Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne

Die Seite wird erstellt Silas Wild
 
WEITER LESEN
Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne
Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen!
Martin Brunner, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie FSP; Heilpädagoge ISP; Leiter SPD
Basel Landschaft; Co-Präsident IVL-SPD (Nov. 99 bis 14.11.14)
Referat zur Einführung ins Tagungsthema „Indikationsstellung an der Schnittstelle zwischen schulpsychologi-
scher und schulnaher Diagnostik“ aus schulpsychologischer Sicht im Rahmen der 5. Jahrestagung der IVL-
SPD am 13.November 2014 in Lausanne

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste

Unser diesjähriges Tagungsthema ist nicht besonders spektakulär. Auf
jeden Fall habe ich dieses Jahr darauf verzichtet, eine Medienmittei-
lung vorzubereiten weil klar ist: Das Thema wird kaum öffentliches
Interesse wecken.

Und trotzdem: Die besagte Schnittstelle ist es wert, genauer unter die
Lupe genommen zu werden. Ist es ein Schnittpunkt oder eine
Schnittfläche? Und wenn es eine Fläche ist, was ist deren Inhalt?

Meine Positionierung unserer Fragestellung basiert nicht auf
wissenschaftlicher Untersuchung. Sie entspringt meiner Beobachtung
der Schule und ihres Umfeldes, und sie ist – das gebe ich gerne zu -
somit eine subjektive Betrachtung. Ich erlaube mir diese als einer,
der seit den frühen Siebzigerjahren in den verschiedensten Funktionen
mit Schule zu tun hatte: Vom Aushilfskindergärtner über die
Lehrtätigkeit auf den verschiedensten Stufen, von der Schulleitung
einer Heilpädagogischen Schule zur Supervision für pädagogische
Teams und ab Mitte der 90er-Jahre dann auch als Schulpsychologe:
Ich erlaube mir also aufgrund dieser Ueber- und Innensicht der Schule
einige persönlich gefärbte Anregungen.
                                    ***
Wenn wir in die Vergangenheit unserer Dienste zurückschauen, so
erinnern sich die Aelteren unter uns an die Zeit, in der sehr viel
weniger Schulpsychologen für sehr viel mehr Kinder zuständig waren.
Mein Vorgänger erzählt noch heute, wie er im Oberbaselbiet mit den
Eltern schwieriger Kinder heuen ging, und nebenbei herausfand, was
mit den Jungen eigentlich los war – meistens kamen die Buben in eine
Kleinklasse. Das war wohl volksnahe, vielleicht sogar schulnahe
Diagnostik – allerdings wohl eher Diagnostik mit Gänsefüsschen. Und
sie wurde – kaum zufälligerweise – von einer Generation Schulpsychol-
ogen realisiert, die häufig keine Psychologen, sondern Kleinklassenleh-
rer waren. Erst seit 1990 müssen im Kanton Zürich beispielsweise
Schulpsychologinnen Psychologie studiert haben. Schulpsychologie
ist eine junge Disziplin. Diagnostische Instrumente gab es damals
wohl, aber sie spielten eine ziemlich untergeordnete Rolle und dienten
v.a. der Zuweisung.

Die nächste Phase – Sie verzeihen mir bitte das Holzschnittartige –
war charakterisiert durch zwei Hauptfragestellungen, mit denen die
Schulpsychologie noch Jahrzehnte später identifiziert werden sollte,
und die heute noch als Vorurteil bei vielen Lehrerinnen und Lehrern
herumgeistert: – Schulpsychologischer Dienst – das ist doch die Lega-
Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne
M. Brunner. Die eigene Nützlichkeit unter Beweis stellen. Lausanne, November 2014   2

Abklärungsstelle. Legasthenie und Dyskalkulie begannen in den
ausgehenden 60-er und beginnenden 70er-Jahren (im Verbund mit
dem Begriff der Teilleistungsschwäche) Arbeit und Image der SPDs zu
bestimmen. Die Testpsychologie, und damit die Diagnostik, wurden
stark differenziert und ausgebaut, sie gewannen dadurch an Gewicht.
Neben der Zuweisung begann die Prüfung der Ansprechberechtigung
eine wichtigere Rolle zu spielen

Dieser Entwicklungsschritt beförderte das Image der Schulpsycholo-
gInnen als Handwerker mit Testkoffer, die mit psychologischen
Tests eine Teilleistungsstörung diagnostizierten, und die Symptomträ-
ger einer Therapie zuführten – meistens natürlich einer Legasthe-
nietherapie oder einer Kleinklasse. So verstanden war Schulpsycholo-
gie eine Art psychologische Reparaturfachstelle geworden, die –
ähnlich der Medizin – nach der Untersuchung eine Therapie
„verschrieb“, die von niemandem ernsthaft in Frage gestellt wurde.

Leicht zeitverzögert, im Gefolge der Aufbruchstimmung der Sechziger
Jahre und parallel zur Handwerkervorstellung verbreitete sich eine
neue, radikale Idee, welche zur Handwerkervorstellung einen
Contrapunkt setzte: Die systemische Wende. Sie wurde von unserem
Berufskollegen und Gastreferent der letzten Jahresversammlung,
Roland Käser in den 90-er Jahren beredt beschrieben und verschaffte
sich zusehends Raum – allerdings vorerst mal vor allem in unseren
Köpfen. Damit rückten andere Vorstellungen in den Vordergrund, was
die wichtig gewordene testpsychologisch Diagnostik relativierte. Ganz
durchzusetzen vermochte sich die Idee allerdings wie gesagt nur in
den Köpfen – zu gewichtig war die Hardware unserer Testköfferchen. .

Systemdiagnostik setzte und setzt – wie wir alle wissen – ganz
woanders an, und die heutige Sicht, die auf den Schulenstreit
weitgehend verzichtet, legt Wert auf die Feststellung, dass es hier nicht
um ein „entweder-oder“, sondern um ein „sowohl als auch“ geht.

Kurz: In der noch jungen Geschichte der Schweizerischen Schulpsy-
chologie haben sich Schwerpunkte und Bedeutung der Diagnostik stark
verändert – und in der Schule?

                                       ***
Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne
M. Brunner. Die eigene Nützlichkeit unter Beweis stellen. Lausanne, November 2014   3

Diagnostische Überlegungen in der Schule setzten ein mit dem
Siegeszug der Heilpädagogik in der Schule. Dieser Siegeszug war
sowohl Folge wie auch Ursache eines zunehmenden – und durchaus
gut gemeinten! – Bedürfnisses, das „Andere“ auszusondern um es
speziell zu behandeln. Der Siegeszug der Heilpädagogik gegenüber
der Pädagogik war gleichzeitig der Siegeszug der Spezialisierung und
Fragmentierung in der Schule, und damit auch der Siegeszug der
Separation.

Ganz unschuldig an dieser Entwicklung ist die Schulpsychologie nicht:
Sie trug mit einem stark selektionsdiagnostischen Focus das Ihre dazu
bei, dass dieser Siegeszug zum Triumphzug wurde.
Während die Pädagogik schon immer einfach förderte, konzentrierte
sich die Heilpädagogik wie gesagt auf Spezialiserung: Anfangs der 80-
er Jahre studierte ich bei Kobi Lernbehindertenpädagogik und in einer
davon gesonderten Veranstaltung Geistigbehindertenpädagogik.
Ausserdem waren Kurse in Sinnesbehinderten (unterteilt in Hör- und
Sehbehindertenpädagogik), Motorischbehinderten- und allgemeiner
Heilpädagogik zu besuchen. Es verwundert nicht, dass bei dieser
fortgeschrittenen Spezialisierung Instrumente entwickelt wurden,
welche auch differenzierter versuchten, die nächst kleineren
Lernschritte zu analysieren – das war die Geburtsstunde der
Förderdiagnostik.

Die Heilpädagogik trat aber nicht nur einen Siegeszug gegenüber der
Pädagogik an, sie gewann auch gegenüber der Psychologie
zusehends an Boden. Ohne diese Entwicklung zu bewerten kann
festgestellt werden, dass zahlreiche Massnahmen, für die früher ein
schulpsychologischer Antrag zwingend war, nun immer mehr von der
Schule selbst – und zwar in der Regel von den HeilpädagogInnen –
ausgelöst wurde. Zunächst waren es noch Vorschläge, die von den
SchulpsychologInnen „abgesegnet“ werden mussten (und in der Regel
auch abgesegnet wurden), aber immer verbreiteter wurde für
niederschwellige Massnahmen der SDP gar nicht mehr nötig.

Das war auch eine Geburtsstunde – jene der schulnahen Indikations-
stellung, der manchmal, aber beileibe nicht immer eine systematische
schulnahe Diagnostik vorausging.

Dieser Prozess ist untrennbar verbunden mit dem Entwicklungsschritt
der Schule hin zur sog. Teilautonomen geleiteten Schule. Dieser
Begriff beinhaltet zwei Aspekte:

Die Teilautonomie erlaubte es, im Rahmen eines gegebenen
Schulsystems Schulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und
Profilen zu entwickeln. Damit das praktisch umgesetzt werden konnte,
bedurfte es des zweiten Aspektes – der Leitung. Damit verbunden war
und ist eine gegenüber früher stark erweiterte Entscheidungskompe-
tenz der Schulleitung über die einzusetzenden Ressourcen, Ent-
scheide, die früher bei der Schulverwaltung oder gar den politischen
Behörden lagen. Es verwundert nicht, dass Schulleitungen sich für ihre
Entscheide zunehmend auf die Informationen aus der Schule selbst
Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne
M. Brunner. Die eigene Nützlichkeit unter Beweis stellen. Lausanne, November 2014   4

abstützen. Oder anders gesagt: die Teilautonom geleitete Schule
verlangt (mindestens im niederschwelligen Bereich) gleichsam nach
schulnaher Diagnostik.

Auch hier ist es wieder die Schulpsychologie, die diese Entwicklung
nicht nur mitträgt, sondern sogar noch befördert: Ihre notorische
Ueberlastung führt dazu, dass man froh ist, nicht mehr für jede
Massahme gefragt zu sein. Dass dadurch Wesentliches verloren geht
oder gehen könnte, realisiert sie erst später.

Auch dieser Prozess hat seinen Preis: Er führt dazu, dass Schulpsy-
chologie sich tendenziell mit immer schwächeren Kindern beschäftigen
muss, während die „normalen Probleme“ schulnah gelöst (oder „gelöst“
in Anführungszeichen) werden. Das ist der Prozess, den ich
„Versonderschulung der Schulpsychologie“ nenne, und der m.E. im
Standardisierten Abklärungsverfahren (einem förderdiagnostisch
inspirierten Instrument!) einen weiteren Höhepunkt erfahren hat.

                                 ***
In meiner Einschätzung ist das unser heutiger Ausgangspunkt:

Die Teilautonome geleitete Schule hat die Tendenz und das
ökonomische und Steuerungsinteresse, möglichst selbständig und
nach den Kriterien der Pädagogik ihre Fördermittel und andere
Massnahmen zu indizieren. Sie bedient sich dabei immer öfter
differenzierter förderdiagnostischer Instrumente.

Die Schulpsychologie ist (oder wird) auf die hochschwelligen
Massnahmen konzentriert, die sie auf der Basis psychologischer
Diagnostik indiziert. Im breiten Feld der Kinder und Jugendlichen mit
niederschwelligen Massnahmen schwindet der Einfluss der Psycholo-
gie in der Schule. Dabei besteht die Gefahr, dass psychologische
Faktoren, welche Lernstörungen ebenfalls zu begründen vermögen,
unentdeckt bleiben.

Ziel muss m.E. also folgendes sein:

1.     Die Vorteile schulnaher Diagnostik (niederschwlliger Zugang,
       Orientierung an pädagogischen Kriterien, Ressourcierung durch
       die Schule selbst) müssen verbunden werden mit einer Minimie-
       rung ihrer Nachteile, u.a.: Verlust von Erkenntnissen aus der
       psychologischen Abklärung, Gefahr des „Mehr-desselben“, Ver-
       zicht auf systematische Vernetzung mit andern Stütz-, Förder-
       und Therapiemassnahmen.

2.     Bei der Minimierung der Nachteile liegt das Potenzial der der
       Schulpsychologie: Sie muss

       a) Sie muss aktiv Methoden entwickeln und zur Anwendung
       bringen, die nicht auf klassische schulpsychologische Diagnostik
       zurückzugreifen: Ich denke vor allem supervisorische Elemente,
       aber auch weitere Elemente, auf die ich gleich zurückkommen
       werde.
Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne
M. Brunner. Die eigene Nützlichkeit unter Beweis stellen. Lausanne, November 2014   5

       und

       b) sie muss sich in der Schule so verwurzeln, dass diese den
       Einbezug bereits bei der Schulnahen Diagnostik als Mehrwert
       erlebt. Mehrwert sollte wesentlich darin bestehen, mehr Sicher-
       heit bei der Einschätzung der zu ergreifenden niederschwelligen
       Massnahmen zu generieren, und andererseits für bestimmte
       Störungen die Grenzen niederschwelliger Massnahmen transpa-
       rent zu machen.

Schulpsychologische und schulnahe Diagnostik hat es schon immer
gegeben. Es geht heute darum, dieses Verhältnis neu auszutarieren.
Damit verbunden sind neue Rollendefinitionen zwischen Lehrer,
Heilpädagogin und Schulpsychologin.

Welche Faktoren können zu diesem Ziel beitragen? - Erste Vorausset-
zung ist der gegenseitige Respekt: Der Angst vor dem Dreinreden
muss das echte Interesse an der jeweils andern Fachlichkeit
entgegengestellt werden.

Dann muss die Schulpsychologie - ob wir das wollen oder nicht - ihre
Nützlichkeit im niederschwelligen Bereich erst noch unter Beweis
stellen: Neben den bereits erwähnten Angeboten, die sich an Gruppen
von Lehrpersonen richten, sollten systematisch „psychologische
Frühwarnsysteme“ entwickelt werden. Dazu könnten standardisierte
Fragen gehören, die im Rahmen von Runden Tischen zu stellen und zu
beantworten sind.

Nützlich dabei wäre, wenn die Schule bereits bevor schulnah über
niederschwelligen Massnahmen entschieden wird, über strukturierte,
auf psychische Probleme und Störungen hinweisende Beobach-
tungslisten verfügte.

Das wiederum setzt voraus, dass die Schulpsychologie in der Lage ist,
für die wichtigsten Störungen Listen von „soft signs“ zu entwickeln,
deren Häufung auf Leistungsstörungen hinweisen, die nicht auf
mangelnder Förderung beruhen, sondern eben psychogen sind, oder
mindestens psychogen mitbegründet sind.

Schliesslich sind schon lange zur Anwendung kommende, aber ein
bisschen aus der Mode geratene Gruppenabklärungen im Sinne von
Screenings zu optimieren; Sie könnten eine nützliche Zwischenstufe
zwischen schulnaher Diagnostik und Einzelabklärung darstellen.

Damit – und mit vielen weiteren noch zu entwickelnden Ideen – würde
zwischen diesen beiden Polen statt einem Schnittpunkt eine
Schnittfläche entstehen, die eine ganze Palette psychologisch
fundierter Elemente enthält, und die damit garantieren könnte, dass die
Psychologie und deren Erkenntnisse auch bei schulnaher Diagnostik
und Indikationsstellung gewinnbringend eingebracht werden könnte,
und nicht aus dem Blick geriete. Dass das geschieht – dafür kann nur
die Schulpsychologie selbst sorgen!
Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne Die (eigene) Nützlichkeit unter Beweis stellen! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste SPD am 13.November 2014 in Lausanne
Sie können auch lesen