Die "Hölle" bezeugen Andrea Löw - De Gruyter

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Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen                                                                       155

                                                                                   Andrea Löw

                                                                                   Die „Hölle“ bezeugen
                                                                                   Frühe Berichte überlebender deutscher Jüdinnen und Juden aus Riga

                                                                                   I. Deportationen

                                                                                                                                                                                                 Dokumentation
                                                                                   „Nachdem also einige Transporte zum Jungfernhof gekommen sind, ist der erste Kölner
                                                                                   Transport im Ghetto gelandet. Danach kamen Dortmund, Sachsen, Berlin, Kassel, Wien,
                                                                                   Düsseldorf und noch einige andere Transporte ins Ghetto. Die Ersten trafen das Ghetto
                                                                                   noch mit blutgetränkten Straßen an, mit aufgeschichteten Leichen und ausgeräuberten und
                                                                                   durchwühlten Wohnungen.“

                                                                                   So beschrieb Käte Frieß im Juni 1945, was die im Winter 1941/42 nach Riga
                                                                                   deportierten Jüdinnen und Juden nach ihrer Ankunft sahen.1 Der Schock ange-
                                                                                   sichts der Gewalt, die Konfrontation mit den ersten Toten, die Spuren der Mas-
                                                                                   saker, aber auch die Versuche, sich in dieser brutalen Fremde zurechtzufinden
                                                                                   und das Leben zu organisieren – all dies schilderten die Überlebenden der Gettos
                                                                                   und Konzentrationslager (KZ), die sie immer wieder als die „Hölle“2 bezeichne-
                                                                                   ten, in ihren Berichten, von denen einige aus der unmittelbaren Nachkriegszeit
VfZ 71 (2023) | H.1 | © Walter de Gruyter GmbH 2023 | DOI 10.1515/vfzg-2023-0005

                                                                                   stammen.
                                                                                      Nach der schnellen Eroberung Polens diskutierte die nationalsozialistische
                                                                                   Führung unter neuen Prämissen darüber, was mit den deutschen und österrei-
                                                                                   chischen Juden zu geschehen habe: Nun ging es um ihre „Umsiedlung“, die lo-
                                                                                   kale NS-Größen in ihrem Verantwortungsbereich bereits eigenmächtig ins
                                                                                   Werk setzten, bevor im Herbst 1941 die systematischen Deportationen aus dem
                                                                                   Reichsgebiet „nach Osten“ begannen. Bereits im Oktober 1939 wurden Wiener
                                                                                   Juden ins besetzte Polen transportiert. Im Februar 1940 traf diese Terrormaß-

                                                                                   1 Wiener Library, P.III.h. (Riga), 208, Manuskript von Käte Frieß „Meinem Gori gewidmet“, 1945; ver-
                                                                                   öffentlicht in: Christin Sandow (Hrsg.), „Schießen Sie mich nieder!“. Käte Frieß’ Aufzeichnungen über
                                                                                   KZ und Zwangsarbeit von 1941 bis 1945, Berlin 2017, S. 19–138, hier S. 62.
                                                                                   2 Dok. 2, S. 181 und S. 185 f., Dok. 3, S. 192, und Dok. 5, S. 206, der vorliegenden Dokumentation.
156   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

      nahme die ersten Jüdinnen und Juden aus dem „Altreich“, und zwar aus Pom-
      mern, vor allem aus Stettin. Sie wurden mitten in der Nacht abgeholt, nach
      Lublin gebracht und von dort auf drei umliegende Orte verteilt. Im Oktober
      1940 kam es zu Deportationen aus Baden und der Saarpfalz nach Frankreich.
      Im Februar 1941 traf es Frauen und Männer aus Danzig, die sich im Warschau-
      er Getto wiederfanden, und wiederum Jüdinnen und Juden aus Wien, die den
      Weg in den Distrikt Lublin antreten mussten.3
         Nachdem diese Aktionen jedoch nur Stückwerk geblieben waren, begannen
      im Herbst 1941 die systematischen Deportationen aus dem Großdeutschen
      Reich. In einer ersten Welle verschleppten die Nationalsozialisten zwischen
      Mitte Oktober und Anfang November knapp 20 000 Jüdinnen und Juden
      in insgesamt 24 Transporten aus verschiedenen Städten des „Altreichs“, aus
      Luxemburg, Wien und Prag in das Getto in Litzmannstadt/Łódź; dazu kamen
      5 000 Roma aus dem Burgenland. Die lokalen Behörden protestierten massiv
      gegen die Einweisung weiterer Menschen in das ohnehin überfüllte Getto. Hein-
      rich Himmler und Reinhard Heydrich legten daraufhin eine neue Destination
      fest. Zwischen dem 8. November 1941 und dem 6. Februar 1942 erreichten 32
      Transporte von jeweils ungefähr 1 000 Personen das Reichskommissariat Ost-
      land, genauer gesagt Riga und Minsk. Im November 1941 gelangten außerdem
      fünf Transporte ins litauische Kaunas/Kowno, wo die Deportierten nach ihrer
      Ankunft ermordet wurden.
         In diese Phase fällt auch die Verschleppung der Männer und Frauen, denen
      die Autorenschaft der hier vorgestellten Berichte und Briefe zukommt. Damit
      waren die Deportationen freilich nicht zu Ende; sie dauerten im Gegenteil fast
      bis Kriegsende an und gingen insbesondere nach Theresienstadt und Ausch-
      witz.4 In dieser Dokumentation geht es jedoch um die Verschleppung nach Ri-
      ga, um den leidvollen Alltag dort, um die Herausforderungen, mit denen die
      Jüdinnen und Juden konfrontiert waren, sowie um die Odyssee durch das natio-

      3 Vgl. Else Behrend-Rosenfeld/Gertrud Luckner (Hrsg.), Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter
      aus dem Distrikt Lublin 1940–1943, München 1970; Andrea Löw, Die frühen Deportationen aus dem
      Reichsgebiet von Herbst 1939 bis Frühjahr 1941, in: Susanne Heim/Beate Meyer/Francis R. Nicosia
      (Hrsg.), „Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben“. Deutsche Juden 1938–1941, Göttingen
      2010, S. 59–76, und Walter Manoschek, Februar/März 1941. Die frühen Deportationen aus Wien in das
      Generalgouvernement, in: Dieter J. Hecht/Michaela Raggam-Blesch/Heidemarie Uhl (Hrsg.), Letzte Orte.
      Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42, Wien 2019, S. 95–109.
      4 Vgl. Alfred Gottwaldt/Diana Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945.
      Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005, und Birthe Kundrus/Beate Meyer (Hrsg.), Die Depor-
      tation der Juden aus Deutschland. Pläne – Praxis – Reaktionen 1938–1945, Göttingen 2004. In der zwei-
      ten Jahreshälfte 1942 erreichten weitere Transporte Riga; die Deportierten wurden fast ausnahmslos un-
      mittelbar nach ihrer Ankunft ermordet.
                                                                                                               VfZ 1 / 2023
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               nalsozialistische Lagersystem, die die Überlebenden gerade hinter sich gebracht
               hatten, als sie das Erlebte aufzeichneten.

               II. Endstation Riga

               Zwischen dem 27. November 1941 und dem 6. Februar 1942 fuhren zwanzig
               Transporte mit insgesamt etwa 20 000 Menschen zum Güterbahnhof Riga-Ski-
               rotava. Die 1 053 Jüdinnen und Juden, die am 30. November 1941 aus Berlin in
               Riga ankamen, wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft im Wald von Rumbula
               erschossen, ebenso wie Tausende lettische Juden an diesem Tag. Dieser erste
               Massenmord an deutschen Juden ging auf die Initiative des Höheren SS- und
               Polizeiführers Friedrich Jeckeln zurück, der Himmlers Befehl, das lettische Get-
               to zu liquidieren, entweder missverstanden oder bewusst kaltblütig ausgelegt
               hatte. Als Himmler über Jeckelns eigenmächtiges Handeln informiert wurde
               und in sein Tagebuch schrieb: „Judentransport aus Berlin. keine Liquidierung“,5
               hatte man die Berliner Juden bereits erschossen.6
                  Die Verschleppten der folgenden Transporte aus dem Reich wurden auf ver-
               schiedene Orte in und bei Riga verteilt: das Lager Jungfernhof (Jumpravmuiža),
               das Getto von Riga und das Lager Salaspils. Zuvor und teilweise zeitgleich dezi-
               mierten Jeckelns SS- und Polizeikräfte unter Hinzuziehung von in Riga statio-
               nierten Ordnungspolizisten und lettischen Hilfspolizeieinheiten die lokale jü-
               dische Bevölkerung: Am 30. November, dem sogenannten Rigaer Blutsonntag,
               sowie am 8. und 9. Dezember 1941 wurden laut deutschen Meldungen 27 800
               lettische Jüdinnen und Juden im Wald von Rumbula und teilweise im Getto er-
               mordet.7
                  Gleichzeitig oder wenig später mussten sich die im Deutschen Reich zur De-
               portation ausgewählten Personen in ihren Heimatorten an einer Sammelstelle

               5 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, bearb. von Peter Witte u. a., Hamburg 1999, S. 277–
               279, hier S. 278: Eintrag vom 30.11.1941.
               6 Vgl. Andrej Angrick/Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944,
               Darmstadt 2006, S. 160–167. Zu den Deportationen aus Berlin vgl. Akim Jah, Die Deportation der Juden
               aus Berlin. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und das Sammellager Große Hamburger Straße,
               Berlin 2013.
               7 Vgl. Angrick/Klein, Endlösung, S. 138–184, und Wolfgang Scheffler, Das Schicksal der in die balti-
               schen Staaten deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden 1941–1945. Ein
               historischer Überblick, in: Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österrei-
               chischen und tschechoslowakischen Juden, bearb. von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, Bd. 1, Mün-
               chen 2003, S. 1–43, hier S. 4 f.
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      einfinden. Sie durften neben Handgepäck einen bis zu 50 Kilogramm schweren
      Koffer mitnehmen und wussten oft nur sehr vage, dass sie zur Arbeit „nach
      Osten“ gebracht werden sollten. Oft waren sie schon an den Sammelpunkten
      brutalen Demütigungen ausgesetzt; manche Männer und Frauen mussten sich
      nackt ausziehen, um anschließend nach Wertgegenständen durchsucht zu wer-
      den.
         Die meist drei Tage dauernde Fahrt erfolgte in überfüllten und häufig eiskal-
      ten Zügen, in denen es nur wenig zu essen und vor allem kaum Wasser gab; auf
      manchen Transporten waren daher schon während der Fahrt erste Opfer zu
      beklagen. Bei der Ankunft in Riga-Skirotava herrschten Chaos und Gewalt, dies
      bezeugen zahlreiche Berichte: Zwar kannten die Jüdinnen und Juden aus ihrer
      Heimat bereits Ausgrenzung und Willkür, diese Gewalteskalation bildete aber
      eine einschneidende Zäsur. Deutsche Sicherheitspolizei und lettische Polizei-
      kräfte trieben die verstörten Menschen unter Schlägen aus den Waggons. Alles
      musste schnell gehen, was vor allem älteren Menschen nach der anstrengenden
      Fahrt am vereisten Güterbahnhof ohne Bahnsteige schwerfiel. Wer kräftig ge-
      nug war, marschierte los, die Alten und Schwachen bestiegen bereitstehende
      Wagen, sie sollten das Getto oder andere Lager in vielen Fällen jedoch niemals
      erreichen.
         Die Deportierten aus Nürnberg, Stuttgart, Wien und Hamburg, die zwischen
      dem 2. und dem 9. Dezember 1941 ankamen, mussten vom Bahnhof aus etwa
      anderthalb Kilometer stadtauswärts marschieren. Sie kamen an einen Ort an
      der Düna, den die deutsche Sicherheitspolizei erst wenige Tage zuvor aus-
      gesucht hatte und der nicht auf die Ankunft und Beherbergung tausender Men-
      schen vorbereitet war: Jungfernhof. Die Verschleppten hatten unter den Augen
      des unberechenbaren Kommandanten Rudolf Seck, der das heruntergekom-
      mene Landgut in einen erfolgreichen Landwirtschaftsbetrieb verwandeln woll-
      te, ihr eigenes Lager erst zu bauen. Sie mussten Latrinen ausheben, Schlafkojen
      einrichten oder ausbessern sowie Scheunen abdichten, die als Wohnstätten ge-
      dacht waren, da der Schnee auf diejenigen fiel, die in den obersten Kojen schlie-
      fen. Es war eiskalt auf den Pritschen, die Menschen hungerten und wurden
      krank. In diesem ersten Winter fielen etwa 800 bis 900 vor allem ältere Män-
      ner und Frauen diesen katastrophalen Zuständen zum Opfer oder wurden von
      ihren Peinigern ermordet. Am 26. März 1942 wurden bis auf ungefähr 450 von
      Seck ausgewählte „arbeitsfähige“ Jüdinnen und Juden sämtliche Insassen ab-
      transportiert. Angeblich sollten sie nach Dünamünde kommen, um dort in ei-
      ner Fischkonservenfabrik leichtere Arbeit zu verrichten. Tatsächlich brachten
      Sicherheitspolizei und lettische Hilfspolizisten die 1 800 bis 2 000 Menschen in
      den Wald von Biķernieki und erschossen sie dort. Für die überlebenden Lager-
                                                                                          VfZ 1 / 2023
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               insassen verbesserten sich danach die Bedingungen. Es war nicht mehr so eng,
               willkürliche Erschießungen fanden kaum mehr statt. Die Häftlinge verrichte-
               ten landwirtschaftliche Arbeiten oder bauten Baracken, es gab eine Näherei,
               eine Wäscherei und eine Schmiede; in Kolonnen marschierten sie außerdem zu
               Arbeitsstätten außerhalb des Lagers.8
                  Manche Häftlinge vom Jungfernhof kamen nach einiger Zeit ins Getto, wo
               inzwischen Tausende deutsche, österreichische und tschechoslowakische Juden
               lebten. Dort war für die nächsten Deportierten aus dem Reich durch die Mas-
               senmorde an der lettischen jüdischen Bevölkerung auf brutalste Art und Weise
               Platz geschaffen worden. Zeitgleich mit der zweiten großen Mordaktion an den
               lettischen Juden im Getto von Riga war ein Zug dorthin unterwegs: Am 10. De-
               zember 1941 erreichte ein Transport aus Köln Riga-Skirotava. Die Frauen,
               Männer und Kinder dieses Transports waren die ersten, die vom Güterbahnhof
               in das verlassene Getto marschieren mussten und dort mit den Spuren der Mas-
               saker konfrontiert waren. Lilly Menczel beschrieb ihre Eindrücke so: „Am Tag
               unserer Ankunft im Ghetto sahen wir überall Spuren davon, dass Menschen
               dort kurz vorher ermordet worden waren: In den Straßen waren gefrorene
               Blutlachen zu sehen – ein furchtbarer Anblick. Wir fanden in der Wohnung
               Essen auf dem Tisch vor, man hatte die armen, zum Tode Verurteilten noch
               nicht mal ihre Mahlzeit beenden lassen.“9 Im Abstand von nur wenigen Tagen
               folgten Deportationszüge aus Kassel, Düsseldorf, ein Zug aus Münster, Osna-
               brück und Bielefeld sowie einer aus Hannover. Im Januar und Februar 1942 tra-
               fen zehn weitere Züge ein. Sie kamen aus Prag und Brünn über Theresienstadt,
               Wien, Berlin, Leipzig und Dresden sowie aus Dortmund. Über 15 000 Jüdinnen
               und Juden waren nun nach Riga deportiert worden. Nicht alle erreichten das
               Getto, teilweise wurden sie nach ihrer Ankunft ermordet, teilweise für das La-
               ger Salaspils selektiert.10
                  Dieses etwa 18 Kilometer von Riga entfernte Lager bezeichneten Überleben-
               de in ihren Berichten immer wieder als „Vernichtungslager“.11 Es wurden vor
               allem Männer zwischen 16 und 50 Jahren dorthin verbracht, die das Lager auf-

               8 Vgl. Peter Klein, Die deutschen, Wiener und tschechischen Jüdinnen und Juden am Deportationsziel
               Riga, in: Beate Meyer (Hrsg.), Deutsche Jüdinnen und Juden in Ghettos und Lagern (1941–1945). Łódź.
               Chełmno. Minsk. Riga. Auschwitz. Theresienstadt, Berlin 2017, S. 128–151, hier S. 129–133, und Scheff-
               ler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 9–13.
               9 Lilly Menczel, Vom Rhein nach Riga. Deportiert von Köln: Bericht einer Überlebenden des Holocaust,
               hrsg. von Gine Elsner, Hamburg 2012, S. 26. Vgl. auch Gertrude Schneider, Reise in den Tod. Deutsche
               Juden in Riga 1941–1944, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Dülmen 2008, S. 65 f.
               10 Vgl. Angrick/Klein, Endlösung, S. 227–245.
               11 Dok. 1, S. 173, Dok. 2, S. 181, Dok. 3, S. 187, und Dok. 5, S. 203, der vorliegenden Dokumentation.
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160   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

      bauen sollten. In einfachen Baracken und teilweise im Freien lebten die Häftlin-
      ge dort unter desaströsen Bedingungen; die Sterblichkeit war hoch. Die Männer
      mussten hart arbeiten – trotz Kälte, Hungerrationen und völlig unzureichenden
      hygienischen Bedingungen. Es gibt keine genauen Zahlen, doch überlebte die
      Mehrheit der nach Salaspils Verschleppten diese Tortur nicht, zumal auch hier
      Morde an der Tagesordnung waren. Die wenigen, die zwischen Juni und August
      1942 zu ihren Angehörigen ins Getto zurückkehrten, waren in einem desolaten
      Zustand, wie zahlreiche Berichte bezeugen.12
         Auch im Getto waren die Deportierten ihres Lebens nie sicher. In mehreren
      Aktionen ließ der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheits-
      diensts (KdS) in Lettland, Rudolf Lange, im Frühjahr 1942 die „Arbeitsunfä-
      higen“ unter den Deportierten ermorden. Die Überlebenden begannen zu ver-
      stehen, dass das entsetzliche Verbrechen an den lettischen Juden kurz vor ihrer
      Ankunft keine Ausnahme gewesen war, dass man sie keineswegs verschonen
      würde, weil sie sich – wie die Täter – als Deutsche verstanden und dieselbe
      Sprache sprachen.13

      III. Arbeit und Leben

      Diejenigen, die am Leben geblieben waren, zogen täglich in Kolonnen zu ihren
      verschiedenen Arbeitsstätten. Kolonnen jüdischer Arbeitskräfte prägten in die-
      sen Jahren das Straßenbild Rigas, mehrere tausend Menschen marschierten
      täglich zu etwa 200 Arbeitsstellen in der Stadt und ihrer Umgebung. Parallel
      dazu und verstärkt nach der Auflösung des Gettos waren bis weit ins Jahr 1944
      hinein jüdische Arbeitskräfte an verschiedenen Orten in und um Riga kaser-
      niert: Immer mehr Betriebe gingen seit dem Frühjahr 1942 dazu über, ihre Ar-
      beiterinnen und Arbeiter auf dem Betriebsgelände unterzubringen. Jüdische Ar-
      beitskräfte arbeiteten unter anderem für die Sicherheitspolizei und die SS, für
      die Wehrmacht – hier war die Uniformherstellung von zentraler Bedeutung –
      und in der Torfindustrie. Die Arbeiter im sogenannten Hochwaldkommando
      hatten die grauenvolle Aufgabe, immer wieder Gruben für anstehende Erschie-
      ßungen im Wald von Biķernieki auszuheben.14

      12 Vgl. Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 13–16, und Angrick/Klein, Endlösung,
      S. 207–211 und S. 246–270.
      13 Vgl. ebenda, S. 338–345, und Schneider, Reise, S. 104 f.
      14 Vgl. Klein, Deportationsziel Riga, in: Meyer (Hrsg.), Deutsche Jüdinnen und Juden, S. 137 f.; Scheff-
      ler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 21 f., und Angrick/Klein, Endlösung, S. 346–360.
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Riga, Getto: „Schlagbaum“. Bernd Haase aus Gelsenkirchen hat seine Erinnerungen an die Zeit
               im Getto Riga und im KZ Riga-Kaiserwald 1945 in einem Bericht und in Zeichnungen festgehalten.
               © Privatbesitz Bernd Haase

                  Trotz allem: Die Deportierten mussten ihr Leben in dieser fremden und le-
               bensfeindlichen Umgebung neu organisieren, vor allem im Getto entstand eine
               Art Alltagsleben. Sie begannen, ihre jeweilige neue Bleibe aufzuräumen und sich
               so gut wie möglich einzurichten. Erna Valk erinnerte sich: „Ich war sehr un-
               glücklich, und trotzdem musste ich wie die anderen daran gehen, die kleine
               Stube aufzuräumen, welche für 3 Familien ausreichen musste.“15 Das deutsche
               Getto war vom lettischen Getto getrennt, in dem hauptsächlich Männer wohn-
               ten, welche die Massaker überlebt hatten. Das deutsche Getto dürfte im Früh-
               jahr 1942 ungefähr 12 500 Menschen gezählt haben. Eine jüdische Selbstver-
               waltung mit dem Kölner Juden Max Leiser an der Spitze entstand auf Weisung
               des deutschen Gettokommandanten Kurt Krause. Jede Transportgruppe ent-
               sandte ein Mitglied in diesen sogenannten Ältestenrat der Reichsjuden.16 Die
               Straßen, in denen diejenigen wohnten, die im Winter 1941/42 ins Getto gelangt
               waren, wurden nach den Herkunftsorten der jeweiligen Transporte benannt,
               und auch die Gruppen hießen so. Manche nahmen die Situation mit Humor, wie

               15 Dok. 3, S. 187, der vorliegenden Dokumentation.
               16 Vgl. Klein, Deportationsziel Riga, in: Meyer (Hrsg.), Deutsche Jüdinnen und Juden, S. 133–136, und
               Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 17–26.
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162   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

      sich Käte Frieß erinnerte: „So war es lustig, wenn man sagte, ich gehe jetzt nach
      ‚Wien‘ oder ‚Hannover‘ usw.“17
         Gettobewohner organisierten Unterricht für die Kinder, Musiker und Künst-
      ler traten auf, selbst Tanzunterricht gab es eine Zeit lang. Manchen war ihre
      Religion besonders wichtig, sie begingen die jüdischen Feiertage so gut, wie es
      unter den schwierigen neuen Bedingungen möglich war. Außerdem hatte es
      Max Leiser fertiggebracht, von Gettokommandant Krause die Genehmigung zu
      bekommen, Gottesdienste abzuhalten. Im Viertel des Kölner Transports wurde
      daraufhin eine improvisierte Synagoge eingerichtet, sogar eine Thorarolle aus
      Köln war vorhanden. Andere beteten gemeinsam in ihren vollen Wohnungen,
      manche fromme Juden versuchten, die Speisegesetze einzuhalten. Günther Flei-
      schel, der Gruppenälteste „Hannover“, hatte bei Krause die Genehmigung er-
      wirkt, katholische Gottesdienste zu feiern, denn es gab unter den Deportierten
      auch Christen, die – wie er selbst – nach der NS-Rassegesetzgebung als Juden
      galten.18 Fußballspiele gab es ebenfalls im Getto. Sie fanden auf dem sogenann-
      ten Blechplatz statt, der sonst häufig ein Ort des Terrors und der Angst war, da
      dort Selektionen vorgenommen und Juden gehängt wurden. Aber dann gab es
      auch die Tage, an denen hier die Teams von „Dortmund“ und „Berlin“ oder der
      jüdische Ordnungsdienst und ein Team lettischer Juden gegeneinander Fußball
      spielten.19
         Wer überleben wollte, musste die kargen offiziellen Lebensmittelrationen
      durch Tauschhandel aufbessern. Die zusätzlichen Nahrungsmittel wurden
      abends bei der Rückkehr von der Arbeitsstelle ins Getto geschmuggelt – stets
      unter Lebensgefahr, denn im Falle der Entdeckung drohte der Tod. Überlebende
      berichteten, es sei häufig vorgekommen, dass sie abends zurückkehrten, und
      am Galgen hingen zur Abschreckung eben erst ermordete jüdische Männer.
      Gettokommandant Kurt Krause erschoss außerdem immer wieder Frauen, die
      man des Schmuggels überführt hatte, auf dem jüdischen Friedhof. Aber trotz
      dieses Risikos war der Tauschhandel überlebensnotwendig, wie auch Käte Frieß
      kurz nach ihrer Befreiung betonte: „Wir mussten tauschen, denn sonst säße ich

      17 Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 62.
      18 Vgl. Hans-Dieter Arntz, Religiöses Leben der Kölner Juden im Ghetto von Riga nach den Erinnerun-
      gen von Karl Schneider, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 53/1982, S. 127–152; Scheffler,
      Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 35 f.; Schneider, Reise, S. 68 f., und Herbert Obenaus, Vom
      SA-Mann zum jüdischen Ghettoältesten in Riga. Zur Biographie von Günther Fleischel, in: Jahrbuch für
      Antisemitismusforschung 8/1999, S. 278–299.
      19 Vgl. Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 72; Josef Katz, Erinnerungen eines Überlebenden, Kiel 1988,
      S. 116; Schneider, Reise, S. 125, und Isidor Nussenbaum, „Er kommt nicht wieder“. Geschichte eines
      Überlebenden, hrsg. von Hans Medick/Jens-Christian Wagner, Dresden 2013, S. 61.
                                                                                                                  VfZ 1 / 2023
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               hier heute nicht vor der Schreibmaschine. Das war Lebensbedingung.“20 Auch
               sonst war Gewalt allgegenwärtig. Lettische Polizisten, aber auch deutsche SS-
               Männer drangen nachts immer wieder ins Getto ein und vergewaltigten Frau-
               en. Dort war es bekannt, dass Kommandant Krause – und nicht nur er – eine
               jüdische Geliebte hatte.21
                  Trotz offiziellen Kontaktverbots zwischen deutschem und lettischem Getto
               gab es Beziehungen auf verschiedenen Ebenen. Es entstanden Freundschaften
               zwischen den jüngeren Bewohnern der beiden Gettos, vor allem zwischen letti-
               schen Männern, die fast sämtlich ihre Familien während der Massenerschie-
               ßungen Ende 1941 verloren hatten, und deutschen Frauen. Es waren vor allem
               die jüngeren Menschen, die Bekanntschaften suchten, insgesamt aber war das
               Verhältnis zwischen deutschen und lettischen Juden häufig eher von gegensei-
               tiger Fremdheit und Misstrauen als von Mitgefühl bestimmt.22

               IV. Riga-Kaiserwald, Stutthof und weitere Lager

               Am 21. Juni 1943 ordnete Himmler die Auflösung des Gettos und die Errichtung
               eines Konzentrationslagers in Riga an. Mit dem Aufbau dieses Lagers in Kaiser-
               wald, dem Villenviertel Mežaparks, hatten aus Sachsenhausen und Buchenwald
               überstellte Häftlinge bereits im März begonnen; erste Jüdinnen und Juden ka-
               men im Sommer dauerhaft ins Lager. Da das Lager nicht über ausreichend Ka-
               pazitäten verfügte und zahlreiche Dienststellen auf ihre jüdischen Arbeitskräfte
               nicht verzichten wollten, zog sich die endgültige Auflösung des Gettos bis No-
               vember hin. Am 2. November 1943 räumte die Sicherheitspolizei das Getto. Sie
               selektierte Kinder, Alte und Kranke, während die anderen Jüdinnen und Juden
               im Arbeitseinsatz waren. Überlebende berichteten, wie furchtbar dieser Tag für
               sie war. Sie kamen abends zurück ins nahezu leere Getto und begriffen, dass

               20 Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 54.
               21 Vgl. ebenda, S. 68; Schneider, Reise, S. 120; Nussenbaum, Geschichte, S. 59, und Jeanette Wolf, Mit
               Bibel und Bebel. Ein Gedenkbuch, hrsg. von Hans Lamm, Bonn 1980, S. 30.
               22 Vgl. Katrin Reichelt, Zwei Gesellschaften auf begrenztem Raum – das unfreiwillige Zusammenleben
               der lettischen und deutschen Juden im Ghetto von Riga zwischen 1942 und 1943, in: Alfred Gottwaldt/
               Norbert Kampe/Peter Klein (Hrsg.), NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und ju-
               ristischen Aufarbeitung, Berlin 2005, S. 265–277, und Angrick/Klein, Endlösung, S. 361–377. Zum Blick
               lettischer Juden auf die deutschsprachigen Deportierten vgl. etwa Alexander Bergmann, Aufzeichnungen
               eines Untermenschen. Ein Bericht über das Ghetto in Riga und die Konzentrationslager in Deutschland,
               Bremen 2009, S. 50–54 und S. 72 f.; Max Michelson, Stadt des Lebens, Stadt des Sterbens. Erinnerungen
               an Riga. Aus dem Amerikanischen von Rita Herkenrath, Gießen 2007, S. 158–160, und Max Kaufmann,
               Churbn Lettland. Die Vernichtung der Juden Lettlands, München 1947, S. 125–131.
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164   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

      man ihre Freunde und Verwandten verschleppt hatte. Ihr Ziel war Auschwitz.
      Am 6. November wurden die letzten Gettobewohner in das KZ Riga-Kaiserwald
      verbracht.23
         Für bis zu 2 000 Häftlinge war das Lager konzipiert, doch gelangten weit
      mehr Menschen hierher. Für viele war es ein Durchgangslager, in dem sie regis-
      triert und dann in andere Lager oder die sogenannten Kasernierungen ihrer Be-
      triebe weitergeschickt wurden. Diejenigen, die in Kaiserwald blieben, waren
      nun KZ-Häftlinge: Familien, die im Getto noch hatten zusammenleben können,
      wurden getrennt, da Männer und Frauen in separaten Bereichen des Lagers un-
      tergebracht waren. Sie mussten ihre Kleidung abgeben und bekamen die Haare
      geschoren; Häftlingsnummern wurden zugewiesen. Die Kapos waren häufig
      Häftlinge, die zuvor im Reichsgebiet in Konzentrationslagern gewesen waren.
      Berichten zufolge quälten sie die jüdischen Häftlinge sadistisch, sei es aus antise-
      mitischen Beweggründen oder einfach aus Lust an dem bisschen Macht, über
      das sie plötzlich verfügten. Käte Frieß machte sich keine Illusionen: „Ich glaube,
      dieser Kaiserwald kann wohl Bergen-Belsen fast die Hand reichen. Was Men-
      schen nur Grausames ersinnen konnten, gab es dort.“24 Viele in Kaiserwald
      registrierte Arbeitskräfte waren in Außenlagern kaserniert, unter anderem im
      Armeebekleidungsamt (ABA) 701 Mühlgraben und den SD-Werkstätten Lenta,
      wo die Bedingungen meist erheblich besser waren als im Stammlager.25
         Mit dem Herannahen der Roten Armee begann die SS, die Spuren ihrer Ver-
      brechen zu verwischen, indem Häftlinge die in Massengräbern verscharrten
      Leichen verbrennen mussten.26 Zugleich wurden die noch lebenden Jüdinnen
      und Juden verlegt. Für den größten Teil der noch in Riga verbliebenen Juden
      führte der weitere Leidensweg mit dem Schiff nach Danzig und von dort in das
      Konzentrationslager Stutthof, das – wie zahlreiche Überlebende bezeugen – der
      „Hölle“ glich. Schreckliche hygienische Bedingungen rafften die ohnehin ge-
      schwächten Menschen hinweg, kranke und schwache Häftlinge wurden entwe-

      23 Vgl. Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 37–40, und Sandow (Hrsg.), Käte Frieß,
      S. 90. Zum KZ Riga-Kaiserwald vgl. Franziska Jahn, Das KZ Riga-Kaiserwald und seine Außenlager 1943–
      1944. Strukturen und Entwicklungen, Berlin 2018.
      24 Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 82.
      25 Vgl. Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 37–43, und Jahn, KZ Riga-Kaiserwald,
      S. 148–406, zum Lageralltag S. 296–341, eine Übersicht über die Außenlager S. 344–347. – In den Doku-
      menten sprachen die Überlebenden häufig von „der ABA“; diese Schreibweise wurde unkommentiert be-
      lassen.
      26 Vgl. Andrej Angrick, „Aktion 1005“ – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1945.
      Eine „geheime Reichssache“ im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, 2 Bde., Göttingen
      2018.
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               der von Wachleuten ermordet oder in Todeszonen sich selbst überlassen, wo sie
               starben. Da das Lager im Herbst 1944 vollkommen überfüllt war, veranlasste
               Kommandant Paul Werner Hoppe Häftlingstransporte in verschiedene Kon-
               zentrationslager im Reichsgebiet. Andere Jüdinnen und Juden wiederum kamen
               zur Zwangsarbeit in Außenlager von Stutthof.27
                  200 Häftlinge, die im Lager Mühlgraben bei Riga zu Aufräumarbeiten geblie-
               ben waren, wurden von dort im Oktober 1944 nach Libau geschickt, wo sie im
               Hafen arbeiten mussten. Wer noch am Leben war, wurde im Februar 1945 per
               Schiff nach Hamburg verschleppt und dort im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel in-
               haftiert. Eine Gruppe von 56 Männern kam von dort nach Bergen-Belsen, die
               übrigen mussten gemeinsam mit anderen Häftlingen – insgesamt belief sich
               ihre Zahl auf 800 – am 12. April 1945 einen Todesmarsch nach Kiel antreten,
               wo sie noch schreckliche Tage im Arbeitserziehungslager Nordmark zu verbrin-
               gen hatten, bevor sie Anfang Mai 1945 mit Bussen des Roten Kreuzes über Dä-
               nemark nach Schweden in die Freiheit gelangten.28 Käte Frieß, die es bis zur
               Ankunft in Hamburg geschafft hatte, mit ihrem Mann zusammenzubleiben,
               wurde dort von ihm getrennt und erfuhr, während sie nach ihrer Rettung in
               Schweden ihren ausführlichen Bericht verfasste, vom seinem Tod in Bergen-
               Belsen.29
                  Von den mehr als 31 000 ins Baltikum deportierten deutschen, österrei-
               chischen und tschechoslowakischen Juden überlebten etwa 1 100 den Holo-
               caust.30 Fünf von ihnen kommen in den hier dokumentierten Briefen und Be-
               richten zu Wort.
                  Die in dieser Einführung nur kurz angerissenen Themen stehen im Zusam-
               menhang mit einem größeren Forschungsprojekt der Verfasserin über das Leben
               deutschsprachiger, ins besetzte Osteuropa deportierter Jüdinnen und Juden.
               Zwar sind die Deportationen deutscher und österreichischer Juden in das besetz-
               te Polen, Weißrussland und das Baltikum inzwischen sehr gut erforscht: Wir

               27 Vgl. Angrick/Klein, Endlösung, S. 430–444; Danuta Drywa, The Extermination of Jews in Stutthof
               Concentration Camp, Danzig 2004; Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten
               Kriegsjahr, Göttingen 2015, S. 235–258, und Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalso-
               zialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 628–636.
               28 Vgl. Jahn, KZ Riga-Kaiserwald, S. 404 f.; Dietlind Kautzky/Thomas Käpernick (Hrsg.), „Mein
               Schicksal ist nur eins von Abertausenden“. Der Todesmarsch von Hamburg nach Kiel 1945. Neun Biogra-
               fien, Hamburg 2020; Bernd Philipsen/Fred Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben. Am 1. Mai 1945 von Kiel
               mit Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit, Steinbergkirche-Neukirchen 2020, und Detlef Korte,
               „Erziehung“ ins Massengrab. Die Geschichte des „Arbeitserziehungslagers Nordmark“ Kiel Russee 1944–
               1945, Kiel 1991, S. 178–211.
               29 Vgl. Sandow (Hrsg.), Käte Frieß, S. 77.
               30 Vgl. Scheffler, Schicksal, in: Buch der Erinnerung, Bd. 1, S. 43.
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166   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

      wissen viel über die Vorgeschichte an den einzelnen Herkunftsorten, zahlreiche
      Biografien einzelner Deportierter wurden rekonstruiert, auch gibt es über die
      grausamen Orte der Vernichtung inzwischen exzellente Studien. Doch eine Ge-
      samtgeschichte des Lebens deutschsprachiger Juden „im Osten“ steht noch aus.
         Weitere Forschungen versprechen Antworten auf folgende Fragen: Wie wa-
      ren die Erwartungen und Wahrnehmungen der jüdischen (oder nach den NS-
      Rassegesetzen als jüdisch geltenden) Männer, Frauen und Kinder, die aus Wien
      und zahlreichen Städten des „Altreichs“ in das besetzte Polen, dann auch nach
      Minsk und Riga deportiert wurden? Wie schätzten sie nach dem Schock bei der
      Ankunft an den ihnen so fremden Orten ihre Situation ein? Wie sahen sie die
      lokale Bevölkerung, und wie wurden sie umgekehrt von dieser wahrgenom-
      men? Die Umstände waren unterschiedlich, je nachdem, ob jemand im Herbst
      1939 in die Gegend um Nisko am San deportiert, jeweils im Frühjahr 1940, 1941
      und 1942 in den Distrikt Lublin31 und in das Getto in Warschau verbracht oder
      im Herbst 1941 nach Litzmannstadt/Łódź verschleppt wurde. Anders stellte
      sich die Situation dar, wenn sich die Deportierten gleich bei der Ankunft mit
      dem Massenmord konfrontiert sahen. Dies war etwa in Minsk und Riga ab Ende
      1941 der Fall, wo Teile der lokalen Gettobevölkerung kurz vor der Ankunft der
      Deportationszüge erschossen worden waren, um Platz für die Neuankömmlin-
      ge zu schaffen. Diese zogen dann in die eben noch genutzten Wohnungen der
      Ermordeten ein. Welche Auswirkungen hatte diese Erfahrung auf die Selbst-
      wahrnehmung? Wie nutzte man die wenigen verbliebenen Handlungsspielräu-
      me? Wie unterschieden sich die Gewalterfahrungen und Überlebenschancen
      von Männern, Frauen und Kindern? Dies sind einige der Fragen, denen dieses
      Projekt nachgeht und die sich auch anhand von Quellen beantworten lassen,
      wie sie sich hier dokumentiert finden.32

      31 Vgl. Robert Kuwałek, Das kurze Leben „im Osten“. Jüdische Deutsche im Distrikt Lublin aus pol-
      nisch-jüdischer Sicht, in: Kundrus/Meyer (Hrsg.), Deportation, S. 112–134.
      32 Zum Projekt „Nach Osten“ – Das kurze Leben deutschsprachiger Juden nach ihrer Deportation ins
      besetzte Osteuropa vgl. www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/nach-osten-das-kurze-leben-
      deutschsprachiger-juden-nach-ihrer-deportation-ins-besetzte-osteuropa [14.9.2022]. Zu diesen Fragen
      vgl. auch Avraham Barkai, Deutschsprachige Juden in osteuropäischen Ghettos, und ders., „Zwischen
      Ost und West“. Deutsche Juden im Ghetto Lodz, beide Beiträge in: Ders., Hoffnung und Untergang. Stu-
      dien zur deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Hamburg 1998, S. 197–223 und
      S. 225–273.
                                                                                                             VfZ 1 / 2023
Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen                                                                  167

               V. Die Berichte und ihre Verfasserinnen und Verfasser

               Schon Raul Hilberg machte darauf aufmerksam, dass jede Stadt „ihre eigene
               Deportationsgeschichte“ hat.33 Streng genommen haben aber alle Deportierten
               ihre eigene Deportationsgeschichte. Nur die wenigsten überlebten und konnten
               nach der Befreiung darüber berichten. Und doch sind aus Riga und Umgebung
               erstaunlich viele Zeugnisse überliefert, die individuelle Verfolgungs- und De-
               portationsgeschichten dokumentieren. Diese Berichte vom Überleben sind mit-
               unter nahezu unglaublich, sie veranschaulichen die unfassbare Odyssee ihrer
               Verfasserinnen und Verfasser: Aus ihrer Heimat in die Fremde verbracht, litten
               sie unter furchtbaren Bedingungen. Sie erlebten den Tod von Verwandten und
               Freunden, ihr eigenes Leben war stets bedroht. Nach jahrelangem Daseins-
               kampf in Riga verschleppten ihre Peiniger sie weiter, viele von ihnen brachten
               noch mehrere Lager hinter sich, die sie häufig als noch schlimmer beschrieben;
               am Ende standen für viele die berüchtigten Todesmärsche.
                   Diese Dokumentation präsentiert fünf Berichte oder Briefe, die unmittelbar
               nach der Befreiung verfasst wurden, entweder in Schweden oder nach der
               Rückkehr in Deutschland. Bei der Auswahl spielte diese Unmittelbarkeit eine
               wichtige Rolle. Die Zeuginnen und Zeugen wollten informieren über das, was
               ihnen in den letzten Jahren widerfahren war, ohne dass sie selbst schon viel von
               anderen Überlebenden des Holocaust über deren Erlebnisse gelesen hatten. Die
               Berichte und Briefe bezeugen auf eindrucksvolle und sehr persönliche Weise,
               was in der Einführung zu dieser Dokumentation dargestellt wurde. Sie zeigen,
               wie ihre Verfasserinnen und Verfasser sich von heute auf morgen in einer ih-
               nen vollkommen fremden Welt wiederfanden, die von Gewalt, Brutalität, Hun-
               ger, permanenter Angst und der steten Bedrohung durch den Tod geprägt war.
               Sie belegen auch die Versuche der Menschen, diesen Erfahrungen etwas ent-
               gegenzusetzen, ihr Leben im Rahmen des Möglichen zu gestalten und Mittel
               und Wege zu finden, ihre verzweifelte Lage zu verbessern und zu beeinflussen.
               Die Berichte verdeutlichen, wie wichtig soziale Kontakte, die gegenseitige Hilfe
               von Freunden und Verwandten und der Zuspruch in schwierigen Situationen
               sein konnten. Diese Netzwerke haben eine große Bedeutung in den Erzählun-
               gen und wurden oft als wichtiger Faktor für das Überleben benannt.34 So lesen
               wir in den Aufzeichnungen und Briefen auch, wie zum Beispiel Paare, die in
               Kaiserwald getrennt wurden, abends zu den Zäunen ihres jeweiligen Bereichs

               33 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 477.
               34 Vgl. zur Bedeutung von Überlebensgemeinschaften auch Jahn, KZ Riga-Kaiserwald, S. 337–341 und
               S. 431 f.
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168   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

      kamen. Jedes Mal war die Erleichterung groß, den anderen zu sehen, denn viel
      konnte dem Partner an einem Tag im Lager oder in den Arbeitskommandos
      zugestoßen sein.
         Die Erzählungen lassen keinen Zweifel daran, was es hieß, Freunde und Ver-
      wandte zu verlieren, in Ungewissheit über ihr Schicksal zu sein oder aber genau
      zu wissen, was die Liebsten erwartete oder was man ihnen bereits angetan hat-
      te. So beschrieben die Überlebenden eindringlich furchtbare Szenen, als die ver-
      zweifelten Menschen am Abend ins Getto zurückkamen und feststellten, dass
      ihre Kinder oder Eltern verschleppt worden waren. Wie unwahrscheinlich das
      Überleben in der letzten Kriegsphase gewesen ist, wie sehr die Häftlinge auf
      ihrer Irrfahrt durch verschiedene Lager und auf ihren Todesmärschen jeden
      einzelnen Tag um ihr Leben bangen mussten – nicht zuletzt das bezeugen die
      Berichte, die die Überlebenden verfassten, kurz nachdem sie wieder in Freiheit
      waren, aber noch gar nicht wussten, wie und wo es nun weitergehen würde.
         Diese Authentizität macht diese frühen Aufzeichnungen und Briefe so einzig-
      artig. In den ersten Nachkriegswochen versuchten die Verfasserinnen und Ver-
      fasser teilweise noch herauszufinden, was mit ihren Liebsten geschehen war, von
      denen sie irgendwo auf ihrem Leidensweg getrennt worden waren. Diese Berich-
      te und Briefe waren zumeist ihr erster Versuch, das Erlebte in Worte zu fassen,
      noch ohne später erworbenes Wissen über die Zusammenhänge und das Ausmaß
      der Verbrechen. Sie wollten, häufig für Menschen, die ihnen nahestanden, doku-
      mentieren, was ihnen in den Orten, in die man sie verschleppt hatte, Furcht-
      bares widerfahren war, was es hieß, nach Riga deportiert worden zu sein.35 Von
      den Briefen und Berichten, die hier wiedergegeben werden, entstanden drei im
      schwedischen Flüchtlingslager Holsbybrunn; so wie Käte Frieß waren diese
      Überlebenden über Hamburg und Kiel nach Schweden gelangt. Die beiden ande-
      ren haben Frauen verfasst, die nach der Befreiung in ihre Heimatorte zurück-
      gekehrt waren.
         Siegfried Ziering (1928–2000) schrieb aus Schweden an seinen Vater Isaak,
      der während der Novemberpogrome hatte untertauchen und im August 1939
      nach England fliehen können. Seine Versuche, die Familie nachzuholen, ver-
      eitelte der Beginn des Zweiten Weltkriegs (Dok. 1). Cilly Ziering (1901–2002)
      blieb mit ihren Söhnen Siegfried und Hermann (1926–2005) in Kassel zurück,
      wo sie in einer Fabrik arbeiten musste, bis die Familie am 9. Dezember 1941 nach
      Riga verschleppt wurde. Die drei überlebten gemeinsam. Sie gelangten im Januar

      35 Vgl. Jan Lambertz, Early Post-War Holocaust Knowledge and the Search for Europe’s Missing Jews,
      in: Patterns of Prejudice 53 (2019), S. 61–73.
                                                                                                           VfZ 1 / 2023
Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen                                                                          169

               1946 von Schweden aus nach London. 1949 ging die Familie dann zusammen in
               die USA, wo Sigi, wie er sich nun nannte, eine beachtliche Karriere machte. Er
               war nach Studium und Promotion in der Luft- und Raumfahrtindustrie tätig und
               gründete 1971 in Los Angeles das Medizinunternehmen Diagnostic Products Corpo-
               ration. Mit seiner Frau Marilyn hatte er vier Kinder. Ein Erlebnis, das er auch in
               dem hier dokumentierten Brief beschrieb, traumatisierte ihn geradezu. Viele Jah-
               re später verfasste er ein Theaterstück über einen Vater, der in Riga vor einer der
               Mordaktionen sein geliebtes Kind vergiftete, um ihm ein noch schrecklicheres
               Ende zu ersparen – und daraufhin selbst erschossen wurde. Sein Stück „The Jud-
               gement of Herbert Bierhoff“ hatte 1999 in Los Angeles Premiere.36 Sein Bruder
               Werner war Jahre nach der Befreiung einer der beiden Vizepräsidenten der Socie-
               ty of Survivors of the Riga Ghetto in New York; für seinen umfangreichen Nachlass
               gibt es am Manhattan College seit 2019 ein eigenes kleines Archiv.37
                  Heinz Samuel (1920–2007) war gemeinsam mit seinem Bruder Werner
               (1918–2010) nach der Pogromnacht in Dachau inhaftiert worden (Dok. 2). Bei-
               de wurden entlassen, da sie nach Trinidad auswandern wollten, was jedoch
               nicht mehr gelang. Heinz Samuel wurde gemeinsam mit seinen Eltern und sei-
               nen beiden Geschwistern aus Düsseldorf nach Riga deportiert. Dort starb sein
               Vater Meinhard (1882–1942) aufgrund der furchtbaren Lebensbedingungen
               bereits nach einigen Wochen. Seine Mutter Paula (1887–1943) und seine
               Schwester Helga (1929–1943) deportierten die Nationalsozialisten im Zuge der
               Auflösung des Gettos im November 1943 nach Auschwitz-Birkenau und ermor-
               deten sie dort. Heinz heiratete 1942 im Getto Ruth Gompertz (1922–2018),
               ohne allerdings in seinen Aufzeichnungen darauf einzugehen. Bald nach der Be-
               freiung holten sie die unter so schlimmen Umständen vollzogene Trauung ge-
               meinsam mit befreundeten Paaren in einer Synagoge in Stockholm nach. Heinz
               Samuel machte sich nach seiner Emigration nach Australien 1946 als Installa-
               teur selbstständig und hatte mit seiner Frau zwei Kinder. Sein Bruder Werner
               wanderte 1948 ebenfalls nach Australien aus; ihre Schwester Hilde Laskey war
               schon 1939 nach England emigriert.38

               36 Vgl. Bernd Philipsen, Siegfried Ziering quälte „das Bewusstsein, ausgeliefert zu sein auf Tod und Le-
               ben“, in: Ders./Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben, S. 139–152, und Michael Berenbaum (Hrsg.), Murder
               Most Merciful. Essays on the Ethical Conundrum Occasioned by Sigi Ziering’s The Judgement of Herbert
               Bierhoff, Lanham 2005.
               37 Vgl. hgimanhattan.com/the-herman-and-lea-ziering-archive [13.10.2022].
               38 Vgl. Bernd Philipsen, Vier Flüchtlingspaare gaben sich gleichzeitig in der Synagoge von Stockholm
               das Ja-Wort, in: Ders./Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben, S. 71–102, und Joachim Schröder, Heinz Samu-
               el aus Krefeld; biografien.erinnerungsort.hs-duesseldorf.de/person/heinz-samuel-139 [8.4.2021].
VfZ 1 / 2023
170   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

         Erna Valk, geborene Stern (1905–1993), betrieb gemeinsam mit ihrem
      Mann Walter Valk (1897–1962) bis Mitte 1938 ein Bekleidungsgeschäft in
      Goch am unteren Niederrhein (Dok. 3). Walter Valk war nach dem November-
      pogrom bis Anfang Februar 1939 im KZ Dachau inhaftiert gewesen. Das Ehe-
      paar wurde von Düsseldorf über Krefeld nach Riga deportiert. Er kam bald da-
      rauf nach Salaspils, gehörte aber zu den wenigen, die sieben Monate später ins
      Getto Riga zurückkehrten. Erna und Walter wurden zwar später getrennt, doch
      beide überlebten und trafen sich kurz nach der Befreiung in ihrer Heimatstadt
      Goch wieder. Ihre Tochter Magdalena, genannt Leni (1933–1943), die sie Ende
      1938 in die Obhut von Verwandten in den vermeintlich sicheren Niederlanden
      gegeben hatten, wurde gemeinsam mit ihrem Onkel und ihrer Tante von Wes-
      terbork nach Sobibór deportiert und dort ermordet. Als Erna Valk, unmittelbar
      nach der Befreiung und nach der Rückkehr nach Deutschland, ihren detaillier-
      ten Bericht verfasste, wusste sie noch nichts vom Tod ihrer Tochter. Der Sohn
      einer Jüdin aus Goch, der 1945 als Soldat der niederländischen Armee in die
      Stadt kam, half dem Ehepaar, eine neue Bleibe zu finden. Er erinnerte sich spä-
      ter, er habe sie „im schlechten Zustand in einem Keller lebend“ vorgefunden.
      Erna Valk wirkte zeitlebens daran mit, die Erinnerung an die NS-Verbrechen
      ebenso wie die Erinnerung an ihre Tochter wachzuhalten. Nach Leni Valk ist
      heute in Goch eine Schule benannt.39
         Anni Reisler, später Rubinger (1927–2000), fokussierte ihren Text auf ei-
      nen einzigen Tag im Getto Riga (Dok. 4): den 2. November 1943. Eindringlich
      schilderte die junge Frau, die im Januar 1942 aus Dortmund nach Riga depor-
      tiert worden war, die Atmosphäre der Angst und die verzweifelten, aber ver-
      geblichen Versuche einer Mutter, ihr Kind zu retten. Anni gelangte am 8. Au-
      gust 1944 mit ihrer Mutter Berta (geb. 1899) ins KZ Stutthof; beide überlebten.
      1946 lernte sie ihren Cousin David Rubinger kennen, der sie heiratete, um ihr,
      die nach dem Krieg staatenlos war, die Emigration nach Palästina zu erleich-
      tern. Die Ehe mit dem erfolgreichen Fotografen hielt bis zu ihrem Tod 2000;
      die beiden bekamen zwei Kinder.40
         Johanna Rosenthal, geborene Gumpert (1904–1961), und ihr Mann Her-
      mann Rosenthal schickten ihre beiden Töchter im März 1939 mit einer Gruppe

      39 Vgl. Ruth Warrener, Wider das Vergessen. Jüdische Schicksale aus einer rheinischen Kleinstadt,
      hrsg. vom Heimatverein Goch e. V., Goch 2017, S. 323–348, das Zitat findet sich auf S. 345; Max Kreuz-
      wieser, Erna Valk aus Goch; biografien.erinnerungsort.hs-duesseldorf.de/person/erna-valk-224, und
      ders., Walter Valk aus Goch; biografien.erinnerungsort.hs-duesseldorf.de/person/walter-valk-228
      [9.4.2021].
      40 Vgl. Johannes Gerloff, Das Objektiv, durch das „Time“ Israel sah, in: Israelreport 2/2013, S. 3–5.
                                                                                                               VfZ 1 / 2023
Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen                                                                      171

               von 130 Kindern in ein östlich von Paris gelegenes Dorf (Dok. 5). Die beiden
               überlebten zunächst dort und dann in der Schweiz. Hermann Rosenthal war im
               Mai 1939 nach London emigriert und kam nach Kriegsbeginn als „feindlicher
               Ausländer“ in ein Internierungslager. Seiner Frau glückte die Auswanderung
               nicht mehr; sie wurde im Januar 1942 von Potsdam nach Berlin verbracht und
               von dort nach Riga verschleppt. Auch sie gelangte bei Kriegsende nach Schwe-
               den, wo sie den hier abgedruckten Brief schrieb. Im Januar 1946 konnte sie zu
               ihrer Familie nach Großbritannien reisen, und gemeinsam wanderten sie nach
               Kanada aus. Einige Jahre später kamen Johanna und Hermann Rosenthal in To-
               ronto ums Leben, als sie auf dem Weg in die Synagoge beim Überqueren einer
               Straße von einem Auto erfasst wurden.41

               VI. Editorische Notiz

               Die Dokumente stammen aus einem Bestand der Wiener Library in London, die
               in den 1950er Jahren gezielt nach frühen Berichten Überlebender suchte und
               dabei etwa 1 300 Zeugnisse sammelte. Dabei handelte es sich um Berichte und
               Briefe, wie die hier edierten, aber auch um selbst initiierte und häufig eben-
               falls von Überlebenden geführte Interviews. Den hier edierten Dokumenten lie-
               gen Abschriften zugrunde.42 Inzwischen hat die Wiener Library viele dieser Be-
               richte online zugänglich gemacht, ein überaus wichtiger und begrüßenswerter
               Schritt. So haben nicht nur Historikerinnen und Historiker leichter Zugang zu
               diesen zentralen Dokumenten, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer, Mit-
               arbeiterinnen und Mitarbeiter von Gedenkstätten und überhaupt eine his-
               torisch interessierte Öffentlichkeit. Diese online verfügbaren Quellensammlun-
               gen stellen einen wesentlichen Baustein für Forschung und Erinnerungskultur
               dar, zumal in einer Zeit, in der wir immer seltener die Möglichkeit haben, das
               Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu suchen. Auch haben lokale Ge-
               denkinitiativen mitunter Abschriften der Dokumente bereits online publiziert.
               Die großen Holocaust-Archive von Yad Vashem in Jerusalem und dem United
               States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington stellen ebenfalls
               immer mehr Bestände online bereit. Trotzdem ist es sinnvoll, Dokumente wie

               41 Vgl. Bernd Philipsen, Johanna Rosenthal nach dem glücklichen Ende ihrer Odyssee: „Also sollte ich
               leben“, in: Ders./Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben, S. 169–176.
               42 Zur Genese des Bestands vgl. Christine Schmidt, „We Are All Witnesses“: Eva Reichmann and the
               Wiener Library’s Eyewitness Accounts Collection, in: Thomas Kühne/Mary Jane Rein (Hrsg.), Agency
               and the Holocaust. Essays in Honor of Debórah Dwork, Cham 2020, S. 123–140.
VfZ 1 / 2023
172   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

      diese gezielt thematisch auszuwählen und wie im vorliegenden Beitrag zu edie-
      ren, sind sie hier doch durch die Einleitung und Kommentierung kontextuali-
      siert und mit weiterführenden Informationen versehen.
         In einem Fall konnte über die Abschrift in der Wiener Library hinaus das hand-
      schriftliche Original ermittelt werden: Der Brief von Siegfried Ziering an seinen
      Vater ist im Archiv des USHMM überliefert. Er umfasst 12 handgeschriebene
      Seiten auf teilweise beschädigtem Papier.43 Aus Gründen der Kohärenz wurde
      dieser Edition die Abschrift aus der Wiener Library zugrunde gelegt; relevante
      Abweichungen vom Original sind kenntlich gemacht. Da Orthografie und In-
      terpunktion in der edierten Fassung zur Verbesserung der Lesbarkeit behutsam
      bearbeitet wurden, sind solche Abweichungen nicht eigens vermerkt. Auch
      häufige Änderungen wie ausgeschriebene Zahlen statt Ziffern oder eine leicht
      veränderte Wortfolge erfolgten unkommentiert.
         Für eine bessere Lesbarkeit wurden Absätze eingefügt, Flüchtigkeits- und
      ähnliche Fehler stillschweigend korrigiert. Falsche Schreibweisen von Namen,
      Orten und Lagern finden sich dagegen in den Anmerkungen vermerkt. Als die
      Verfasserinnen und Verfasser das Erlebte aufschrieben, wussten sie vieles noch
      nicht. Sie kannten nicht wenige der deutschen Täter nur unter dem Namen, der
      im Lager kursierte, genaue Namensschreibweisen waren ihnen damals nicht
      geläufig, dasselbe konnte der Fall sein bei den genauen Namen der Lager oder
      Fabriken, in denen sie inhaftiert oder eingesetzt waren. Den Quellen wurde je-
      weils eine kurze Überschrift vorangestellt. Briefköpfe mit der Ortsangabe sind
      nicht im Dokumententext, sondern – wenn vorhanden – in der jeweils ersten
      Fußnote aufgeführt. Datumsangaben wurden, soweit vorliegen, belassen. Die
      Biografien der Verfasserinnen und Verfasser sowie ihrer Familien sind – da
      schon in der Einleitung ausgeführt – in den Dokumenten kein zweites Mal an-
      notiert.

      43 United States Holocaust Memorial Museum (künftig: USHMM), 2013.300.1, Sigi Ziering memoir,
      24.6.1945.
                                                                                                      VfZ 1 / 2023
Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen                                                                          173

               Dokument 1

               [Siegfried Ziering schreibt an seinen Vater in Großbritannien]44

               Lieber Papa,

               Heute will ich Dir berichten, wo wir überall waren. Am 9.12.4145 wurde der
               Transport von 1 000 Mann in der Turnhalle Schillerstraße zusammengestellt.46
               Die Hälfte aus der Stadt Kassel, die anderen aus der Umgebung. Dort wurden
               uns sämtliche Papiere, Gold, Geldsachen und Uhren abgenommen. Wir durften
               50 kg mitnehmen pro Person, 100 kg, die wir schon vorher aufgaben, sahen wir
               nie wieder. Am 9.12.41 nachmittags fuhren wir ab. Es waren ungeheizte 3ter
               Klasse Coupés. Wir fuhren über Berlin, Breslau, Posen, Königsberg, Tilsit und
               Kowno und kamen am 12. Dez. 41 in Riga an. Es war 40 Grad Kälte.47 Bei einem
               furchtbaren Schneesturm mussten wir ins Ghetto marschieren. 10 km. Unter-
               wegs wurden die Männer von 17–45 [Jahren] für das Vernichtungslager Salas-
               pilz48 ausgesucht.
                  Im Dezember 1941 waren im Rigaer Ghetto ca. 34 000 lettische Juden. Da-
               von wurden in der Zeit vom 7.–9.12.41 ca. 29 000 von lettischer und deutscher
               SS ermordet. Als wir ins Ghetto kamen, fanden wir überall noch Blutspuren.
               Die Mörder durften das Ghetto plündern. Wir bekamen zu 10 Personen ein klei-
               nes Zimmer und Küche. Die ersten drei Wochen bekamen wir überhaupt keine
               Verpflegung. Innerhalb von zwei Monaten kamen so ca. 11 000 Juden aus
               Deutschland, Österreich und der Chechoslowakei49 ins Ghetto. Jeden dritten
               Tag war Appell. Dann wurden die kräftigsten Männer nach Salopils geschickt.
               Dort kamen sie um vor Kälte, Hunger, Ungeziefer und Schlägen. Mit einem
               Dortmunder Transport kamen Mia und Dago Menschenfreund, denen wir spä-

               44 Wiener Library, P.III.h. (Riga), 289, Siegfried Ziering an Isaak Ziering, 25.6.1945; online verfügbar
               unter www.testifyingtothetruth.co.uk/viewer/image/105762/1/ [13.10.2022].
               45 Im handschriftlichen Original: „8.12.41“. Das Dokument findet sich in: USHMM, 2013.300.1, Sigi
               Ziering memoir, 24.6.1945.
               46 Von den 1 022 Juden dieses Kasseler Transports überlebten nach heutigem Kenntnisstand 100 Men-
               schen; vgl. Monica Kingreen, Die Deportation aus Kassel am 9. Dezember 1941, in: Buch der Erinnerung,
               Bd. 2, München 2003, S. 657–659.
               47 Im handschriftlichen Original folgt hier: „Das meiste Gepäck ließen wir am Bahnhof auf Nimmer-
               wiedersehen.“
               48 Richtig: Salaspils; der Name des Lagers erscheint in der Vorlage in mehreren Schreibweisen.
               49 Im handschriftlichen Original: „Tschecheslowakei“.
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174   Andrea Löw | Die „Hölle“ bezeugen

      ter vieles verdankten.50 Ein Berliner Transport kam im Januar bei 42 Grad Käl-
      te ins Ghetto, sie fuhren von Berlin bis Riga zu 75 Personen in einem Vieh-
      wagen. Unterwegs starben am Frost 60 Personen, und die anderen hatten min-
      destens Hand oder Füße erfroren. Die Transporte, die später nach Riga kamen,
      wurden gleich in den Hochwald gebracht, wo sie vergast oder erschossen wur-
      den. Die Kleidungsstücke von diesen Leuten kamen ins Ghetto, wo die SS [sie]
      sortieren ließ und nach Deutschland zum Winterhilfswerk51 schicken ließ. Am
      5.4.42 und am 8.4.42 wurden zusammen 2 400 meist ältere Leute aus dem
      Ghetto weggebracht. Auch sie gingen den Weg der vier Millionen.52
         Dann gingen Anfang März die ersten Arbeitskommandos aus dem Ghetto,53
      tagtäglich 9 000, zur Arbeit. Sie waren meistens bei Wehrmacht, SS, Bahn- und
      Postdienststellen beschäftigt. Die meisten auf Außenkommando Arbeitenden
      konnten sich ein Stück Brot zusätzlich tauschen oder beschaffen, und damit war
      dieErnährungslageder Ghettoinsassenetwasbesser.DieoffizielleDurchschnitts-
      zuteilung im Ghetto betrug pro Tag 200 gr. Brot fast ungenießbar, 5 gr. Nähr-
      mittel, 554 gr. Fett und ab und zu stinkende, verfaulte Kartoffeln. Wurde jemand
      mit einem Stück Brot auf Kommando geschnappt, wurde er sofort öffentlich er-
      hängt. Die sadistische SS trieb es so, dass wenn sie heute 100 erhängten, sie mor-
      gen Festeaufführenließen.So wurdenz.B. Jeremiasvon StefanZweigaufgeführt,
      Sportwettkämpfe und Fußballmatches ausgetragen. Es wurden Schulen und La-
      zarette gegründet. War das Lazarett zu voll, so wurden Aktionen gemacht. Für
      jeden Tag, den man im Ghetto oder KZ überlebte, müsste man nicht einmal, son-
      dern 3-mal Gomel benschen55. Das Todeslager Salapils bei Riga wurde aufgelöst.
      Die letzten kamen im August 1942 ins Ghetto zurück, in einem unbeschreiblichen
      geistigen und körperlichen Zustand. 60 % starben dort in 8 Monaten.
         Ende September entdeckte die SS eine Waffenkammer im Ghetto voll mit
      modernsten Waffen und Munition. Daraufhin wurde der gesamte lettische56

      50 Mia Menschenfreund (1920–1944) arbeitete später im KZ Riga-Kaiserwald in der Schreibstube und
      konnte so Einfluss nehmen auf die Zusammenstellung der Arbeitskommandos und die Abstellungen an
      Wirtschaftsbetriebe. Wie der Verfasser später berichtete, half sie ihm und seinem Bruder, in das Kom-
      mando ihrer Mutter versetzt zu werden.
      51 Im handschriftlichen Original: „W.H.W.“
      52 Offenbar gingen manche Überlebende zu diesem frühen Zeitpunkt von vier Millionen ermordeter
      Jüdinnen und Juden aus. Sie konnten die genaue Zahl noch nicht kennen, eher verwundert es, dass hier
      bereits von einem Verbrechen mit einer derart hohen Zahl von Opfern ausgegangen wird.
      53 Im handschriftlichen Original folgt hier: „Insgesamt gingen ca. von 13 000 Juden aus dem Ghetto“.
      54 Im handschriftlichen Original: „3“.
      55 „Gomel benschen“: Ein Segensspruch, der nach Errettung aus einer lebensbedrohlichen Situation zi-
      tiert wird.
      56 Im handschriftlichen Original stattdessen: „ganze jüdische“.
                                                                                                              VfZ 1 / 2023
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