Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit

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MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1                     Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                         Aufsätze

Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                           Der Beitrag will vor diesem Hintergrund die Proble-
                                                                     matik der Sanktionierung von Nutzerkonten auf sozi-
     Aden Sorge1                                                     alen Plattformen herausarbeiten und die Differenzie-
                                                                     rung zwischen Nutzerkonten politischer Amtsträ-
                                                                     ger:innen und sonstigen Nutzer:innen untersuchen.
2021 ist ein Superwahljahr. In sechs Bundesländern
wird die Zusammensetzung der Landesparlamente                        I. Das digitale Hausrecht der Betreiber:innen so-
neu bestimmt, außerdem findet im Herbst die Wahl                     zialer Netzwerke
zum 20. Deutschen Bundestag statt. Die Wahlen ste-                   Soziale Netzwerke sind aus unserer digitalisierten
hen unter besonderen Vorzeichen – die aktuelle pan-                  Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. 94 Prozent
demische Lage wird uns aller Voraussicht nach noch                   der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren
bis in den Spätsommer begleiten, sodass wir in die-                  nutzt das Internet, jede:r Vierte nutzt mindestens wö-
sem Jahr wohl den Höhepunkt einer Entwicklung er-                    chentlich das soziale Netzwerk „Facebook“.2 Die so-
leben werden, die sich schon in den vergangenen                      zialen Netzwerke haben im digitalen Bereich neue
Jahren stark abgezeichnet hat: die Verlagerung des                   Kommunikationsräume und Kommunikationsmög-
Wahlkampfes von den öffentlichen Straßen und                         lichkeiten geschaffen, insofern kommt ihnen insge-
Marktplätzen in den digitalen Raum, in die sozialen                  samt und der Plattform „Facebook“ im Besonderen,
Medien und damit einem Bereich, dessen intensive                     eine tragende Rolle im Bereich der öffentlichen
Nutzung gleichermaßen gefragt wie umstritten ist.                    Kommunikation zu. Die Rahmenbedingungen, unter
Der digitale Wahlkampf eröffnet den politischen                      denen der tägliche Diskurs, die freie Meinungsäuße-
Parteien neue Chancen der politischen Kommunika-                     rung und die politische und gesellschaftliche Debatte
tion mit Wähler:innen. Mit vergleichsweise gerin-                    geführt wird, sind zunächst privatrechtlich gesetzt.
gem Aufwand wird eine reichweitenstarke, zeit- und                   Die Nutzer:innen stimmen bei der Registrierung den
ortsunabhängige,    zielgruppengenaue    politische                  Nutzungsbedingungen und Gemeinschaftsrichtlinien
Kommunikation möglich, die eine umfassende Parti-                    zu, die die (häufig US-amerikanischen) Unterneh-
zipation gerade junger Bürger:innen am Prozess der                   men einseitig vorgeben. Dass die konkrete Anwen-
politischen Willensbildung attraktiver und wahr-                     dung und Durchsetzung dieser Nutzungsbedingun-
scheinlicher macht.                                                  gen eine große Sprengkraft entfalten kann, zeigte
                                                                     sich jüngst in den gesellschaftlichen Debatten, die
Ist die Nutzung von digitalen Plattformen wie Twit-                  durch die prominente Sperrung des Twitter-Ac-
ter, Facebook, Instagram & Co. also eine Bereiche-                   counts des 45. Präsidenten der USA ausgelöst wur-
rung für den politischen Wettstreit?                                 den. Sie offenbaren ein grundsätzliches Problem im
Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA zeigte                      Umgang mit und den Erwartungen an die
insbesondere die Schattenseiten der digitalen politi-                Betreiber:innen sozialer Netzwerke: Einerseits wird
schen Kommunikation auf: das Verbreiten von                          gefordert, dass private Unternehmen Inhalte ihrer
Falschinformationen, rassistischen und beleidigen-                   Nutzer:innen nicht nach eigenem Ermessen löschen
den Äußerungen, das Sähen von Zweifel über die In-                   oder deren Accounts sperren dürfen3, anderseits wird
tegrität der Wahlen und Aufrufe zu gewalttätigen                     den Betreiber:innen vorgeworfen, sie würden gerade
Ausschreitungen. Dies führte unter anderem zur                       im Bereich von Hassbotschaften nicht konsequent
Sperrung des Twitter-Accounts des 45. Präsidenten                    reagieren und ihrer gesellschaftlichen Verantwor-
der USA und wirkte wie ein Brennglas auf das Pro-                    tung damit nicht gerecht werden.4
blem des „Deplatforming“. Das Sperren von Nutzer-
konten und Löschen von Beiträgen von Politiker:in-
                                                                     2
nen und Nutzer:innen aus der Mitte der Gesellschaft,                     Ergebnis der ARD/ZDF-Onlinestudie 2020, abrufbar unter:
                                                                         www.ard-zdf-onlinestudie.de/ardzdf-onlinestudie/pressemittei
gerade im Zusammenhang von Wahlen, kann ein in-                          lung/.
tensiver Eingriff in den sensiblen Bereich der Mei-                  3
                                                                         U.a. äußerte Bundeskanzlerin Merkel, die Meinungsfreiheit
nungsfreiheit und Chancengleichheit im politischen                       als Grundrecht von elementarer Bedeutung könne nur durch
Wettbewerb sein, der die Literatur und Rechtspre-                        den Gesetzgeber, nicht nach Maßgabe von Unternehmen ein-
chung nun schon seit einigen Jahren beschäftigt.                         geschränkt werden, vgl. https://www.tagesschau.de/inland/
                                                                         merkel-trump-twitter-103.html.
                                                                     4
                                                                         Das zögernde Verhalten der Betreiber:innen sozialer Netzwer-
1
    Aden Sorge ist studentische Hilfskraft am Institut für Deut-         ke nahm der Gesetzgeber zum Anlass, im Jahr 2017 das Ge-
    sches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung        setz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen
    (PRuF) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.                 Netzwerken (NetzDG) zu verabschieden.

doi:10.24338/mip-202137-45                                                                                                        37
Aufsätze                           Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                          MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

Dieses Spannungsfeld ist für unsere Rechtsprechung                    rung zur Teilnahme an der Wahl, irreführende Infor-
kein Unbekanntes. In den letzten Jahren sind zu der                   mationen über Wahlergebnisse und auch die Fäl-
Problematik der Sperrung von Nutzerkonten und Lö-                     schung von Nutzerkonten politischer Amtsträger:in-
schung von Beiträgen zahlreiche Urteile ergangen,                     nen, Kandidat:innen und Parteien als sanktionsfähi-
die die stark divergierenden Beurteilungen der Ge-                    ges Verhalten.8
richte zu der Verantwortung der Betreiber:innen so-
                                                                      Wenngleich diese „Verhaltensregeln“ für die aller-
zialer Netzwerke offenlegen.
                                                                      meisten von uns Standards einer zivilisierten Debat-
1. Grundrechtsbindung der Betreiber:innen sozi-                       tenkultur sind, könnten Äußerungen, die gegen diese
aler Netzwerke                                                        ausschließlich in den Gemeinschaftsrichtlinien ver-
                                                                      ankerten Verhaltensregeln verstoßen, trotzdem von
Schon die Frage nach dem „ob“ der Zulässigkeit ei-                    den Betreiber:innen der sozialen Netzwerke hinge-
ner Sanktionierung wird von den Gerichten unter-                      nommen werden müssen – nämlich dann, wenn diese
schiedlich beurteilt. Einigkeit besteht zunächst in                   von der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG ge-
zwei Punkten. Erstens in der Selbstbindung der Be-                    deckt sind und die sozialen Netzwerke als private
treiber:innen sozialer Netzwerke durch die Nut-                       Akteur:innen unmittelbar oder mittelbar an das
zungsbedingungen, wonach eine Sanktionierung von                      Grundrecht gebunden sind.
Inhalten nicht willkürlich erfolgen darf, sondern nur,
wenn auch objektiv eine Verletzung vorliegt.5 Zwei-                   a) Verstärkte/unmittelbare Grundrechtsbindung
tens darin, dass den sozialen Netzwerken das Recht                    der Betreiber:innen
und die Pflicht zukommt rechtswidrige Inhalte, also
beispielsweise solche, die gegen das Netzwerkdurch-                   Art. 5 Abs. 1 GG hat ohne Zweifel eine tragende Be-
setzungsgesetz verstoßen, zu löschen und in diesem                    deutung für unsere parlamentarische Demokratie, die
Zusammenhang (zumindest temporäre) Sperrungen                         Gewährleistung einer freien und offenen Kommuni-
von Nutzerkonten durchzuführen. Problematisch                         kation gehört zu ihren Grundprinzipien. Bezugneh-
sind jedoch die viel häufigeren Fälle6, in denen die                  mend auf den hohen Stellenwert der Meinungsfrei-
Löschung einzelner Beiträge oder die zeitweise                        heit „für die menschliche Person und die demokrati-
Sperrung der Nutzerkonten ausschließlich auf                          sche Ordnung“ leitet u.a. das OLG München ab,
Grundlage der Gemeinschaftsrichtlinien erfolgt.                       dass sozialen Netzwerke kein Beurteilungsspielraum
                                                                      hinsichtlich der Frage zukommen kann, ob zulässige
Twitter und Facebook beispielsweise führen in ihren                   Meinungsäußerungen sanktioniert werden dürfen.9
Gemeinschaftsrichtlinien aus, welche Verhaltens-                      Für eine solche Einschätzung würde die mittelbare
weisen zu einer Sanktionierung führen können. Die                     Drittwirkung der Grundrechte plädieren. Nach der
Erfahrungen aus den Wahlkämpfen der vergangenen                       ständigen Rechtsprechung des BVerfG können
Jahre zeigen uns, dass hier insbesondere die Katego-                  Grundrechte eine „Ausstrahlungswirkung“ auf das
rien „Hassrede“, „Falschmeldungen“ und die auf der                    einfache Recht haben und als „verfassungsrechtliche
Plattform „Twitter“ eigens konzipierte „Richtlinie                    Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“
zur Integrität staatsbürgerlicher Prozesse“7 relevant                 auch das Privatrecht beeinflussen.10 Insofern sei in
sind. Hassrede wird dabei als „Angriff auf Personen                   Bezug auf die Löschung von Inhalten oder Sperrung
aufgrund geschützter Eigenschaften“, wie beispiels-                   von Nutzerkonten insbesondere § 241 Ab. 2 BGB,
weise ihrer Abstammung, nationalen Herkunft, Reli-                    der beide Vertragsparteien zur Rücksichtnahme auf
gion, sexuellen Orientierung u.w. definiert. In Bezug                 die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen
auf Wahlen gelten die Verbreitung irreführender In-                   Teils verpflichtet, so auszulegen, dass die Meinungs-
formationen, die Unterdrückung und Einschüchte-                       freiheit der Nutzer:innen weitgehend Wirksamkeit
5
                                                                      erhalte. Damit sei es unvereinbar, wenn den Betrei-
    LG Frankfurt, Urteil v. 03.09.2020 – 2-03 O 48/19, juris Rn.      ber:innen sozialer Netzwerke ein „virtuelles Haus-
    101; Beurskens, „Hate-Speech“ zwischen Löschungsrecht und
    Veröffentlichungspflicht, in: NJW 2018, 3418 (3420).
                                                                      8
6
    Im Jahr 2020 sperrte oder löschte „Facebook“ von 1276 In-              Aus den Gemeinschaftsrichtlinien der Plattform „Twitter“, ab-
    halten, die über das NetzDG-Meldeformular übermittelt wur-             rufbar unter: https://help.twitter.com/de/rules-and-policies/
    den, nur 154 Inhalte wegen eines Verstoßes gegen das                   twitter-rules.
                                                                      9
    NetzDG. Die Sanktionierung der übrigen Inhalte erfolgte auf-           So u.a.: OLG München, Beschluss v. 24.08.2018 – 18
    grund der eigenen Gemeinschaftsrichtlinien, abrufbar unter:            W1294/18, juris Rn. 30; OLG Oldenburg, Urteil v.
    https://about.fb.com/de/wp-content/uploads/sites/10/2021/01/           01.07.2019 – 13 W 16/19, juris Rn. 9; Holznagel, Put-back-
    Facebook-NetzDG-Transparenzbericht-Januar-2021.pdf.                    Ansprüche gegen soziale Netzwerke: Quo Vadis?, in: CR
7
    Abrufbar unter: https://help.twitter.com/de/rules-and-poli             2019, 518 (520).
                                                                      10
    cies/election-integrity-policy.                                        BVerfGE 7, 198 (205).

38                                                                                                  doi:10.24338/mip-202137-45
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1                      Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                           Aufsätze

recht“ zustehen würde, dass die Sanktionierung von                    schen16 zu dulden. Dies würde wohl zu einer weite-
Inhalten ermögliche, die innerhalb der Grenzen zu-                    ren Verschärfung des ohnehin „rauen“ Tons führen
lässiger Meinungsäußerungen liegen.11 Die privat-                     und der Debattenkultur mehr schaden als nützen.
rechtlichen Nutzungsbedingungen der sozialen Netz-
werke, denen jede:r Nutzer:in zustimmen musste,                       b) Mittelbare („normale“) Grundrechtsbindung
dürften also dort keine Anwendung finden, wo das                      der Betreiber:innen
Grundrecht auf Meinungsfreiheit seine Wirkung ent-                    Der überwiegende Teil der Literatur17 und der bishe-
faltet. Die Nutzer:innen hätten demnach grundsätz-                    rigen Rechtsprechung18 steht einer staatsähnlichen
lich das Recht, zulässige Meinungsäußerungen in                       oder staatsgleichen Bindung von Betreiber:innen so-
den sozialen Netzwerken zu tätigen. Daraus ergeben                    zialer Netzwerke, trotz einer ggf. marktbeherrschen-
sich nach Ansicht des LG Frankfurt auch Ansprüche                     den Stellung, kritisch gegenüber. Nach ihrer Auffas-
gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB auf die Wie-                       sung würde eine zu starke Bindung der Betreiber:in-
derherstellung eines gelöschten Beitrages und Ent-                    nen an die Grundrechte ihre eigenen grundrechtli-
sperrung des Nutzerprofils.12                                         chen Garantien, z.B. aus Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14
Das LG Bamberg hat sogar eine nahezu unmittelbare                     Abs. 1 GG außer Acht lassen. Die Meinungsfreiheit
Bindung der Betreiber:innen sozialer Netzwerke an                     der Nutzer:innen dürfte nicht prinzipiell Vorrang ge-
Art. 5 Abs. 1 GG angenommen und dies mit einer                        genüber den Grundrechten der Betreiber:innen sozi-
„Quasi-Monopolstellung“ begründet, die einzelne                       aler Netzwerke genießen.19 Die Vergleichbarkeit ei-
Plattformen wie „Facebook“ in allen Bereichen des                     ner marktbeherrschenden Stellung privater Platt-
öffentlichen Lebens einnehmen würden.13 Dass eine                     formbetreiber:innen mit der Monopolstellung staat-
staatsnahe oder staatsgleiche Grundrechtsbindung                      lich geführter oder beherrschter Unternehmen sei
Privater möglich ist, hat auch das BVerfG in seiner                   nicht gegeben.20 Vorzugswürdiger sei aus diesem
Entscheidung zum „Recht auf Vergessen I“ festge-                      Grund, dass die mittelbare Drittwirkung zu einer
stellt. Dies sei jedenfalls dann der Fall, „wenn private              „normalen Abwägung“ zwischen den sich gegen-
Unternehmen eine staatsähnlich dominante Position                     überstehenden Grundrechten der Betreiber:innen so-
innehaben oder die Bereitstellung der Rahmenbedin-                    zialer Netzwerke und Nutzer:innen führt.21 Im Rah-
gungen öffentlicher Kommunikationsräume über-                         men der praktischen Konkordanz müssten die Rech-
nehmen.“14                                                            te der betroffenen Nutzer:innen einerseits mit den
                                                                      Rechten der Betreiber:innen und andererseits mit
Danach müssten die Betreiber:innen sozialer Netz-                     den Rechten aller sonstigen Nutzer:innen abgewo-
werke bei der Durchsetzung ihrer Nutzungsbedin-                       gen werden, die an der Plattform partizipieren.22 Im
gungen restriktiv vorgehen. Im Zusammenhang von                       Wege der Abwägung der widerstreitenden Interessen
Wahlen und Prozessen der politischen Meinungsbil-                     können nach überwiegender Auffassung unterneh-
dung könnten die Richtlinien, die die sozialen Netz-                  merische Faktoren rechtfertigen, dass auch rechtlich
werke entwickelt haben, immer dann zu Makulatur
werden, wenn die Inhalte von der Meinungsfreiheit                     16
                                                                           Siehe Entscheidung des OLG Brandenburg, Beschluss v.
geschützt sind. Nach den Urteilen, die sich auf diese                      06.04.2020 – 1 U 44/19, juris.
Ansicht stützen, sind beispielsweise Beiträge, die                    17
                                                                           Dazu u.a. Lüdemann, Grundrechtliche Vorgaben für die Lö-
Geflüchteten unterstellen „mehrheitlich kriminelle                         schung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, in: MMR
                                                                           2019, 279 ff.; Muckel, Grundrechtsberechtigung und Grund-
Invasoren“ zu sein, die in Deutschland „vergewalti-                        rechtsverpflichtung, in: JA 2020, 411 (416); Ruffert, Privat-
gen und morden“15 oder auch die Verwendung von                             rechtswirkung der Grundrechte, in: JuS 2020, 1 (4).
abwertenden Bezeichnungen für dunkelhäutige Men-                      18
                                                                           U.a. OLG Schleswig, Urteil v. 26.02.2020 – 9 U 125/19, juris
                                                                           Rn. 78; OLG Brandenburg, Beschluss v. 27.07.2018 – 1 W
11
     OLG München, Beschluss v. 24.08.2018 – 18 W1294/18, ju-               28/18, juris; LG Leipzig, Urt. v. 12.07.2019 – 08 O 2491/18,
     ris Rn. 30; OLG Oldenburg, Urteil v. 01.07.2019 – 13 W                in: GRUR-RS 2019, 38785, Rn. 50.
     16/19, juris Rn. 9.                                              19
                                                                           OLG Dresden, Beschluss vom 08.08.2018 – 4 W 577/18, in:
12
     LG Frankfurt, Beschluss v. 14.05.2018 – 2-03 O 182/18, juris          NJW 2018, 3111 (3114); Friehe, Löschen und Sperren in so-
     Rn. 10.                                                               zialen Netzwerken, in: NJW 2020, 1967 (1699).
13                                                                    20
     LG Bamberg, Urteil v. 18.10.2018 – 2 O 248/18, juris Rn. 84.          OLG Hamm, Beschluss v. 15.09.2020 – I-29 U 6/29, juris
14
     BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13, in: NJW                Rn. 155.
                                                                      21
     2020, 300 (307, Rn. 88); Schwartmann/Mühlenbeck, NetzDG               Bußmann-Welsch, Hate Speech und Art. 5 GG, jurisPR-ITR
     und das virtuelle Hausrecht sozialer Netzwerke, in: ZRP               8/2020, S. 3.
     2020, 170 (171).                                                 22
                                                                           VG München, Urteil v. 27.10.2017 – M 26 K 16.5928, juris
15
     Siehe LG München I, Urteil v. 22.02.2019 – 26 O 5492/18,              Rn. 19; Beurskens, „Hate-Speech“ zwischen Löschungsrecht
     BeckRS 2019, 38395 Rn. 40.                                            und Veröffentlichungspflicht, in: NJW 2018, 3418 (3420).

doi:10.24338/mip-202137-45                                                                                                           39
Aufsätze                           Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                         MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

zulässige Inhalte sanktioniert werden. Dafür bedürfe                  Recht wird an dieser Stelle eingewendet, dass die
es allerdings sachlicher Gründe, „die geeignet, erfor-                wirtschaftliche Macht, die einzelnen Netzwerkbe-
derlich und auch angemessen sind, um die kollidie-                    treiber:innen zukommt, nicht mit dem tatsächlichen
renden Grundrechte zu wahren“. Dies setze unter an-                   Machtmonopol des Staates verglichen werden kön-
derem voraus, dass die Betreiber:innen der sozialen                   ne.25 Teilweise wird eine Marktmacht bei sozialen
Netzwerke die Sanktionierung bestimmter Inhalte                       Netzwerken aufgrund des großen Wettbewerbs im
nicht in ihr freies Ermessen legen, sondern anhand                    digitalen Bereich sogar ganz abgelehnt, eine Ange-
ihrer Nutzungsbedingungen im Wege der Verhältnis-                     wiesenheit auf die Meinungsäußerung auf einem be-
mäßigkeit die Schwere des Verstoßes bei der Art der                   stimmten Netzwerk sei angesichts der Breite an Al-
Sanktionierung beachten. Danach bestehe grundsätz-                    ternativen nicht gegeben.26
lich ein „virtuelles Hausrecht“, Verhaltensweisen für
                                                                      Einerseits sind die Bedenken, die Privatisierung öf-
die Kommunikation dürften festgelegt und Verstöße
                                                                      fentlicher Kommunikationsräume könne möglicher-
sanktioniert werden.23 Den Betreiber:innen der sozi-
                                                                      weise zu einer „Unfreiheit“ gesellschaftlicher Dis-
alen Netzwerke würde damit auch das Recht einge-
                                                                      kussionen führen, in denen private Unternehmen die
räumt werden, zulässige Meinungsäußerungen der
                                                                      Grenzen des zulässigen Debattenbeitrages nach eige-
Nutzer:innen zu sanktionieren.
                                                                      nem Ermessen festlegen, durchaus gerechtfertigt.
Dieser Ansicht nach dürften die Betreiber:innen so-                   Die Gemeinschaftsrichtlinien der relevanten Netz-
zialer Netzwerke bei der Durchsetzung ihrer Nut-                      werkbetreiber:innen haben allerdings nicht zum Ziel,
zungsbedingungen, sofern objektive Verstöße vorlie-                   bestimmte (z.B. politische) Meinungen zu unterbin-
gen, wesentlich strikter vorgehen. Obwohl damit                       den, sondern erachten lediglich bestimme Aus-
auch die Grundrechte der privaten Betreiber:innen                     drucksformen als sanktionsfähig.27 Der Regelungsbe-
zur Geltung kommen, birgt eine „Überlagerung“ der                     darf der Netzwerkbertreiber:innen ist in diesem Be-
Meinungsfreiheit einzelner Nutzer:innen mit den                       reich durchaus nachvollziehbar. Dafür streitet nicht
wirtschaftlichen und geschäftlichen Interessen priva-                 nur ihr eigener grundrechtlicher Schutz, sondern
ter Unternehmen die Gefahr, dass der Eindruck er-                     auch der Schutz anderer Nutzer:innen vor Inhalten,
weckt wird, die „Grenzen des Sagbaren“ und die Zu-                    die gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen.28 Die
lässigkeit einzelner Beiträge würden von privaten                     Pflicht, jegliche Inhalte auf der Plattform zu dulden,
Unternehmen und ihren Nutzungsbedingungen fest-                       würde die berechtigten Interessen der Netzwerkbe-
gelegt werden. Ob die Meinungsfreiheit, die für un-                   treiber:innen außer Acht lassen. Die Festlegung ei-
sere parlamentarische Demokratie so wesentlich ist,                   nes gewissen „Diskussionsniveaus“ dient u.a. dem
vor den wirtschaftlichen Interessen privater Unter-                   Erhalt des Geschäftsbetriebs, der in kommerzieller
nehmen, die teilweise in ihrer marktbeherrschenden                    Hinsicht von der Anzahl aktiver Nutzer:innen und
Stellung öffentliche Debatten prägen können, zu-                      Werbeplatzierungen abhängig ist.29 Insofern würde
rücktritt, ist zu Recht zu kritisieren.                               die Pflicht marktbeherrschender sozialer Netzwerke
                                                                      zur Duldung aller veröffentlichen Inhalte zwangsläu-
2. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf bei der                          fig ein Klima fördern, indem ein gemäßigter Aus-
Ausgestaltung des Hausrechts                                          tausch erschwert werden würde. Unter solchen
Für beide Ansichten lassen sich überzeugende Argu-
mente finden. Das BVerfG hat sich in Bezug auf die                    25
                                                                           Friehe, Löschen und Sperren in sozialen Netzwerken, in:
stärkere Bindung marktbeherrschender Unternehmen                           NJW 2020, 1967 (1699).
in der „Fraport-Entscheidung“ und „Stadionverbot-                     26
                                                                           Hebeler/Berg, Die Grundrechte im Lichte der Digitalisierung,
Entscheidung“ klar positioniert. Aus der Monopol-                          in: JA 2021, 89 (92); Lüdemann, Grundrechtliche Vorgaben
stellung privater Unternehmen könne sich eine „be-                         für die Löschung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, in:
                                                                           MMR 2019, 279 (284).
sondere rechtliche Verantwortung“ ergeben, die                        27
                                                                           OLG Nürnberg, Urteil v. 04.08.2020 – 3 U 3641/19, juris Rn.
nicht ausschließe, dass Private staatsähnlich oder                         114; Holznagel, Put-back-Ansprüche gegen soziale Netzwer-
staatsgleich an die Grundrechte gebunden sind.24 Zu                        ke: Quo Vadis?, in: CR 2019, 518 (521); Lüdemann, Grund-
                                                                           rechtliche Vorgaben für die Löschung von Beiträgen in sozia-
23
     So OLG Hamm, Beschluss v. 15.09.2020 – I-29 U 6/29, juris             len Netzwerken, in: MMR 2019, 279 (280).
                                                                      28
     Rn. 167; vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 28.02.2019 – 6 W            VG München, 27.10.2017 – M 26 K 16.5928, juris Rn. 19;
     81/18, juris Rn. 67.                                                  Beurskens, „Hate-Speech“ zwischen Löschungsrecht und Ver-
24
     „Fraport-Entscheidung“ BVerfGE 128, 226 ff.; „Stadionver-             öffentlichungspflicht, in: NJW 2018, 3418 (3420).
                                                                      29
     bot-Entscheidung“ BVerfG, Beschluss v. 11.04.2018 – 1 BvR             OLG Nürnberg, Urteil v. 04.08.2020 – 3 U 3641/19, juris Rn.
     3080/09, juris; Jobst, Konsequenzen einer unmittelbaren               96; OLG Hamm, Beschluss v. 15.09.2020 – I-29 U 6/29, juris
     Grundrechtsbindung Privater, in: NJW 2020, 11 ff.                     Rn. 165.

40                                                                                                  doi:10.24338/mip-202137-45
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1                      Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                             Aufsätze

Bedingungen würde die Attraktivität des sozialen                      II. Privilegierung „politischer Nutzer:innen“
Netzwerkes rapide sinken und damit die Marktstel-
                                                                      Nachdem nun zunächst die Frage nach der grund-
lung des sozialen Netzwerkes unverhältnismäßig ge-
                                                                      sätzlichen Zulässigkeit der Sanktionierung von In-
fährden.30
                                                                      halten durch die Betreiber:innen sozialer Netzwerke
Unter der Voraussetzung, dass die Gemeinschafts-                      untersucht wurde, stellt sich im Zusammenhang von
richtlinien der Betreiber:innen sozialer Netzwerke                    politischen Prozessen und insbesondere von Wahlen
abstrakt-generelle Verhaltensrichtlinien festlegen,                   die Frage, ob und inwieweit die sozialen Netzwerke
die nicht einzelne Meinungen inhaltlich ausschlie-                    von ihrem digitalen Hausrecht auch gegenüber Nut-
ßen, sondern nur die Äußerung der Meinung an ein                      zer:innen Gebrauch machen (dürfen), die als Kandi-
bestimmtes Diskussionsniveau binden wollen,                           dat:innen, Amtsträger:innen oder Parteien im politi-
scheint es unverhältnismäßig, ihnen ein virtuelles                    schen Wettbewerb stehen. In die Abwägung der wi-
Hausrecht abzusprechen. Dies würde auch der Rolle                     derstreitenden Interessen zwischen den Netzwerkbe-
der sozialen Netzwerke in unserer Gesellschaft nicht                  treiber:innen und Nutzer:innen müsste damit auch
gerecht werden. Die Stärke und Vorteile sozialer                      das Recht auf Chancengleichheit im politischen
Netzwerke liegen gerade darin, dass jede:r unabhän-                   Wettbewerb gem. Art. 21 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1
gig von seiner oder ihrer sozialen Herkunft die                       i.V.m. Art. 38 Abs. 1 GG Berücksichtigung finden.
Chance hat, seine oder ihre Meinungen und Erfah-
rungen mit einer weltweiten Öffentlichkeit zu teilen.                 1. Angepasste Durchsetzung der Gemeinschafts-
Durch soziale Medien können sich Einzelne zu Ge-                      richtlinien in der Praxis
meinschaften zusammenfinden, hierin liegt ein enor-                   Die Plattform „Twitter“ hat in dieser Hinsicht Trans-
mes gesellschaftliches Potenzial.31 Es wäre diesem                    parenz geschaffen und verweist in ihren Nutzungs-
Gedanken völlig abträglich, wenn die Betreiber:in-                    bedingungen auf eine restriktive Anwendung und
nen jede Meinungsäußerung dulden müssten, auch                        Durchsetzung ihrer Gemeinschaftsrichtlinien bei
wenn dies die Freiheit und Sicherheit anderer Nut-                    Nutzer:innen, die im politischen Wettbewerb ste-
zer:innen beeinträchtigt.                                             hen.34 Ihnen kommt insofern eine Privilegierung ge-
                                                                      genüber allen anderen Nutzer:innen zu. Die Platt-
Die derzeitige Lage ist sehr unbefriedigend. Die un-
                                                                      form „Twitter“ erklärt dazu, sie wolle im Sinne des
einheitliche Rechtsprechung bezüglich der Reich-
                                                                      öffentlichen Interesses Inhalte dulden, wenn ein er-
weite des Meinungs- und Äußerungsrechts auf sozia-
                                                                      hebliches Interesse daran bestehe, die Aktionen von
len Netzwerken führt zwangsläufig zur Handlungs-
                                                                      gewählten Vertreter:innen oder Regierungsbeamt:in-
unsicherheit der Betreiber:innen. Gerade im Zusam-
                                                                      nen kennen und diskutieren zu können. Zugleich
menhang von Wahlen müssen die sozialen Netzwer-
                                                                      würde das öffentliche Festhalten der Äußerungen die
ke wissen, ob bspw. ihre Richtlinien zur Wahrung
                                                                      Rechenschaftspflicht stärken. Aus den Erfahrungen
staatsbürgerlicher Prozesse Anwendung finden dür-
                                                                      des US-Wahlkampfes hat „Twitter“ allerdings die
fen und welche Meinungsbeiträge zu dulden sind.32
                                                                      Möglichkeit etabliert, bestimmte Inhalte mit einem
Die Entscheidung in dieser elementaren Frage sollte
                                                                      Hinweis zu versehen, der die Verletzung der Ge-
der Gesetzgeber treffen. Denkbar wäre z.B. eine Er-
                                                                      meinschaftsrichtlinien kenntlich macht. Die ver-
weiterung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes durch
                                                                      schiedenen sozialen Netzwerke beschreiten in dieser
Regelungen, die konkrete Anforderungen an die Ge-
                                                                      Frage jedoch durchaus unterschiedliche Wege. Wäh-
meinschaftsrichtlinien stellen und einen Ausgleich
                                                                      rend „Twitter“ zwar eine Privilegierung bestimmter
zwischen dem digitalen Hausrecht und der Mei-
                                                                      Nutzer:innen im Zusammenhang mit politischen Pro-
nungsfreiheit der Nutzer:innen herstellen.33
                                                                      zessen und Wahlen bejaht, stellt die Plattform in
                                                                      ihren Richtlinien auch klar, Regierungschef:innen
                                                                      und Staatsoberhäupter seien nicht grundsätzlich von
                                                                      allen Vorgaben der Gemeinschaftsrichtlinien befreit.
30
     Janßen, Facebook darf Hassrede löschen, jurisPR-ITR              Die marktbeherrschende Plattform „Facebook“ wie-
     19/2018, S. 4.                                                   derum hat in einer Pressemitteilung vor den Präsi-
31
     Nicht zu vergessen ist u.a. die Rolle des sozialen Netzwerkes    dentschaftswahlen in den USA erklärt, sie wolle an
     „Facebook“ im sog. „Arabischen Frühling“.                        ihrer Ausrichtung festhalten und jede Äußerung von
32
     Ablehnend zur Zulässigkeit dieser Richtlinie: OLG Dresden,       Politiker:innen auf der Plattform dulden. Die Ein-
     Hinweisbeschluss v. 07.04.2020 – 4 U 2805/19 juris Rn. 14.
33
                                                                      schränkung solcher „Äußerungen mit Nachrichten-
     Über weitere Möglichkeiten Holznagel, Put-back-Ansprüche
                                                                      34
     gegen soziale Netzwerke: Quo Vadis?, in: CR 2019, 518                 Gemeinschaftsrichtline abrufbar unter: https://help.twitter.com/
     (523 f.).                                                             de/rules-and-policies/public-interest.

doi:10.24338/mip-202137-45                                                                                                             41
Aufsätze                           Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                          MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

wert“ würde den politischen Diskurs eindämmen         in diesem Fall eine einstweilige Anordnung zu
und wäre mit den Prinzipien von „Facebook“ nicht      Gunsten der politischen Partei erlassen, die im poli-
vereinbar.35 Ob eine solche Privilegierung Einzelner  tischen Wettbewerb für die Wahlen zum europäi-
geboten ist, kann durchaus in Frage gestellt werden,  schen Parlament stand. Die verfassungsrechtlichen
führt sie gerade zu einer Ungleichbehandlung der      Rechtsbeziehungen zwischen Nutzer:innen und Be-
Nutzer:innen.                                         treiber:innen sozialer Netzwerke hält das BVerfG
                                                      explizit für noch ungeklärt. Zugunsten der politi-
2. Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung               schen Partei kam das BVerfG zu dem Schluss, dass
Die Rechtsprechung hatte im Zusammenhang mit die Folgen einer Sperrung, die im Nachhinein als un-
Wahlen und anderen politischen Prozessen bereits rechtmäßig zu beurteilen wäre, schwerer wiegen
über die Rechtmäßigkeit von Sperrungen von Nut- würden, als die Folgen, die mit einer zeitlich be-
zerkonten oder Löschungen von Beiträgen zu ent- grenzten Duldung der Inhalte durch das soziale
scheiden. Das LG Frankenthal hat in seiner Ent- Netzwerk verbunden wären.37
scheidung vom vergangenen September die Recht- Die Landgerichte Dresden38, München39 und Berlin40
mäßigkeit der dauerhaften Sperrung eines Nutzer- haben sich im Wahljahr 2019 mit Verstößen gegen
kontos einer „nationalistischen“ politischen Partei die Richtlinie zur Integrität von Wahlen des sozialen
bestätigt.36 Diese könne zwar ihre grundrechtsglei- Netzwerkes „Twitter“ befassen müssen. In dem vor
chen Rechte als politische Partei aus Art. 21 Abs. 1, dem LG Dresden verhandelten Fall war das Nutzer-
Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 GG geltend ma- konto eines Bewerbers um ein Landtagsmandat ge-
chen, im Ergebnis würde aber das virtuelle Haus- sperrt worden. Das LG Berlin hatte über die Zuläs-
recht der Plattform überwiegen. Der Fall war so ge- sigkeit der Sperrung des Nutzerkontos des Berliner
legen, dass der Beitrag der politischen Partei mögli- Landesverbandes der AfD, das LG München über
cherweise den Straftatbestand der Volksverhetzung, die Zulässigkeit der Sperrung des Nutzerkontos ei-
§ 130 StGB erfüllte und damit das Netzwerkdurch- nes Schriftstellers zu entscheiden. Die Gerichte hiel-
setzungsgesetz Geltung entfaltete, das Gericht aber ten die Sperrung der Nutzerkonten in allen drei Fäl-
bereits aufgrund der Auslegung der Gemeinschafts- len für unrechtmäßig. Die Entscheidungen der Lan-
richtlinien das Recht zur Sperrung des Nutzerkontos desgerichte offenbarten ein Problem bei der Umset-
bejahte. Ferner ging das Gericht auf die Bekanntheit zung der Richtlinie zur Integrität von Wahlen durch
des sozialen Netzwerkes und der damit einhergehen- das soziale Netzwerk „Twitter“: Die sanktionierten
den Bedeutung für die (politische) Meinungsbildung Inhalte der Nutzer:innen stellten objektiv keine Ver-
ein. Obwohl die politische Partei ihre grundrechts- letzung der Richtlinien dar. Bei der Sperrung der
gleichen Rechte auf Chancengleichheit im politi- Nutzerkonten des Bewerbers um ein Landtagsman-
schen Wettbewerb anführte, verneinte das LG Fran- dat und des Schriftstellers hat es sich bei den sankti-
kenthal die Pflicht marktbeherrschender sozialer onierten Inhalten um satirische Beiträge gehandelt,
Netzwerke, Nutzer:innen wieder zu entsperren, die die von der Meinungsfreiheit und auch den Gemein-
zulässigerweise gelöscht wurden. Diesen würden schaftsrichtlinien grundsätzlich gedeckt sind und
weiterhin andere Formen der Meinungskundgabe, von denen nach der Ansicht der Landgerichte auch
wie herkömmliche Medienträger (Flugblätter u.a.) keine Gefahr ausging, den Wahlprozess zu gefähr-
oder das Internet zur Verfügung stehen.               den. Auch bei den Inhalten, die der Berliner Landes-
Anders hatte das Bundesverfassungsgericht in einem                    verband der AfD auf seinem Nutzerkonto teilte,
Eilverfahren zur vorläufigen Entsperrung der Face-                    konnte keine objektive Verletzung der Richtlinie des
book-Seite der Partei „Der III. Weg“ entschieden.                     sozialen Netzwerkes „Twitter“ festgestellt werden.
Nach Ansicht des BVerfG ist für die Verbreitung
von politischen Programmen und Ideen der Zugang
zu sozialen Netzwerken von überragender Bedeu-                        37
                                                                           BVerfG, Einstweilige Anordnung v. 22.05.2019 – 1 BvQ
tung. Durch den Ausschluss aus dem sozialen Netz-                          42/19, juris Rn. 18 f.; Friehe, Löschen und Sperren in sozia-
werk „Facebook“ würde der politischen Partei „eine                         len Netzwerken, in: NJW 2020, 1967 (1699).
wesentliche Möglichkeit versagt, ihre politischen                     38
                                                                           LG Dresden, Urteil v. 12.11.2019 – 1a O 1056/19 EV, juris.
Botschaften zu verbreiten und mit [Nutzer:innen]                      39
                                                                           LG München, Beschluss v. 17.06.2019 – 10 O 73377/19, dazu:
(…) aktiv in den Diskurs zu treten.“ Das BVerfG hat                        https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/lg-muenchen-i-10o7388-
                                                                           19-twitter-sperre-loeschung-wahlbeeinflussung-rechtswidrig/.
35
     Pressemitteilung abrufbar unter: https://about.fb.com/news/      40
                                                                           LG Berlin, Beschuss v. 23.05.2019 -27 O 282/19, dazu:
     2019/09/elections-and-political-speech/.                              https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/lg-berlin-untersagt-t
36
     LG Frankenthal, Urteil v. 08.09.2020 – 6 O 238/19, juris.             witter-sperre-keine-wahlbeeinflussung/.

42                                                                                                  doi:10.24338/mip-202137-45
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1                      Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                         Aufsätze

3. Fehlen rechtlich verbindlicher Handlungsmaß-         darf an dieser Stelle auch mehr Transparenz in Be-
stäbe                                                   zug auf das interne Prüfverfahren, das der Sanktio-
Die Sachverhalte offenbaren das Dilemma, in dem nierung von Inhalten vorgeschaltet ist. Es ist un-
sich die Betreiber:innen sozialer Netzwerke wie durchsichtig, wer auf Seiten der sozialen Netzwerke
„Twitter“ mangels rechtlich verbindlicher Hand- konkret als Rechtsanwender:in agiert, wie viele Mit-
lungsmaßstäbe befinden. Erkennen sie einerseits die arbeiter:innen an der Entscheidung der Sanktionie-
besondere Schutzbedürftigkeit der politischen Mei- rung von Inhalten mitwirken und wie diese qualifi-
nungsbildung im Vorfeld von Wahlen an und mes- ziert sind. Vertreter:innen von „Twitter“ haben sich
sen sie gleichzeitig der Wahrung der Integrität von 2019 vor dem Digitalausschuss des Deutschen Bun-
demokratischen Wahlprozessen einen sehr hohen destags            zu diesen internen Prozessen erklären müs-
Stellenwert zu, laufen die Betreiber:innen Gefahr,      sen. 42
                                                                Nach ihren Aussagen würden die gemeldeten
bei der Umsetzung ihrer Gemeinschaftsrichtlinien Inhalte nicht automatisiert durch Algorithmen, son-
schon „aus bloßer Vorsicht“ gemeldete Inhalte zu dern von Menschen bearbeitet werden, die allerdings
sanktionieren. Durch die vorschnelle und ggf. objek- über die ganze Welt verteilt seien. Inwieweit die ent-
tiv nicht gerechtfertigte Sanktionierung gemeldeter scheidenden Akteur:innen mit der deutschen Spra-
Inhalte von Nutzer:innen, die im politischen Wettbe- che, dem deutschen Recht oder politischen und ge-
werb stehen, können die Betreiber:innen sozialer sellschaftlichen Debatten in Deutschland vertraut
Netzwerke den demokratischen Wettbewerb verzer- sind, ist unklar. Dass verschiedene Rechtsanwen-
ren und damit die Integrität des demokratischen Pro- der:innen, hier konkret die Betreiber:innen sozialer
zesses selbst gefährden. Diese Praxis ist sehr unbe- Netzwerke auf der einen und deutsche Gerichte auf
friedigend. Die derzeitige Umsetzung der Gemein- der anderen Seite, zu divergierenden Auffassungen
schaftsrichtlinien durch einige soziale Netzwerke und rechtlichen Beurteilungen gelangen, liegt in der
stellt nicht nur eine Gefahr für den freien Willensbil- Natur der Sache. Dennoch müssen zumindest grobe
dungsprozess dar, sondern genügt auch nicht den ob- Fehler bei der Umsetzung der Gemeinschaftsrichtli-
jektiven Anforderungen, die in Teilen der Rechtspre- nien durch die sozialen Netzwerke in Zukunft ver-
chung an das Löschen von Inhalten oder die Sper- mieden werden. Dies haben die Betreiber:innen in
rung von Nutzerkonten gestellt werden. Wenngleich der Vergangenheit, besonders im Vorfeld der Euro-
den Betreiber:innen sozialer Netzwerke ein digitales pawahl 2019, nicht gewährleisten können. Nennens-
Hausrecht zusteht, ist dies zumindest an die Voraus- wert sind in Bezug auf die mangelhafte Durchset-
setzung geknüpft, dass die Sanktionierung von Inhal- zung der „Richtline zur Integrität von Wahlen“ noch
ten der Nutzer:innen nicht „vorschnell“ oder gar folgende drei Fälle. Zunächst die Sperrung des Nut-
willkürlich erfolgen kann, sondern auf objektiven zerkontos der Bevollmächtigten des Landes Berlin
und überprüfbaren Verletzungen der Nutzungs- und beim Bund und Staatsekretärin für Bürgerschaftliches
Gemeinschaftsrichtlinien beruht.41                      Engagement und Internationales Sawsan Chebli.
                                                        Cheblis Nutzerkonto wurde nach dem Tweet „Mein
Die sozialen Netzwerke müssen also sicherstellen, Vater hieß Mohammed. Ich heiße Sawsan Moham-
dass sie ihre Nutzer:innen nicht „vorschnell“ und ob- med Chebli. Mein ältester Neffe heißt Mohammed.
jektiv ungerechtfertigt von ihrer Plattform sperren. Meine Nichte hat ihrem Sohn den Namen ihres Opas
Das digitale Hausrecht und die Selbstbindung an die gegeben. Wir werden schon dafür sorgen, dass die-
Gemeinschaftsrichtlinien stehen also unter Vorbe- ser Name nie verschwindet.“ gesperrt. Twitter sah in
halt. Im Zusammenhang mit Wahlen besteht zwar, diesem Beitrag einen Verstoß gegen die Regeln zum
wie die Ereignisse in den USA zeigten, ein enormer Veröffentlichen von irreführenden Informationen zu
Handlungsbedarf – dies darf aber nicht zu einem Wahlen. Das Nutzerkonto der „Jüdischen Allgemei-
„over-blocking“ führen. Die Betreiber:innen der so- ne“ wurde ebenfalls mit Verweis auf eine mögliche
zialen Netzwerke stehen damit in der Verantwortung Wahlbeeinflussung gesperrt, nachdem sie einen Zei-
eine effektive Infrastruktur zu entwickeln, die eine tungsbeitrag mit dem Titel „Warum Israels Bot-
sachgerechte Überprüfung der gemeldeten Inhalte schafter Jeremy Issacharoff auf Gespräche und
ermöglicht. Sie sind in der Pflicht, verlässliche und Treffen mit der AfD verzichtet“ teilte. Eine Sperrung
nachvollziehbare Kriterien zu entwickeln, anhand des Nutzerkontos des Mitglieds des Berliner Abge-
derer die Sanktionierung von Inhalten erfolgt. Es be- ordnetenhauses Sven Kohlmeier erfolgte für den
                                                        Tweet „Wie rechtsradikal muss man eigentlich sein,
41
     U.a. OLG Schleswig, Urteil v. 26.02.2020 – 9 U 125/19, juris
                                                                      42
     Rn. 79; OLG Dresden, Beschluss v. 08.08.2018 – 4 W                    Dazu: https://netzpolitik.org/2019/twitter-muss-sich-im-bun
     577/18, juris Rn. 25.                                                 destag-fuer-kontensperren-rechtfertigen/.

doi:10.24338/mip-202137-45                                                                                                         43
Aufsätze                            Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                        MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

um bei der AfD rauszufliegen?“ ebenfalls mit dem                       rechtfertigter Ausschluss politischer Wettbewer-
Vorwurf einer möglichen Wahlbeeinflussung. Diese                       ber:innen von sozialen Netzwerken nahezu ausge-
Beispiele – wie auch die oben geschilderten Verfah-                    schlossen werden können. Wie die Beispiele gezeigt
ren vor den Landgerichten Dresden und München, in                      haben, ist dies noch nicht der Fall. An dieser Stelle
denen es um die rechtliche Einordnung satirischer                      kann berechtigterweise die Frage gestellt werden, ob
Beiträge ging, deren Auswirkungen auf den Wahl-                        es angesichts dieser ungerechtfertigten Entscheidun-
prozess durchaus unterschiedlich zu beurteilen sein                    gen, von denen es im Vorfeld der Wahl 2019 hun-
kann43 – zeigen, dass es zu groben Fehlern bei der                     derte gab, legitim ist, den Betreiber:innen sozialer
Umsetzung der Gemeinschaftsrichtlinien kommen                          Netzwerke die Möglichkeit zu gewähren, Nutzer:in-
kann und Inhalte sanktioniert werden, die schon für                    nen zu sanktionieren, die am politischen Wettbewerb
Laien erkennbar keine Gefahr für die Integrität der                    teilnehmen. Bei den dargestellten Beispielen hat es
Wahlen darstellen. Die Folgen einer solchen unge-                      sich um sehr „harmlose“ Inhalte gehandelt, die trotz-
rechtfertigten Sperrung von Nutzerkonten oder Lö-                      dem fälschlicherweise als wahlbeeinflussend einge-
schung von Inhalten politischer Wettbewerber:innen                     stuft wurden. Wenn schon solche Inhalte zu einer
können, auch wenn sie „nur“ zeitweise erfolgen,                        ungerechtfertigten Sanktionierung durch die Betrei-
schwerwiegend sein.                                                    ber:innen führen, dann ist auch eine ungerechtfertigte
                                                                       Sanktionierung von Inhalten, die im Zuge verschärf-
Die Bedeutung der sozialen Netzwerke für den öf-
                                                                       ter politischer Auseinandersetzungen mit politischen
fentlichen Diskurs und den direkten Kontakt mit
                                                                       Wettstreiter:innen geteilt werden, nicht sehr unwahr-
Wähler:innen darf nicht unterschätzt werden, die di-
                                                                       scheinlich. Mögen die Betreiber:innen bei der Sank-
gitale Reichweite der Beiträge ist mit etablierten
                                                                       tionierung von verifizierten Nutzerkonten, also bei-
Formen der Kommunikation im Wahlkampf nicht zu
                                                                       spielsweise solchen von Spitzerpolitiker:innen, wohl
vergleichen. Das BVerfG hat in seinem „III. Weg-
                                                                       noch restriktiv vorgehen, kann davon bei anderen
Urteil“ den Einfluss sozialer Medien zu Recht her-
                                                                       politischen Wettbewerber:innen auf Kommunal-,
ausgehoben und sich im Wege der einstweiligen An-
                                                                       Landes- oder Bundesebene nicht zwangsläufig aus-
ordnung zunächst für das Recht der politischen Par-
                                                                       gegangen werden. Gleiches gilt für die politische
tei ausgesprochen, während des Wahlkampfes auf
                                                                       Kommunikation von Parteigliederungen oder Partei-
dem sozialen Netzwerk weiterhin aktiv sein zu dür-
                                                                       organisationen, die „traditionell“ in einen sehr zuge-
fen.44 Vor diesem Hintergrund sollten die sozialen
                                                                       spitzten Diskurs mit ihren politischen Wettbewer-
Netzwerke die Sanktionierung von Inhalten politi-
                                                                       ber:innen treten, wie bspw. die Jugendorganisatio-
scher Parteien und Nutzer:innen, die im politischen
                                                                       nen der Parteien oder möglicherweise sogar partei-
Wettbewerb stehen, gerade im Vorfeld von Wahlen
                                                                       politisch gebundene „Politik-Influencer:innen“.
möglichst solange unterlassen, bis sie verlässliche
Strukturen aufgebaut haben, die zumindest grobe                        Dazu kommen die Zweifel, die die Betreiber:innen
Fehler bei der Durchsetzung ihrer Gemeinschafts-                       sozialer Netzwerke durch die Intransparenz ihrer in-
richtlinien verhindern und das BVerfG eine Grund-                      ternen Entscheidungsprozesse, die zu einer Sanktio-
satzentscheidung getroffen, oder der Gesetzgeber                       nierung von Inhalten führen, selbst hervorgerufen
diesbezüglich rechtlich verbindliche Handlungsmaß-                     haben. Fraglich ist dabei vor allem, welche Rolle Al-
stäbe entwickelt hat.                                                  gorithmen bei der Beurteilung von Inhalten spielen
                                                                       und welchen Einfluss die Anzahl der Meldungen ei-
Angesichts der immer stärker werdenden Bedeutung
                                                                       nes bestimmten Inhaltes auf die Sanktionierung hat.
der sozialen Netzwerke ist die Gefahr derzeit noch
                                                                       Im Vorfeld der Europawahl 2019 kam es bspw. zu
zu groß, dass durch grobe Fehlentscheidungen der
                                                                       gezielten Missbräuchen der Meldefunktion der Be-
Plattformbetreiber:innen ein wichtiger Bestandteil
                                                                       treiber:innen, mit dem Ziel, gemeinschaftlich organi-
der politischen Kommunikation für politische Wett-
                                                                       siert Inhalte der politischen Wettbewerber:innen zu
bewerber:innen ungerechtfertigt wegfällt. Gerade in
                                                                       melden.45 Solche Taktiken sind ein grobes „Foul“ im
Wahlkampfzeiten, in denen gelungene, aber auch
                                                                       demokratischen Wettbewerb und dürfen bei den
misslungene Kommunikation unmittelbaren Einfluss
                                                                       Plattformbetreiber:innen nicht zu vorschnellen Sank-
auf das Wahlergebnis haben kann, muss ein unge-
                                                                       tionierungen führen.
43
     Z.B. wenn es um satirische Beiträge geht, die einen falschen      Die derzeitige Praxis der Plattformbetreiber:innen
     Wahltermin oder die Aufforderung beinhalten, den eigenen          führt zu einem sehr unbefriedigenden Ergebnis, denn
     Stimmzettel zu unterschreiben.
44                                                                     45
     BVerfG, Einstweilige Anordnung v. 22.05.2019 – 1 BvQ                   Dazu: https://www.dw.com/de/stolz-auf-den-twitter-missbrau
     42/19, juris Rn. 19.                                                   ch/a-48734597-0.

44                                                                                                  doi:10.24338/mip-202137-45
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1             Sorge – Die digitalen Grenzen der Meinungsfreiheit                 Aufsätze

angesichts der oben ausgeführten Probleme scheint            III. Fazit
derzeit übergangsweise eine weitgehend unregle-
                                                             In den nächsten Jahren wird die Digitalisierung der
mentierte Kommunikation der politischen Wettbe-
                                                             Kommunikation immer weiter fortschreiten. Dabei
werber:innen die bessere Alternative zu sein. Dies
                                                             werden sich noch mehr soziale Netzwerke kurz- oder
darf aber kein dauerhafter Zustand sein. Die Platt-
                                                             langfristig etablieren, die mit ihren Gemeinschafts-
formbetreiber:innen und der Gesetzgeber müssen
                                                             richtlinien und Nutzungsbedingungen die öffentliche
hier dringend handeln.
                                                             Diskussion auf ihrem Netzwerk regeln wollen. Dies
Für eine Privilegierung von Kandidat:innen, politi-          ist keinesfalls grundsätzlich schlecht. Auch in digita-
schen Amtsträger:innen und Parteien und einer da-            len Kommunikationsräumen müssen Grundsätze aus
mit verbundenen Ungleichbehandlung gegenüber                 dem analogen Miteinander gelten: Debatten sind
sonstigen Nutzer:innen spricht vor allem das öffent-         weitestgehend nur dann zielführend, wenn sie unter
liche Interesse an diesen Inhalten. Politiker:innen ge-      zivilisierten Rahmenbedingungen und gegenseitigem
ben den Wähler:innen durch die sozialen Netzwerke            Respekt stattfinden. Dies fehlt in vielen digitalen
einen Einblick in ihre Arbeit, in ihr Denken und ihre        Debatten dieser Tage zuhauf. Die unterschiedlichen
politischen Positionen und ermöglichen den Wäh-              Ansichten zu der Verantwortung der Betreiber:innen
ler:innen, sie dadurch besser kennenzulernen. Für            sozialer Netzwerke in der Rechtsprechung und Lite-
die politische Willensbildung und die Wahlentschei-          ratur offenbaren ein wesentliches Problem: in einem
dung der Wähler:innen ist das Gesamtbild aus-                so sensiblen und wesentlichen Bereich haben wir
schlaggebend. Werden ihre Inhalte gelöscht oder ihr          noch keinen Umgang mit den neuen Werkzeugen ge-
Nutzerkonto gesperrt, birgt dies derzeit mangels             funden, der unsere Demokratie stärken könnte. Der
rechtlich verbindlicher Handlungsmaßstäbe noch die           politische Wettbewerb wird in den nächsten Jahren
Gefahr, einer gerichtlichen Überprüfung aufgrund             noch stärker in den digitalen Bereich verlagert wer-
der besonderen Bedeutung der sozialen Netzwerke              den. Bis dahin sollte der Staat die Entscheidung tref-
für die politische Kommunikation nicht standzuhal-           fen, welche Verantwortung den sozialen Netzwerken
ten (s. „III-Weg-Entscheidung“ des BVerfG). Ande-            zukommen kann und darf, denn die Herausforderun-
rerseits kann durch das Löschen von Inhalten und             gen im Umgang mit den sozialen Netzwerken wer-
Sperren von Nutzerkonten der Eindruck erweckt                den eher zu-, denn abnehmen.
werden, der Sachverhalt habe sich damit erledigt.
Wer am politischen Wettbewerb teilnimmt, muss
aber für seine Äußerungen geradestehen. Dazu ge-
hört bspw. auch eine mediale Aufarbeitung bestimm-
ter Themen, denn soziale Netzwerke fördern haupt-
sächlich die Kommunikation mit der eigenen Ziel-
gruppe und der eigenen Wählerschaft. Die breite Öf-
fentlichkeit und die Mehrheit der Wähler:innen kann
von solchen Äußerungen erst Kenntnis nehmen,
wenn sie gesellschaftlich diskutiert werden. Dies
wiederum setzt die Verfügbarkeit dieser Inhalte vor-
aus. Es darf aber auch nicht der Eindruck erweckt
werden, Nutzer:innen, die am politischen Wettbe-
werb teilnehmen, dürften ohne Unterlass Hassbot-
schaften und Falschinformationen teilen. Hier sollte
allerdings langfristig mit anderen Instrumenten gear-
beitet werden. Denkbar ist an Stelle des Löschens
von Inhalten und Sperren von Nutzerkonten die Mar-
kierung des Beitrages mit einem Hinweis, der den
Verstoß gegen die Gemeinschaftsrichtlinien hervor-
hebt, eine Einschränkung der Kommentarfunktion
für alle sonstigen Nutzer:innen und eine Einschrän-
kung, diese Inhalte auf den Plattformen zu teilen, so-
dass die Verbreitung und Multiplizierung dieser In-
halte verhindert wird.

doi:10.24338/mip-202137-45                                                                                       45
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