Potenziale der Gemeinwesenarbeit für lokale Demokratie
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„Potenziale der Gemeinwesenarbeit für lokale Demokratie“ Zwischenbericht für den vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung Dr. Frank Gesemann, Alexander Seidel, Lea Freudenberg (DESI) Prof. Dr. Milena Riede, Amanda Groschke (HSAP) Berlin, September 2019 (durchgesehen im Februar 2021) 1
Dieser Zwischenbericht ist im Rahmen des Projekts „Potenziale von Gemeinwesenarbeit für lokale Demokra- tie“ (September 2018 bis Juli 2020) entstanden, das vom vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtent- wicklung beauftragt und begleitet wurde. Die Endergebnisse des Projekts wurden in der Schriftenreihe des vhw veröffentlicht: Frank Gesemann, Milena Riede, Alexander Seidel, Lea Freudenberg, Amanda Groschke und Antje Bruno 2021: Potenziale der Gemeinwesenarbeit für lokale Demokratie. Abschlussbericht. Berlin: vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung. Schriftenreihe Nr. 21. Internet: https://www.vhw.de/publikationen/vhw- schriftenreihe/ Wir danken Hannah Schirop (DESI) für ihre Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte. Kontakt Dr. Anna Becker (Wissenschaftliche Begleitung) vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. Bundesgeschäftsstelle Fritschestraße 27/28 10585 Berlin Telefon +49 30 390473-255 E-Mail abecker@vhw.de www.vhw.de Dr. Frank Gesemann (Gesamt-Projektleitung) Prof. Dr. Milena Riede (Projektleitung HSAP) DESI – Institut für Demokratische Entwicklung Professur für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik und Soziale Integration Hochschule für angewandte Pädagogik Nymphenburger Str. 2 Ostendstr. 1 10825 Berlin 12459 Berlin Telefon +49 30 81486-502 Telefon +49 30 2060 890 E-Mail Frank.Gesemann@t-online.de E-Mail m.riede@hsap.de www.desi-sozialforschung-berlin.de www.hsap.de 2
Inhalt Einleitung .......................................................................................................................................... 4 Vorstellung der fünf Untersuchungsgebiete ....................................................................................... 8 Berlin Spandau/Heerstraße Nord ................................................................................................................. 8 Hamburg St. Pauli/St. Pauli Süd.................................................................................................................... 9 Dortmund Nordstadt .................................................................................................................................. 10 Dresden Prohlis .......................................................................................................................................... 11 Düren .......................................................................................................................................................... 12 Tabellarische Übersicht: Wichtige Strukturdaten zu den ausgewählten Fallstudienorten........................ 14 Erste Eindrücke zu Potenzialen der Gemeinwesenarbeit in den Fallstudienorten ............................... 16 Berlin Spandau/Heerstraße Nord ............................................................................................................... 17 Hamburg St. Pauli/St. Pauli Süd.................................................................................................................. 19 Dortmund Nordstadt .................................................................................................................................. 23 Dresden Prohlis .......................................................................................................................................... 26 Düren .......................................................................................................................................................... 29 Fazit und Ausblick............................................................................................................................ 33 Literatur .......................................................................................................................................... 38 Anlage 1: Auswahl von Städten, Quartieren und Trägern für die Fallstudienuntersuchung .......................... 40 Anlage 2: Besonderheiten der für Steckbriefe ausgewählten Quartiere und Träger...................................... 42 Anlage 3: Interviews und Gesprächsrunden in den Erhebungsstädten .......................................................... 46 3
Einleitung Der vorliegende Zwischenbericht knüpft an die Vorexpertise an, in der die Begriffe lokale Demokratie und Gemeinwesenarbeit definiert und mit theoretischen Annahmen über Wirkungszusammenhänge verknüpft wurden, die zeigen, auf welche Weise Gemeinwesenarbeit zur lokalen Demokratieförderung beitragen kann (vgl. Gesemann/Riede 2019a). Er gibt einen Überblick über die Ergebnisse von Recherchen zu 15 ausgewähl- ten Quartieren in Deutschland, in denen eine aktive Gemeinwesenarbeit stattfindet und die in Form von Steckbriefen aufbereitet wurden. Vertieft werden die Ergebnisse empirischer Erhebungen in fünf ausgewähl- ten Gebieten dargestellt: In den Stadtteilen Berlin-Spandau, Dortmund-Nordstadt, Dresden-Prohlis, Ham- burg-St. Pauli sowie in der nordrhein-westfälischen Mittelstadt Düren, in denen von Mai bis September 2019 Interviews und Gesprächsrunden durchgeführt wurden. Begriffsbestimmungen Die Kommunen erfüllen im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Doppelfunktion: Sie sind eine eigenständige Verwaltungsebene, die den Bürgerinnen und Bürgern vielfältige Beteiligungsmög- lichkeiten bietet, und gleichzeitig eine staatliche Ausführungsinstanz. Angesichts dieser verschiedenen Funk- tionen befindet sich die Kommunalpolitik in einem andauernden Spannungsverhältnis zwischen demokrati- scher Legitimation und ökonomischer Effizienz. Aufgrund der geringeren räumlichen Distanzen und der Le- bensnähe der politischen Prozesse bieten sich aber auf der lokalen Ebene vielfältige Möglichkeiten, Politik mitzugestalten. In der Kommune als Keimzelle und Schule der Demokratie bilden die Mitgestaltung des sozi- alen Miteinanders und die Beteiligung am politischen Geschehen ein Modell partizipativen Lernens. Ausprägung und Qualität lokaler Demokratie werden von der sozialen Integration sowie den Einstellungen, Haltungen, Bewertungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung beeinflusst. Es handelt sich dabei – nach Ergebnissen der politikwissenschaftlichen Forschung – um ein trichterförmiges Wirkungsgefüge, in dem die Komplexität schrittweise zunimmt: Soziale Integration beeinflusst politisches Interesse, das wiederum eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung für politische Kompetenz, politisches Vertrauen und Zufriedenheit mit der Demokratie ist. Politische Kompetenz beeinflusst wiederum Vertrauen und Zufrie- denheit. Alle Einflussfaktoren prägen schließlich die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich für das Gemeinwesen zu engagieren und am politischen Geschehen zu beteiligen. Gemeinwesenarbeit wirkt hinsichtlich der lokalen Demokratie auf drei Ebenen: der individuellen, der zivil- gesellschaftlichen und der kommunalen. Hierbei lässt sich das umfassende Handeln im Rahmen der Gemein- wesenarbeit auf die folgenden drei Handlungsebenen fokussieren: (1) Stärkung individueller Handlungskom- petenzen, (2) Förderung einer lebendigen Zivilgesellschaft und (3) Mitgestaltung von Partizipationsmöglich- keiten in der Kommune. Diese Handlungsebenen beeinflussen die Determinanten lokaler Demokratie, wobei zunächst der sozialen Integration eine zentrale Bedeutung zukommt und darauf aufbauend Interesse, Kom- petenzen, Vertrauen, Zufriedenheit und politische Beteiligung wachsen können. Die Zusammenhänge zwischen den Handlungsebenen von Gemeinwesenheit und den Determinanten lokaler Demokratie wurden in einem Wirkungsmodell modelliert. Eine aktive Gemeinwesenarbeit stärkt individuelle Handlungskompetenzen, fördert eine lebendige Zivilgesellschaft und leistet einen Beitrag zur Ausgestaltung und Wahrnehmung von Partizipationsmöglichkeiten in der Kommune. Die Ausprägung der Determinanten lokaler Demokratie – und damit auch die Wirkungsmöglichkeiten von Gemeinwesenarbeit – können durch eine aktive und strategisch orientierte Kommunalpolitik, z.B. durch Stadtteilbezug, Diversitätssensibilität, En- gagementförderung und Bürgerbeteiligung als zentrale Elemente einer Politik zur Förderung des sozialen Zu- sammenhalts in der Stadtgesellschaft wesentlich beeinflusst werden (vgl. Gesemann/Riede 2019b). 4
Fallstudienauswahl und Steckbriefe Um den theoretischen Wirkungszusammenhang von Gemeinwesenarbeit und lokaler Demokratie in der kon- kreten Praxis überprüfen zu können, wurden bundesweit 15 Quartiere in verschiedenen Bundesländern re- cherchiert, in denen eine aktive Gemeinwesenarbeit und eine intensive Arbeit mit der Bewohnerschaft be- trieben wird. Eine erste Auseinandersetzung mit den theoretisch-konzeptionellen Ansätzen der Gemeinwe- senarbeit (GWA) und den Rahmenbedingungen ihrer praktischen Umsetzung spiegelt die Varianz unter- schiedlicher Ansätze, Organisations- und Förderstrukturen von Gemeinwesenarbeit nach Bundesländern und städtischen bzw. kommunalen Kontexten wider. Die kontrastierend angelegte Fallauswahl erfolgte auf der Grundlage der Kenntnis von bekannten Beispielen guter Praxis bis hin zu Quartieren mit besonderen Herausforderungen im Hinblick auf eine demokratisch leistungsfähige Gemeinwesenarbeit. Zu den berücksichtigten Faktoren gehörten insbesondere soziale und geographische Merkmale (wie Lage und Größe der Stadt und Quartiere), die Kontinuität der Arbeit von Ge- meinwesenarbeit (mindestens zehn Jahre), politische Strukturmerkmale wie bestehende Förder- und Pro- grammlandschaften von Bund, Ländern und Kommunen sowie unterschiedliche Konzeptionalisierungen von Gemeinwesenarbeit und Verständnisse lokaler Demokratie von Akteuren der Gemeinwesenarbeit. Für die Auswahl geeigneter Fallbeispiele konnten wir auf eigene Forschungserfahrungen und gute Zugänge zu verschiedenen Akteuren der Gemeinwesenarbeit, auf Empfehlungen aus den Reihen der Bundesarbeits- gemeinschaft Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit e.V. sowie der Sektion Gemeinwesenarbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) zurückgreifen. In Abstimmung mit dem vhw – Bundes- verband für Wohnen und Stadtentwicklung wurde eine Vorauswahl von 15 Akteure getroffen, die eine große Spannbreite konzeptioneller Ansätze, Träger- und Organisationsstrukturen sowie sozialräumlicher Kontexte repräsentieren (siehe auch die Anlagen 1 und 2 im Anhang): 1. Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V., Stadtteilarbeit und Freiwilligenagentur, Quartiersmanagement Dütt- mann-Siedlung, Berlin-Kreuzberg 2. Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V., Stadtteil- zentrum und Quartiersmanagement Heerstraße, Ber- lin-Spandau 3. Haus der Zukunft e.V., Mehrgenerationenhaus und Quartiersmanagement Lüssom-Bockhorn, Bremen- Lüssom 4. Planerladen e.V. – Verein zur Förderung demokrati- scher Stadtplanung und stadtteilbezogener Gemein- wesenarbeit, Dortmund-Nordstadt 5. KEM Kommunalentwicklung Mitteldeutschland GmbH, Quartiersmanagement Dresden-Prohlis, Dresden- Prohlis 6. Evangelische Gemeinde zu Düren, Büro für Gemeinwe- Abbildung 1: Geographische Verteilung der für senarbeit und Soziale Stadtentwicklung, Düren die Erstellung von Steckbriefen ausgewählten 7. Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Fallstudienorte. Arbeit und Beratung (ISSAB) der Universität Duisburg- Essen, Quartiersmanagement Altenessen-Süd/Nordviertel, Essen-Altenessen 8. Forum Weingarten e.V., Stadteilbüro und Quartiersarbeit in Weingarten-Ost und Weingarten-West, Freiburg-Weingarten 5
9. AWO SPI Soziale Stadt und Land Entwicklungsgesellschaft mbH, Quartiersmanagement Halle-Neustadt, Halle-Neustadt 10. GWA St. Pauli e.V., Stadtteilzentrum KÖLIBRI, Hamburg-St. Pauli 11. Landeshauptstadt Hannover, Kommunale Gemeinwesenarbeit in Hannover-Sahlkamp, Hannover-Sahl- kamp 12. Veedel e.V. – Gemeinwesenarbeit in Köln, Stadtteilbüro in Kalk-Nord, Köln-Kalk 13. Mannheimer Quartiersmanagement e.V., Quartiermanagement Neckarstadt West, Mannheim- Neckarstadt-West 14. JuFuN e.V. – Verein für Jugend-, Familien- und Gemeinwesenarbeit, Familien- und Nachbarschaftsze- ntrum Hardt, Stadtteilkoordination Hardt, Schwäbisch Gmünd 15. KinderStärken e.V., Institut an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Stadtteilmanagement Stendal- Stadtsee, Stendal-Stadtsee Die Informationen zu den jeweiligen Ansätzen sozialraumbezogener Arbeit, den Akteursstrukturen vor Ort sowie den lokalen Aktivitäten und Rahmenbedingungen wurden – auf der Grundlage von Online-Recherchen und vereinzelten Telefon-Interviews – in Form von drei- bis vierseitigen Steckbriefen aufbereitet (zu den Be- sonderheiten der ausgewählten Fallbeispiele siehe die Anlage 3 zu diesem Bericht). Anhand der Steckbriefe entschieden wir uns – in Abstimmung mit dem vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung für vertiefende Untersuchungen vor Ort in den Städten bzw. Stadtteilen Berlin-Span- dau (Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V.), Hamburg-St. Pauli (GWA St. Pauli e.V.), Dortmund-Nordstadt (Planerladen e.V.), Dresden-Prohlis (KEM Kommunalentwicklung Mitteldeutschland GmbH) und Düren (Evan- gelische Gemeinde zu Düren). Diese Fallbeispiele langjähriger, aktiver Gemeinwesen- und Stadtteilarbeit spie- geln die Varianz unterschiedlicher Träger (Vereine, Kirchengemeinde, Wirtschaftsunternehmen), unter- schiedlicher Ansätze und Ziele, Auftraggeber, Kooperationspartner und Förderstrukturen in unterschiedli- chen Bundesländern (Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen) und sozialräumlicher Kontexte (Groß- stadt, Mittelstadt) wieder.1 Das Fallbeispiel Berlin Spandau/Heerstraße Nord betrachtet dabei eine von Stigmatisierung und sozialer Be- nachteiligung geprägte Großwohnsiedlung in der Peripherie einer Metropole mit einem traditionsreichen, ursprünglich eigeninitiativ entstandenen Gemeinwesenverein, der in Kooperation mit der evangelischen Kir- chengemeinde ein Gemeinwesen- und Stadtteilzentrum mit zentraler Bedeutung im Quartier trägt und dar- über hinaus seit 2005 für die Durchführung eines Quartiersmanagements beauftragt ist. Mit Hamburg St. Pauli/St. Pauli Süd betrachten wir ein von verschiedenen, insbesondere alternativen Mili- eus geprägtes Quartier in großstädtischer Zentrumslage, welches durch ein tolerantes Miteinander mit hoher lokaler Identifizierung im Spannungsfeld zwischen enger Nachbarschaftlichkeit, touristischer (Über-)Nutzung und Gentrifizierung sowie einen politisch-emanzipatorisch agierenden Gemeinwesenakteur geprägt wird. Die Dortmunder Nordstadt ist ein migrantisch geprägter Stadtteil in innenstädtischer Lage, in dem sich be- sondere soziale Bedarfe und Problemlagen akkumulieren. Im Stadtteil besteht – entsprechend seiner Größe und Bedarfe – eine breite Landschaft stadtteilbezogener und sozialer Arbeit. Mit dem Planerladen e.V. fo- kussieren wir auf einen dieser Akteure, der in seinem Selbstverständnis dem Ansatz der Gemeinwesenarbeit folgt. 1 Als Fallbeispiel wurde ursprünglich auch der Ortsteil Bremen Lüssum-Bockhorn in Betracht gezogen, in dem sich Ge- meinwesenarbeit und ein Quartiersmanagement unter dem Dach eines Mehrgenerationenhauses vereinen. Der lokale Träger der Gemeinwesenarbeit war angesichts der Ressourcenlage vor Ort jedoch zurückhaltend gegenüber der Unter- stützung unseres Forschungsprojekts, sodass keine Zusammenarbeit zustande kam. 6
Das Fallbeispiel Dresden Prohlis untersucht eine Großwohnsiedlung in Randlage einer ostdeutschen Groß- stadt, die insbesondere mit sozialen und soziodemographischen, aber auch demokratiepolitischen Heraus- forderungen konfrontiert ist. Das langjährig vor Ort tätige Quartiersmanagement und Stadtteilbüro widmet sich auch der Stärkung des sozialen Miteinanders und dem Empowerment der Bewohnenden, hier jedoch in Trägerschaft eines privatwirtschaftlichen Unternehmens der Stadt- und Regionalentwicklung. Schließlich wird mit Düren eine nordrhein-westfälische Mittelstadt in den Fokus genommen, in der seit meh- reren Jahrzehnten eine von der Evangelischen Kirche getragene und durch die Kommune unterstützte Ge- meinwesenarbeit in verschiedenen Stadtteilen umgesetzt wird. In Düren agiert das Büro für Gemeinwesen- arbeit und Soziale Stadtentwicklung dezentral in verschiedenen benachteiligten Stadtteilen und hat spezifi- sche Strukturen für dauerhafte Mitverantwortung der Anwohnenden und kooperative Beteiligung etabliert. Fragestellungen und Vorgehensweise In unserer Studie gehen wir der Frage nach, welches Potenzial die Gemeinwesenarbeit unter den gegenwär- tigen Rahmenbedingungen zur Förderung der lokalen Demokratieentwicklung entfalten kann. Die vertiefen- den Untersuchungen in fünf Quartieren ermöglichten Einblicke in die unterschiedlichen Akteursstrukturen und Arbeitsweisen der Gemeinwesenarbeit vor Ort sowie die demokratiefördernden Effekte auf individuel- ler, kollektiver und sozialräumlicher Ebene. Als untersuchungsleitendes Raster diente dabei das von uns ent- wickelte Wirkungsmodell, wobei vor allem Antworten auf die folgenden übergeordneten Fragestellungen gefunden werden sollen: 1. Wie kann der Anspruch der Gemeinwesenarbeit an Empowerment, Aktivierung, Beteiligung, Netzwerk- bildung und Demokratieförderung unter den aktuellen Rahmenbedingungen sowie Förder- und Akteurs- strukturen erfüllt und umgesetzt werden? 2. Welche Potenziale und Defizite können in der Aufgabenwahrnehmung der Gemeinwesenarbeit hinsicht- lich der direkten und indirekten Demokratieförderung identifiziert werden? 3. Welche ergänzenden Strukturen (bzw. Programme, Akteure, Aktivitäten) wären notwendig, um die Auf- gaben und Ziele der Gemeinwesenarbeit im Bereich der Demokratieförderung wahrzunehmen? Zur Beantwortung dieser Fragen führten wir in den ausgewählten fünf Städten und Ortsteilen detaillierte Erhebungen in Form von Interviews und Gesprächsrunden mit Schlüsselakteuren der Gemeinwesenarbeit, lokalen Expertinnen und Experten, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie Anwohnenden durch (siehe den Überblick über Interviews und Gruppendiskussionen in Anlage 3). Methodisch standen dabei die folgenden Elemente im Vordergrund: ▪ Bestandsaufnahme und Sozialraumanalyse zur Sozial- und Akteursstruktur in den Quartieren sowie Do- kumentenanalysen zu lokalen Aktivitäten der Gemeinwesenarbeit, ▪ Expertengespräche vor Ort mit Akteuren und Trägern der lokalen Gemeinwesenarbeit, Nutzerinnen und Nutzern der Angebote sowie den zuständigen Stellen in der Verwaltung, ▪ Fokusgruppengespräche mit Netzwerkpartnern und mit engagierten Bewohnerinnen und Bewohnern (Schlüsselpersonen), lokalen Aktiven sowie Politikerinnen und Politikern, um die Wirkungen der Gemein- wesenarbeit auf lokale demokratische Prozesse zu diskutieren, ▪ Standardisierte Querschnittsbefragung von Menschen im Stadtteil, um lebensweltliches Wissen zur Ge- meinwesenarbeit zu erfassen und lokale Bedarfe zu identifizieren. 7
Gliederung des Berichts In dem vorliegenden Zwischenbericht werden erste Ergebnisse der empirischen Erhebungen präsentiert. Der Bericht gliedert sich wie folgt: In dem auf die Einleitung folgenden Kapitel 2 werden die fünf Untersuchungs- gebiete, lokale Akteure, Merkmale der Untersuchungsräume und Rahmenbedingungen der Gemeinwesen- arbeit vorgestellt. Eine tabellarische Übersicht über die wichtigsten Eckdaten der untersuchten Gebiete schließt sich an. In Kapitel 3 erfolgt eine erste Analyse der Potenziale von Gemeinwesenarbeit für lokale De- mokratie in den fünf Untersuchungsgebieten in Form beispielhafter Illustrationen der Potenziale von Ge- meinwesenarbeit auf den verschiedenen Wirkungsebenen (individuelle, zivilgesellschaftliche und kommu- nale Ebene). In einem kurzen Fazit werden die Ergebnisse zusammengefasst, offene Fragen formuliert und ein Ausblick auf den Abschlussbericht gegeben. Vorstellung der fünf Untersuchungsgebiete Berlin Spandau/Heerstraße Nord Das Untersuchungsgebiet Heerstraße Nord befindet sich im Westen Berlins und ist Teil des Stadtteils Staaken im Berliner Bezirk Spandau. In dem Gebiet mit rund 20.000 Einwohnern gibt es überwiegend Großsiedlungs- strukturen, die in den 1970er Jahren als beispielhafte barrierefreie Vorhaben gebaut wurden. Dieser Vorzei- gecharakter des Gebietes ist heute allerdings deutlich eingeschränkt. Stark befahrene Magistralen ziehen sich durch das Wohngebiet und wirken als Barrieren für die Anwohnerinnen und Anwohner, die dadurch nicht selten ihren Aktionsraum eingeschränkt sehen. Zudem birgt die soziale Struktur des Gebietes große Herausforderungen. So wies der Kern der Großsiedlung rund um den Pillnitzer Weg und die Maulbeerallee im Jahr 2016 mit 45,1 Prozent bzw. 54,3 Prozent die höchsten Werte in Spandau für den Anteil der Einwoh- nenden unter 65 Jahren auf, die Teil einer Bedarfsgemeinschaft nach SBG II (Sozialgesetzbuch) sind (Bezirk- samt Spandau von Berlin 2018a). Aus dieser Lage ergibt sich ein erhöhter Aufmerksamkeitsbedarf für das Kerngebiet im Rahmen des Monitorings Soziale Stadtentwicklung (siehe auch Senatsverwaltung für Stadtent- wicklung und Wohnen 2018). Im Integrierten Stadtteilentwicklungskonzept 2017-2019 und im Bezirksregionenprofil 2018 wird für das Quartiersmanagementgebiet Heerstraße auf eine anhaltend hohe Ausprä- gung der Entwicklungsrisiken Kinderarmut, Ju- gendarbeitslosigkeit und Transferbezug hin- gewiesen (Quartiersmanagement 2019; Se- natsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2018). Zudem bestehen inzwischen im Gebiet Heerstraße Ängste vor Verdrän- gung, die wiederum auch eine Folge des Zu- zugs von Menschen sind, die das Berliner Zentrum aufgrund von Mietsteigerungen ver- Abbildung 2: Blick über die Großwohnsiedlung Heerstraße Nord lassen mussten (vgl. Quartiersmanagement (Foto: Lea Freudenberg) Heerstraße 2019: 3). Trotz dieser eher negati- ven Rahmenbedingungen ist die Kriminalitätsrate – entgegen des in der Presse vermittelten Eindrucks – nied- rig. Dies wird jedoch auch innerhalb des Quartiers teilweise anders wahrgenommen, denn: „Die Kriminalität 8
im öffentlichen Raum ist nicht auffällig, das subjektive Sicherheitsgefühl von älteren Menschen ist jedoch häufig gering“ (Bezirksamt Spandau 2018). Die negative Berichterstattung in der Presse über das Gebiet Heer- straße sorgt dennoch bei Anwohnerinnen und Anwohnern sowie bei den professionellen Akteuren vor Ort für Empörung und verstärkt den Willen, gegen diese negative Stigmatisierung anzukämpfen. Ein zentraler Akteur, der sich unter anderem im Rahmen von gemeinwesenorientierter Arbeit dieser Proble- matik annimmt, ist der Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V. (kurz: Gemeinwesenverein), der 1978 seine Arbeit im Gebiet aufnahm und zum örtlichen Träger eines Stadtteil- bzw. Gemeinwesenzentrums wurde. Von Beginn an besteht eine enge Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirchengemeinde zu Staaken, die dem Gemeinwesenverein die Räumlichkeiten für Aktivitäten zur Verfügung stellt. 2005 wurde im Rahmen des Programms Soziale Stadt aufgrund der schwierigen sozioökonomischen Lage im Gebiet der Heerstraße Nord ein Quartiersmanagement eingesetzt, für das der Gemeinwesenverein die Trägerschaft übernahm. Aktuell leitet und koordiniert der Gemeinwesenverein neben dem Quartiersmanagement zwei Stadtteilzentren (Hauptstandort Obstallee 22 und Standort Brunsbütteler Damm 312), ein Familienzentrum sowie den Ju- gendhilfeträger Contract. Neben dem Programm Soziale Stadt beruht die Finanzierung dieser Angebote hauptsächlich auf dem Infrastrukturprogramm Stadtteilzentren, einem Berliner Landesprogramm zur Förde- rung von Nachbarschaftsarbeit. Auf EU-Gelder wird aufgrund des unverhältnismäßig hohen Verwaltungs- und Abrechnungsaufwandes verzichtet; dies trägt allerdings zu einer Verschärfung des ohnehin empfunde- nen Personalmangels im Gemeinwesenverein bei. Das Quartiersmanagement koordiniert die monatlich statt- findende Stadtteilkonferenz vielfältiger sozialer Akteure im Gebiet sowie das Bildungsnetz Heerstraße, das Akteurinnen und Akteure aus einem breiten Spektrum bildungsrelevanter Einrichtungen verbindet und Ko- operationen zwischen Schulen, Kitas, Jugendzentren, Streetwork, Stadtteilbibliothek, Kinder- und Jugendge- sundheitsdienst, Jugendamt, Polizei, dem Einkaufszentrum Staaken-Center, Wohnungsgesellschaften etc. fördert. Der Gemeinwesenverein kooperiert somit seit über 40 Jahren mit zahlreichen Akteuren und ist an einer sozialen Weiterentwicklung des Stadtteils beteiligt. Hierbei wird versucht, die migrantische Bevölke- rung mit ihren Themen und Problemen einzubeziehen und in Arbeitsprozesse zu integrieren. Hamburg St. Pauli/St. Pauli Süd Die Gemeinwesenarbeit der GWA St. Pauli e.V. bezieht sich vor allem auf den südlichen Teil des Stadtteils zwischen Reeperbahn und Landungsbrücken und umfasst damit ein vergleichsweise kleines und übersichtli- ches Gebiet. Innerhalb nur weniger Querstraßen kontrastieren hier die Ausgeh- und Partykultur „auf dem Kiez“ (rund um die Reeperbahn) und ein eher ruhig und dörflich anmutendes Altbauquartier, welches noch immer zu den einkommensärmeren Stadtteilen Hamburgs gehört und im Gegensatz zu vielen umliegenden Quartieren – wie dem Schanzenviertel – bislang große Teile seines Charakters vor Gentrifizierungsprozessen bewahren konnte. Das Quartier blickt auf eine „widerständische“ Tradition zurück, die das Selbstbewusstsein und die Identität vieler Be- wohnerinnen und Bewohner bis heute prägt. Begründet wird dieses Image durch Hausbe- setzungen der 1980er Jahre, insbesondere in der Hafenstraße, die heute teils in Form selbstverwalteter Wohnprojekte fortbeste- hen und sichtbar sind. Auch ältere historische Abbildung 3: Park Fiction – ein früheres GWA-Erfolgsprojekt der Bezüge werden reproduziert, wonach sich in 1990er-Jahre im Süden St. Paulis, heute im Angesicht dynamischer St. Pauli – vor den Toren der Stadt Hamburg – Stadtentwicklung (Foto: Alexander Seidel) 9
schon immer die „Unerwünschten“ und „Ausgestoßenen“ sammelten. Die Milieustruktur des Quartiers ist von alternativen Subkulturen, studentischen oder auch kreativen Milieus geprägt, seit Jahrzehnten aber auch durch Einwanderung und Migration. Immer wieder betont wird dabei sowohl von Hauptamtlichen wie auch von Anwohnerinnen und Anwohnern ein lebendiges und solidarisches Miteinander und intensive Nachbarschaftlichkeit. Stadtentwicklungspolitische Auseinandersetzungen und Diskussionen um Aufwertung, Verdrängung und Tourismus sind bis heute ein dominierendes Thema im Quar- tier, was sich in einer Vielzahl von Initiativen und Projekten (wie St. Pauli selber machen) sowie einer stark vernetzten Landschaft von Aktivistinnen und Aktivisten in diesem Themenbereich widerspiegelt.2 Ein zentra- ler Anlaufpunkt für (Selbst-) Organisierungen dieser Art ist die GWA St. Pauli e.V. als Träger der lokalen Ge- meinwesenarbeit mit seinem Stadtteilzentrum Kölibri. Die Entwicklung vieler nachbarschaftlicher Initiativen wurde hier unterstützt und begleitet. Ein weiteres stadtteilpolitisches Konfliktfeld der letzten Zeit sind Dis- kussionen um den Umgang mit öffentlichem Drogenhandel, dem die Stadt mit polizeilicher Repression be- gegnet, während Aktivistinnen und Aktivisten die aus ihrer Sicht wirkungslosen Maßnahmen als rassistisch motiviert und einschüchternd kritisieren. Die GWA St. Pauli entstand Mitte der 1970er Jahre aus einer studentischen Initiative zur Unterstützung von Obdachlosen und hat sich seitdem kontinuierlich institutionalisiert. In den verschiedenen Arbeitsbereichen der Kultur-, Sozial- und Gemeinwesenarbeit sind gegenwärtig etwa 30 bis 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter tätig. Diese sind eng mit den öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen und Einrichtungen im Stadtteil vernetzt, darunter Nachbarschafts-, Begegnungs- und Freizeiteinrichtungen, Jugendeinrichtungen und Schulen. Über den Stadtteil hinaus ist der Gemeinwesenverein mit Ausnahme des Familienberatungsan- gebots ADEBAR3, welches inzwischen auch über Standorte in angrenzenden Stadtteilen verfügt, nicht tätig. Dortmund Nordstadt Die Dortmunder Nordstadt gilt als „Ankommens- und Durchgangsstadtteil“ für Neuzuwandernde und zeich- net sich in diesem Zusammenhang nicht nur durch einen hohen Anteil von Migrantinnen und Migranten aus, die den Stadtteil aufgrund vorhandener migrantischer Netzwerke, seines Images und niedriger Mieten als „ersten Anlaufpunkt“ in der Region ansteuern, sondern auch durch eine hohe Mobilität im Umzugsverhalten der Bevölkerung. Es gibt nur wenige „alteingesessene“ Milieus und soziale Gruppen – wer angekommen ist und es sich leisten kann, versucht die Nordstadt in Richtung privilegierterer Quartiere zu verlassen. In dieser Funktion erfüllen der „Integrationsinkubator“ Nordstadt und seine Bevölkerung wesentliche Integrationsauf- gaben für ganz Dortmund. Durch die damit einhergehenden Bedarfe, aber auch die soziale Benachteiligung großer Bevölkerungsteile besteht ein dichtes Netz sozialer Arbeit, die in Teilen einen Gemeinwesenanspruch verfolgt. Insgesamt be- steht in der Dortmunder Nordstadt – bedingt durch ihre Größe und hohen sozialen Bedarfe – eine sehr breite Trägerstruktur mit vielfältigen Angeboten und eher dezentralem Charakter. Die Akteure verteilen sich über die drei durch Magistralen voneinander getrennten Sozialräume der Nordstadt: die Quartiere Hafen, Nord- markt und Borsigplatz. Soziodemographisch bedingt gehören die Kinder-, Jugend- und Bildungsarbeit sowie Integrationsangebote zu den zentralen Aufgabenbereichen im Quartier. Der Stärkung von Beteiligung und politischer Teilhabe widmet sich insbesondere der Planerladen e.V., der aktivierend (zuletzt vor allem in der Zielgruppe Neuzugewanderter aus Südosteuropa), aber auch advokatorisch für marginalisierte Zielgruppen 2 So ist in Hamburg – im Gegensatz zu anderen deutschen Großstädten – die erfolgreiche Etablierung eines Recht-auf- Stadt-Netzwerks gelungen (vgl. Rinn 2016). 3 Familienförderungsprojekt mit Schwerpunkt Schwangeren- und Familienberatung, siehe: https://www.adebar- hh.de/ueber-uns/ 10
eintritt und damit bisweilen bei kommunalen Akteuren aneckt. Nicht nur der Verbesserung von Bildungschancen, sondern auch sozialer Kompetenzen und der Stadtteilarbeit widmet sich die Stadtteil-Schule Dortmund e.V., seit Beginn auch einer der Träger des Quartiers- managements. Der Verein Machbarschaft Borsig11 e.V. ist wiederum ein Beispiel für ei- nen jungen Akteur aus der kreativen Szene, der sich „sozialer Kreativität“, nachbarschaft- licher Begegnung und partizipativer Stadtteil- kultur verpflichtet sieht. Diese Akteure wäh- len verschiedene Ansätze, implementieren je- Abbildung 4: Fassadengestaltungen wie diese finden sich an vielen Orten in der Nordstadt – ein Versuch der Stadtverwaltung, das doch alle Elemente der Gemeinwesenarbeit in Image des Stadtteils positiv zu besetzen (Foto: Frank Gesemann) ihren jeweiligen Betätigungsfeldern. Durch die zentrale, innenstädtische Lage ist die Dortmunder Nordstadt in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Stadtentwicklungsprozessen geraten. Insbesondere im Hafen-Quartier und auf dem großflächigen Gelände der ehemaligen Westfalen- hütte wurden Potentialflächen für Wohn- und Gewerbeflächen ausgemacht, die zunehmend erschlossen werden und in sozioökonomischer Hinsicht andere Milieus ansprechen als der Rest der Nordstadt. Durch beginnende Aufwertungsprozesse im Bestand setzen auch erste Diskussionen um Verdrängungsprozesse ein, die bislang allerdings noch nicht zu den wesentlichen politischen Konfliktfeldern gehören. Dresden Prohlis Dresden Prohlis ist ein Stadtteil im Südosten Dresdens, der überwiegend durch Großsiedlungsstrukturen ge- prägt ist. Der Stadtteil liegt in Stadtrandlage und wird aufgrund seiner geografischen Lage auch als Dresdens „Tor zur Sächsischen Schweiz“ bezeichnet. Prohlis weist eine lange Siedlungsgeschichte auf und blieb bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem ein Bauerndorf mit mehreren Gehöften. 1921 wurde der Stadtteil Proh- lis nach Dresden eingemeindet. Neben den Luftangriffen von 1945, die erhebliche Zerstörungen anrichteten, bildete der Beschluss zum Bau des bislang größten Dresdner Neubaugebietes, welches zwischen 1976 und 1985 in Prohlis gebaut wurde, einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Stadtteils. Es entstanden auf einem Gebiet von ca. 140 Hektar Plattenbauten mit ca. 10.700 Wohnungen. Die Einwohnerzahl stieg bis Mitte der 1980er Jahre auf fast 30.000 Menschen. Hinzu kamen mehrere Schulen, Kindergärten, Kaufhallen und die Wohngebietsgaststätte Stern mit Restaurant- und Klubräumen.4 Nach der Wiedervereinigung wurde das Großsiedlungsgebiet Prohlis mit verschiedenen städtebaulichen Förderprogrammen modernisiert, teilweise rückgebaut und optisch ansprechender gestaltet. Hinsichtlich der Bewohnerstruktur kann gesagt werden, dass in Prohlis der Anteil an Senioren und Seniorin- nen mit mehr als einem Drittel der Anwohnenden hoch ist. Aufgrund steigender Mieten in anderen Teilen Dresdens und niedrigeren Mieten sind viele ökonomisch benachteiligte Menschen nach Prohlis gezogen oder durch Belegwohnungen zugewiesen worden. Seit vielen Jahren bemühen sich engagierte Menschen für ihren Stadtteil, seit dem Jahr 2000 mit Unterstützung eines Quartiersmanagements (QM). Hierbei kommt auch 4 http://www.qm-prohlis.de/Historische-Wurzeln.22.html (24.09.2019). 11
etlichen engagierten Senioren und Seniorinnen, die durch die Wende arbeitslos wurden, eine wichtige, sta- bilisierende Rolle im Gebiet zu. Das neue, gemeinschaftlich entwickelte Motto von Prohlis ist: „Leben mit Weitblick“. Dieses referiert auf den Ausblick aus mehreren Hochhäusern Prohlis‘ der teilweise bis ins Erzgebirge reicht. Des Weiteren ermögli- chen viele Fahrstühle, ein gut ausgebautes Nahverkehrsnetz und kurze Wege ein barrierearmes Wohnum- feld, in dem Familien wie auch ältere Menschen langfristig (mit Weitblick) leben können Im Prohliszentrum sind viele Geschäfte für den täglichen Bedarf, sowie Post, Bibliothek, Sparkasse und Bürgerbüro barrierefrei erreichbar. Auch das Ärztehaus bietet eine gute medizinische Versorgung. Seit gut 20 Jahren wurden große Summen in die Aufwertung des Wohnumfeldes und die Sanierung von sozialen Einrichtungen und Wohnge- bäuden gesteckt, durch mehrere Programme der Stadterneuerung (Stadtumbau Ost, Soziale Stadt) und pri- vater Eigentümer. Das Gebiet ist grün, bietet ruhige Ecken und es gibt mehrere soziale Einrichtungen oder Beratungsangebote, die für Ratsuchende jeden Alters Unterstützung bieten.5 In den letzten 20 Jahren hatte die Landespolitik Sachsen die Mittel für den sozialen Bereich stark gekürzt, so dass ganze Strukturen wegge- brochen sind. Diese müssen nun langsam wieder aufgebaut werden. Seit dem Jahr 2000 gibt es ein Quartierma- nagement mit einem Stadtteilbüro in Prohlis, das im Rahmen des Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt - Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“ entstanden ist. Das Stadtteilbüro des QMs ist für alle Anwohnen- den die zentrale Informations- und Vernet- zungsstelle. Durch das Engagement der Mitar- beitenden des Quartiersmanagements sind über die Jahre zahlreiche Initiativen entstan- den, die von den Anwohnenden heute selbst- ständig im Ehrenamt weitergeführt werden. Hierbei arbeitet das QM eng mit den Anwoh- nenden, den vertretenen Initiativen, Einrich- Abbildung 5: Der Stadtteil Prohlis zeigt eine seiner ungewohnteren tungen, Trägern und Institutionen sowie den bunten Seiten (Foto mit freundlicher Genehmigung von Andreas Wohnungsbaugesellschaften im Stadtbezirk Nattermann) zusammen. Dadurch hat sich in Prohlis ein ho- hes bürgerschaftliches und soziales Engagement entwickelt. Auch hat das QM verschiedene Veranstaltungs- reihen entwickelt, die in regelmäßigen Abständen seit vielen Jahren stattfinden, beispielsweise die Prohliser Ehrenamtsmeile und die Vereinsmeile zum Herbstfest. Düren Düren ist eine Stadt mit 92.000 Einwohnenden, die zwischen den Großstädten Köln und Aachen liegt. Als durchgängiger Trend in der demografischen Entwicklung von Düren lässt sich ausmachen, dass die Menschen älter und die Bevölkerung soziokulturell heterogener werden. Die Einwohnerzahl ist leicht steigend, was am Zuzug liegt, wobei die meisten Zuzüge aus Köln kommen, dicht gefolgt von Menschen aus Rumänien. In Düren leben insgesamt 130 Bevölkerungsgruppen mit nichtdeutschen Wurzeln, die größte Gruppe davon sind 5 Quartiersmanagement Prohlis (2019) Öffentlichkeitsarbeit http://www.qm-prohlis.de/Oeffentlichkeitsarbeit.14.html 20.9.2019 12
Menschen aus der Türkei. Dürens Motto ist: „lebendig, offen, mittendrin“.6 Bei einer Betrachtung der ver- schiedenen Stadtteile in Bezug auf Altersstruktur und Quote an Transferleistungsbeziehenden werden große Unterschiede deutlich (Stadt Düren 2018a: 5). Düren weist eine fast 40-jährige Tradition von Gemeinwesenarbeit in benachteiligten Stadtteilen auf, in de- nen die Lebensqualität hinsichtlich unzureichender Infrastruktur oder anderer Probleme eingeschränkt war oder noch ist.7 Das Büro für Gemeinwesenarbeit und Soziale Stadtentwicklung (im weiteren GWA-Büro), ist dezentral organisiert und unterstützt in vier Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf in Düren und ins- besondere in mehreren Wohnanlagen in diesen Gebieten die Menschen vor Ort. Hierbei sind diese Gebiete alle durch Hochhäuser bzw. Großsiedlungsstrukturen geprägt, in denen viele ökonomisch und/oder sozial benachteiligte Menschen leben. Die Gemeinwesenarbeit unterstützt die Aktivierung von Anwohnenden, Kin- dern und Jugendlichen zu selbsttätigem Handeln und die Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwe- sen. Eine am Bürgerinteresse orientierte Entwicklung des Gebietes und Begegnungs- und Organisationsfor- men sollen geschaffen werden, die der jeweiligen Situation angemessen und für Erwachsene, Kinder und Jugendliche passend sind. Vernetzungsstrukturen und zielgerichtete Kooperation unterschiedlicher Bürger und Bürgerinnen, Bürgergruppen, Vereine und Institutionen im Stadtteil sollen erreicht werden. Die Schaffung neuer, ergänzender Kommunikations-, Kooperations- und Organi- sationsstrukturen in den Stadtteilen wurde von den Gemeinwesenmitarbeitenden mit den interessierten Bewohnerinnen und Be- wohnern gemeinsam entwickelt. Dies soll er- möglichen, dass die Akteure vor Ort mit Politik und Verwaltung Ressourcen für die zu bewäl- tigenden Aufgaben erschließen. Hierbei über- nimmt die GWA die Organisationsberatung für Bewohnerorganisationen, damit ehren- amtliches Engagement für das Gemeinwesen Abbildung 6: GWA in Düren: Nicht nur, aber auch im Großwohn- möglichst erfolgreich und auf Dauer erfolgen siedlungsumfeld (Foto: Amanda Groschke) kann. 6 Webseite der Stadt Düren - http://www.dueren.de/start-dueren/ 7 http://www.gwa-dueren.de/index.php/einleitung 13
Tabellarische Übersicht: Wichtige Strukturdaten zu den ausgewählten Fallstudienorten Berlin Spandau, Dresden Proh- Quartiersma- lis, Hamburg St. Dortmund nagement-Ge- Quartiersma- Stadt Düren5 Pauli2 Nordstadt3 biet Heer- nagement-Ge- straße1 biet4 Fläche 1,16 km² 2,2 km² 14,42 km² 1,53 km² 85 km2 Bevölkerung 19.654 (2017) 22.436 (2018) 59.502 (2018) 15.362 (2018) 92.315 (2017) Bevölkerungs- 16.943 EW/km² 10.005 EW/km² 4.126 EW/km² 10.040 EW/km² 1.086 EW/km2 dichte (2017) (2018) (2018) (2018) (2017) 19,2 % (für Ausländeranteil Spandau)6 21,3 % (2018) 52,2 % (2018) 14,8 % (2018) 16,7 % (2017) (2018) Bevölkerungsan- teil mit 52,8 % (2017) 36,7 % (2018) 73,5 % (2018) 19,9 % (2018) 11,3 % (2017) Migrationshin- tergrund Arbeitslosen- 9,2 % (2017) 6,8 % (2018) 19,6 %7 (2018) 14,1 %8 (2017) 6,4 %9 (2019) quote Anteil von Trans- ferleistungsbe- ca. 40 %10 46,2 % (2017) 12,8 % (2018) 24,7 % (2018) 14,8 % (2018) ziehenden (SGB (2017) II) Armutsquote 27,4 % [26,3 %] 30,7 % [23,2 %] 23,8 % [24,2 %] 13,3 % [14,3 %] nach Kaufkraft 17,1 % [17,7 %] (für Berlin Span- (für Hamburg (für KS Dort- (für LK Düren, LK [Gängige Ar- (für KS Dresden) dau) Mitte) mund) Heinsberg) mutsquote]11 KEM Kommu- Betrachteter Gemeinwesen- nal- Träger der verein Heer- GWA St. Pauli Planerladen Evangelische Ge- entwicklung Gemeinwesen- / straße Nord e. V. e. V. meinde zu Düren Stadtteilarbeit e. V. Mitteldeutsch- land GmbH tätig seit 1978 1975 1982 2000 1980 Quellennachweise zur Tabelle: 1 Quelle, falls nicht anders angegeben: Quartiersmanagement Heerstraße 2019, Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept 2019-2022. Verfügbar unter: https://www.staaken.info/wordpress/wp- content/uploads/2019/09/IHEK_Quartier-Heerstrasse_2019-2022_Endfassung060919.pdf [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 2 Quelle, falls nicht anders angegeben: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein o. D., Hamburger Stadtteil-Profile: Berichtsjahr 2018, St. Pauli. Verfügbar unter: https://www.statistik- nord.de/fileadmin/maps/Stadtteil_Profile_2019/pdf/St.Pauli.pdf [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 3 Quelle, falls nicht anders angegeben: Stadt Dortmund, Stabsstelle Dortmunder Statistik 2019, Jahresbericht 2019 – Bevölkerung. Verfügbar unter: https://www.dortmund.de/media/p/statistik/pdf_statistik/veroeffentlichungen/jahresberichte/bevoelkerung_1/213_ -_Jahresberich_2019_Dortmunder_Bevoelkerung.pdf [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 4 Quelle, falls nicht anders angegeben: Daten zur Verfügung gestellt vom Stadtplanungsamt der Landeshauptstadt Dresden 2019. 5 Quelle, falls nicht anders angegeben: Stadt Düren o. D., Demografiemonitor. Daten, Fakten und Prognosen zur demo- grafischen Entwicklung 2018/2035. Düren: Der Bürgermeister, Stabsstelle Demografie. Verfügbar unter: https://www.dueren.de/fileadmin/user_upload/Demografiemonitor_DN_2018_web.pdf [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 14
6 Quelle: Statistik Berlin Brandenburg o. D., Einbürgerungen, Ausländer – Regionale Daten. Verfügbar unter: https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/regionalstatistiken/r- gesamt_neu.asp?Ptyp=410&Sageb=12025&creg=BBB&anzwer=7 [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 7 Quelle: Stadt Dortmund o. D., Arbeitslosenquoten nach Stadtbezirken. Verfügbar unter: https://www.dortmund.de/media/p/statistik/pdf_statistik/wirtschaft_1/06_12_Arbeitslosequoten_Stadtbezirke.pdf [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 8 Quelle: Landeshauptstadt Dresden, Kommunale Statistikstelle o. D, Stadtteilkatalog 2017. Verfügbar unter: https://www.dresden.de/media/pdf/onlineshop/statistikstelle/120_080_010_Stadtteilkatalog_2017.pdf [zuletzt abgerufen am 05.05.2020] 9 Quelle: Bundesagentur für Arbeit Statistik 2019, Arbeitsmarkt im Überblick. (Zahlen für Mai/Juni 2019). Verfügbar unter: https://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistik-nach-Regionen/Politische- Gebietsstruktur/Nordrhein-Westfalen/Dueren-Nav.html [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 10 Quelle: Stadt Dortmund 2018, Bericht zur sozialen Lage in Dortmund 2018. Verfügbar unter: https://www.dortmund.de/media/p/aktionsplansozialestadt/74-09-18_Sozialbericht_WEB.pdf [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 11 Quelle: Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) 2019, Teilhabemonitor 2019 – Regionale Einkommens- und Kaufkraftarmut. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armut-und-kaufkraft-wo-die-meisten- armen-deutschen-leben-a-1282716.html [zuletzt abgerufen am 05.05.2020]. 15
Erste Eindrücke zu Potenzialen der Gemeinwesenarbeit in den Fallstudienorten Vorbemerkung Die empirische Untersuchung ist durch die Grundannahme geprägt, dass eine aktive Gemeinwesenarbeit in- dividuelle Handlungskompetenzen stärkt, eine lebendige Zivilgesellschaft fördert und einen Beitrag zur Aus- gestaltung von Partizipationsmöglichkeiten leistet (vgl. Gesemann/Riede 2019b). In diesem Kapitel erfolgt eine erste Analyse der Potenziale von Gemeinwesenarbeit für lokale Demokratie in den fünf Untersuchungs- gebieten entsprechend dieser Grundannahme in Form beispielhafter Illustrationen auf den verschiedenen Wirkungsebenen (individuelle, zivilgesellschaftliche und kommunale Ebene), um auf der Grundlage der ge- rade erst abgeschlossenen Erhebungen konkrete Einblicke in die Wirkungsebenen der Gemeinwesenarbeit vor Ort zu ermöglichen (siehe Synopse).8 Die Aufnahme der Erkenntnisse aus den Praxisbeispielen in das Wirkungsgefüge und die Anpassung des Wirkungsgefüges des Wirkungsgefüges kann dann im Abschlussbe- richt erfolgen, wenn die Ergebnisse der umfangreichen Erhebungen in den fünf Orten dokumentiert und aus- gewertet sind. Potenziale von Gemeinwesenarbeit für lokale Demokratie Wirkungsebenen der Gemeinwesenarbeit Akteur der Gemeinwesen-/ Stärkung individueller Förderung einer Gestaltung von Beteili- Handlungskompeten- lebendgen Zivilgesell- gungsmöglichkeiten in Stadtteilarbeit zen schaft der Kommune Gemeinwesenverein Mohamed Zaidi als ADO-Mietergruppe als Quartiersrat Heerstraße Heerstraße Nord e.V. engagierter Anwohner Selbstorganisation als Gremium für politi- Berlin-Spandau sche Beteiligung GWA St. Pauli e.V. Elke Jarm als engagierte St. Pauli selber machen, PlanBude, Planungs- Hamburg-St. Pauli Nachbarin als offenes Stadtteilfo- büro zur Organisation rum der „Wunschproduk- tion“ für die neuen Esso-Häuser Planerladen e.V. Abbas Dogan als sozia- Yesil Bostan e.V. als Nachbarschaftliche Dortmund-Nordstadt ler Brückenbauer bottom-up-Gartenpro- Austausche des Quar- jekt tiersmanagements Nordstadt Quartiersmanagement Jens Bogawski als zent- Projekt ZU HAUSE IN Bürgerhaus Prohlis als Dresden-Prohlis raler Akteur der Bürger- PROHLIS als aktivieren- Beispiel für Probleme initiative Prohlis des und brückenbauen- mit Zuständigkeiten des Kulturprojekt und langwierige Ver- waltungsprozessen in Beteiligungsverfahren Büro für Gemeinwesen- Im Rahmen der Einbe- Bürgervereine als Bei- Stadtteilvertretung in arbeit und Soziale ziehung der Anwohnen- spiel für Selbstorganisa- Düren Nord als nach- Stadtentwicklung den in Anwohnerver- tion und Interessenver- haltige Struktur für En- Düren eine tretung gagement und Beteili- gung 8Siehe auch die ausführliche Darstellung zu Zielen und Wirkungsannahmen von Gemeinwesenarbeit in Ge- semann/Riede 2019b: 4. 16
Berlin Spandau/Heerstraße Nord Im Gebiet Heerstraße Nord ist aufgrund der gewachsenen Struktur der Gemeinwesenarbeit und der Steue- rung des Quartiersmanagements durch den Gemeinwesenverein die Zusammenarbeit zwischen diesen bei- den Bereichen sehr eng, was von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Bereicherung gesehen wird. Die Arbeit ergänzt sich laut Aussagen der Beteiligten sehr gut und durch das Quartiersmanagement konnten zu- sätzliche Strukturen etabliert werden, die den Anwohnerinnen und Anwohnern beispielsweise in Form des Quartiersrates oder der Aktionsfondsjury regelmäßig Beteiligung und Mitentscheidung ermöglichen. Auffäl- lig ist eine hohe Kontinuität der Akteure im Gebiet, die sich einerseits durch die weiterhin bestehende Ko- operation zwischen Kirchengemeinde und Gemeinwesenverein ausdrückt, andererseits aber auch personell auffällt, da auf beiden Seiten viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits seit mehr als zehn Jahren dort arbeiten. Auch das Netzwerk Stadtteilkonferenz, bei dem sich monatlich zahlreiche soziale Akteure aus dem Gebiet treffen, besteht bereits seit den 1980er Jahren und ist bis heute aktiv. Das zentrale Stadtteilzentrum des Gemeinwesenvereins befindet sich in der Obstallee 22 in Räumlichkeiten der evangelischen Kirchengemeinde zu Staaken, die bereits beim Siedlungsneubau Ende der 1960er Jahre verschiedene Grundstücke in Staaken erwarb. Bis heute können diese „Kirche“ genannten Räume für soziale Belange genutzt werden; aufgrund der gewachsenen Anzahl an Mitarbeitenden des Gemeinwesenvereins sind sie mittlerweile jedoch kaum ausreichend. Die Nähe zur evangelischen Kirchengemeinde, ersichtlich durch den Glockenturm des Hauses sowie einen Altar im großen Versammlungsraum, kann für manche (po- tenziellen) Nutzerinnen und Nutzer gleichwohl auch ein Hemmnis darstellen. Bereits mit dem 1978 verfassten Profil des Gemeinwesenvereins findet sich die Grund- lage für eine gemeinwesenorientierte Arbeit im Stadtteil, da unter anderem folgende Auf- gaben definiert wurden: „wir fördern gesell- schaftliche Teilhabe im Gemeinwesen[,] wir ermutigen Menschen zur Selbsthilfe“ (Ge- meinwesenverein Heerstraße Nord e.V., 2019). Die Stärkung individueller Handlungs- möglichkeiten ist bis heute ein wichtiger As- pekt, um zu einem sozialen Miteinander in dem von hoher Armut geprägten Gebiet bei- zutragen. Hierbei ist die Hilfe bei der Lebens- Abbildung 7: Postkartenmotiv der GWA Staaken bewältigung durch verschiedene Beratungs- formate ein wichtiges Thema. Zudem hat es sich der Gemeinwesenverein zum Ziel gesetzt, Benachteiligungen entgegenzuwirken; dazu gehört auch, dass die eigenen Angebote über das Quartier verteilt stattfinden, um eine möglichst gute Erreichbarkeit zu gewährleisten. Die Menschen im Gebiet werden größtenteils durch Mund-zu-Mund-Propaganda über die zahlreichen Aktivitäten informiert, wobei die Beratungsangebote einen zentralen Anknüpfungspunkt für die Anwohnerinnen und Anwohner darstellen, von wo aus sie das weitere Netzwerk der vielfältigen Angebote kennenlernen können. Somit bildet die Beratung den Grundstein für eine stärkere Einbindung und soziale Teilhabe im Gebiet. Darauf aufbauend ist der Bedarf für Gemeinwesenarbeit im Gebiet Heerstraße Nord sehr groß. Eine Ursache hierfür ist, dass in der Wohnungsbelegungspolitik Fehler unterlaufen sind. So wurden ganze Häuserblocks mit Menschen gleicher ethnischer Abstammung belegt, was die Segregation der verschiedenen Communities im Stadtteil gefördert hat. Angesichts der zusätzlichen Aufnahme ökonomisch Schwächerer nach deren 17
Verdrängung aus der Berliner Innenstadt, haben sich die sozioökonomischen Daten in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gemeinwesenarbeit äußerten sich im Hin- blick auf die Lösung dieser Problematiken jedoch skeptisch, da solch strukturelle Probleme nicht durch Ge- meinwesenarbeit allein gelöst werden können. Beispiel auf individueller Ebene: Mohamed Zaidi als engagierter Anwohner Wie oben beschrieben, ist es erklärtes Ziel des Gemeinwesenvereins, Menschen bei der Umsetzung ihrer Ideen und Anliegen zu unterstützen. Ein gelungenes Beispiel für einen solchen Empowerment- Prozess stellt Mohamed Zaidi dar. Der etwa 30-Jährige ist im Quartier aufgewachsen und nahm als Jugendlicher verschie- dene Angebote des Gemeinwesenvereins wahr. Gemeinsam mit einigen Freunden erkannte er im Jahr 2015, dass seine Sprachkenntnisse bei der Vermittlung zwischen den gerade angekommenen Geflüchteten und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Beratungsangebote im Gebiet Heerstraße Nord eine wichtige Brü- ckenfunktion bilden konnten, und begann in diesem Rahmen zu übersetzen. Der Gemeinwesenverein rea- gierte auf dieses selbstinitiierte Engagement mit der Schaffung des JuMi-Lotsen-Projektes, in dem auch Ju- gendliche ohne Schulabschluss, die in eine Perspektivlosigkeit gerutscht waren, plötzlich eine sinnvolle Betä- tigung fanden. Für viele hatte diese Aktivierung auch langfristig einen positiven Effekt, da sie über Fortbil- dungsmaßnahmen des Job-Centers Anstellungen in der Security-Branche finden konnten. Herr Zaidi entwi- ckelte schnell Interesse an einem Jugendaustausch, den er mit Unterstützung einer Fachkraft des Gemein- wesenvereins auch erfolgreich organisieren konnte. Zudem war er als Honorarkraft für den Gemeinwesen- verein tätig und holte sein Abitur nach. Da er durch diese Arbeit mit den (Akteurs-) Strukturen im Quartier vertraut war, entschied er sich dazu, dem Quartiersrat beizutreten, wo er insbesondere die Interessen der jungen sowie der migrantischen Bevölkerung vertritt. Herr Zaidi sagt von sich, dass er durch sein Ehrenamt viel gelernt und auch Verantwortung übernommen hat. Er schätzt das selbstständige Handeln und die Mög- lichkeit, verschiedene Dinge auszuprobieren und auch koordinierende Tätigkeiten auszuüben, wobei er von Hauptamtlichen des Gemeinwesenvereins unterstützt wird und positive Rückmeldungen erhält. Durch das Aufgreifen und Bedienen eines spezifischen Bedarfs ist hier somit eine nachhaltige Aktivierung und Beteili- gung gelungen. Beispiel auf zivilgesellschaftlicher Ebene: die ADO-Mietergruppe als Selbstorganisation Die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der ADO-Mietergruppe zeigt, wie durch Gemeinwesenarbeit Be- darfe identifiziert und mithilfe einer Selbstorganisation erfüllt werden können. Im Rahmen seiner aufsuchen- den Arbeit begegneten Tom Liebelt, dem Gemeinwesenarbeiter des Gemeinwesenvereins, viele Mieterinnen und Mieter, die von Problemen mit ihrem Vermieter ADO Immobilienmanagement (kurz: ADO), einem Woh- nungsunternehmen, berichteten. Daraufhin lud Herr Liebelt zu einer Mieterversammlung von ADO-Miete- rinnen und -Mietern ein, zu der rund 80 Personen erschienen. Während bei dieser Veranstaltung Themen gesammelt und diskutiert wurden, kam der Wunsch zum Ausdruck, auch mit der ADO direkt ins Gespräch zu kommen. Daher wurde eine Gruppe zur Vorbereitung eines Treffens gegründet, die unter dem Namen ADO Heerstraße Nord die Arbeit aufnahm. Die Abläufe wurden mit der Entwicklung eines Logos sowie der Bestim- mung einer sechs- bis zwölfköpfigen Sprechergruppe professionalisiert. Letztere ist jedoch nicht unumstrit- ten, da die Mitglieder als einzige einen Zugang zum Wohnungsunternehmen aufbauen konnten und diese Machtposition nun intern verteidigen. Zudem formen sie kein repräsentatives Abbild der Mieterschaft, da kritische Stimmen weitestgehend unerhört bleiben. Hieraus entsteht eine empfundene Konkurrenz zum Ge- meinwesenverein, der auch weiterhin mit anderen Mieterinnen und Mietern arbeitet, da er eine unparteii- sche sowie bedarfsorientierte Linie vertritt. Dennoch öffnet sich die Gruppe auch durch ihre sogenannten Kiezsprechstunden sowie durch ihre Beteiligung im Quartiersrat für einen Ideen- und Meinungsaustausch. 18
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