Die Essenmacher Was die Lebensmittelindustrie anrichtet - Textetage
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Autorinnen in diesem Heft Birgit Albrecht ist Lektorin und Autorin in Berlin. Jörn Kabisch ist kulinarischer Korrespondent von taz Dirk Asendorpf arbeitet als freier Journalist für Print und und FuturZwei. Hörfunk zu Themen aus den Bereichen Forschung, Technik Manfred Kriener ist Umweltjounalist in Berlin. Er gehört und Umwelt. zur Gründergeneration der taz und war Redaktionsleiter Kyle G. Brown ist Journalist. des Umweltmagazins zeozwei und des Slow-Food-Magazins. Jitendra Choubey lebt in Delhi und ist Journalist beim Frédéric Le Marcis ist Ethnologe an der École Normale indischen Umweltmagazin Down to Earth. Supérieure von Lyon. Hélène Colineau arbeitet an der École Normale Supérieure Stefano Liberti ist freier Journalist und Filmemacher. von Lyon. Jean-Baptiste Malet ist Journalist und Autor. Pierre Daum ist Journalist und Autor. Er schreibt regelmäßig Bernd Müllender ist freier Journalist in Aachen. Er schreibt über das koloniale Erbe Frankreichs. unter anderem regelmäßig Reportagen für die taz und die Zeit. Naïké Desquesnes lebt als freie Journalistin in Paris. Gundula Oertel ist freie Journalistin und Autorin mit Tim Dorlach ist Politikwissenschaftler an der Koç-Universität den Spezialgebieten Natur- und Verbraucherschutz. in Istanbul. Christine Pohl Mitinitiatorin des Berliner Ernährungsrats. Dieter Fahrian lebt als freier Journalist im Schwarzwald und Hilal Sezgin ist freie Publizistin und arbeitet vornehmlich zu schreibt regelmäßig über Food, Landwirtschaft und Umwelt. den Themengebieten Philosophie, Feminismus und Tierrechte. Jack Fereday lebt als freier Journalist in Indien. Kristina Simons ist freie Journalistin in Berlin mit Ulrike Gonder ist Diplom-Ökotrophologin, freie Wissenschafts- den Schwerpunkten Energie und Umwelt. journalistin und Buchautorin. Valentin Thurn lebt als Filmemacher und Journalist in Köln. Christiane Grefe ist Reporterin bei der Zeit und Buchautorin. Kristina Vaillant lebt in Berlin als Wissenschaftsjournalistin Raúl Guillén ist Journalist und Imker. und Buchautorin. Ursula Hudson lehrte Interkulturelle Germanistik an der Alex de Waal ist geschäftsführender Direktor der World Universität Bayreuth und an den Universitäten Cambridge Peace Foundation. und Oxford. Seit 2012 ist sie Vorsitzende von Slow Food Zhang Zhulin ist ein in Frankreich lebender chinesischer Deutschland. Journalist. Impressum Edition Le Monde diplomatique Nº 24 • 2019 Verlagsadresse Redaktionsadresse taz Verlags- und Vertriebs GmbH Rudi-Dutschke-Straße 23, D-10969 Berlin Rudi-Dutschke-Straße 23, D-10969 Berlin Telefon +49 (0)30 259 02-276 Telefon +49 (0)30 259 02-0 Fax +49 (0)30 259 02-676 Anzeigen: Daniel Schwertfeger Telefon +49 (0)30 25 902-127 Redaktion: Manfred Kriener (v. i. S. d. P.), dschwert@monde-diplomatique.de Dorothee d’Aprile, Barbara Bauer, Anna Lerch Vertrieb: Norman Nieß, vertrieb@taz.de Korrektur: Franziska Özer Druck: möller druck, Ahrensfelde Bildredaktion und Gestaltung: Adolf Buitenhuis Gedruckt auf 100 % Recyclingpapier Internet: www.monde-diplomatique.de Printed in Germany Preis des Heftes: 8,50 Euro [D, A]. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet und Vervielfältigung auf Datenträgern wie CD-ROM, DVD-ROM usw. dürfen nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Verlages erfolgen. Abweichende Bedingungen für die Weiterverwendung sind, wo anwendbar, bei den Bildnachweisen in eckigen Klammern angegeben. Anzeigenpreise auf Anfrage. ISSN (Print) 1864-3876 • ISBN (Print) 978-3-937683-76-8 ISSN (E-Book) 2511-6819 • ISBN (E-Book) 978-3-937683-77-5 Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique geht auf eine Initiative der taz-Genossenschaft im Jahr 1994 zurück. Mehr über die Genossenschaft erfahren Sie unter: www.taz.de/genossenschaft Erhältlich in den Bahnhofs- und Flughafenbuchhandlungen in Deutschland 2 Edition Le Monde diplomatique • Nº 24
Der Fluch der Avocado Exotische Lebensmittel werden als »Superfood« verkauft – mit erheblichen Nebenwirkungen in den Erzeugerländern Von Kristina Simons A bnehmen, Depressionen heilen, Erkältungen, Alzheimer und Tatsächlich hat Quinoa einen hohen Eiweißgehalt und enthält es- Krebs bekämpfen – die Liste der Wundertaten, die sogenann- senzielle Aminosäuren, viele Ballaststoffe, Mineralstoffe, Vitamine te Superfoods vollbringen sollen, ist lang. Manchen wird und wichtige Fettsäuren, unter anderem Linolsäure und Omega-3- zwar eine katastrophale Umweltbilanz bescheinigt, doch ihren Sie- Fettsäuren. Außerdem ist Quinoa glutenfrei und deshalb besonders geszug konnte das bisher nicht aufhalten. bei Menschen mit einer Glutenunverträglichkeit beliebt. Für die Es ist noch nicht lange her, da stand beim Mittagessen in einigen arme Bevölkerung in den traditionellen Anbaugebieten sind die Berliner Cafés auf jedem dritten Tisch ein Glas mit einer seltsam nährstoffreichen Körner bis heute wesentlicher Bestandteil ihrer grünen Flüssigkeit. Es war flüssiges Weizengras, das es als Saft oder Ernährung und wichtig für Wohlergehen und Gesundheit. als Smoothie gibt, in jedem Fall zu einem saftigen Preis. Basis für Die Quinoamode hat für die alte Quinoawelt vor allem negative das Getränk ist die junge Weizenpflanze, die nach sieben bis zehn Folgen. Denn inzwischen ist das Arme-Leute-Essen der Andenbe- Tagen geerntet wird. Man zieht das Weizengras entweder selbst völkerung weltweit begehrt: Allein zwischen 2007 und 2013 haben und entsaftet dann die Pflanze, oder man kauft Weizengraspulver sich die Quinoa-Exporte vervierfacht. Als die Vereinten Nationen und rührt es mit Wasser an. Lecker ist das nicht. Doch Weizengras 2013 zum »Internationalen Jahr der Quinoa« ausriefen, erreichten soll 60-mal mehr Vitamin C enthalten als Orangen, 11-mal mehr sie neue Rekordwerte. Die meisten Quinoafelder liegen in Peru und Calcium und 30-mal mehr Vitamin B1 als Rohmilch, 5-mal mehr Ei- Bolivien. Die beiden lateinamerikanischen Staaten exportieren ihre sen und 50-mal mehr Vitamin E als Spinat sowie 5-mal mehr Mag- Ernte vor allem in die Vereinigten Staaten, nach Kanada, Europa, Is- nesium als Bananen. rael und Brasilien. Weizengras – eine Pflanze mit Superkräften? Eher nicht. Die Nähr- Die Kehrseite des globalen Quinoabooms: Die Menschen vor Ort wertangaben sind nicht gerade falsch, sie beziehen sich allerdings können ihren Bedarf teilweise nicht mehr decken. Obwohl es allein auf eine Menge von 100 Gramm. Nach dem Auspressen bleibt von in Bolivien 3000 verschiedene Unterarten des Korns gibt, landet der Pflanze aber nur ein winziger Schluck Saft übrig. Um auf die fast ausschließlich weiße Quinoa mit ihren großen Körnern in den Nährwerte von 100 Gramm zu kommen, müsste die Konsumentin Regalen der hiesigen Bioläden und Supermärkte. Dadurch nimmt sehr viel Weizengrassaft trinken – deutlich mehr, als ihren Ge- die Sortenvielfalt auf den Äckern ab. Und: Der Preis für Quinoa ist schmacksnerven guttut. Immerhin: Weizengras ist ein heimisches dramatisch gestiegen. Produkt. Damit unterscheidet es sich ganz wesentlich von anderen Verbraucher in Deutschland zahlen für ein Kilogramm heute im Superfoods wie Quinoa, Gojibeeren oder Avocado, die erst den lan- Schnitt 8 Euro. Die Kleinbauern profitieren davon jedoch nicht. gen Weg aus Südamerika, Asien oder Südafrika nach Deutschland »Sie erhalten hochgerechnet etwa 7 Prozent des Preises, den wir für antreten müssen und schon deshalb eine miserable Ökobilanz auf- Quinoa im Laden bezahlen«, sagt Wilfried Bommert. Zugleich kann weisen. sich die lokale Bevölkerung das Lebensmittel kaum noch leisten. Weizengras ist ein typisches Beispiel für ein Lebensmittel, das Mit dem höheren Preis und dem gestiegenen Produktionsvolu- plötzlich als Superfood Schlagzeilen macht. Das Gras war lange men steigt auch der Wettbewerbsdruck. »Viele Kleinbauern können Zeit so beliebt wie, sagen wir, Sauerampfer oder Löwenzahn. Jetzt den Exportbedarf nicht mehr bedienen und werden von Großbau- ist es plötzlich in die Kategorie Wundernahrung aufgestiegen. ern und Investoren verdrängt, die industriell produzieren und auch Ein anderes Beispiel ist das Pseudogetreide Quinoa, mit dem der Preisschwankungen aushalten können«, so Bommert. Mittlerweile Superfood-Trend erst richtig losging. Pseudo, weil es echtem Getrei- wird Quinoa auch in den USA, in Indien und China angebaut, das de ähnelt, botanisch jedoch zu den Gänsefußgewächsen zählt. In führt zu einem weiteren Preisverfall für die Bauern in den ur- der Andenregion ist das »heilige Mutterkorn der Inkas« seit mehr als sprünglichen Anbaugebieten. Hinzu kommt, dass sich problemati- 6000 Jahren eines der Hauptnahrungsmittel. »Deshalb verbinden sche Anbaumethoden immer stärker verbreiten, um die Nachfrage viele mit Quinoa etwas Exotisches mit heilenden Kräften, das hat bedienen zu können. »Die Intensivierung forciert den Einsatz von eine große Anziehungskraft«, sagt Wilfried Bommert. Der Agrarwis- Düngemitteln und bringt einen extrem hohen Wasserverbrauch mit senschaftler ist Vorstandsmitglied des Instituts für Welternährung. sich«, sagt Bommert. »Die Pflanzen werden mit Grundwasser be- wässert, und die ansässige Bevölkerung leidet gleichzeitig unter Avocado-Sämling (Persea americana). MARK HOFSTETTER [CC BY-SA 3.0] Wasserknappheit.« Edition Le Monde diplomatique • Nº 24 93
Quinoa ist nicht das einzige importierte Superfood, das den Was- Die Frauenzeitschrift Elle zählt auch Reishi-, Chaga- und Shatavari- sermangel in den Erzeugerländern verschärft. Eine Paradefrucht ist pilze, Yamswurzel, Maniok, Guarana sowie Basilikumsamen und die Avocado. Seit 2008 hat sich der Import von Avocados allein Wassermelonenkerne zu den Superfood-Trends des Jahres 2018. nach Deutschland mehr als verdreifacht. Schon meldet die Süddeut- Erstmals aufgetaucht ist der Begriff Superfood im Jahr 2009 in ei- sche Zeitung unter Berufung auf das Statistische Bundesamt neue nem US-amerikanischen Ernährungsratgeber. Dort war der Artikel Bestmarken.¹ Um sagenhafte 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr »Superfoods: The Food and Medicine of the Future« veröffentlicht habe 2017 der Absatz von Avocados in Deutschland zugenommen: worden, wie Harald Seitz vom Bundeszentrum für Ernährung auf 57 Millionen Kilo. Damit gehöre das Land der Krauts und Kar- (BZfE) recherchiert hat. Auf dem deutschen Markt treten Super- toffelköpfe zu den am schnellsten wachsenden Märkten für Avoca- foods verstärkt seit 2015 in Erscheinung. Laut einer Studie der dos. Der Chef der World Avocado Organization, Xavier Equihua, Marktanalysten von Mintel stieg die Anzahl der eingeführten Le- spricht von einem regelrechten »Siegeszug«. In Berlin haben inzwi- bensmittel- und Getränkeprodukte, die als Superfood, Superfruit schen die ersten zwei Avocado-Restaurants eröffnet. und Supergrain bezeichnet werden, zwischen 2011 und 2015 welt- Der Anbau der mexikanischen Riesenbeere führt in Mittel- und weit um 202 Prozent.² »Superfood wurde schnell als Marketingidee Südamerika sowie in Südafrika zu einem bedrohlichen Trinkwas- übernommen – schlicht, weil sich damit Geld machen lässt und die sermangel. Um ein Kilo Avocado – das entspricht etwa drei Früch- Verkaufszahlen in die Höhe schießen«, erläutert Seitz. ten – zu produzieren, werden rund 1000 Liter Wasser verbraucht. Mit dem Begriff Superfood sei ein populärer Inhalt in ein werbe- Zum Vergleich: Für ein Kilo Tomaten, das Lieblingsgemüse der wirksames Wort gepackt worden, sagt Agrarwissenschaftler Bom- Deutschen, gibt die Internetseite virtuelles-wasser.de einen Wasser- mert. »Alles, was super ist, ist besser als gewöhnlich.« Davon profi- verbrauch von durchschnittlich 184 Litern an. Die Avocado schnei- tieren in erster Linie Handel und Hersteller, auch weil der Begriff det deutlich schlechter ab. »Außerdem werden zunehmend Mono- Orientierung gibt. »Verbraucher sind oftmals überfordert mit dem kulturen kultiviert, und den Böden wird die Fruchtbarkeit ge- Informationsdschungel rund um Lebensmittel und deren Erzeu- raubt«, kritisiert Bommert. gung«, erklärt Harald Seitz. Die vielen, teils widersprüchlichen In- Insbesondere in Mexiko werden inzwischen ganze Wälder illegal formationen machten die tägliche Essensentscheidung schwer und gerodet, um Platz für Avocadobäume zu machen, beklagt die dorti- verunsicherten die Leute. »Da hilft der ›Leuchtturm Superfood‹ – ge Agrar- und Umweltorganisationen Gira. In verschiedenen deut- man kann vermeintlich nichts mehr verkehrt machen.« schen Medien wurde ausführlich über den problematischen Was- Was ist eigentlich super an Superfood? Ohne Frage sind die Pro- serverbrauch der Avocadoplantagen berichtet. Dem Image der dukte reich an bestimmten Nährstoffen. Chiasamen zum Beispiel ha- Pflanze und der Nachfrage nach ihren Früchten hat das kaum ge- ben einen hohen Gehalt an Kalzium, Antioxidantien und Ballaststof- schadet. Die grüne Butterbirne gilt als wahres Gesundheitselixier. fen. Und die Açaibeere strotzt nur so vor Proteinen, Antioxidantien, Die Deutschen verzehren sie im Bewusstsein, sich und ihrer Ge- Kalzium und Vitaminen. Gerade die Kombination verschiedener Mi- sundheit etwas Gutes zu tun. Selbst in der Naturheilkunde ist die neralstoffe und Vitamine komme bei den Menschen gut an, sagt Wil- Avocado dank ihrer wertvollen Inhaltsstoffe eine gern verordnete fried Bommert. »Das tun Kartoffeln allerdings auch. Die sind für Gesundheitsspeise geworden. Superfood eben. mich sowieso das Superfood Nummer eins.« Bei den meist exoti- Der Begriff Superfood ist weder wissenschaftlich noch lebensmit- schen neuen Superlebensmitteln würden zudem häufig viel höhere telrechtlich definiert. Es handelt sich eher um eine Marketingidee. Nährstoffmengen zugrunde gelegt, als unter Alltagsbedingungen tat- Immer wieder kommen neue Produkte dazu, andere fallen heraus. sächlich aufgenommen werden, ergänzt Antje Gahl von der DGE. »Im Allgemeinen werden unter Superfood besonders nährstoffrei- Zu verdanken sind die gesundheitsfördernden Wirkungen vor al- che Lebensmittel zusammengefasst, vor allem aus dem Bereich lem den sogenannten sekundären Pflanzenstoffen, auch bioaktive Obst und Gemüse«, erläutert Antje Gahl von der Deutschen Gesell- Substanzen genannt.³ Bestimmte sekundäre Pflanzenstoffe können schaft für Ernährung (DGE). Dazu gehören neben Weizengras vor die Wahrscheinlichkeit verringern, an Krebs zu erkranken. Andere allem Açaibeeren, Algen, Amaranth, Avocado, Chiasamen, Gojibee- sollen sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System auswirken. »Aber ren, Kokosmehl, Mandelmehl, Matchatee, Moringa und Quinoa. nur selten kann man hier einen Bezug zu einem bestimmten Obst 94 Edition Le Monde diplomatique • Nº 24
oder einer Gemüseart herstellen oder gar einen einzelnen Inhalts- ren beispielsweise Extraktion, Trocknung, Zugabe von Zucker oder stoff dafür verantwortlich machen«, betont Iris Lehmann vom Max- Aromen. »Der positive Effekt ist dann oft dahin«, sagt Harald Seitz. Rubner-Institut (MRI). »Ganz abgesehen vom schlechten ökologischen Fußabdruck bei Ex- Auf vielen Superfood-Verpackungen wird zudem mit hohen Orac- portwaren aus fernen Ländern.« Werten geworben. Orac steht für Oxygen-Radical-Absorption-Ca- Hinzu kommt, dass die meisten Superfood-Produkte deutlich pacity. Der Wert gibt an, wie antioxidativ die Nahrungsmittel wir- teurer sind als heimische Erzeugnisse, die ähnlich viele gute In- ken, sprich: wie gut können sie die »freien Radikalen« binden, die haltsstoffe enthalten. 100 Gramm Açaibeeren kosten als Pulver im Verdacht stehen, das Gewebe altern zu lassen und schlimmsten- oder Kapseln 15 Euro und mehr, 500 Gramm getrocknete Gojibee- falls Krebs zu verursachen. Überdurchschnittlich gut schneidet hier ren um die 16 Euro. Deutschland ist aber kein Vitaminmangelland, die Açaibeere ab mit einem Orac-Wert von 39 127 pro 100 Gramm weshalb wir auch keine exotischen Früchte brauchen, um unseren Pulver. Aus dem Wert kann allerdings nicht direkt auf eine gesund- täglichen Nährstoffbedarf zu decken. Heimische Alternativen zu heitsfördernde Wirkung geschlossen werden. »Tatsache ist, dass Chiasamen mit ihrem hohen Gehalt an Ballaststoffen und wertvol- Orac ein Laborwert ist, eine lebensmitteltechnologische Möglich- len ungesättigten Omega-3-Fettsäuren sind beispielsweise Leinsa- keit, etwas zu messen«, sagt Harald Seitz. »Das hat allerdings wenig men, Rapsöl und auch Nüsse. Statt sündhaft teuren Gojibeeren tun bis gar nichts mit der physiologischen Wirkung im Körper zu tun.« es auch Paprika, Rosenkohl, Spinat, Brokkoli und einfache Milch- Wie der Körper was in welcher Form und in welchen Mengen auf- produkte. Oder Orangen und schwarze Johannisbeeren. Letztere nehmen und verwerten könne, stehe in den Sternen. »Die Formel haben übrigens mehr Vitamin C und achtmal weniger Kalorien als ›viel hilft viel‹ ist hier völlig fehl am Platz.« Gojibeeren. Wichtige Nährstoffe der Açaibeeren sind auch in Hei- Auch wenn Superfood-Produkte einige gesundheitsfördernde delbeeren, Sauerkirschen, schwarzen Johannisbeeren, Holunder Stoffe enthalten: Superkräfte besitzen sie nicht, schon weil kein Le- und einigen roten Traubensorten sowie in grünem Gemüse enthal- bensmittel allein alle lebensnotwendigen Nährstoffe enthält. Ge- ten. »Davon werden in der Regel auch größere Mengen verzehrt als sundheitsfördernd sei vielmehr eine ausgewogene und abwechs- von der teuren Beere, die in ihrem Heimatland Brasilien als Saft lungsreiche Ernährung, erklärt Antje Gahl. Von Superfood-Lebens- oder Püree, in unseren Breiten aber vorrangig als Pulver und Nah- mitteln sind also keine Wunder zu erwarten. Effekte wie Antiaging, rungsergänzungsmittel angeboten wird«, bilanziert Antje Gahl. Schutz vor Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine Anre- Nach Zahlen des Marktforschungsinstituts IRI Information Re- gung des Stoffwechsels seien »größtenteils wissenschaftlich nicht sources ging der Gesamtumsatz von Superfoods 2017 – nach teils belegt«. dreistelligen Wachstumsraten im Vorjahr – erstmals zurück: um Auch die Verbraucherzentralen weisen darauf hin, dass die meis- 9,2 Prozent. Kommen die Verbraucher langsam zur Besinnung? ten Aussagen in Sachen Superfood von gewerblichen Anbietern »Viele greifen wieder auf heimische Alternativen wie Leinsamen zu- oder Interessengruppen stammen. »Dabei überwiegen Anekdoten rück – Stichwort Regionalität«, sagt IRI-Expertin Katharina Feuer- und Erfahrungsberichte. Scharlatanerie ist weit verbreitet. Gesi- stein. Außerdem seien Superfoods mittlerweile in vielen Produkten cherte Daten zu Enzymgehalten oder den Mengen einzelner sekun- bereits enthalten, müssten also nicht mehr unbedingt separat ge- därer Pflanzenstoffe fehlen in der Regel.«⁴ kauft werden. Nicht ausreichend erforscht sind auch die womöglich negativen Inzwischen bekommen auch heimische Produkte werbewirksam Wirkungen bestimmter Superfood-Produkte. Was passiert eigent- den trendigen Stempel Superfood aufgedrückt – obwohl die ge- lich bei großen Verzehrmengen? »Beispielsweise sollten pro Tag sundheitsfördernde Wirkung von Grünkohl, roter Bete oder Leinsa- nicht mehr als 15 Gramm Chiasamen gegessen werden, und auch men schon lange bekannt ist. Selbst die gute alte Kartoffel, Inbe- bei Nahrungsergänzungsmitteln auf Basis von Superfoods ist Vor- griff teutonischer Ernährung mit allerdings stark rückläufigen Ver- sicht geboten«, warnt Antje Gahl. Getrocknete Algen seien wegen brauchsziffern, wird neuerdings gern mal zum Superfood aufge- ihres extrem hohen Jodgehalts für Menschen mit einer Schilddrü- wertet. Die Süßkartoffel gehört schon länger zu erlauchtem Kreis. senerkrankung ebenfalls nicht ungefährlich, ergänzt Seitz. Jetzt hat der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde Die Verbraucherzentralen warnen generell vor Superfood in Kap- (BLL), der Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft, selform. Dabei werden bestimmte Inhaltsstoffe der Pflanze extra- erstmals ein eigenes Superfood-Quintett kreiert. Nach dieser Ein- hiert und in Pillenform angeboten. Durch die Aufkonzentration be- stufung gehören auch Blaubeeren, Brokkoli oder das urdeutsche stimmter reizender oder toxischer Stoffe könne es zu gesundheitli- Sauerkraut zu den besonders wertvollen Nahrungsmitteln. Wenn chen Problemen kommen. So ist beispielsweise Moringa oleifera jetzt vielleicht noch Bier als Superfood klassifiziert würde – dann eine in afrikanischen und asiatischen Ländern wertvolle Nahrungs- wären eigentlich alle ziemlich zufrieden. pflanze. Hierzulande kommt sie meist als Moringablattpulver vor allem in Form von Nahrungsergänzungsmitteln auf den Markt. Wis- senschaftler des Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts 1 sueddeutsche.de/stil/essen-und-trinken-avocado-die-bittere-wunderfrucht-1.4043316. Stuttgart fanden darin wiederholt Pestizidrückstände – in neun von 2 de.mintel.com/pressestelle/super-wachstum-fuer-superfoods. elf Proben. Selbst Produkte, die als Ökoware deklariert waren, ent- 3 Max Rubner-Institut, »Die Tausendsassas der Ernährung. Sekundäre Pflanzenstoffe – hielten chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel.⁵ Bioaktive Substanzen«, online abrufbar unter mri.bund.de ➝ Veröffentlichungen ➝ Verbrauchermedien beziehungsweise mri.bund.de/fileadmin/MRI/Verbrauchermedien/ Superfood, das in anderen Erdteilen angebaut wird, muss aus MRI-Booklet_IGW17-Erw-web.pdf. Transport- und Lagerungsgründen meist getrocknet oder zu Pulver 4 klartext-nahrungsergaenzung.de, Projekt der Verbraucherzentralen, abrufbar unter verarbeitet werden – auf Kosten zahlreicher Nährstoffe. Zum Teil projekte.meine-verbraucherzentrale.de/DE-VZ/superfood-1. 5 ua-bw.de/pub/beitrag.asp?subid=0&Thema_ID=2&ID=2434&Pdf=No&lang=DE. sorgen erst weitere Verarbeitungsschritte in den Importländern da- für, dass dieses Superfood überhaupt genießbar wird. Dazu gehö- © 2018 Le Monde diplomatique, Berlin Edition Le Monde diplomatique • Nº 24 95
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