Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster

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Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster
MÄRZ 2021

Begegnen – Verstehen –
Anerkennen
Religion in pluraler Gesellschaft
Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster
Inhalt

         3   EDITORIAL                                              37      EINE VISION FÜR DEN FRIEDEN
             Donatus Beisenkötter                                           Der Garten der Religionen in Recklinghausen
                                                                            Michaela Kiepe
         4   (RELIGIÖSE) PLURALITÄT
             Problematische Herausforderung oder Chance             40      IM GLAUBEN AN DEN EINEN GOTT
             unserer Gesellschaft?                                          Trialogisches Theaterprojekt gewinnt
             Prof. Dr. Martin Jäggle                                        Integrationspreis der Stadt Dortmund
                                                                            Jürgen Larys
         8   VOM BEDEUTUNGSVERLUST
             ZUR NUTZLOSIGKEIT?                                     42      #BEZIEHUNGSWEISE: JÜDISCH UND CHRISTLICH
             Die Rolle der Religion in einer von Säkularisierung            – NÄHER ALS DU DENKST
             und Pluralisierung gekennzeichneten Gesellschaft               Eine ökumenische Kampagne im Festjahr 2021
             Prof. Dr. Gert Pickel                                          – Jüdisches Leben in Deutschland
                                                                            Katrin Großmann
    12       RELIGION UND ÖFFENTLICHKEIT
             Bewährungsproben und Anfragen                          45      SEHEN, FÜHLEN, HÖREN, SPRECHEN
             Prof. Dr. Hinnerk Wißmann                                      Christlich-Muslimische Führungen im Paulusdom
                                                                            Mario Schröer
    16       „NOSTRA AETATE“
             Das Konzilsdokument als wegweisende Basis des          47      SEELSORGE IM KRANKENHAUS
             christlich-interreligiösen Dialogs                             – INTERRELIGIÖS
             Dr. Ludger Kaulig                                              Interview mit Elisabeth Frenke und Fadime Eroglu
                                                                            Martin Merkens
    18       WACHSENDES GEGENSEITIGES VERTRAUEN
             Der christlich-jüdische Dialog                         51      KONTAKTADRESSEN
             Dr. Jehoschua Ahrens, Rabbiner

    20       ZUSAMMENLEBEN IST MEHR ALS KOEXISTENZ                  IMPRESSUM
             Eine Würdigung von interreligiös orientierten
             Erklärungen zur gesellschaftlichen Verantwortung       HERAUSGEBER
                                                                    Bischöfliches Generalvikariat | Hauptabteilung Seelsorge
             Dr. Tobias Specker SJ
                                                                    Rosenstraße 16, 48143 Münster

    23       DEN INTERRELIGIÖSEN DIALOG                             REDAKTION
                                                                    Donatus Beisenkötter (v.i.S.d.P.), Georg Garz
             VOR ORT GESTALTEN
             Dr. Detlef Schneider-Stengel                           KONZEPTION
                                                                    Angelica Hilsebein

    26       DER ISLAM IN DER KITA                                  GESTALTUNG
             Die religiöse Lebenswelt muslimischer Familien         Eva Lotta Stein | www.kampanile.de
             in katholischen Einrichtungen                          DRUCK
             Angelica Hilsebein                                     Druckerei Joh. Burlage, Münster | www.burlage.de

                                                                    REDAKTIONSSEKRETARIAT
    29       ABRAHAMS KINDER                                        Heidrun Rillmann, Bischöfliches Generalvikariat Münster
             Eine KiTa, geboren im Schoß gemeinsamen Ursprungs      Domplatz 27, 48143 Münster
             Martin Wrasmann                                        Fon 0251 495-1181 | redaktion@unsere-seelsorge.de

                                                                    TITELBILD UND FOTOS
    32       „UND WIE HÄLTST DU ES MIT                              istockphoto: PeopleImages, Booky Buggy, Jovanmandic, macniak,
             DEINER RELIGION?“                                      Viktorcvetcovic, DGLimages, michaeljung, FatCamera, SDI Productions,
                                                                    wundervisuals, alvarez, KatarzynaBialasiewicz; AdobeStock: ines39,
             Ein Plädoyer für mehr interreligiöse Begegnungen im
                                                                    Victor Moussa; Michael Bönte, Foto Textoris, privat
             Religionsunterricht
             Dr. Dorothee Fingerhut und Dr. Naciye Kamcili-Yildiz   EINZELBEZUGSPREIS: 3,50 Euro

                                                                    STAFFELPREISE: ab 10 Exemplare 3 Euro | ab 50 Exemplare 2,50 Euro
    35        „WEISST DU, WER ICH BIN?“
             Ein Erfolgsprojekt der drei großen Religionen für
             friedliches Zusammenleben in Deutschland                                                       Das verwendete Papier ist aus
             Maria Coors                                                                                    100 % Altpapier hergestellt.

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Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Papst Franziskus setzt Anfang März 2021 im Irak          Der erste Schritt, um nicht nur die eigene Posi-
ein eindrucksvolles Signal für religiöse Toleranz     tion abzusichern, sondern die Rolle von Religion
und Koexistenz. Er wirbt für den interreligiösen      in einer pluralen Gesellschaft auch in Zukunft
Dialog als Grundlage, um nicht das Trennende,         erkennbar mitzubestimmen, ist die Begegnung,
sondern das gemeinsame friedensstiftende              Verständigung und Anerkennung der Konfes-
Potential der Religionen gesellschaftlich wirk-       sionen und Religionen untereinander. Aus dem
sam werden zu lassen. Gilt seine Botschaft nur        Dialog kann Kooperation wachsen. Ein auch die
in einer offensichtlich von unterschiedlichen         gemeinsamen gesellschaftlichen Interessen the-
religiösen Orientierungen unterfütterten oder         matisierender interkonfessioneller und interreli-
überlagerten Konfliktregion?                          giöser Dialog ist die Voraussetzung, dass Religion
                                                      im pluralen gesellschaftlichen Diskurs nicht auf
   Wie steht es um das friedensstiftende Poten-       ihre individuelle Dimension reduziert wird.
tial der Religionen in unserem gesellschaftlichen
Kontext? Spielen sie noch eine erkennbare Rolle          Diese Ausgabe von UNSERE SEELSORGE knüpft
– besonders jetzt in Zeiten kollektiver Verunsi-      an die vorhergehende Ausgabe an, die der Frage
cherung? Leisten sie einen originären Beitrag         nach einem konstruktiven innerkirchlichen Um-
zu einem auf gemeinsamen Werthaltungen                gang mit kultureller und ritueller Verschieden-
basierenden friedlichen Zusammenleben in einer        artigkeit nachging. Dieselbe Frage stellt sich im
weltanschaulich pluralen Gesellschaft?                Blick auf das Verhältnis zu anderen christlichen
                                                      Konfessionen, anderen Religionen und anderen
   Im Frühjahr 2011 erschien eine Ausgabe von         Weltanschauungen.
UNSERE SEELSORGE unter dem Titel „Wohin
nach der Volkskirche?“. Zehn ereignisreiche Jahre       Die Beiträge dieser Ausgabe erkunden die
später hat sich die Situation eher verschärft als     Möglichkeiten interreligiöser Verständigung und
verbessert. Der zunehmende Glaubwürdigkeits-          Kooperation. Sie laden dazu ein, in der Begeg-
verlust kulminiert binnenkirchlich im Ringen          nung mit dem Anderen zu lernen, das Eigene neu
um die sozio-kulturelle Anschlussfähigkeit eines      wahrzunehmen und zugleich das Gemeinsame zu
kirchlich verorteten christlichen Glaubens in         entdecken und glaubwürdig zu gestalten.
einem synodalen Aufarbeitungsprozess von Fra-
gestellungen, deren Beantwortung seit gefühlt         Ein anregende Lektüre wünscht Ihnen
mehreren Jahrzehnten überfällig ist. Gleichzeitig
schwinden kontinuierlich die personellen und          Donatus Beisenkötter
finanziellen Ressourcen. Die Frage, wie wir unter
sich rapide weiter verändernden Rahmenbedin-
gungen Kirche sein wollen und können, stellt sich
mit einer neuen Qualität nach innen, und nach
außen. Wie können wir Kirche sein, die sich nicht
nur mit sich selbst beschäftigt, sondern in die Ge-
sellschaft hinein wirkt?

                                                                           Donatus Beisenkötter
                                                                           Leiter der Abteilung Allgemeine Seelsorge
                                                                           beisenkoetter@bistum-muenster.de

                                                                                                                       3
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(RELIGIÖSE) PLURALITÄT
    PROBLEMATISCHE HERAUSFORDERUNG
    ODER HERAUSFORDERNDE CHANCE?

    (Religiöse) Vielfalt ist kein Problem, das zu            nen Probleme und wird leicht als konservativ oder
    lösen wäre, sondern Kennzeichen einer Situa-             zum Schwarzseher abgestempelt. Ich selbst habe
    tion, in der gehandelt werden muss. Heraus-              erst lernen müssen, diese so vertraute Polarisie-
    forderung oder Chance ist eine übliche, aber             rung zu überwinden.
    nicht hilfreiche Alternative. Die entscheidende
    Frage ist: Wie leben wir in (religiöser) Vielfalt        Bei einer Konferenz von Ordensleitungen wollte
    und Verschiedenheit zusammen?                            ich zum Thema reden: „Was hat Gott sich ge-
                                                             dacht, als er uns mit Migration und religiöser
                                                             Vielfalt beschenkt hat?“ Am Tag davor schien mir
    von Prof. Dr. Martin Jäggle
                                                             das Thema dann doch zu idyllisch, zu schön und
                                                             außerdem theologisch nicht angemessen zu sein,
    Es ist weit verbreitet, neue und schwierige              denn mit dem Geschenk ist Gott danach aus dem
    Situationen polarisierend zu bewerten, eben als          Spiel. Das endgültige Thema lautete: „Was hat
    Alternative „Herausforderung oder Chance“. Wer           Gott sich gedacht, dass er uns mit Migration und
    für „Chance“ optiert, gilt leicht als „blauäugig“, je-   religiöser Vielfalt heimsucht?“ Mit „heimsuchen“
    mand, der alles durch die „rosa Brille“ sieht, und       ist auch das Herausfordernde und Belastende
    wer für „Herausforderung“ (= Problem) optiert,           angesprochen und zugleich die bleibende Präsenz
    sieht primär die mit religiöser Pluralität verbunde-     Gottes in der religiösen Vielfalt. Das Thema, zu

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Religiöse Pluralität
Inhalt

                       dem ich hier schreibe, ist daher: „(Religiöse Plu-   zen und ausgrenzen sind dabei zwei Seiten der-
                       ralität – eine herausfordernde Chance für unsere     selben Medaille, mit denen jede Form von Dialog
                       Gesellschaft“.                                       torpediert wird.

                       Vielfalt und Verschiedenheit wahrnehmen
                       Vielfalt ist Realität und Qualitätsmerkmal jeder
                       demokratischen Gesellschaft. Wer Vielfalt be-
                       kämpft, schwächt die Demokratie und die Men-
                                                                               „Differenz wird zum Ermög-
                       schenrechte. Zur religiösen Pluralität gehört auch
                       die Pluralität innerhalb der jeweiligen religiösen      lichungsgrund für Fragen und
                       Traditionen. Dabei stellt Pluralität eine nicht         Erkenntnis, sie gibt zu denken und
                       hintergehbare gesellschaftliche Wirklichkeit dar        regt letztlich zum Neudenken und
                       (Isolde Charim). Ob sie ignoriert, ausgeblendet         Umdenken an.“
                       oder gar geleugnet wird, hat auf diese Realität
                       keinerlei Auswirkungen. Entscheidend ist, wie
                       Vielfalt und Verschiedenheit wahrgenommen            Identität durch Beziehung
                       und bewertet werden. Zwei Beispiele illustrieren,    „Weil wir befreundet sind, haben wir sehr offen
                       wie dies individuell verschieden beziehungsweise     reden können.“ – Vielleicht ist das der Schlüssel,
                       gegensätzlich erfolgen kann:                         der alles Weitere ermöglicht hat: Beziehung und
                                                                            Freundschaft. Da können die Anderen infrage
                         Ein Vater kommt im Jahre 2003 in einem Wie-        stellen, zum Nachdenken anregen. Differenz wird
                         ner Arbeiterbezirk zum zuständigen Pfarrer, um     zum Ermöglichungsgrund für Fragen und Erkennt-
                         sein Kind zur Taufe anzumelden. Der Pfarrer        nis, sie gibt zu denken und regt letztlich zum Neu-
                         fragt ihn: „Warum wollen Sie Ihr Kind taufen       denken und Umdenken an.
                         lassen?“ Der Vater antwortet: „Weil es schon
                         zu viele Moslems gibt.“                            Praktiken des Zusammenlebens in Vielfalt
                                                                            Wenn ich Studierenden Aufgaben zu (religiöser)
                         In einem anderen Arbeiterbezirk Wiens sitzen       Pluralität gestellt habe, dann konnte ich an den
                         zwei Mieterinnen des Hauses in der Wohnung         abgegebenen Arbeiten die Herkunft der Studie-
                         der Hauswartin, einer türkischen Frau namens       renden erkennen. Studierende aus Indien haben
                         Emine. „Ich habe Emine und ihre Familie als        völlig andere Arbeiten geschrieben als etwa
                         in ihrem Glauben und in ihrer Kultur lebend        Studierende aus Mitteleuropa. Die Einstellung zu
                         kennengelernt und das hat mich fasziniert“,        und der Umgang mit (religiöser) Pluralität wird
                         sagt Frau Irene, eine der beiden Mieterinnen.      kulturell erworben. Gesellschaftliche und kultu-
                         „Weil wir befreundet sind, haben wir sehr          relle Muster werden in biographischen Kontexten
                         offen reden können. Dann wird es ja wirklich       interpretiert und angeeignet. Ob eine Grund-
                         interessant, wenn man nicht nur die Theorie        haltung der Akzeptanz und Wertschätzung von
                         liest, sondern fragen kann ‚Wie lebt denn ihr      Vielfalt und Diversität erworben werden kann,
                         damit, wie macht ihr das in allen Facetten des     hängt neben persönlichen Zugängen von der
                         Lebens eigentlich?‘“ Das hat Frau Irene bewo-      Möglichkeit ab, in gesellschaftlichen Zusammen-
                         gen, wieder in die Kirche einzutreten und ihr      hängen Praktiken des Zusammenlebens in Vielfalt
                         Kind geht nun in eine katholische Privatschule.    kennenlernen und sich aneignen zu können.

                       Identität durch Abgrenzung                           Die Last der Geschichte
                       Wird religiöse Pluralität als das eigentliche        Da gibt es eine Last der Geschichte. Das Hand-
                       Problem identifiziert und als individuelle oder      buch der Geschichte des Hochmittelalters be-
                       kollektive Bedrohung erfahren, liegt es nahe,        nennt die Zeit „Europa entdeckt seine Vielfalt“.
                       ‚Identität profilieren‘ und ‚Position beziehen‘ zu   Zugleich behandelt es die Geschichte der Unmög-
                       verlangen, eng verbunden mit der ‚Beheimatung‘       lichkeit, als religiös Verschiedene in Europa zu-
                       in der eigenen ‚ekklesiogenen Stammesreligion‘       sammenleben zu können, eine blutige Geschichte
                       (Theo Sundermeier), in der die Sehnsucht nach        im Umgang mit religiöser Verschiedenheit. Diese
                       einem klar abgegrenzten Innen und Außen, nach        Geschichte der Unterwerfung, der Vertreibung
                       Glauben und Unglauben erfüllt ist. Sich abgren-      und der Ermordung „der Anderen“ hat ihren ab-

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Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster
soluten Tiefpunkt in der Shoa gefunden, woran
die christlichen Kirchen einen entscheidenden               „Ein prinzipieller religiöser Plura-
Anteil hatten. Jahrhundertelang haben auch sie in
                                                            lismus beruht auf der Unermess-
Europa daran mitgewirkt, religiös (und konfessio-
nell) homogene Gesellschaften zu festigen.
                                                            lichkeit Gottes, der Liebe ist.“

„Heimat der Verschiedenen“
Die Umkehr nach 1945, die die Würde der Einzel-
nen und der Vielfalt sichert, ist hoffnungsvoll.
Bereits 1950 wurde die Europäische Menschen-           sondern der Kurzschluss. Gilt Pluralität als be-
rechtscharta beschlossen, die Europa zu einem          drohlich für Identität, für Glaube, für Gesellschaft,
„Kontinent der Menschenrechte“ werden ließ.            für alles, was „heilig“ ist, dann bleibt nur Ver-
Der Vertrag von Lissabon legt als Motto der Euro-      störung, Rückzug, Verteidigung, Abgrenzung und
päischen Union „In Vielfalt geeint“ fest und als die   Ausgrenzung. Entwürdigend sind etwa der Zwang
EU verbindenden Werte werden unter anderem             zur Assimilierung oder subtile Formen der Ver-
ausdrücklich „Menschenwürde“ und „Pluralität“          achtung von Anderssein. Wird Pluralität hingegen
genannt. Während sich die USA als „Schmelztie-         harmlos gedacht, als bunte Blumenwiese, scheint
gel“ verstehen, ist Europa „Heimat der Verschie-       alles gleichgültig zu sein. Die Blumen, die den
denen“. Ein wesentliches Kennzeichen Europas ist       Kampf auf der bunten Blumenwiese verloren ha-
seine Vielfalt an Sprachen, Geschichten, Kulturen,     ben, können ja nicht gesehen werden. So bleiben
Religionen und Konfessionen. Es braucht ein            die Fragen nach Macht und Ohnmacht, die Fragen
europäisches Projekt, als Schicksalsgemeinschaft       nach Einheit und Wahrheit ausgeklammert.
(fellowship of fate) dialogisch mit religiöser Di-
versität umgehen zu lernen (fellowships of faith)      Was ist der Sinn religiöser Pluralität?
(Bert Roebben).                                        Jacques Dupuis stellt die Frage nach dem Sinn von
                                                       religiöser Pluralität. Ist religiöse Vielfalt eine Wirk-
Sehnsucht nach Homogenität                             lichkeit, die man zur Kenntnis nehmen, aber nicht
Doch die Sehnsucht nach Homogenität und Nor-           billigen muss? Oder ist religiöse Vielfalt theolo-
malität ist gesellschaftlich groß und im kulturellen   gisch eine legitime Wirklichkeit, die man anerken-
Gedächtnis tief verankert. Es ist weiterhin für        nen und begrüßen kann? Kurz formuliert: Lässt
viele nicht normal, verschieden zu sein. In einer      Gott religiöse Vielfalt nur zu oder ist sie von Gott
solchen Situation entstehen Dynamiken, sich aus        gewollt? Jacques Dupuis kommt zu der Antwort:
der Pluralität in die Fiktion einer vergangenen        „Ein prinzipieller religiöser Pluralismus beruht
Normalität zurückzuziehen und damit verbunden          auf der Unermesslichkeit Gottes, der Liebe ist.“
„Andere“ auszuschließen. Ist das immer noch            Begründet ist diese für ihn, weil in „der gesamten
festzustellende Lamentieren über den (schmerz-         Geschichte Gottes mit der Menschheit (…) mehr
lichen) Verlust des (katholischen) Milieus nicht       göttliche Wahrheit und Gnade wirksam (sind), als
Ausdruck der Sehnsucht nach der vergangenen            in der christlichen Tradition allein zugänglich wä-
Zeit machtvoller Homogenität? Und wird nicht           ren.“ Konsequenz daraus ist die Verpflichtung zum
die damit verbundene Gewalt(-geschichte) ausge-        interreligiösen Dialog und zur Zusammenarbeit.
blendet, womit ein Gedenken der Opfer gar nicht        So würde auch verwirklicht, was das II. Vatikanum
möglich ist? Die jetzige Situation der religiösen      bereits 1965 genannt hat: „Mit Hochachtung be-
Pluralität könnte als fundamentale Kritik an der       trachtet die Kirche die Muslim“ (NA 3).
bisherigen Praxis sowie als Anspruch und Zu-
spruch Gottes verstanden werden.

Konflikte produktiv machen
Mit Pluralität sind notwendigerweise Konflikte
verbunden. Statt sie für den Zusammenhalt einer                               Prof. Dr. Martin Jäggle
Gesellschaft der Vielfalt produktiv zu machen,                                Katholisch-Theologische
werden sie zu oft zu Gegensätzen stilisiert. Aus                              Fakultät der Universität Wien
                                                                              Prof. i.R für Religionspädagogik und
der Sicht der Physik sind Spannungen Energie-                                 Katechetik
potentiale. Das Problem ist nicht die Spannung,                               martin.jaeggle@univie.ac.at

                                                                                                                     7
Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster
VOM BEDEUTUNGSVERLUST
    ZUR NUTZLOSIGKEIT?
    RELIGION IN EINER VON SÄKULARISIERUNG UND
    PLURALISIERUNG GEKENNZEICHNETEN GESELLSCHAFT

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Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster
In der spätmodernen Gesellschaft in Europa           sie mit dem ursprünglichen Gemeinschaftsgedan-
scheint die christliche Religion nur noch eine       ken des Glaubens, wie er in der christlichen Über-
untergeordnete oder verschwindende Rolle             lieferung angelegt ist, meist wenig zu tun haben.
zu spielen. Doch die soziale Bedeutung von
Religion und Christentum spielt auch heute               Begleitet werden diese Abbruchprozesse des
noch eine große, vielleicht sogar wachsen-           Christentums von einer weitreichenden Plura-
de Rolle. Pfarrerinnen, Pfarrer und Priester         lisierung der religiösen Landschaft. Nicht nur
werden vermehrt zu gefragten Seelsorgerinnen         entwickeln sich innerhalb des Katholizismus und
und Seelsorgern in vielen sozialen Feldern und       Protestantismus unterschiedliche Schattierungen
Expertinnen und Experten für Religionen insge-       des Glaubens, seien sie dogmatisch, konservativ,
samt. Somit ist zukünftig von einer Ambivalenz       pluralistisch, inklusivistisch, exklusivistisch. Auch
von Säkularisierung, religiöser Pluralisierung,      andere Religionsgemeinschaften und ihre Mit-
Individualisierung und Interreligiosität auszu-      glieder werden zum Normalfall in den religiösen
gehen.                                               Landschaften Deutschlands und anderer europäi-
                                                     scher Staaten. Nimmt man noch die gesellschaft-
                                                     liche Prägekraft des Individualismus hinzu, der
von Prof. Dr. Gert Pickel
                                                     es zur gesellschaftlichen Pflicht gemacht hat,
                                                     dass jeder Mensch selbst entscheiden kann
Der beschleunigte Wandel der Gesellschaften –        und entscheidet, wie sein Lebensweg sein wird,
und der Lage des Religiösen                          haben sich die Rahmenbedingungen wie auch
Kaum jemand dürfte in Frage stellen, dass sich die   die Sozialform von Religion in der Gegenwart der
europäischen Gesellschaften, aber nicht nur die-     Spätmoderne massiv verändert.
se, in den letzten Jahrzehnten verändert haben.
Die dafür verantwortlichen Entwicklungen sind        Die Rolle von Religion in der Spätmoderne
nicht neu, aber der Wertewandel, die Urbanisie-      Welche Bedeutung besitzen christliche Religiosi-
rung, die voranschreitende Pluralisierung und die    tät und Religion in einer sich so verändernden Ge-
sich seit den 1970er Jahren immer stärker entfal-    sellschaft noch? Religion dient vielen Menschen
tende Individualisierung wurden durch Prozesse       (Gläubigen) immer noch als wichtiger Identi-
der Digitalisierung und eine ansteigende Mobilität   tätsmarker und Stabilisator des eigenen Lebens.
noch einmal massiv beschleunigt. Dies hatte          Dies kann in den Traditionen, Riten, Erfahrungen
Folgen für den religiösen Sektor. So führen die      und im Glauben verankert sein, es kann aber
beschriebenen Prozesse aufgrund einer nur noch       auch durch die wichtige soziale Komponente der
schwer zurückzuweisenden Kopplung von Moder-         Religion am Leben erhalten werden. Religion
nisierung und Säkularisierung zuerst zu teilweise    dreht sich nicht nur um Glauben oder Trans-
dramatischen Schrumpfungen der Mitgliederzah-        zendenz, sondern sie hat auch eine sichtbare
len in den christlichen Großkirchen in Europa, um    soziale Präsenz. Caritas, Diakonie, aber auch jeder
– ungefähr mit einer Generation Verzögerung – zu     Gebetskreis, jede Hilfsgruppe für Geflüchtete,
einem steigenden Desinteresse am Christlichen        stellen eine Verankerung des Christentums in der
und am Religiösen überhaupt zu führen.               Gesellschaft dar.

   Stichworte, wie Gottesvergessenheit oder          Hilfe und Seelsorge
Glaubensdiffusion illustrieren die zunehmende        Nicht umsonst erwies sich in der letzten Kirchen-
Nachrangigkeit des Christentums in Europa und        mitgliedschaftsuntersuchung der evangelischen
seine in der Bevölkerung sinkende Anschlussfähig-    Kirche in Deutschland der Wunsch nach der Hilfe
keit. Statistische Prognosen sagen ein Fortlaufen    für die Armen und sozial Schwachen als bedeut-
dieser Prozesse voraus, wenn nicht sogar eine        samer, als Gottesdienste auszurichten. Hilfe und
Dynamisierung. Und individualisierte Formen          Seelsorge sind das, was sich Kirchenmitglieder
des Religiösen scheinen weder an die Stelle des      und Gläubige von ihrer Kirche wünschen. Nun
gelernten christlichen Glaubens zu treten, noch      darf man verschiedene Funktionen nicht gegen-
eine Generationen übergreifende Bindekraft für       einander ausspielen, aber die soziale Präsenz der
Menschen zu besitzen – davon abgesehen, dass         Kirche macht das Christentum überhaupt sichtbar

                                                                                                             9
Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster
Vom Bedeutungsverlust zur Nutzlosigkeit?

                    und fühlbar. Dies ist in einem Umfeld, in dem         dem durch die Säkularisierung sinkenden Wissen
                    Glauben immer in Gegensatz zu Wissen gerät, ein       über Religion und Religionen ein gut gedüngtes
                    beachtliches Gut der christlichen Kirchen. Und        Feld gefunden, auf dem sie sprießen können. Seit
                    diese soziale Bedeutung ist weit anerkannt: In        der Vereinnahmung des Christentums in der „Ver-
                    der genannten Umfrage empfinden 60 Prozent            teidigung des christlichen Abendlandes“ durch
                    der Konfessionslosen die sozialen Leistungen der      rechtsextrem, rechtsradikal und rechtspopulis-
                    evangelischen Kirche als gut und wünschenswert.       tisch eingestellte Einzelne und Gruppen kommen
                    So paradox es klingen mag, die Zukunft der christ-    christliche Gläubige und Kirchenleitungen zusätz-
                    lichen Kirchen dürfte weniger in der Ausrichtung      lich unter Positionierungsdruck. Sie müssen ihre
                    von Gottesdiensten liegen, als beim Menschen,         Position zu anderen Religionsgemeinschaften,
                    in der Seelsorge und in der sozialen Zuwendung.       besonders gegenüber muslimischen Glaubens-
                    Dies bezieht auch den politischen Einsatz für die     gemeinschaften, und ihre Position gegenüber die-
                    sozial Schwachen mit ein.                             sen politischen Haltungen – auch in der eigenen
                                                                          Kirche – bestimmen. So stellt sich etwa die Frage,
                    Religion und Politik                                  welche Kritik am Islam berechtigt sein mag und
                    Oft wird gesagt, das Religiöse solle sich vom         wann es sich um Rassismus handelt.
                    Politischen fern halten. Viele Kirchenmitglieder
                    sehen dies so: Mehr als die Hälfte der christ-        Positiver Aspekt von Religion
                    lichen Gläubigen denkt, dass sich Kirche nicht        Gleichzeitig bieten diese Herausforderungen
                    in politische Dinge „einmischen“ sollte. So wie       Chancen. Die christlichen Religionen können
                    diese Aussage mit der Zwei-Regimenten-Lehre           besonders an dieser Stelle einen beachtlichen
                    übereinzustimmen scheint, folgt sie der seitens       Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt
                    der Politik in Europa vertretenen Trennung zwi-       und für ein friedliches Zusammenleben in einer
                    schen Kirche und Staat. Doch sieht man genauer        pluralistischen Gesellschaft leisten. An keinem
                    hin, stellt man fest, dass die Gläubigen sehr wohl    anderen Ort als im Umfeld von Kirchen besteht
                    eine Einmischung ihrer Kirche in politische Be-       eine so gute und räumlich so breit gestaffelte
                    lange befürworten. Dies ist immer dort der Fall,      Möglichkeit, Gespräche zu initiieren. Die kirch-
                    wo es Soziales betrifft. Viele Kirchenmitglieder      lichen Räume sind hervorragende Stätten, um
                    ordnen es nicht als politisch ein, wenn auf soziale   auch politisch kontroverse Fragen zu diskutieren
                    Missstände aufmerksam gemacht wird oder ent-          – kommen doch kaum woanders als hier noch so
                    sprechende Maßnahmen von der Politik gefordert        viele Menschen mit unterschiedlichen politischen
                    werden. Dies ist sozial, und sozial sollte sich die   Meinungen zusammen. Kirchengemeinden
                    Kirche äußern. Christinnen und Christen wollen        können Räume anbieten, um Gesprächsblocka-
                    dabei keine Moralagentur für die Gesellschaft         den, die in den sich immer mehr polarisierenden
                    sein, aber ein Korrektiv für die Schwachen und        Gesellschaften auftun, überbrücken zu helfen.
                    Benachteiligten.                                      Sicher, man kann im kirchlichen Raum nicht alle
                                                                          Probleme der Gesellschaft lösen. Gleichwohl sind
                    Kritische Aspekte von Religion                        es genau solche Beiträge zum gesellschaftlichen
                    Soziale Identitäten können jedoch auch Auslöser       Leben, die Kirche und Glauben für die Gesell-
                    von Konflikten sein. Spätestens seit der amerikani-   schaft als unverzichtbar erkennbar machen.
                    sche Politikwissenschaftler Samuel Huntington das
                    Schreckensgemälde eines Kampfes der Kulturen          Herausforderung „Islam“
                    an die Wand malte, wird vielerorts misstrauisch       Dies gilt noch mehr mit Blick auf den Ausgangs-
                    auf Religion geblickt. Sie scheint gefährlich,        punkt der politischen Kontroversen oder einen
                    Konflikte produzierend und aufgrund ihrer kaum        zumindest stark problematisierten Aspekt – die
                    nachvollziehbaren Unlogik für den Interessens-        Referenz vieler dieser polarisierten Debatten auf
                    ausgleich genauso wenig geeignet, wie zum Erhalt      den Islam. Wenn mehr als die Hälfte der Deut-
                    eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenhaltes.        schen 2017 in einer Umfrage der Bertelsmann
                    Waren und sind nicht gerade Auseinandersetzun-        Stiftung Angst vor „dem Islam“ äußern, dann zeigt
                    gen, in denen Religionszugehörigkeiten die Kon-       dies eine gewaltige Verunsicherung vor einer Re-
                    fliktgruppen ausmachen, besonders blutig und          ligion und ihren Mitgliedern. Die Verbindung die-
                    unversöhnlich? Solche Vorstellungen haben mit         ser Religion mit Konflikt, Gewalt und ISIS-Terror

10
hat dabei zu Überträgen auf alle ihre Mitglieder
geführt. Eine zweite Verkopplung mit den Flucht-
bewegungen 2015 hat die Debatte zugespitzt.
Dabei ist das geringe Wissen über den Islam und
seine Richtungen auffällig. Nicht, dass fehlende         „Es reicht nicht mehr aus, nur
Kontakte und Unwissen Meinungsbildung ver-               über die eigene Religion Bescheid
hindern würden! Vielmehr sind es Kontakte und            zu wissen, sondern es bedarf
Wissen über den Islam, welche einer generellen
                                                         grundlegender Kenntnisse über
Muslimfeindlichkeit und Ablehnung des Islam
entgegenwirken können. Die Ablehnungshaltun-             die anderen Religionsgemein-
gen gegenüber dem Islam beeinflussen in Europa           schaften.“
insgesamt die Haltung zu religiöser Pluralisierung,
sie wird als konflikthaft und problematisch an-
gesehen.

Austausch und Wissen über Religion und Reli-
gionen
Doch was können die christliche Religion und
ihre Mitglieder dabei bewirken? Sie können zum
einen durch einen interreligiösen Dialog für Aus-
tausch und erste Elemente des Wissens sorgen.
Zum anderen aber sind es vor allem theologisch
ausgebildete Hauptberufliche in den christlichen
Kirchen sowie informierte Gläubige, die bei der
Frage weiterhelfen können, was denn „der Islam“
und wie gefährlich er ist. Christliche Theologin-
nen und Theologen sind quasi deutschlandweit
die Expertinnen und Experten, welche mir über
Religion Auskunft geben können (müssen). Dies
schließt heute andere Religionen mit ein. Damit          Liegt in einer religiös integrierten Spiritu-
wandelt sich auch die kirchliche Ausbildung bezie-       alität das noch wenig genutzte Potential
hungsweise sie muss sich dahingehend wandeln.            der Religionen, auch eine vermeintlich
Es reicht nicht mehr aus, nur über die eigene            rationalistische Gesellschaft wirksam mitzu-
Religion Bescheid zu wissen, sondern es bedarf           gestalten? Dieser Frage geht Martin Rötting
grundlegender Kenntnisse über die anderen Re-            in einem Artikel nach.
ligionsgemeinschaften. Zudem sollte das Wissen
gegenwartsbezogen und alltagstauglich sein,              Online unter: www. unsere seelsorge.de
historische Einordnungen sind immer hilfreich,
doch der Lebensalltag der Menschen ist im Hier
und Jetzt. Dies zeigt dann auch den (möglichen)
zukünftigen Weg des Christentums in Europa auf,
eine soziale Religiosität in der Gegenwart.

                     Prof. Dr. Gert Pickel
                     Theologische Fakultät der
                     Universität Leipzig
                     Institut für Praktische Theologie
                     Professor für Religions- und
                     Kirchensoziologie
                     pickel@rz.uni-leipzig.de

                                                                                                         11
RELIGION UND
     ÖFFENTLICHKEIT
     BEWÄHRUNGSPROBEN UND ANFRAGEN
     Wie soll man zu Beginn des Jahres 2021 über
                                                         von Prof. Dr. Hinnerk Wißmann
     Religionsfreiheit und ihre Rolle für unsere Ge-
     sellschaft schreiben? Angesichts der Verwerfun-
     gen, die die Corona-Pandemie über unser Leben       Schutz der Religion und religiöse Neutralität
     gebracht hat, besteht jedenfalls durchaus Anlass,   Bekanntlich gelten seit mehr als 100 Jahren in
     die Fundamente in Augenschein zu nehmen, auf        Deutschland die (ungefähr) gleichen Rechtsbe-
     die das Religionsverfassungsrecht in unserem        stimmungen für die Stellung der Religion, eine
     Gemeinwesen bisher gebaut worden ist: Lassen        sehr erstaunliche Stabilität, wenn man bedenkt,
     sich noch Gründe anführen, warum der Religion       wie oft sonst rechtliche Bestimmungen und auch
     ein besonderer Schutz gebührt, insbesondere für     die Verfassung geändert werden. Die Weimarer
     ihre Rolle in der Öffentlichkeit, und was müssen    Reichsverfassung (1919) beendete endgültig das
     Religionsgemeinschaften dafür auch selber ein-      alte Bündnis von Thron und Altar (das sich ja
     bringen, wenn es ernst wird? Welche Grund-          aber zuvor seit Mittelalter und Konfessionalisie-
     lagen haben also noch immer echte Substanz,         rung durchaus weiterentwickelt hatte). Als neuer
     wo handelt es sich nur noch um überkommene          Grundsatz wurde festgelegt: „Es besteht keine
     Privilegien?                                        Staatskirche“. Kombiniert wurde diese repub-

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Religion und Öffentlichkeit
Inhalt

                     likanische Grundregel einerseits mit bestimm-          recht des Christentums sind: Schutz der Religion
                     ten Vorgaben für die Gleichbehandlung (aller)          und religiöse Neutralität sind für das deutsche
                     Religion und Weltanschauung, andererseits mit          Religionsverfassungsrecht kein Gegensatz. Eine
                     einer Reihe von Vorrechten für Religionsgemein-        Besonderheit ist auch, dass die Kirchen und Reli-
                     schaften gegenüber anderen Formen bürgerlicher         gionsgemeinschaften in vielen Feldern Vertrags-
                     Vereinigungs- und Meinungsfreiheit. Zu erinnern        partner des Staates sind. Miteinander werden
                     ist insbesondere an die durchaus merkwürdige           wesentliche Fragen des öffentlichen Wirkens in
                     Organisationsform einer „Körperschaft des öffent-      der Schule und im Sozialstaat verabredet – was
                     lichen Rechts“, die den Religionsgemeinschaften        freilich in der Europäischen Integration auch an
                     zukommt, obwohl sie doch heute eindeutig als           seine Grenzen stößt, wenn Kirche und Caritas be-
                     Teil der Gesellschaft und nicht als Teil des Staates   sondere Arbeitgeberrechte eingeräumt werden,
                     anzusehen sind. Solche Kompromisse, wie sie            die sich aus der Distanz als Diskriminierung von
                     damals zwischen dem Zentrum (als der politischen       Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern darstellen
                     Vertretung der Katholiken in Deutschland), Sozial-     können.
                     demokraten und Liberalen geschlossen wurden,
                     erweisen sich gelegentlich als besonders haltbar       Öffentliches Wirken von Religion
                     – 1949 wurden die Bestimmungen der „Weimarer           Verändert hat sich parallel zur Ausdifferenzierung
                     Kirchenartikel“ in das Grundgesetz einfach über-       der Rechtslage vor allem die gesellschaftliche Si-
                     nommen.                                                tuation, in der „Religion und Öffentlichkeit“ heute
                                                                            stattfinden: Lange umfassten die beiden großen
                                                                            Volkskirchen mehr oder weniger paritätisch fast
                                                                            die gesamte Bevölkerung. Seit mehr als 50 Jahren
                              „Schutz der Religion und religiöse            sind aber Verschiedenheit und Individualisierung
                              Neutralität sind für das deutsche             der religiöse Normalfall in Deutschland geworden:
                              Religionsverfassungsrecht kein                Die großen Amtskirchen haben massenhaft Mit-
                              Gegensatz.“                                   glieder verloren und tun das nach wie vor, andere
                                                                            Religionen wie vor allem der Islam sind durch Zu-
                                                                            wanderung eine neue Größe geworden und nicht
                                                                            zuletzt ist ein immer größerer Anteil der Bevölke-
                                                                            rung nach eigenem Bekunden religiös nicht (mehr)
                                                                            gebunden. Während also früher der Anspruch
                     Individuelle und kollektive Religionsfreiheit          des Christentums auf öffentliches Wirken darauf
                     Allerdings hat sich natürlich trotzdem in den letz-    begründet wurde, dass die Kirchen – genauso wie
                     ten 100 Jahren sehr viel verändert. Das gilt auch      der Staat – letztlich fast die gesamte Bevölkerung
                     rechtlich, wenn man etwas genauer hinschaut,           repräsentierten, muss heute ein Anspruch auf
                     nämlich auf der Ebene der Rechtsanwendung.             öffentliches Wirken anders und neu begründet
                     Eine stärkere Rolle als zur Weimarer Zeit oder         werden.
                     auch noch in den ersten Jahren der Bundes-
                     republik spielt die individuelle und kollektive        Diversität und Vielfalt des religiösen Sektors
                     Religionsfreiheit, die im Grundgesetz als „starkes“    Vor diesem Hintergrund sind zwei Grundauffas-
                     Grundrecht ganz an der Spitze der besonderen           sungen anzutreffen, wie mit diesen Herausfor-
                     Freiheitsrechte steht und vor allem vom Bundes-        derungen umzugehen ist: Es lässt sich einer-
                     verfassungsgericht zu einem Bollwerk religiösen        seits – eher pessimistisch – vertreten, dass das
                     Wirkens gemacht worden ist. Fast jede Lebensäu-        Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes
                     ßerung kann religiös begründet werden und steht        von Voraussetzungen gelebt hat, die nunmehr
                     dann unter hohem Schutz – was in einer säkularen       entfallen sind. Verfassungsstaat und Christen-
                     Rechtsordnung durchaus nicht selbstverständ-           tum hatten danach in der Moderne nur in einem
                     lich und auch keineswegs unumstritten ist. Das         sehr kleinen Zeitfenster, circa von 1960 bis 2000,
                     Bundesverfassungsgericht hat viele dieser Rechte       gleichgerichtete Auffassungen von der Welt und
                     am Beispiel und zugunsten der großen Volkskir-         weitgehend gleiche praktische Ziele – nachdem
                     chen entwickelt – freilich auch immer Wert darauf      die Kirchen ihren Frieden mit Religionsfreiheit und
                     gelegt, dass sie dann grundsätzlich jeder Religion     Demokratie gemacht hatten und der Verfassungs-
                     zukommen und nicht etwa ein inhaltliches Vor-          staat sich selbst mäßigen wollte und die Religion

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als gleichsinnigen (und mächtigen) Partner für das     modernem Christentum, Rechtsstaat und Demo-
öffentliche Wohl ansehen konnte. Viele der Vor-        kratie ausging. Gegenwart und Zukunft müssten
rechte der Religion in Deutschland lassen sich in      – wenn wir auf den Staat schauen – aber neu
der Tat nur angesichts der Vorannahme erklären,        formulieren, dass mit den Tiefenschichten der
dass der Faktor Religion gesamtgesellschaftlich        Religion eine notwendige und funktionierende
integrative Wirkung haben kann, die Menschen in        Mäßigung des Staates verbunden ist, der ganz auf
der Demokratie also durch Religion zu mehr in der      die Diesseitigkeit dieser Welt verpflichtet ist.
Lage seien als nur zum Höchstmaß an Eigennutz
als Ziel von Freiheit. Wenn aber die Vielzahl der
Religionen (und auch die innere Verfassung der
Kirchen) solche Wirkungen nicht mehr sicher sein            „Neue Muster von ‚Religion und
lassen, müsste entweder die Stellung der Religion           Öffentlichkeit’ sind keine kleine
insgesamt zurückgeschnitten werden oder zwi-                Aufgabe, aber eine, die sich loh-
schen Religionen stärker als bisher unterschieden           nen kann.“
werden: Religionsgemeinschaften wären danach
entweder nur noch als Teil der vielstimmigen Ge-
sellschaft einzuordnen oder es käme zukünftig auf
eine irgendwie geartete „Verfassungsnähe“ der
Religionsgemeinschaften an, um ihnen bestimmte
Vorrechte zu belassen.                                     Ein Beispiel dafür kann der Religionsunter-
                                                       richt sein, der laut Grundgesetz als ordentliches
   Eine optimistischere Lesart der Veränderungen       Unterrichtsfach in der öffentlichen Schule „nach
geht dagegen von der Grundüberzeugung aus,             den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“
dass Diversität und Vielfalt des religiösen Feldes     erteilt wird – also keine staatliche Religionskun-
geradezu ein planmäßiges Ergebnis des Religions-       de, sondern das Geheimnis des Glaubens als Teil
verfassungsrechts sein können – jedenfalls aber        des staatlichen Schulangebots – dann aber nicht
kein Grund, an seinen Grundlagen zu zweifeln.          (mehr) beschränkt auf katholischen und evange-
Unzweifelhaft ist „Religion als öffentlicher Faktor“   lischen Unterricht, sondern als prinzipielle Be-
dann aber dennoch anstrengender für alle Be-           grenzung staatlicher Steuerung und Bestimmungs-
teiligten, als dies ursprünglich der Fall war: Denn    macht, in vielfältigen Formen der Kooperationen,
man kann zum Beispiel schon nicht mehr voraus-         nicht als Gegnerschaft zum demokratischen Staat,
setzen, dass kulturelle Codes allseitig bekannt        sondern als prozedurale Partnerschaft in Verschie-
sind. Vom Feiertagsrecht über die Trägervielfalt       denheit. In diesem Sinn wären neue Muster von
des Sozialstaats und den Religionsunterricht bis       „Religion und Öffentlichkeit“ keine kleine Aufgabe,
zu den Beteiligungsrechten in Rundfunkanstalten        aber eine, die sich lohnen kann.
muss alles neu durchdacht und gegebenenfalls
auch verhandelt werden, weil die ursprüngliche
Identität von Religion und Staatsbürgerschaft weg-
gefallen ist.

Neue Muster von „Religion und Öffentlichkeit“
Wenn sich eine solche Anstrengung lohnen soll,
müsste auf einer neuen, mittleren Abstraktions-
höhe formuliert werden können, warum „Religion
in der Öffentlichkeit“ sich lohnt. Wir sind es seit
50 Jahren gewohnt, auf diese Frage mit dem Wort                                  Prof. Dr. Hinnerk Wißmann
von Ernst-Wolfgang Böckenförde zu antworten,                                     Westfälische Wilhelms-
wonach der freiheitliche Verfassungsstaat von Vor-                               Universität Münster
                                                                                 Professor für Öffentliches
aussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren                               Recht,
kann – und dass er dieses Wagnis um der Freiheit                                 Verwaltungswissenschaften,
                                                                                 Kultur- und Religions-
willen eingegangen ist. In seiner ursprünglichen
                                                                                 verfassungsrecht,
Version („1.0“) war das Wagnis letztlich begrenzt,                               Mitglied des Exzellenzclusters
weil es ja eben von der großen Schnittmenge von                                  „Religion und Politik“

                                                                                                                  15
„NOSTRA AETATE“
     DAS KONZILSDOKUMENT ALS WEGWEISENDE BASIS
     DES CHRISTLICH-INTERRELIGIÖSEN DIALOGS

     Interreligiöser Dialog ist für die katholische Kir-   besonders auch Johannes Paul II. ein wichtiges
     che nicht nur ein wesentlicher Beitrag zum Frie-      Anliegen. Nachdem man über Jahrhunderte vor
     den unter den Völkern. Er ist eine Konsequenz         allem die Unterschiede zwischen dem Christen-
     aus unserem christlichen Glauben und damit            tum (und näherhin der katholischen Kirche) und
     zugleich seine Bezeugung in der Welt.                 den anderen Religionen hervorgehoben hatte, ver-
                                                           sucht NA nun einen neuen, wertschätzenden Blick
                                                           auf Gemeinsamkeiten zu richten (die genauen Be-
     von Pfarrer Dr. Ludger Kaulig
                                                           obachterinnen und Beobachtern auch zuvor kaum
                                                           entgangen sein dürften).
     Hintergrund und Perspektivwechsel
     Unter dem Eindruck des Holocaust fällt beim           Begründungen
     2. Vatikanischen Konzil die Entscheidung, ein           Der Mensch
     klärendes Wort zum Verhältnis der Kirche zu den         Die theologische Begründung setzt dabei zu-
     Juden zu sagen. Der rassistische Antisemitismus         nächst nicht bei den Religionen, sondern beim
     unterscheidet sich zwar vom religiös motivierten,       Menschen an: Gott ist der Schöpfer und das
     der genauer „Antijudaismus“ genannt werden              Ziel aller Menschen und begleitet sie durch die
     müsste und wenigstens ursprünglich die Taufe von        Zeit. „Einheit und Liebe unter den Menschen
     Juden zum Ziel hatte, aber er bedient sich bei den      und damit auch unter den Völkern zu fördern“
     gleichen Vorurteilen, Mythen und Verschwörungs-         (NA 1), ist daher der Rahmen des christlichen
     theorien, die Hass, Diskriminierung und oft töd-        Auftrags in der Welt.
     liche Verfolgung fördern und kann nahtlos darauf
     aufbauen. Entsprechend unterscheidet das Konzil         Die Verkündigung des Evangeliums
     nicht zwischen diesen Formen. Es erkennt seine          Manche kennen noch die alten Bilder, die
     Verantwortung an, indem es diesem Hass die              den Hl. Bonifatius darstellen, wie er bei der
     Möglichkeit nimmt, sich weiterhin auch aus der          Germanenmission die (oder wenigstens eine)
     christlichen Glaubenslehre zu begründen.                Wotanseiche fällt und damit in jeder Hinsicht
                                                             die Überlegenheit des Christentums machtvoll
        Schon bald wird klar, dass diese vor allem           demonstriert. Vor allem jene Ordensgemein-
     europäische Perspektive in einer globalen Kirche,       schaften, die antraten, muslimisch geprägte
     die sich immer deutlicher der Vernetzung aller          Regionen unserer Welt zu missionieren, durften
     Menschen bewusst wird, um den Blick auf alle            feststellen, dass das so einfach nicht geht. Sie
     Religionen ergänzt werden muss. Es entsteht die         trafen vielmehr auf Menschen, die auch theo-
     „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den        logisch mit ihnen auf Augenhöhe sprechen und
     nichtchristlichen Religionen“, wie alle Konzilsdo-      beeindruckende spirituelle Erfahrungen auf-
     kumente kurz nach den ersten beiden Worten des          weisen konnten. Mehr als bei vielen anderen
     lateinischen Textes benannt: „Nostra aetate“ („In       Religionen zeigten sich dank gemeinsamer
     unserer Zeit“, abgekürzt: NA + Abschnittnummer).        Wurzeln auch viele Gemeinsamkeiten in den
     Die hier gebündelten Einsichten setzen sich fort        Früchten des Glaubens. Aus dieser Erfahrung
     im Lehramt der Päpste seit Paul VI. und waren           nährt sich NA 3, der Abschnitt, der sich speziell

16
mit unserer Beziehung zu den Muslimen be-            Konsequenzen
fasst. Das weckt Erinnerungen: Zeigte sich           Interreligiöser Dialog meint, auf der Basis eines
nicht besonders in den ersten christlichen           freundlich-wertschätzenden Umgangs miteinan-
Jahrhunderten aber auch später immer wieder,         der, voreinander (!) zu bezeugen, aus welchem
dass die Verkündigung des Evangeliums immer          Glauben wir jeweils leben, die Gemeinsamkeiten
dort besonders fruchtbar und nachhaltig ist, wo      zu heben und – wo möglich – gemeinsam daraus
sie nicht auf unlautere Machtmittel zurück-          zu handeln, um Gottes Liebe zu den Menschen zu
greift? Entsprechend wenden sich die Konzils-        bezeugen. Die Motivation dafür liegt für uns Chris-
texte über die Religionsfreiheit und über die        tinnen und Christen in unserem eigenen Glauben,
christliche Mission gegen jede Verbindung der        nicht aus Gründen oder Gegengründen, die von
Verkündigung des Evangeliums mit dem Zwang           außen an uns herantreten. Anders zu handeln, ist
zur Bekehrung. Wer den Glauben an Christus           deshalb eine Verdunklung unseres Glaubens, ein
bezeugt, soll das entsprechend auf Augenhöhe         Zeugnis des Misstrauens gegenüber dem Weg der
tun, sich den Menschen liebevoll zuwenden            Liebe Jesu.
und dieses Leben mit ihnen teilen. Dabei zeigt
sich immer wieder Gottes Spur im Leben und
Glauben aller Menschen. Diese Spur gilt es auf-
zunehmen und zu stärken.

Jesus Christus
Im Kern heißt das zweierlei: Der Hl. Geist, Gott,
wirkt auch in vielen Kulturen und Religionen.
Vor allem aber: Wir wissen um die unendliche
Liebe Gottes zu den Menschen, weil er für sie
alle in Jesus Christus sogar Leiden und Tod auf                           Pfarrer Dr. Ludger Kaulig
                                                                          Leitender Pfarrer in Ahlen
sich genommen hat (NA 4). Das ist unser Maß-
                                                                          Bischöflicher Beauftragter
stab. Ausdrücklich zitiert NA 5: „Wer nicht liebt,                        für den Islam
kennt Gott nicht“ (1 Joh 4,8).                                            kaulig-l@bistum-muenster.de

                                                                                                           17
WACHSENDES GEGEN-
     SEITIGES VERTRAUEN
     DER CHRISTLICH-JÜDISCHE DIALOG

     Die Konzilserklärung Nostra Aetate von 1965 mit    Zentralkomitee der deutschen Katholiken, um
     ihrer – geradezu revolutionären – Änderung der     die Impulse der Konzilserklärung in die Kirche zu
     katholischen Lehre in Bezug auf das Judentum       tragen. Weitere institutionelle Verankerungen, die
     schaffte die Basis für den christlich-jüdischen    Aufnahme vollständiger Beziehungen zwischen
     Dialog, wie wir ihn heute kennen. Zum ersten       dem Vatikan und Israel und viele Begegnungen
     Mal wurde offiziell nicht nur der Antisemitismus   und Zusammenarbeit schufen eine Atmosphäre,
     verurteilt, sondern die bleibende Erwählung des    die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten den
     jüdischen Volkes und seine Bedeutung als Wur-      Dialog weiter vertiefte. So entstand auf jüdischer
     zel des Christentums anerkannt. Das Judentum       Seite das Vertrauen darauf, dass die Neuausrich-
     wurde nicht länger als verworfen betrachtet und    tung der Kirche nachhaltig und unveränderbar ist.
     die Substitutionslehre sowie der Gottesmordvor-    Im Jahr 2000 veröffentlichte zum ersten Mal eine
     wurf abgelehnt. Nostra Aetate war ein Meilen-      Gruppe jüdischer Akademikerinnen, Akademiker
     stein in der Entwicklung des Dialogs und wirkte    und Rabbiner eine Erklärung zum Christentum
     weit über die katholische Kirche hinaus auch in    unter dem Titel Dabru Emet („Redet Wahrheit“).1
     andere christliche Kirchen hinein.                 Sie wurde auf christlicher Seite sehr positiv aufge-
                                                        nommen, auch wenn es auf jüdischer Seite Kritik
                                                        an einigen Formulierungen gab. Für manche war
     von Dr. Jehoschua Ahrens
                                                        sie zu amerikanisch und liberal geprägt.

     Der Beginn eines christlich-jüdischen Dialogs in   Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten
     Deutschland                                        Immer wieder kam es zu Kontroversen im
     1971 gründeten engagierte katholische Gläu-        christlich-jüdischen Dialog. In der jüngeren Ver-
     bige mit jüdischen Partnerinnen und Partnern       gangenheit gab es verschiedene Streitpunkte
     den Gesprächskreis Juden und Christen beim         während des Pontifikats von Benedikt XVI. und

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ebenso nach seinem Rücktritt vom Amt des                            die klare Ablehnung der sogenannten Judenmis-
Papstes. Insbesondere die Neuformulierung der                       sion in der katholischen Kirche im vatikanischen
Karfreitagsfürbitte 2008 und die Aufhebung der                      Papier. Beide jüdisch-orthodoxen Erklärungen
Exkommunikation von vier Weihbischöfen der                          erinnern an die schwierige Beziehung zwischen
umstrittenen Pius-Bruderschaft 2009 führten zu                      Christen und Juden in der Vergangenheit, an-
immenser Kritik von jüdischen Verbänden und                         erkennen die Änderungen in den Kirchen, be-
lösten auch innerkatholisch eine Debatte aus.                       zeichnen christliche Gläubige als „Brüder“ und
Kardinal Walter Kasper, zu diesem Zeitpunkt                         „Partnerinnen“ und wünschen sich eine Vertie-
Präsident der Vatikanischen Kommission für die                      fung des Dialogs. Die Erklärung von 2015 würdigt
religiösen Beziehungen zu den Juden, konnte die                     in Anknüpfung an die mittelalterlichen Lehrer
Situation zwar etwas entspannen, aber Benedikt                      Maimonides und Jehuda ha-Levi das Christen-
XVI. wurde seitdem von jüdischer Seite äußerst                      tum als „göttlich gewollt und ein Geschenk an die
kritisch beäugt. Mit seinem Aufsatz „Gnade und                      Völker“.
Berufung ohne Reue“ in der theologischen Zeit-
schrift Communio (47/2018, 387-406) geriet der                        Der Dialog ist zweifellos in einer neuen Phase
emeritierte Papst 2018 erneut in die Kritik. Letzt-                 und hat eine besondere Qualität und Stärke be-
lich konnten alle Kontroversen entschärft werden.                   kommen. Davon zeugte etwa auch die gemeinsa-
Das macht deutlich, dass der katholisch-jüdische                    me Fachtagung der Deutschen Bischofskonferenz
Dialog mittlerweile so gefestigt ist, dass er selbst                und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz vom
bei großen Meinungsverschiedenheiten zu keiner                      November 2019.
Zeit ernsthaft in Gefahr ist.
                                                                    Ausblick
Das Jubiläumsjahr von Nostra Aetate 2015                            Der stetig gewachsene Dialog in den letzten Jah-
Mitentscheidend für die Stärke des christlich-jüdi-                 ren hat es geschafft, die traditionellen Konfliktli-
schen Dialogs heute war das 50. Jubiläum von                        nien zu überwinden, ohne die jeweiligen eigenen
Nostra Aetate. Zunächst bekräftigte der Vatikan                     Glaubenswahrheiten zu relativieren. Bischof Ul-
im Jubiläumsjahr nochmals seine Position mit                        rich Neymeyr, Vorsitzender der Unterkommission
dem Dokument „Denn unwiderruflich sind Gnade                        für die religiösen Beziehungen zum Judentum der
und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29) –                       Deutschen Bischofskonferenz, bemerkte treffend,
Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in                     dass „auch aus jüdischer Sicht das christlich-jüdi-
den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass                     sche Verhältnis ein besonderes ist und zwar aus
des 50jährigen Jubiläums von „Nostra aetate“                        theologischen Gründen.“
(Nr. 4), das insgesamt von jüdischer Seite sehr                     Jüdische und christliche Gläubige, die Kirchen und
positiv aufgenommen wurde. Am 20. April 2015,                       die jüdischen Gemeinden erkennen zunehmend,
also genau 50 Jahre nach Beschluss von Nostra                       dass wir gemeinsam als Menschen des Glaubens
Aetate, besuchte zum ersten Mal eine offizielle                     und des guten Willens zusammenarbeiten müs-
Delegation der Conference of European Rabbis                        sen, um Gott und die gemeinsamen religiösen
(CER), des orthodoxen europäischen Rabbinerver-                     Werte in unserer Gesellschaft zu erhalten und zu
bands, Papst Franziskus in einer Audienz. Leiter                    fördern.
der Delegation waren der CER-Präsident Rabbiner
Pinchas Goldschmidt, Oberrabbiner von Moskau,
und Rabbiner Haim Korsia, Oberrabbiner von
Frankreich. Das Jubiläumjahr gab den Anstoß zu
zwei orthodox-jüdischen Erklärungen zum Chris-                                                Dr. Jehoschua Ahrens
tentum, „Den Willen unseres Vaters im Himmel                                                  Rabbiner
                                                                                              Director Central Europe
tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden                                                Center for Jewish-Christian
und Christen“ (Dezember 2015) und „Zwischen                                                   Understanding and Cooperation,
Jerusalem und Rom“ (August 2017). Hintergrund                                                 Jerusalem
                                                                                              Mitglied der Orthodoxen Rabbiner-
war die weitere Vertiefung des Dialogs zwischen                                               konferenz Deutschland
den Kirchen und der jüdischen Orthodoxie sowie                                                jjbahrens@gmx.de

1
 Diese und die folgenden Stellungnahmen zum jüdisch-christlichen Dialog aus jüdischer Perspektive können eingesehen werden unter:
URL: https://www.jcrelations.net/de/stellungnahmen.html. (zuletzt abgerufen am 17.02.2021).

                                                                                                                                    19
ZUSAMMENLEBEN IST
     MEHR ALS KOEXISTENZ
     EINE WÜRDIGUNG VON INTERRELIGIÖS
     ORIENTIERTEN ERKLÄRUNGEN ZUR
     GESELLSCHAFTLICHEN VERANTWORTUNG

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Mit der gemeinsamen Erklärung von Abu Dhabi             über die Geschwisterlichkeit aller Menschen“ von
und der Enzyklika „Fratelli Tutti“ betonen Groß-        Abu Dhabi3 ist der Beginn einer neuen Phase, in
imam At-Tayyib und Papst Franziskus die gesell-         seiner Bedeutung zu vergleichen mit dem Frie-
schaftliche Notwendigkeit einer interreligiösen         densgebet von Assisi 1986.4 Nicht nur in seinem
Solidarität. Damit zeigen sie: Der Interreligiöse       Inhalt, sondern vor allem in seiner Entstehung ist
Dialog betrifft nicht nur die jeweilige Religion,       es ein interreligiöses Ereignis: Durchaus vor dem
sondern auch die Zivilgesellschaft.                     Hintergrund der politischen Interessenkonstella-
                                                        tion zwischen den Vereinigten Arabischen Emira-
                                                        ten und Ägypten, die jüngst zum Friedensvertrag
von P. Dr. Tobias Specker SJ
                                                        mit Israel führte, wirkt Papst Franziskus mit der
                                                        religiös-sunnitischen Autorität der al-Azhar Uni-
Es ist eine einfache, aber erstaunliche Einsicht,       versität und des emiratischen Muslim Council of
die die Adyan-Stiftung, ein profiliertes interreligi-   Elders, personifiziert im Großimam Ahmed at-
öses Dialog- und Forschungszentren im Libanon,          Tayyib und in der prägenden Gestalt des Scheich
formuliert. Sie skizziert in einer umfassenden          ibn Bayyah, zusammen. Diese Konstellation
Auswertung von nahöstlichen interreligiösen             schlägt sich auch in der Enzyklika „Fratelli Tutti“5
Dialoginitiativen, dass sich die Ziele und Themen       nieder, die Abu Dhabi ausführlich als Inspirations-
des Dialogs von theologischen Kernthemen über           quelle heranzieht. Die grundlegende gesell-
die politisch motivierte Gewaltfrage hin zu ge-         schaftspolitische Bedeutung beider Dokumente
meinsamen sozialen und zivilgesellschaftlichen          liegt darin, dass sie ausdrücklich gegen eine
Anliegen entwickelt hat, so dass besonders für          selbstbezügliche, abgrenzende und separative
jüngere Aktivistinnen und Aktivisten der Dialog         Form religiöser Identität antreten. Eine Ver-
der Ort ist, ihre gesellschaftlichen Anliegen und       bundenheit, die mehr ist als nur funktionales
Visionen zu artikulieren.                               soziales Networking und anderes als eine Allianz
                                                        starker durchsetzungsfähiger Individualisten,
    Diese Entwicklung ist keineswegs auf den            prägt ihre gesellschaftliche Vision: Verbunden-
Nahen Osten beschränkt: Auch im deutschspra-            heit entspringt der Zerbrechlichkeit menschlicher
chigen Kontext kann man eine Linie von einer            Existenz und dem Aufeinander-Angewiesensein.
ersten Phase der Anwaltschaft für die religiösen        Gesellschaftspolitisch konkretisiert sich diese An-
Bedürfnisse der Minderheitenreligionen über             gewiesenheit darin, dass Christen und Muslime
eine Phase des wechselseitigen Kennenlernens            als gleiche Bürger eines Staates betrachtet wer-
der jeweiligen religiösen Eigenheit hin zu einer        den. Dieser Punkt ist eine nicht zu unterschätzen-
gemeinsamen Verantwortung in gesellschaft-              de Errungenschaft, die auch Bewegungen in der
lichen Fragen ziehen. Programmatisch nennt              islamischen Welt entspricht.
der Gesprächskreis Christen und Muslime des
Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)          Bewegung in islamischen Kontexten
seine Erklärung von 2012 „Christen und Muslime          Wurden in den islamischen Erklärungen des ver-
- Partner in der pluralistischen Gesellschaft“.1        gangenen Jahrzehnts wie dem „Common Word“
Die aktuelle Grundtendenz aller Erklärungen ist,        von 20076 eher in allgemeiner religiös-theologi-
einerseits die religiösen Dimensionen von Kon-          scher Hinsicht die religiöse Vielfalt legitimiert
flikten ernst zu nehmen, andererseits Religion          und der Zusammenhang von Gottes- und
als Ressource zur Konfliktlösung und Friedens-          Nächstenliebe unterstrichen, so bejahen wichtige
stiftung zu sehen. Exemplarisch ist hier die Er-        Erklärungen der letzten Jahre, zum Beispiel
klärung des genannten Gesprächskreises des ZdK          die „Marrakesch“ Erklärung von 20167 und die
„Keine Gewalt im Namen Gottes! Christen und             „al-Azhar Deklaration“ von 20178, ausdrücklich
Muslime als Anwälte für den Frieden“ von 2016           die gemeinsame Staatsbürgerschaft religiöser
zu nennen.2                                             Minderheiten. Sie illustrieren damit ihrerseits die
                                                        Entwicklung von theologischen zu gesellschafts-
Kulminationspunkte: Abu Dhabi und Fratelli              politischen Fragen. Sie zeigen jedoch auch, wie
Tutti                                                   wichtig weiterhin grundlegende theologische
22 muslimische Geistliche aus verschiedenen             Diskussionen sind. Während die Marrakesch-Er-
Weltregionen sind sich in ihrer gemeinsamen             klärung die Staatsbürgerschaft durch den Verweis
Stellungnahme von 2019 einig: „Das Dokument             auf das ideale islamische Gemeinwesen in Medi-

                                                                                                               21
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