsätze Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 zulässige Inhalte sanktioniert werden. Dafür bedürfe Recht wird an dieser Stelle eingewendet, dass die es allerdings sachlicher Gründe, „die geeignet, erfor- wirtschaftliche Macht, die einzelnen Netzwerkbe- derlich und auch angemessen sind, um die kollidie- treiber:innen zukommt, nicht mit dem tatsächlichen renden Grundrechte zu wahren“. Dies setze unter an- Machtmonopol des Staates verglichen werden kön- derem voraus, dass die Betreiber:innen der sozialen ne.25 Teilweise wird eine Marktmacht bei sozialen Netzwerke die Sanktionierung bestimmter Inhalte Netzwerken aufgrund des großen Wettbewerbs im nicht in ihr freies Ermessen legen, sondern anhand digitalen Bereich sogar ganz abgelehnt, eine Ange- ihrer Nutzungsbedingungen im Wege der Verhältnis- wiesenheit auf die Meinungsäußerung auf einem be- mäßigkeit die Schwere des Verstoßes bei der Art der stimmten Netzwerk sei angesichts der Breite an Al- Sanktionierung beachten. Danach bestehe grundsätz- ternativen nicht gegeben.26 lich ein „virtuelles Hausrecht“, Verhaltensweisen für Einerseits sind die Bedenken, die Privatisierung öf- die Kommunikation dürften festgelegt und Verstöße fentlicher Kommunikationsräume könne möglicher- sanktioniert werden.23 Den Betreiber:innen der sozi- weise zu einer „Unfreiheit“ gesellschaftlicher Dis- alen Netzwerke würde damit auch das Recht einge- kussionen führen, in denen private Unternehmen die räumt werden, zulässige Meinungsäußerungen der Grenzen des zulässigen Debattenbeitrages nach eige- Nutzer:innen zu sanktionieren. nem Ermessen festlegen, durchaus gerechtfertigt. Dieser Ansicht nach dürften die Betreiber:innen so- Die Gemeinschaftsrichtlinien der relevanten Netz- zialer Netzwerke bei der Durchsetzung ihrer Nut- werkbetreiber:innen haben allerdings nicht zum Ziel, zungsbedingungen, sofern objektive Verstöße vorlie- bestimmte (z.B. politische) Meinungen zu unterbin- gen, wesentlich strikter vorgehen. Obwohl damit den, sondern erachten lediglich bestimme Aus- auch die Grundrechte der privaten Betreiber:innen drucksformen als sanktionsfähig.27 Der Regelungsbe- zur Geltung kommen, birgt eine „Überlagerung“ der darf der Netzwerkbertreiber:innen ist in diesem Be- Meinungsfreiheit einzelner Nutzer:innen mit den reich durchaus nachvollziehbar. Dafür streitet nicht wirtschaftlichen und geschäftlichen Interessen priva- nur ihr eigener grundrechtlicher Schutz, sondern ter Unternehmen die Gefahr, dass der Eindruck er- auch der Schutz anderer Nutzer:innen vor Inhalten, weckt wird, die „Grenzen des Sagbaren“ und die Zu- die gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen.28 Die lässigkeit einzelner Beiträge würden von privaten Pflicht, jegliche Inhalte auf der Plattform zu dulden, Unternehmen und ihren Nutzungsbedingungen fest- würde die berechtigten Interessen der Netzwerkbe- gelegt werden. Ob die Meinungsfreiheit, die für un- treiber:innen außer Acht lassen. Die Festlegung ei- sere parlamentarische Demokratie so wesentlich ist, nes gewissen „Diskussionsniveaus“ dient u.a. dem vor den wirtschaftlichen Interessen privater Unter- Erhalt des Geschäftsbetriebs, der in kommerzieller nehmen, die teilweise in ihrer marktbeherrschenden Hinsicht von der Anzahl aktiver Nutzer:innen und Stellung öffentliche Debatten prägen können, zu- Werbeplatzierungen abhängig ist.29 Insofern würde rücktritt, ist zu Recht zu kritisieren. die Pflicht marktbeherrschender sozialer Netzwerke zur Duldung aller veröffentlichen Inhalte zwangsläu- 2. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf bei der fig ein Klima fördern, indem ein gemäßigter Aus- Ausgestaltung des Hausrechts tausch erschwert werden würde. Unter solchen Für beide Ansichten lassen sich überzeugende Argu- mente finden. Das BVerfG hat sich in Bezug auf die 25 Friehe, Löschen und Sperren in sozialen Netzwerken, in: stärkere Bindung marktbeherrschender Unternehmen NJW 2020, 1967 (1699). in der „Fraport-Entscheidung“ und „Stadionverbot- 26 Hebeler/Berg, Die Grundrechte im Lichte der Digitalisierung, Entscheidung“ klar positioniert. Aus der Monopol- in: JA 2021, 89 (92); Lüdemann, Grundrechtliche Vorgaben stellung privater Unternehmen könne sich eine „be- für die Löschung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, in: MMR 2019, 279 (284). sondere rechtliche Verantwortung“ ergeben, die 27 OLG Nürnberg, Urteil v. 04.08.2020 – 3 U 3641/19, juris Rn. nicht ausschließe, dass Private staatsähnlich oder 114; Holznagel, Put-back-Ansprüche gegen soziale Netzwer- staatsgleich an die Grundrechte gebunden sind.24 Zu ke: Quo Vadis?, in: CR 2019, 518 (521); Lüdemann, Grund- rechtliche Vorgaben für die Löschung von Beiträgen in sozia- 23 So OLG Hamm, Beschluss v. 15.09.2020 – I-29 U 6/29, juris len Netzwerken, in: MMR 2019, 279 (280). 28 Rn. 167; vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 28.02.2019 – 6 W VG München, 27.10.2017 – M 26 K 16.5928, juris Rn. 19; 81/18, juris Rn. 67. Beurskens, „Hate-Speech“ zwischen Löschungsrecht und Ver- 24 „Fraport-Entscheidung“ BVerfGE 128, 226 ff.; „Stadionver- öffentlichungspflicht, in: NJW 2018, 3418 (3420). 29 bot-Entscheidung“ BVerfG, Beschluss v. 11.04.2018 – 1 BvR OLG Nürnberg, Urteil v. 04.08.2020 – 3 U 3641/19, juris Rn. 3080/09, juris; Jobst, Konsequenzen einer unmittelbaren 96; OLG Hamm, Beschluss v. 15.09.2020 – I-29 U 6/29, juris Grundrechtsbindung Privater, in: NJW 2020, 11 ff. Rn. 165. 40 doi:10.24338/mip-202137-45
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit Aufsätze Bedingungen würde die Attraktivität des sozialen II. Privilegierung „politischer Nutzer:innen“ Netzwerkes rapide sinken und damit die Marktstel- Nachdem nun zunächst die Frage nach der grund- lung des sozialen Netzwerkes unverhältnismäßig ge- sätzlichen Zulässigkeit der Sanktionierung von In- fährden.30 halten durch die Betreiber:innen sozialer Netzwerke Unter der Voraussetzung, dass die Gemeinschafts- untersucht wurde, stellt sich im Zusammenhang von richtlinien der Betreiber:innen sozialer Netzwerke politischen Prozessen und insbesondere von Wahlen abstrakt-generelle Verhaltensrichtlinien festlegen, die Frage, ob und inwieweit die sozialen Netzwerke die nicht einzelne Meinungen inhaltlich ausschlie- von ihrem digitalen Hausrecht auch gegenüber Nut- ßen, sondern nur die Äußerung der Meinung an ein zer:innen Gebrauch machen (dürfen), die als Kandi- bestimmtes Diskussionsniveau binden wollen, dat:innen, Amtsträger:innen oder Parteien im politi- scheint es unverhältnismäßig, ihnen ein virtuelles schen Wettbewerb stehen. In die Abwägung der wi- Hausrecht abzusprechen. Dies würde auch der Rolle derstreitenden Interessen zwischen den Netzwerkbe- der sozialen Netzwerke in unserer Gesellschaft nicht treiber:innen und Nutzer:innen müsste damit auch gerecht werden. Die Stärke und Vorteile sozialer das Recht auf Chancengleichheit im politischen Netzwerke liegen gerade darin, dass jede:r unabhän- Wettbewerb gem. Art. 21 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 gig von seiner oder ihrer sozialen Herkunft die i.V.m. Art. 38 Abs. 1 GG Berücksichtigung finden. Chance hat, seine oder ihre Meinungen und Erfah- rungen mit einer weltweiten Öffentlichkeit zu teilen. 1. Angepasste Durchsetzung der Gemeinschafts- Durch soziale Medien können sich Einzelne zu Ge- richtlinien in der Praxis meinschaften zusammenfinden, hierin liegt ein enor- Die Plattform „Twitter“ hat in dieser Hinsicht Trans- mes gesellschaftliches Potenzial.31 Es wäre diesem parenz geschaffen und verweist in ihren Nutzungs- Gedanken völlig abträglich, wenn die Betreiber:in- bedingungen auf eine restriktive Anwendung und nen jede Meinungsäußerung dulden müssten, auch Durchsetzung ihrer Gemeinschaftsrichtlinien bei wenn dies die Freiheit und Sicherheit anderer Nut- Nutzer:innen, die im politischen Wettbewerb ste- zer:innen beeinträchtigt. hen.34 Ihnen kommt insofern eine Privilegierung ge- genüber allen anderen Nutzer:innen zu. Die Platt- Die derzeitige Lage ist sehr unbefriedigend. Die un- form „Twitter“ erklärt dazu, sie wolle im Sinne des einheitliche Rechtsprechung bezüglich der Reich- öffentlichen Interesses Inhalte dulden, wenn ein er- weite des Meinungs- und Äußerungsrechts auf sozia- hebliches Interesse daran bestehe, die Aktionen von len Netzwerken führt zwangsläufig zur Handlungs- gewählten Vertreter:innen oder Regierungsbeamt:in- unsicherheit der Betreiber:innen. Gerade im Zusam- nen kennen und diskutieren zu können. Zugleich menhang von Wahlen müssen die sozialen Netzwer- würde das öffentliche Festhalten der Äußerungen die ke wissen, ob bspw. ihre Richtlinien zur Wahrung Rechenschaftspflicht stärken. Aus den Erfahrungen staatsbürgerlicher Prozesse Anwendung finden dür- des US-Wahlkampfes hat „Twitter“ allerdings die fen und welche Meinungsbeiträge zu dulden sind.32 Möglichkeit etabliert, bestimmte Inhalte mit einem Die Entscheidung in dieser elementaren Frage sollte Hinweis zu versehen, der die Verletzung der Ge- der Gesetzgeber treffen. Denkbar wäre z.B. eine Er- meinschaftsrichtlinien kenntlich macht. Die ver- weiterung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes durch schiedenen sozialen Netzwerke beschreiten in dieser Regelungen, die konkrete Anforderungen an die Ge- Frage jedoch durchaus unterschiedliche Wege. Wäh- meinschaftsrichtlinien stellen und einen Ausgleich rend „Twitter“ zwar eine Privilegierung bestimmter zwischen dem digitalen Hausrecht und der Mei- Nutzer:innen im Zusammenhang mit politischen Pro- nungsfreiheit der Nutzer:innen herstellen.33 zessen und Wahlen bejaht, stellt die Plattform in ihren Richtlinien auch klar, Regierungschef:innen und Staatsoberhäupter seien nicht grundsätzlich von allen Vorgaben der Gemeinschaftsrichtlinien befreit. 30 Janßen, Facebook darf Hassrede löschen, jurisPR-ITR Die marktbeherrschende Plattform „Facebook“ wie- 19/2018, S. 4. derum hat in einer Pressemitteilung vor den Präsi- 31 Nicht zu vergessen ist u.a. die Rolle des sozialen Netzwerkes dentschaftswahlen in den USA erklärt, sie wolle an „Facebook“ im sog. „Arabischen Frühling“. ihrer Ausrichtung festhalten und jede Äußerung von 32 Ablehnend zur Zulässigkeit dieser Richtlinie: OLG Dresden, Politiker:innen auf der Plattform dulden. Die Ein- Hinweisbeschluss v. 07.04.2020 – 4 U 2805/19 juris Rn. 14. 33 schränkung solcher „Äußerungen mit Nachrichten- Über weitere Möglichkeiten Holznagel, Put-back-Ansprüche 34 gegen soziale Netzwerke: Quo Vadis?, in: CR 2019, 518 Gemeinschaftsrichtline abrufbar unter: https://help.twitter.com/ (523 f.). de/rules-and-policies/public-interest. doi:10.24338/mip-202137-45 41
Aufsätze Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 wert“ würde den politischen Diskurs eindämmen in diesem Fall eine einstweilige Anordnung zu und wäre mit den Prinzipien von „Facebook“ nicht Gunsten der politischen Partei erlassen, die im poli- vereinbar.35 Ob eine solche Privilegierung Einzelner tischen Wettbewerb für die Wahlen zum europäi- geboten ist, kann durchaus in Frage gestellt werden, schen Parlament stand. Die verfassungsrechtlichen führt sie gerade zu einer Ungleichbehandlung der Rechtsbeziehungen zwischen Nutzer:innen und Be- Nutzer:innen. treiber:innen sozialer Netzwerke hält das BVerfG explizit für noch ungeklärt. Zugunsten der politi- 2. Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung schen Partei kam das BVerfG zu dem Schluss, dass Die Rechtsprechung hatte im Zusammenhang mit die Folgen einer Sperrung, die im Nachhinein als un- Wahlen und anderen politischen Prozessen bereits rechtmäßig zu beurteilen wäre, schwerer wiegen über die Rechtmäßigkeit von Sperrungen von Nut- würden, als die Folgen, die mit einer zeitlich be- zerkonten oder Löschungen von Beiträgen zu ent- grenzten Duldung der Inhalte durch das soziale scheiden. Das LG Frankenthal hat in seiner Ent- Netzwerk verbunden wären.37 scheidung vom vergangenen September die Recht- Die Landgerichte Dresden38, München39 und Berlin40 mäßigkeit der dauerhaften Sperrung eines Nutzer- haben sich im Wahljahr 2019 mit Verstößen gegen kontos einer „nationalistischen“ politischen Partei die Richtlinie zur Integrität von Wahlen des sozialen bestätigt.36 Diese könne zwar ihre grundrechtsglei- Netzwerkes „Twitter“ befassen müssen. In dem vor chen Rechte als politische Partei aus Art. 21 Abs. 1, dem LG Dresden verhandelten Fall war das Nutzer- Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 GG geltend ma- konto eines Bewerbers um ein Landtagsmandat ge- chen, im Ergebnis würde aber das virtuelle Haus- sperrt worden. Das LG Berlin hatte über die Zuläs- recht der Plattform überwiegen. Der Fall war so ge- sigkeit der Sperrung des Nutzerkontos des Berliner legen, dass der Beitrag der politischen Partei mögli- Landesverbandes der AfD, das LG München über cherweise den Straftatbestand der Volksverhetzung, die Zulässigkeit der Sperrung des Nutzerkontos ei- § 130 StGB erfüllte und damit das Netzwerkdurch- nes Schriftstellers zu entscheiden. Die Gerichte hiel- setzungsgesetz Geltung entfaltete, das Gericht aber ten die Sperrung der Nutzerkonten in allen drei Fäl- bereits aufgrund der Auslegung der Gemeinschafts- len für unrechtmäßig. Die Entscheidungen der Lan- richtlinien das Recht zur Sperrung des Nutzerkontos desgerichte offenbarten ein Problem bei der Umset- bejahte. Ferner ging das Gericht auf die Bekanntheit zung der Richtlinie zur Integrität von Wahlen durch des sozialen Netzwerkes und der damit einhergehen- das soziale Netzwerk „Twitter“: Die sanktionierten den Bedeutung für die (politische) Meinungsbildung Inhalte der Nutzer:innen stellten objektiv keine Ver- ein. Obwohl die politische Partei ihre grundrechts- letzung der Richtlinien dar. Bei der Sperrung der gleichen Rechte auf Chancengleichheit im politi- Nutzerkonten des Bewerbers um ein Landtagsman- schen Wettbewerb anführte, verneinte das LG Fran- dat und des Schriftstellers hat es sich bei den sankti- kenthal die Pflicht marktbeherrschender sozialer onierten Inhalten um satirische Beiträge gehandelt, Netzwerke, Nutzer:innen wieder zu entsperren, die die von der Meinungsfreiheit und auch den Gemein- zulässigerweise gelöscht wurden. Diesen würden schaftsrichtlinien grundsätzlich gedeckt sind und weiterhin andere Formen der Meinungskundgabe, von denen nach der Ansicht der Landgerichte auch wie herkömmliche Medienträger (Flugblätter u.a.) keine Gefahr ausging, den Wahlprozess zu gefähr- oder das Internet zur Verfügung stehen. den. Auch bei den Inhalten, die der Berliner Landes- Anders hatte das Bundesverfassungsgericht in einem verband der AfD auf seinem Nutzerkonto teilte, Eilverfahren zur vorläufigen Entsperrung der Face- konnte keine objektive Verletzung der Richtlinie des book-Seite der Partei „Der III. Weg“ entschieden. sozialen Netzwerkes „Twitter“ festgestellt werden. Nach Ansicht des BVerfG ist für die Verbreitung von politischen Programmen und Ideen der Zugang zu sozialen Netzwerken von überragender Bedeu- 37 BVerfG, Einstweilige Anordnung v. 22.05.2019 – 1 BvQ tung. Durch den Ausschluss aus dem sozialen Netz- 42/19, juris Rn. 18 f.; Friehe, Löschen und Sperren in sozia- werk „Facebook“ würde der politischen Partei „eine len Netzwerken, in: NJW 2020, 1967 (1699). wesentliche Möglichkeit versagt, ihre politischen 38 LG Dresden, Urteil v. 12.11.2019 – 1a O 1056/19 EV, juris. Botschaften zu verbreiten und mit [Nutzer:innen] 39 LG München, Beschluss v. 17.06.2019 – 10 O 73377/19, dazu: (…) aktiv in den Diskurs zu treten.“ Das BVerfG hat https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/lg-muenchen-i-10o7388- 19-twitter-sperre-loeschung-wahlbeeinflussung-rechtswidrig/. 35 Pressemitteilung abrufbar unter: https://about.fb.com/news/ 40 LG Berlin, Beschuss v. 23.05.2019 -27 O 282/19, dazu: 2019/09/elections-and-political-speech/. https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/lg-berlin-untersagt-t 36 LG Frankenthal, Urteil v. 08.09.2020 – 6 O 238/19, juris. witter-sperre-keine-wahlbeeinflussung/. 42 doi:10.24338/mip-202137-45
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit Aufsätze 3. Fehlen rechtlich verbindlicher Handlungsmaß- darf an dieser Stelle auch mehr Transparenz in Be- stäbe zug auf das interne Prüfverfahren, das der Sanktio- Die Sachverhalte offenbaren das Dilemma, in dem nierung von Inhalten vorgeschaltet ist. Es ist un- sich die Betreiber:innen sozialer Netzwerke wie durchsichtig, wer auf Seiten der sozialen Netzwerke „Twitter“ mangels rechtlich verbindlicher Hand- konkret als Rechtsanwender:in agiert, wie viele Mit- lungsmaßstäbe befinden. Erkennen sie einerseits die arbeiter:innen an der Entscheidung der Sanktionie- besondere Schutzbedürftigkeit der politischen Mei- rung von Inhalten mitwirken und wie diese qualifi- nungsbildung im Vorfeld von Wahlen an und mes- ziert sind. Vertreter:innen von „Twitter“ haben sich sen sie gleichzeitig der Wahrung der Integrität von 2019 vor dem Digitalausschuss des Deutschen Bun- demokratischen Wahlprozessen einen sehr hohen destags zu diesen internen Prozessen erklären müs- Stellenwert zu, laufen die Betreiber:innen Gefahr, sen. 42 Nach ihren Aussagen würden die gemeldeten bei der Umsetzung ihrer Gemeinschaftsrichtlinien Inhalte nicht automatisiert durch Algorithmen, son- schon „aus bloßer Vorsicht“ gemeldete Inhalte zu dern von Menschen bearbeitet werden, die allerdings sanktionieren. Durch die vorschnelle und ggf. objek- über die ganze Welt verteilt seien. Inwieweit die ent- tiv nicht gerechtfertigte Sanktionierung gemeldeter scheidenden Akteur:innen mit der deutschen Spra- Inhalte von Nutzer:innen, die im politischen Wettbe- che, dem deutschen Recht oder politischen und ge- werb stehen, können die Betreiber:innen sozialer sellschaftlichen Debatten in Deutschland vertraut Netzwerke den demokratischen Wettbewerb verzer- sind, ist unklar. Dass verschiedene Rechtsanwen- ren und damit die Integrität des demokratischen Pro- der:innen, hier konkret die Betreiber:innen sozialer zesses selbst gefährden. Diese Praxis ist sehr unbe- Netzwerke auf der einen und deutsche Gerichte auf friedigend. Die derzeitige Umsetzung der Gemein- der anderen Seite, zu divergierenden Auffassungen schaftsrichtlinien durch einige soziale Netzwerke und rechtlichen Beurteilungen gelangen, liegt in der stellt nicht nur eine Gefahr für den freien Willensbil- Natur der Sache. Dennoch müssen zumindest grobe dungsprozess dar, sondern genügt auch nicht den ob- Fehler bei der Umsetzung der Gemeinschaftsrichtli- jektiven Anforderungen, die in Teilen der Rechtspre- nien durch die sozialen Netzwerke in Zukunft ver- chung an das Löschen von Inhalten oder die Sper- mieden werden. Dies haben die Betreiber:innen in rung von Nutzerkonten gestellt werden. Wenngleich der Vergangenheit, besonders im Vorfeld der Euro- den Betreiber:innen sozialer Netzwerke ein digitales pawahl 2019, nicht gewährleisten können. Nennens- Hausrecht zusteht, ist dies zumindest an die Voraus- wert sind in Bezug auf die mangelhafte Durchset- setzung geknüpft, dass die Sanktionierung von Inhal- zung der „Richtline zur Integrität von Wahlen“ noch ten der Nutzer:innen nicht „vorschnell“ oder gar folgende drei Fälle. Zunächst die Sperrung des Nut- willkürlich erfolgen kann, sondern auf objektiven zerkontos der Bevollmächtigten des Landes Berlin und überprüfbaren Verletzungen der Nutzungs- und beim Bund und Staatsekretärin für Bürgerschaftliches Gemeinschaftsrichtlinien beruht.41 Engagement und Internationales Sawsan Chebli. Cheblis Nutzerkonto wurde nach dem Tweet „Mein Die sozialen Netzwerke müssen also sicherstellen, Vater hieß Mohammed. Ich heiße Sawsan Moham- dass sie ihre Nutzer:innen nicht „vorschnell“ und ob- med Chebli. Mein ältester Neffe heißt Mohammed. jektiv ungerechtfertigt von ihrer Plattform sperren. Meine Nichte hat ihrem Sohn den Namen ihres Opas Das digitale Hausrecht und die Selbstbindung an die gegeben. Wir werden schon dafür sorgen, dass die- Gemeinschaftsrichtlinien stehen also unter Vorbe- ser Name nie verschwindet.“ gesperrt. Twitter sah in halt. Im Zusammenhang mit Wahlen besteht zwar, diesem Beitrag einen Verstoß gegen die Regeln zum wie die Ereignisse in den USA zeigten, ein enormer Veröffentlichen von irreführenden Informationen zu Handlungsbedarf – dies darf aber nicht zu einem Wahlen. Das Nutzerkonto der „Jüdischen Allgemei- „over-blocking“ führen. Die Betreiber:innen der so- ne“ wurde ebenfalls mit Verweis auf eine mögliche zialen Netzwerke stehen damit in der Verantwortung Wahlbeeinflussung gesperrt, nachdem sie einen Zei- eine effektive Infrastruktur zu entwickeln, die eine tungsbeitrag mit dem Titel „Warum Israels Bot- sachgerechte Überprüfung der gemeldeten Inhalte schafter Jeremy Issacharoff auf Gespräche und ermöglicht. Sie sind in der Pflicht, verlässliche und Treffen mit der AfD verzichtet“ teilte. Eine Sperrung nachvollziehbare Kriterien zu entwickeln, anhand des Nutzerkontos des Mitglieds des Berliner Abge- derer die Sanktionierung von Inhalten erfolgt. Es be- ordnetenhauses Sven Kohlmeier erfolgte für den Tweet „Wie rechtsradikal muss man eigentlich sein, 41 U.a. OLG Schleswig, Urteil v. 26.02.2020 – 9 U 125/19, juris 42 Rn. 79; OLG Dresden, Beschluss v. 08.08.2018 – 4 W Dazu: https://netzpolitik.org/2019/twitter-muss-sich-im-bun 577/18, juris Rn. 25. destag-fuer-kontensperren-rechtfertigen/. doi:10.24338/mip-202137-45 43
Aufsätze Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 um bei der AfD rauszufliegen?“ ebenfalls mit dem rechtfertigter Ausschluss politischer Wettbewer- Vorwurf einer möglichen Wahlbeeinflussung. Diese ber:innen von sozialen Netzwerken nahezu ausge- Beispiele – wie auch die oben geschilderten Verfah- schlossen werden können. Wie die Beispiele gezeigt ren vor den Landgerichten Dresden und München, in haben, ist dies noch nicht der Fall. An dieser Stelle denen es um die rechtliche Einordnung satirischer kann berechtigterweise die Frage gestellt werden, ob Beiträge ging, deren Auswirkungen auf den Wahl- es angesichts dieser ungerechtfertigten Entscheidun- prozess durchaus unterschiedlich zu beurteilen sein gen, von denen es im Vorfeld der Wahl 2019 hun- kann43 – zeigen, dass es zu groben Fehlern bei der derte gab, legitim ist, den Betreiber:innen sozialer Umsetzung der Gemeinschaftsrichtlinien kommen Netzwerke die Möglichkeit zu gewähren, Nutzer:in- kann und Inhalte sanktioniert werden, die schon für nen zu sanktionieren, die am politischen Wettbewerb Laien erkennbar keine Gefahr für die Integrität der teilnehmen. Bei den dargestellten Beispielen hat es Wahlen darstellen. Die Folgen einer solchen unge- sich um sehr „harmlose“ Inhalte gehandelt, die trotz- rechtfertigten Sperrung von Nutzerkonten oder Lö- dem fälschlicherweise als wahlbeeinflussend einge- schung von Inhalten politischer Wettbewerber:innen stuft wurden. Wenn schon solche Inhalte zu einer können, auch wenn sie „nur“ zeitweise erfolgen, ungerechtfertigten Sanktionierung durch die Betrei- schwerwiegend sein. ber:innen führen, dann ist auch eine ungerechtfertigte Sanktionierung von Inhalten, die im Zuge verschärf- Die Bedeutung der sozialen Netzwerke für den öf- ter politischer Auseinandersetzungen mit politischen fentlichen Diskurs und den direkten Kontakt mit Wettstreiter:innen geteilt werden, nicht sehr unwahr- Wähler:innen darf nicht unterschätzt werden, die di- scheinlich. Mögen die Betreiber:innen bei der Sank- gitale Reichweite der Beiträge ist mit etablierten tionierung von verifizierten Nutzerkonten, also bei- Formen der Kommunikation im Wahlkampf nicht zu spielsweise solchen von Spitzerpolitiker:innen, wohl vergleichen. Das BVerfG hat in seinem „III. Weg- noch restriktiv vorgehen, kann davon bei anderen Urteil“ den Einfluss sozialer Medien zu Recht her- politischen Wettbewerber:innen auf Kommunal-, ausgehoben und sich im Wege der einstweiligen An- Landes- oder Bundesebene nicht zwangsläufig aus- ordnung zunächst für das Recht der politischen Par- gegangen werden. Gleiches gilt für die politische tei ausgesprochen, während des Wahlkampfes auf Kommunikation von Parteigliederungen oder Partei- dem sozialen Netzwerk weiterhin aktiv sein zu dür- organisationen, die „traditionell“ in einen sehr zuge- fen.44 Vor diesem Hintergrund sollten die sozialen spitzten Diskurs mit ihren politischen Wettbewer- Netzwerke die Sanktionierung von Inhalten politi- ber:innen treten, wie bspw. die Jugendorganisatio- scher Parteien und Nutzer:innen, die im politischen nen der Parteien oder möglicherweise sogar partei- Wettbewerb stehen, gerade im Vorfeld von Wahlen politisch gebundene „Politik-Influencer:innen“. möglichst solange unterlassen, bis sie verlässliche Strukturen aufgebaut haben, die zumindest grobe Dazu kommen die Zweifel, die die Betreiber:innen Fehler bei der Durchsetzung ihrer Gemeinschafts- sozialer Netzwerke durch die Intransparenz ihrer in- richtlinien verhindern und das BVerfG eine Grund- ternen Entscheidungsprozesse, die zu einer Sanktio- satzentscheidung getroffen, oder der Gesetzgeber nierung von Inhalten führen, selbst hervorgerufen diesbezüglich rechtlich verbindliche Handlungsmaß- haben. Fraglich ist dabei vor allem, welche Rolle Al- stäbe entwickelt hat. gorithmen bei der Beurteilung von Inhalten spielen und welchen Einfluss die Anzahl der Meldungen ei- Angesichts der immer stärker werdenden Bedeutung nes bestimmten Inhaltes auf die Sanktionierung hat. der sozialen Netzwerke ist die Gefahr derzeit noch Im Vorfeld der Europawahl 2019 kam es bspw. zu zu groß, dass durch grobe Fehlentscheidungen der gezielten Missbräuchen der Meldefunktion der Be- Plattformbetreiber:innen ein wichtiger Bestandteil treiber:innen, mit dem Ziel, gemeinschaftlich organi- der politischen Kommunikation für politische Wett- siert Inhalte der politischen Wettbewerber:innen zu bewerber:innen ungerechtfertigt wegfällt. Gerade in melden.45 Solche Taktiken sind ein grobes „Foul“ im Wahlkampfzeiten, in denen gelungene, aber auch demokratischen Wettbewerb und dürfen bei den misslungene Kommunikation unmittelbaren Einfluss Plattformbetreiber:innen nicht zu vorschnellen Sank- auf das Wahlergebnis haben kann, muss ein unge- tionierungen führen. 43 Z.B. wenn es um satirische Beiträge geht, die einen falschen Die derzeitige Praxis der Plattformbetreiber:innen Wahltermin oder die Aufforderung beinhalten, den eigenen führt zu einem sehr unbefriedigenden Ergebnis, denn Stimmzettel zu unterschreiben. 44 45 BVerfG, Einstweilige Anordnung v. 22.05.2019 – 1 BvQ Dazu: https://www.dw.com/de/stolz-auf-den-twitter-missbrau 42/19, juris Rn. 19. ch/a-48734597-0. 44 doi:10.24338/mip-202137-45
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit Aufsätze angesichts der oben ausgeführten Probleme scheint III. Fazit derzeit übergangsweise eine weitgehend unregle- In den nächsten Jahren wird die Digitalisierung der mentierte Kommunikation der politischen Wettbe- Kommunikation immer weiter fortschreiten. Dabei werber:innen die bessere Alternative zu sein. Dies werden sich noch mehr soziale Netzwerke kurz- oder darf aber kein dauerhafter Zustand sein. Die Platt- langfristig etablieren, die mit ihren Gemeinschafts- formbetreiber:innen und der Gesetzgeber müssen richtlinien und Nutzungsbedingungen die öffentliche hier dringend handeln. Diskussion auf ihrem Netzwerk regeln wollen. Dies Für eine Privilegierung von Kandidat:innen, politi- ist keinesfalls grundsätzlich schlecht. Auch in digita- schen Amtsträger:innen und Parteien und einer da- len Kommunikationsräumen müssen Grundsätze aus mit verbundenen Ungleichbehandlung gegenüber dem analogen Miteinander gelten: Debatten sind sonstigen Nutzer:innen spricht vor allem das öffent- weitestgehend nur dann zielführend, wenn sie unter liche Interesse an diesen Inhalten. Politiker:innen ge- zivilisierten Rahmenbedingungen und gegenseitigem ben den Wähler:innen durch die sozialen Netzwerke Respekt stattfinden. Dies fehlt in vielen digitalen einen Einblick in ihre Arbeit, in ihr Denken und ihre Debatten dieser Tage zuhauf. Die unterschiedlichen politischen Positionen und ermöglichen den Wäh- Ansichten zu der Verantwortung der Betreiber:innen ler:innen, sie dadurch besser kennenzulernen. Für sozialer Netzwerke in der Rechtsprechung und Lite- die politische Willensbildung und die Wahlentschei- ratur offenbaren ein wesentliches Problem: in einem dung der Wähler:innen ist das Gesamtbild aus- so sensiblen und wesentlichen Bereich haben wir schlaggebend. Werden ihre Inhalte gelöscht oder ihr noch keinen Umgang mit den neuen Werkzeugen ge- Nutzerkonto gesperrt, birgt dies derzeit mangels funden, der unsere Demokratie stärken könnte. Der rechtlich verbindlicher Handlungsmaßstäbe noch die politische Wettbewerb wird in den nächsten Jahren Gefahr, einer gerichtlichen Überprüfung aufgrund noch stärker in den digitalen Bereich verlagert wer- der besonderen Bedeutung der sozialen Netzwerke den. Bis dahin sollte der Staat die Entscheidung tref- für die politische Kommunikation nicht standzuhal- fen, welche Verantwortung den sozialen Netzwerken ten (s. „III-Weg-Entscheidung“ des BVerfG). Ande- zukommen kann und darf, denn die Herausforderun- rerseits kann durch das Löschen von Inhalten und gen im Umgang mit den sozialen Netzwerken wer- Sperren von Nutzerkonten der Eindruck erweckt den eher zu-, denn abnehmen. werden, der Sachverhalt habe sich damit erledigt. Wer am politischen Wettbewerb teilnimmt, muss aber für seine Äußerungen geradestehen. Dazu ge- hört bspw. auch eine mediale Aufarbeitung bestimm- ter Themen, denn soziale Netzwerke fördern haupt- sächlich die Kommunikation mit der eigenen Ziel- gruppe und der eigenen Wählerschaft. Die breite Öf- fentlichkeit und die Mehrheit der Wähler:innen kann von solchen Äußerungen erst Kenntnis nehmen, wenn sie gesellschaftlich diskutiert werden. Dies wiederum setzt die Verfügbarkeit dieser Inhalte vor- aus. Es darf aber auch nicht der Eindruck erweckt werden, Nutzer:innen, die am politischen Wettbe- werb teilnehmen, dürften ohne Unterlass Hassbot- schaften und Falschinformationen teilen. Hier sollte allerdings langfristig mit anderen Instrumenten gear- beitet werden. Denkbar ist an Stelle des Löschens von Inhalten und Sperren von Nutzerkonten die Mar- kierung des Beitrages mit einem Hinweis, der den Verstoß gegen die Gemeinschaftsrichtlinien hervor- hebt, eine Einschränkung der Kommentarfunktion für alle sonstigen Nutzer:innen und eine Einschrän- kung, diese Inhalte auf den Plattformen zu teilen, so- dass die Verbreitung und Multiplizierung dieser In- halte verhindert wird. doi:10.24338/mip-202137-45 45
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