Begegnen - Verstehen - Anerkennen - Religion in pluraler Gesellschaft - MÄRZ 2021 - Bistum Münster
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Inhalt 3 EDITORIAL 37 EINE VISION FÜR DEN FRIEDEN Donatus Beisenkötter Der Garten der Religionen in Recklinghausen Michaela Kiepe 4 (RELIGIÖSE) PLURALITÄT Problematische Herausforderung oder Chance 40 IM GLAUBEN AN DEN EINEN GOTT unserer Gesellschaft? Trialogisches Theaterprojekt gewinnt Prof. Dr. Martin Jäggle Integrationspreis der Stadt Dortmund Jürgen Larys 8 VOM BEDEUTUNGSVERLUST ZUR NUTZLOSIGKEIT? 42 #BEZIEHUNGSWEISE: JÜDISCH UND CHRISTLICH Die Rolle der Religion in einer von Säkularisierung – NÄHER ALS DU DENKST und Pluralisierung gekennzeichneten Gesellschaft Eine ökumenische Kampagne im Festjahr 2021 Prof. Dr. Gert Pickel – Jüdisches Leben in Deutschland Katrin Großmann 12 RELIGION UND ÖFFENTLICHKEIT Bewährungsproben und Anfragen 45 SEHEN, FÜHLEN, HÖREN, SPRECHEN Prof. Dr. Hinnerk Wißmann Christlich-Muslimische Führungen im Paulusdom Mario Schröer 16 „NOSTRA AETATE“ Das Konzilsdokument als wegweisende Basis des 47 SEELSORGE IM KRANKENHAUS christlich-interreligiösen Dialogs – INTERRELIGIÖS Dr. Ludger Kaulig Interview mit Elisabeth Frenke und Fadime Eroglu Martin Merkens 18 WACHSENDES GEGENSEITIGES VERTRAUEN Der christlich-jüdische Dialog 51 KONTAKTADRESSEN Dr. Jehoschua Ahrens, Rabbiner 20 ZUSAMMENLEBEN IST MEHR ALS KOEXISTENZ IMPRESSUM Eine Würdigung von interreligiös orientierten Erklärungen zur gesellschaftlichen Verantwortung HERAUSGEBER Bischöfliches Generalvikariat | Hauptabteilung Seelsorge Dr. Tobias Specker SJ Rosenstraße 16, 48143 Münster 23 DEN INTERRELIGIÖSEN DIALOG REDAKTION Donatus Beisenkötter (v.i.S.d.P.), Georg Garz VOR ORT GESTALTEN Dr. Detlef Schneider-Stengel KONZEPTION Angelica Hilsebein 26 DER ISLAM IN DER KITA GESTALTUNG Die religiöse Lebenswelt muslimischer Familien Eva Lotta Stein | www.kampanile.de in katholischen Einrichtungen DRUCK Angelica Hilsebein Druckerei Joh. Burlage, Münster | www.burlage.de REDAKTIONSSEKRETARIAT 29 ABRAHAMS KINDER Heidrun Rillmann, Bischöfliches Generalvikariat Münster Eine KiTa, geboren im Schoß gemeinsamen Ursprungs Domplatz 27, 48143 Münster Martin Wrasmann Fon 0251 495-1181 | redaktion@unsere-seelsorge.de TITELBILD UND FOTOS 32 „UND WIE HÄLTST DU ES MIT istockphoto: PeopleImages, Booky Buggy, Jovanmandic, macniak, DEINER RELIGION?“ Viktorcvetcovic, DGLimages, michaeljung, FatCamera, SDI Productions, wundervisuals, alvarez, KatarzynaBialasiewicz; AdobeStock: ines39, Ein Plädoyer für mehr interreligiöse Begegnungen im Victor Moussa; Michael Bönte, Foto Textoris, privat Religionsunterricht Dr. Dorothee Fingerhut und Dr. Naciye Kamcili-Yildiz EINZELBEZUGSPREIS: 3,50 Euro STAFFELPREISE: ab 10 Exemplare 3 Euro | ab 50 Exemplare 2,50 Euro 35 „WEISST DU, WER ICH BIN?“ Ein Erfolgsprojekt der drei großen Religionen für friedliches Zusammenleben in Deutschland Das verwendete Papier ist aus Maria Coors 100 % Altpapier hergestellt. 2
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, Papst Franziskus setzt Anfang März 2021 im Irak Der erste Schritt, um nicht nur die eigene Posi- ein eindrucksvolles Signal für religiöse Toleranz tion abzusichern, sondern die Rolle von Religion und Koexistenz. Er wirbt für den interreligiösen in einer pluralen Gesellschaft auch in Zukunft Dialog als Grundlage, um nicht das Trennende, erkennbar mitzubestimmen, ist die Begegnung, sondern das gemeinsame friedensstiftende Verständigung und Anerkennung der Konfes- Potential der Religionen gesellschaftlich wirk- sionen und Religionen untereinander. Aus dem sam werden zu lassen. Gilt seine Botschaft nur Dialog kann Kooperation wachsen. Ein auch die in einer offensichtlich von unterschiedlichen gemeinsamen gesellschaftlichen Interessen the- religiösen Orientierungen unterfütterten oder matisierender interkonfessioneller und interreli- überlagerten Konfliktregion? giöser Dialog ist die Voraussetzung, dass Religion im pluralen gesellschaftlichen Diskurs nicht auf Wie steht es um das friedensstiftende Poten- ihre individuelle Dimension reduziert wird. tial der Religionen in unserem gesellschaftlichen Kontext? Spielen sie noch eine erkennbare Rolle Diese Ausgabe von UNSERE SEELSORGE knüpft – besonders jetzt in Zeiten kollektiver Verunsi- an die vorhergehende Ausgabe an, die der Frage cherung? Leisten sie einen originären Beitrag nach einem konstruktiven innerkirchlichen Um- zu einem auf gemeinsamen Werthaltungen gang mit kultureller und ritueller Verschieden- basierenden friedlichen Zusammenleben in einer artigkeit nachging. Dieselbe Frage stellt sich im weltanschaulich pluralen Gesellschaft? Blick auf das Verhältnis zu anderen christlichen Konfessionen, anderen Religionen und anderen Im Frühjahr 2011 erschien eine Ausgabe von Weltanschauungen. UNSERE SEELSORGE unter dem Titel „Wohin nach der Volkskirche?“. Zehn ereignisreiche Jahre Die Beiträge dieser Ausgabe erkunden die später hat sich die Situation eher verschärft als Möglichkeiten interreligiöser Verständigung und verbessert. Der zunehmende Glaubwürdigkeits- Kooperation. Sie laden dazu ein, in der Begeg- verlust kulminiert binnenkirchlich im Ringen nung mit dem Anderen zu lernen, das Eigene neu um die sozio-kulturelle Anschlussfähigkeit eines wahrzunehmen und zugleich das Gemeinsame zu kirchlich verorteten christlichen Glaubens in entdecken und glaubwürdig zu gestalten. einem synodalen Aufarbeitungsprozess von Fra- gestellungen, deren Beantwortung seit gefühlt Ein anregende Lektüre wünscht Ihnen mehreren Jahrzehnten überfällig ist. Gleichzeitig schwinden kontinuierlich die personellen und Donatus Beisenkötter finanziellen Ressourcen. Die Frage, wie wir unter sich rapide weiter verändernden Rahmenbedin- gungen Kirche sein wollen und können, stellt sich mit einer neuen Qualität nach innen, und nach außen. Wie können wir Kirche sein, die sich nicht nur mit sich selbst beschäftigt, sondern in die Ge- sellschaft hinein wirkt? Donatus Beisenkötter Leiter der Abteilung Allgemeine Seelsorge beisenkoetter@bistum-muenster.de 3
(RELIGIÖSE) PLURALITÄT PROBLEMATISCHE HERAUSFORDERUNG ODER HERAUSFORDERNDE CHANCE? (Religiöse) Vielfalt ist kein Problem, das zu nen Probleme und wird leicht als konservativ oder lösen wäre, sondern Kennzeichen einer Situa- zum Schwarzseher abgestempelt. Ich selbst habe tion, in der gehandelt werden muss. Heraus- erst lernen müssen, diese so vertraute Polarisie- forderung oder Chance ist eine übliche, aber rung zu überwinden. nicht hilfreiche Alternative. Die entscheidende Frage ist: Wie leben wir in (religiöser) Vielfalt Bei einer Konferenz von Ordensleitungen wollte und Verschiedenheit zusammen? ich zum Thema reden: „Was hat Gott sich ge- dacht, als er uns mit Migration und religiöser Vielfalt beschenkt hat?“ Am Tag davor schien mir von Prof. Dr. Martin Jäggle das Thema dann doch zu idyllisch, zu schön und außerdem theologisch nicht angemessen zu sein, Es ist weit verbreitet, neue und schwierige denn mit dem Geschenk ist Gott danach aus dem Situationen polarisierend zu bewerten, eben als Spiel. Das endgültige Thema lautete: „Was hat Alternative „Herausforderung oder Chance“. Wer Gott sich gedacht, dass er uns mit Migration und für „Chance“ optiert, gilt leicht als „blauäugig“, je- religiöser Vielfalt heimsucht?“ Mit „heimsuchen“ mand, der alles durch die „rosa Brille“ sieht, und ist auch das Herausfordernde und Belastende wer für „Herausforderung“ (= Problem) optiert, angesprochen und zugleich die bleibende Präsenz sieht primär die mit religiöser Pluralität verbunde- Gottes in der religiösen Vielfalt. Das Thema, zu 4
Religiöse Pluralität Inhalt dem ich hier schreibe, ist daher: „(Religiöse Plu- zen und ausgrenzen sind dabei zwei Seiten der- ralität – eine herausfordernde Chance für unsere selben Medaille, mit denen jede Form von Dialog Gesellschaft“. torpediert wird. Vielfalt und Verschiedenheit wahrnehmen Vielfalt ist Realität und Qualitätsmerkmal jeder demokratischen Gesellschaft. Wer Vielfalt be- kämpft, schwächt die Demokratie und die Men- „Differenz wird zum Ermög- schenrechte. Zur religiösen Pluralität gehört auch die Pluralität innerhalb der jeweiligen religiösen lichungsgrund für Fragen und Traditionen. Dabei stellt Pluralität eine nicht Erkenntnis, sie gibt zu denken und hintergehbare gesellschaftliche Wirklichkeit dar regt letztlich zum Neudenken und (Isolde Charim). Ob sie ignoriert, ausgeblendet Umdenken an.“ oder gar geleugnet wird, hat auf diese Realität keinerlei Auswirkungen. Entscheidend ist, wie Vielfalt und Verschiedenheit wahrgenommen Identität durch Beziehung und bewertet werden. Zwei Beispiele illustrieren, „Weil wir befreundet sind, haben wir sehr offen wie dies individuell verschieden beziehungsweise reden können.“ – Vielleicht ist das der Schlüssel, gegensätzlich erfolgen kann: der alles Weitere ermöglicht hat: Beziehung und Freundschaft. Da können die Anderen infrage Ein Vater kommt im Jahre 2003 in einem Wie- stellen, zum Nachdenken anregen. Differenz wird ner Arbeiterbezirk zum zuständigen Pfarrer, um zum Ermöglichungsgrund für Fragen und Erkennt- sein Kind zur Taufe anzumelden. Der Pfarrer nis, sie gibt zu denken und regt letztlich zum Neu- fragt ihn: „Warum wollen Sie Ihr Kind taufen denken und Umdenken an. lassen?“ Der Vater antwortet: „Weil es schon zu viele Moslems gibt.“ Praktiken des Zusammenlebens in Vielfalt Wenn ich Studierenden Aufgaben zu (religiöser) In einem anderen Arbeiterbezirk Wiens sitzen Pluralität gestellt habe, dann konnte ich an den zwei Mieterinnen des Hauses in der Wohnung abgegebenen Arbeiten die Herkunft der Studie- der Hauswartin, einer türkischen Frau namens renden erkennen. Studierende aus Indien haben Emine. „Ich habe Emine und ihre Familie als völlig andere Arbeiten geschrieben als etwa in ihrem Glauben und in ihrer Kultur lebend Studierende aus Mitteleuropa. Die Einstellung zu kennengelernt und das hat mich fasziniert“, und der Umgang mit (religiöser) Pluralität wird sagt Frau Irene, eine der beiden Mieterinnen. kulturell erworben. Gesellschaftliche und kultu- „Weil wir befreundet sind, haben wir sehr relle Muster werden in biographischen Kontexten offen reden können. Dann wird es ja wirklich interpretiert und angeeignet. Ob eine Grund- interessant, wenn man nicht nur die Theorie haltung der Akzeptanz und Wertschätzung von liest, sondern fragen kann ‚Wie lebt denn ihr Vielfalt und Diversität erworben werden kann, damit, wie macht ihr das in allen Facetten des hängt neben persönlichen Zugängen von der Lebens eigentlich?‘“ Das hat Frau Irene bewo- Möglichkeit ab, in gesellschaftlichen Zusammen- gen, wieder in die Kirche einzutreten und ihr hängen Praktiken des Zusammenlebens in Vielfalt Kind geht nun in eine katholische Privatschule. kennenlernen und sich aneignen zu können. Identität durch Abgrenzung Die Last der Geschichte Wird religiöse Pluralität als das eigentliche Da gibt es eine Last der Geschichte. Das Hand- Problem identifiziert und als individuelle oder buch der Geschichte des Hochmittelalters be- kollektive Bedrohung erfahren, liegt es nahe, nennt die Zeit „Europa entdeckt seine Vielfalt“. ‚Identität profilieren‘ und ‚Position beziehen‘ zu Zugleich behandelt es die Geschichte der Unmög- verlangen, eng verbunden mit der ‚Beheimatung‘ lichkeit, als religiös Verschiedene in Europa zu- in der eigenen ‚ekklesiogenen Stammesreligion‘ sammenleben zu können, eine blutige Geschichte (Theo Sundermeier), in der die Sehnsucht nach im Umgang mit religiöser Verschiedenheit. Diese einem klar abgegrenzten Innen und Außen, nach Geschichte der Unterwerfung, der Vertreibung Glauben und Unglauben erfüllt ist. Sich abgren- und der Ermordung „der Anderen“ hat ihren ab- 6
soluten Tiefpunkt in der Shoa gefunden, woran die christlichen Kirchen einen entscheidenden „Ein prinzipieller religiöser Plura- Anteil hatten. Jahrhundertelang haben auch sie in lismus beruht auf der Unermess- Europa daran mitgewirkt, religiös (und konfessio- nell) homogene Gesellschaften zu festigen. lichkeit Gottes, der Liebe ist.“ „Heimat der Verschiedenen“ Die Umkehr nach 1945, die die Würde der Einzel- nen und der Vielfalt sichert, ist hoffnungsvoll. Bereits 1950 wurde die Europäische Menschen- sondern der Kurzschluss. Gilt Pluralität als be- rechtscharta beschlossen, die Europa zu einem drohlich für Identität, für Glaube, für Gesellschaft, „Kontinent der Menschenrechte“ werden ließ. für alles, was „heilig“ ist, dann bleibt nur Ver- Der Vertrag von Lissabon legt als Motto der Euro- störung, Rückzug, Verteidigung, Abgrenzung und päischen Union „In Vielfalt geeint“ fest und als die Ausgrenzung. Entwürdigend sind etwa der Zwang EU verbindenden Werte werden unter anderem zur Assimilierung oder subtile Formen der Ver- ausdrücklich „Menschenwürde“ und „Pluralität“ achtung von Anderssein. Wird Pluralität hingegen genannt. Während sich die USA als „Schmelztie- harmlos gedacht, als bunte Blumenwiese, scheint gel“ verstehen, ist Europa „Heimat der Verschie- alles gleichgültig zu sein. Die Blumen, die den denen“. Ein wesentliches Kennzeichen Europas ist Kampf auf der bunten Blumenwiese verloren ha- seine Vielfalt an Sprachen, Geschichten, Kulturen, ben, können ja nicht gesehen werden. So bleiben Religionen und Konfessionen. Es braucht ein die Fragen nach Macht und Ohnmacht, die Fragen europäisches Projekt, als Schicksalsgemeinschaft nach Einheit und Wahrheit ausgeklammert. (fellowship of fate) dialogisch mit religiöser Di- versität umgehen zu lernen (fellowships of faith) Was ist der Sinn religiöser Pluralität? (Bert Roebben). Jacques Dupuis stellt die Frage nach dem Sinn von religiöser Pluralität. Ist religiöse Vielfalt eine Wirk- Sehnsucht nach Homogenität lichkeit, die man zur Kenntnis nehmen, aber nicht Doch die Sehnsucht nach Homogenität und Nor- billigen muss? Oder ist religiöse Vielfalt theolo- malität ist gesellschaftlich groß und im kulturellen gisch eine legitime Wirklichkeit, die man anerken- Gedächtnis tief verankert. Es ist weiterhin für nen und begrüßen kann? Kurz formuliert: Lässt viele nicht normal, verschieden zu sein. In einer Gott religiöse Vielfalt nur zu oder ist sie von Gott solchen Situation entstehen Dynamiken, sich aus gewollt? Jacques Dupuis kommt zu der Antwort: der Pluralität in die Fiktion einer vergangenen „Ein prinzipieller religiöser Pluralismus beruht Normalität zurückzuziehen und damit verbunden auf der Unermesslichkeit Gottes, der Liebe ist.“ „Andere“ auszuschließen. Ist das immer noch Begründet ist diese für ihn, weil in „der gesamten festzustellende Lamentieren über den (schmerz- Geschichte Gottes mit der Menschheit (…) mehr lichen) Verlust des (katholischen) Milieus nicht göttliche Wahrheit und Gnade wirksam (sind), als Ausdruck der Sehnsucht nach der vergangenen in der christlichen Tradition allein zugänglich wä- Zeit machtvoller Homogenität? Und wird nicht ren.“ Konsequenz daraus ist die Verpflichtung zum die damit verbundene Gewalt(-geschichte) ausge- interreligiösen Dialog und zur Zusammenarbeit. blendet, womit ein Gedenken der Opfer gar nicht So würde auch verwirklicht, was das II. Vatikanum möglich ist? Die jetzige Situation der religiösen bereits 1965 genannt hat: „Mit Hochachtung be- Pluralität könnte als fundamentale Kritik an der trachtet die Kirche die Muslim“ (NA 3). bisherigen Praxis sowie als Anspruch und Zu- spruch Gottes verstanden werden. Konflikte produktiv machen Mit Pluralität sind notwendigerweise Konflikte verbunden. Statt sie für den Zusammenhalt einer Prof. Dr. Martin Jäggle Gesellschaft der Vielfalt produktiv zu machen, Katholisch-Theologische werden sie zu oft zu Gegensätzen stilisiert. Aus Fakultät der Universität Wien Prof. i.R für Religionspädagogik und der Sicht der Physik sind Spannungen Energie- Katechetik potentiale. Das Problem ist nicht die Spannung, martin.jaeggle@univie.ac.at 7
VOM BEDEUTUNGSVERLUST ZUR NUTZLOSIGKEIT? RELIGION IN EINER VON SÄKULARISIERUNG UND PLURALISIERUNG GEKENNZEICHNETEN GESELLSCHAFT 8
In der spätmodernen Gesellschaft in Europa sie mit dem ursprünglichen Gemeinschaftsgedan- scheint die christliche Religion nur noch eine ken des Glaubens, wie er in der christlichen Über- untergeordnete oder verschwindende Rolle lieferung angelegt ist, meist wenig zu tun haben. zu spielen. Doch die soziale Bedeutung von Religion und Christentum spielt auch heute Begleitet werden diese Abbruchprozesse des noch eine große, vielleicht sogar wachsen- Christentums von einer weitreichenden Plura- de Rolle. Pfarrerinnen, Pfarrer und Priester lisierung der religiösen Landschaft. Nicht nur werden vermehrt zu gefragten Seelsorgerinnen entwickeln sich innerhalb des Katholizismus und und Seelsorgern in vielen sozialen Feldern und Protestantismus unterschiedliche Schattierungen Expertinnen und Experten für Religionen insge- des Glaubens, seien sie dogmatisch, konservativ, samt. Somit ist zukünftig von einer Ambivalenz pluralistisch, inklusivistisch, exklusivistisch. Auch von Säkularisierung, religiöser Pluralisierung, andere Religionsgemeinschaften und ihre Mit- Individualisierung und Interreligiosität auszu- glieder werden zum Normalfall in den religiösen gehen. Landschaften Deutschlands und anderer europäi- scher Staaten. Nimmt man noch die gesellschaft- liche Prägekraft des Individualismus hinzu, der von Prof. Dr. Gert Pickel es zur gesellschaftlichen Pflicht gemacht hat, dass jeder Mensch selbst entscheiden kann Der beschleunigte Wandel der Gesellschaften – und entscheidet, wie sein Lebensweg sein wird, und der Lage des Religiösen haben sich die Rahmenbedingungen wie auch Kaum jemand dürfte in Frage stellen, dass sich die die Sozialform von Religion in der Gegenwart der europäischen Gesellschaften, aber nicht nur die- Spätmoderne massiv verändert. se, in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Die dafür verantwortlichen Entwicklungen sind Die Rolle von Religion in der Spätmoderne nicht neu, aber der Wertewandel, die Urbanisie- Welche Bedeutung besitzen christliche Religiosi- rung, die voranschreitende Pluralisierung und die tät und Religion in einer sich so verändernden Ge- sich seit den 1970er Jahren immer stärker entfal- sellschaft noch? Religion dient vielen Menschen tende Individualisierung wurden durch Prozesse (Gläubigen) immer noch als wichtiger Identi- der Digitalisierung und eine ansteigende Mobilität tätsmarker und Stabilisator des eigenen Lebens. noch einmal massiv beschleunigt. Dies hatte Dies kann in den Traditionen, Riten, Erfahrungen Folgen für den religiösen Sektor. So führen die und im Glauben verankert sein, es kann aber beschriebenen Prozesse aufgrund einer nur noch auch durch die wichtige soziale Komponente der schwer zurückzuweisenden Kopplung von Moder- Religion am Leben erhalten werden. Religion nisierung und Säkularisierung zuerst zu teilweise dreht sich nicht nur um Glauben oder Trans- dramatischen Schrumpfungen der Mitgliederzah- zendenz, sondern sie hat auch eine sichtbare len in den christlichen Großkirchen in Europa, um soziale Präsenz. Caritas, Diakonie, aber auch jeder – ungefähr mit einer Generation Verzögerung – zu Gebetskreis, jede Hilfsgruppe für Geflüchtete, einem steigenden Desinteresse am Christlichen stellen eine Verankerung des Christentums in der und am Religiösen überhaupt zu führen. Gesellschaft dar. Stichworte, wie Gottesvergessenheit oder Hilfe und Seelsorge Glaubensdiffusion illustrieren die zunehmende Nicht umsonst erwies sich in der letzten Kirchen- Nachrangigkeit des Christentums in Europa und mitgliedschaftsuntersuchung der evangelischen seine in der Bevölkerung sinkende Anschlussfähig- Kirche in Deutschland der Wunsch nach der Hilfe keit. Statistische Prognosen sagen ein Fortlaufen für die Armen und sozial Schwachen als bedeut- dieser Prozesse voraus, wenn nicht sogar eine samer, als Gottesdienste auszurichten. Hilfe und Dynamisierung. Und individualisierte Formen Seelsorge sind das, was sich Kirchenmitglieder des Religiösen scheinen weder an die Stelle des und Gläubige von ihrer Kirche wünschen. Nun gelernten christlichen Glaubens zu treten, noch darf man verschiedene Funktionen nicht gegen- eine Generationen übergreifende Bindekraft für einander ausspielen, aber die soziale Präsenz der Menschen zu besitzen – davon abgesehen, dass Kirche macht das Christentum überhaupt sichtbar 9
Vom Bedeutungsverlust zur Nutzlosigkeit? und fühlbar. Dies ist in einem Umfeld, in dem dem durch die Säkularisierung sinkenden Wissen Glauben immer in Gegensatz zu Wissen gerät, ein über Religion und Religionen ein gut gedüngtes beachtliches Gut der christlichen Kirchen. Und Feld gefunden, auf dem sie sprießen können. Seit diese soziale Bedeutung ist weit anerkannt: In der Vereinnahmung des Christentums in der „Ver- der genannten Umfrage empfinden 60 Prozent teidigung des christlichen Abendlandes“ durch der Konfessionslosen die sozialen Leistungen der rechtsextrem, rechtsradikal und rechtspopulis- evangelischen Kirche als gut und wünschenswert. tisch eingestellte Einzelne und Gruppen kommen So paradox es klingen mag, die Zukunft der christ- christliche Gläubige und Kirchenleitungen zusätz- lichen Kirchen dürfte weniger in der Ausrichtung lich unter Positionierungsdruck. Sie müssen ihre von Gottesdiensten liegen, als beim Menschen, Position zu anderen Religionsgemeinschaften, in der Seelsorge und in der sozialen Zuwendung. besonders gegenüber muslimischen Glaubens- Dies bezieht auch den politischen Einsatz für die gemeinschaften, und ihre Position gegenüber die- sozial Schwachen mit ein. sen politischen Haltungen – auch in der eigenen Kirche – bestimmen. So stellt sich etwa die Frage, Religion und Politik welche Kritik am Islam berechtigt sein mag und Oft wird gesagt, das Religiöse solle sich vom wann es sich um Rassismus handelt. Politischen fern halten. Viele Kirchenmitglieder sehen dies so: Mehr als die Hälfte der christ- Positiver Aspekt von Religion lichen Gläubigen denkt, dass sich Kirche nicht Gleichzeitig bieten diese Herausforderungen in politische Dinge „einmischen“ sollte. So wie Chancen. Die christlichen Religionen können diese Aussage mit der Zwei-Regimenten-Lehre besonders an dieser Stelle einen beachtlichen übereinzustimmen scheint, folgt sie der seitens Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt der Politik in Europa vertretenen Trennung zwi- und für ein friedliches Zusammenleben in einer schen Kirche und Staat. Doch sieht man genauer pluralistischen Gesellschaft leisten. An keinem hin, stellt man fest, dass die Gläubigen sehr wohl anderen Ort als im Umfeld von Kirchen besteht eine Einmischung ihrer Kirche in politische Be- eine so gute und räumlich so breit gestaffelte lange befürworten. Dies ist immer dort der Fall, Möglichkeit, Gespräche zu initiieren. Die kirch- wo es Soziales betrifft. Viele Kirchenmitglieder lichen Räume sind hervorragende Stätten, um ordnen es nicht als politisch ein, wenn auf soziale auch politisch kontroverse Fragen zu diskutieren Missstände aufmerksam gemacht wird oder ent- – kommen doch kaum woanders als hier noch so sprechende Maßnahmen von der Politik gefordert viele Menschen mit unterschiedlichen politischen werden. Dies ist sozial, und sozial sollte sich die Meinungen zusammen. Kirchengemeinden Kirche äußern. Christinnen und Christen wollen können Räume anbieten, um Gesprächsblocka- dabei keine Moralagentur für die Gesellschaft den, die in den sich immer mehr polarisierenden sein, aber ein Korrektiv für die Schwachen und Gesellschaften auftun, überbrücken zu helfen. Benachteiligten. Sicher, man kann im kirchlichen Raum nicht alle Probleme der Gesellschaft lösen. Gleichwohl sind Kritische Aspekte von Religion es genau solche Beiträge zum gesellschaftlichen Soziale Identitäten können jedoch auch Auslöser Leben, die Kirche und Glauben für die Gesell- von Konflikten sein. Spätestens seit der amerikani- schaft als unverzichtbar erkennbar machen. sche Politikwissenschaftler Samuel Huntington das Schreckensgemälde eines Kampfes der Kulturen Herausforderung „Islam“ an die Wand malte, wird vielerorts misstrauisch Dies gilt noch mehr mit Blick auf den Ausgangs- auf Religion geblickt. Sie scheint gefährlich, punkt der politischen Kontroversen oder einen Konflikte produzierend und aufgrund ihrer kaum zumindest stark problematisierten Aspekt – die nachvollziehbaren Unlogik für den Interessens- Referenz vieler dieser polarisierten Debatten auf ausgleich genauso wenig geeignet, wie zum Erhalt den Islam. Wenn mehr als die Hälfte der Deut- eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenhaltes. schen 2017 in einer Umfrage der Bertelsmann Waren und sind nicht gerade Auseinandersetzun- Stiftung Angst vor „dem Islam“ äußern, dann zeigt gen, in denen Religionszugehörigkeiten die Kon- dies eine gewaltige Verunsicherung vor einer Re- fliktgruppen ausmachen, besonders blutig und ligion und ihren Mitgliedern. Die Verbindung die- unversöhnlich? Solche Vorstellungen haben mit ser Religion mit Konflikt, Gewalt und ISIS-Terror 10
hat dabei zu Überträgen auf alle ihre Mitglieder geführt. Eine zweite Verkopplung mit den Flucht- bewegungen 2015 hat die Debatte zugespitzt. Dabei ist das geringe Wissen über den Islam und seine Richtungen auffällig. Nicht, dass fehlende „Es reicht nicht mehr aus, nur Kontakte und Unwissen Meinungsbildung ver- über die eigene Religion Bescheid hindern würden! Vielmehr sind es Kontakte und zu wissen, sondern es bedarf Wissen über den Islam, welche einer generellen grundlegender Kenntnisse über Muslimfeindlichkeit und Ablehnung des Islam entgegenwirken können. Die Ablehnungshaltun- die anderen Religionsgemein- gen gegenüber dem Islam beeinflussen in Europa schaften.“ insgesamt die Haltung zu religiöser Pluralisierung, sie wird als konflikthaft und problematisch an- gesehen. Austausch und Wissen über Religion und Reli- gionen Doch was können die christliche Religion und ihre Mitglieder dabei bewirken? Sie können zum einen durch einen interreligiösen Dialog für Aus- tausch und erste Elemente des Wissens sorgen. Zum anderen aber sind es vor allem theologisch ausgebildete Hauptberufliche in den christlichen Kirchen sowie informierte Gläubige, die bei der Frage weiterhelfen können, was denn „der Islam“ und wie gefährlich er ist. Christliche Theologin- nen und Theologen sind quasi deutschlandweit die Expertinnen und Experten, welche mir über Religion Auskunft geben können (müssen). Dies schließt heute andere Religionen mit ein. Damit Liegt in einer religiös integrierten Spiritu- wandelt sich auch die kirchliche Ausbildung bezie- alität das noch wenig genutzte Potential hungsweise sie muss sich dahingehend wandeln. der Religionen, auch eine vermeintlich Es reicht nicht mehr aus, nur über die eigene rationalistische Gesellschaft wirksam mitzu- Religion Bescheid zu wissen, sondern es bedarf gestalten? Dieser Frage geht Martin Rötting grundlegender Kenntnisse über die anderen Re- in einem Artikel nach. ligionsgemeinschaften. Zudem sollte das Wissen gegenwartsbezogen und alltagstauglich sein, Online unter: www. unsere seelsorge.de historische Einordnungen sind immer hilfreich, doch der Lebensalltag der Menschen ist im Hier und Jetzt. Dies zeigt dann auch den (möglichen) zukünftigen Weg des Christentums in Europa auf, eine soziale Religiosität in der Gegenwart. Prof. Dr. Gert Pickel Theologische Fakultät der Universität Leipzig Institut für Praktische Theologie Professor für Religions- und Kirchensoziologie pickel@rz.uni-leipzig.de 11
RELIGION UND ÖFFENTLICHKEIT BEWÄHRUNGSPROBEN UND ANFRAGEN Wie soll man zu Beginn des Jahres 2021 über von Prof. Dr. Hinnerk Wißmann Religionsfreiheit und ihre Rolle für unsere Ge- sellschaft schreiben? Angesichts der Verwerfun- gen, die die Corona-Pandemie über unser Leben Schutz der Religion und religiöse Neutralität gebracht hat, besteht jedenfalls durchaus Anlass, Bekanntlich gelten seit mehr als 100 Jahren in die Fundamente in Augenschein zu nehmen, auf Deutschland die (ungefähr) gleichen Rechtsbe- die das Religionsverfassungsrecht in unserem stimmungen für die Stellung der Religion, eine Gemeinwesen bisher gebaut worden ist: Lassen sehr erstaunliche Stabilität, wenn man bedenkt, sich noch Gründe anführen, warum der Religion wie oft sonst rechtliche Bestimmungen und auch ein besonderer Schutz gebührt, insbesondere für die Verfassung geändert werden. Die Weimarer ihre Rolle in der Öffentlichkeit, und was müssen Reichsverfassung (1919) beendete endgültig das Religionsgemeinschaften dafür auch selber ein- alte Bündnis von Thron und Altar (das sich ja bringen, wenn es ernst wird? Welche Grund- aber zuvor seit Mittelalter und Konfessionalisie- lagen haben also noch immer echte Substanz, rung durchaus weiterentwickelt hatte). Als neuer wo handelt es sich nur noch um überkommene Grundsatz wurde festgelegt: „Es besteht keine Privilegien? Staatskirche“. Kombiniert wurde diese repub- 12
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Religion und Öffentlichkeit Inhalt likanische Grundregel einerseits mit bestimm- recht des Christentums sind: Schutz der Religion ten Vorgaben für die Gleichbehandlung (aller) und religiöse Neutralität sind für das deutsche Religion und Weltanschauung, andererseits mit Religionsverfassungsrecht kein Gegensatz. Eine einer Reihe von Vorrechten für Religionsgemein- Besonderheit ist auch, dass die Kirchen und Reli- schaften gegenüber anderen Formen bürgerlicher gionsgemeinschaften in vielen Feldern Vertrags- Vereinigungs- und Meinungsfreiheit. Zu erinnern partner des Staates sind. Miteinander werden ist insbesondere an die durchaus merkwürdige wesentliche Fragen des öffentlichen Wirkens in Organisationsform einer „Körperschaft des öffent- der Schule und im Sozialstaat verabredet – was lichen Rechts“, die den Religionsgemeinschaften freilich in der Europäischen Integration auch an zukommt, obwohl sie doch heute eindeutig als seine Grenzen stößt, wenn Kirche und Caritas be- Teil der Gesellschaft und nicht als Teil des Staates sondere Arbeitgeberrechte eingeräumt werden, anzusehen sind. Solche Kompromisse, wie sie die sich aus der Distanz als Diskriminierung von damals zwischen dem Zentrum (als der politischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern darstellen Vertretung der Katholiken in Deutschland), Sozial- können. demokraten und Liberalen geschlossen wurden, erweisen sich gelegentlich als besonders haltbar Öffentliches Wirken von Religion – 1949 wurden die Bestimmungen der „Weimarer Verändert hat sich parallel zur Ausdifferenzierung Kirchenartikel“ in das Grundgesetz einfach über- der Rechtslage vor allem die gesellschaftliche Si- nommen. tuation, in der „Religion und Öffentlichkeit“ heute stattfinden: Lange umfassten die beiden großen Volkskirchen mehr oder weniger paritätisch fast die gesamte Bevölkerung. Seit mehr als 50 Jahren „Schutz der Religion und religiöse sind aber Verschiedenheit und Individualisierung Neutralität sind für das deutsche der religiöse Normalfall in Deutschland geworden: Religionsverfassungsrecht kein Die großen Amtskirchen haben massenhaft Mit- Gegensatz.“ glieder verloren und tun das nach wie vor, andere Religionen wie vor allem der Islam sind durch Zu- wanderung eine neue Größe geworden und nicht zuletzt ist ein immer größerer Anteil der Bevölke- rung nach eigenem Bekunden religiös nicht (mehr) gebunden. Während also früher der Anspruch Individuelle und kollektive Religionsfreiheit des Christentums auf öffentliches Wirken darauf Allerdings hat sich natürlich trotzdem in den letz- begründet wurde, dass die Kirchen – genauso wie ten 100 Jahren sehr viel verändert. Das gilt auch der Staat – letztlich fast die gesamte Bevölkerung rechtlich, wenn man etwas genauer hinschaut, repräsentierten, muss heute ein Anspruch auf nämlich auf der Ebene der Rechtsanwendung. öffentliches Wirken anders und neu begründet Eine stärkere Rolle als zur Weimarer Zeit oder werden. auch noch in den ersten Jahren der Bundes- republik spielt die individuelle und kollektive Diversität und Vielfalt des religiösen Sektors Religionsfreiheit, die im Grundgesetz als „starkes“ Vor diesem Hintergrund sind zwei Grundauffas- Grundrecht ganz an der Spitze der besonderen sungen anzutreffen, wie mit diesen Herausfor- Freiheitsrechte steht und vor allem vom Bundes- derungen umzugehen ist: Es lässt sich einer- verfassungsgericht zu einem Bollwerk religiösen seits – eher pessimistisch – vertreten, dass das Wirkens gemacht worden ist. Fast jede Lebensäu- Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes ßerung kann religiös begründet werden und steht von Voraussetzungen gelebt hat, die nunmehr dann unter hohem Schutz – was in einer säkularen entfallen sind. Verfassungsstaat und Christen- Rechtsordnung durchaus nicht selbstverständ- tum hatten danach in der Moderne nur in einem lich und auch keineswegs unumstritten ist. Das sehr kleinen Zeitfenster, circa von 1960 bis 2000, Bundesverfassungsgericht hat viele dieser Rechte gleichgerichtete Auffassungen von der Welt und am Beispiel und zugunsten der großen Volkskir- weitgehend gleiche praktische Ziele – nachdem chen entwickelt – freilich auch immer Wert darauf die Kirchen ihren Frieden mit Religionsfreiheit und gelegt, dass sie dann grundsätzlich jeder Religion Demokratie gemacht hatten und der Verfassungs- zukommen und nicht etwa ein inhaltliches Vor- staat sich selbst mäßigen wollte und die Religion 14
als gleichsinnigen (und mächtigen) Partner für das modernem Christentum, Rechtsstaat und Demo- öffentliche Wohl ansehen konnte. Viele der Vor- kratie ausging. Gegenwart und Zukunft müssten rechte der Religion in Deutschland lassen sich in – wenn wir auf den Staat schauen – aber neu der Tat nur angesichts der Vorannahme erklären, formulieren, dass mit den Tiefenschichten der dass der Faktor Religion gesamtgesellschaftlich Religion eine notwendige und funktionierende integrative Wirkung haben kann, die Menschen in Mäßigung des Staates verbunden ist, der ganz auf der Demokratie also durch Religion zu mehr in der die Diesseitigkeit dieser Welt verpflichtet ist. Lage seien als nur zum Höchstmaß an Eigennutz als Ziel von Freiheit. Wenn aber die Vielzahl der Religionen (und auch die innere Verfassung der Kirchen) solche Wirkungen nicht mehr sicher sein „Neue Muster von ‚Religion und lassen, müsste entweder die Stellung der Religion Öffentlichkeit’ sind keine kleine insgesamt zurückgeschnitten werden oder zwi- Aufgabe, aber eine, die sich loh- schen Religionen stärker als bisher unterschieden nen kann.“ werden: Religionsgemeinschaften wären danach entweder nur noch als Teil der vielstimmigen Ge- sellschaft einzuordnen oder es käme zukünftig auf eine irgendwie geartete „Verfassungsnähe“ der Religionsgemeinschaften an, um ihnen bestimmte Vorrechte zu belassen. Ein Beispiel dafür kann der Religionsunter- richt sein, der laut Grundgesetz als ordentliches Eine optimistischere Lesart der Veränderungen Unterrichtsfach in der öffentlichen Schule „nach geht dagegen von der Grundüberzeugung aus, den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ dass Diversität und Vielfalt des religiösen Feldes erteilt wird – also keine staatliche Religionskun- geradezu ein planmäßiges Ergebnis des Religions- de, sondern das Geheimnis des Glaubens als Teil verfassungsrechts sein können – jedenfalls aber des staatlichen Schulangebots – dann aber nicht kein Grund, an seinen Grundlagen zu zweifeln. (mehr) beschränkt auf katholischen und evange- Unzweifelhaft ist „Religion als öffentlicher Faktor“ lischen Unterricht, sondern als prinzipielle Be- dann aber dennoch anstrengender für alle Be- grenzung staatlicher Steuerung und Bestimmungs- teiligten, als dies ursprünglich der Fall war: Denn macht, in vielfältigen Formen der Kooperationen, man kann zum Beispiel schon nicht mehr voraus- nicht als Gegnerschaft zum demokratischen Staat, setzen, dass kulturelle Codes allseitig bekannt sondern als prozedurale Partnerschaft in Verschie- sind. Vom Feiertagsrecht über die Trägervielfalt denheit. In diesem Sinn wären neue Muster von des Sozialstaats und den Religionsunterricht bis „Religion und Öffentlichkeit“ keine kleine Aufgabe, zu den Beteiligungsrechten in Rundfunkanstalten aber eine, die sich lohnen kann. muss alles neu durchdacht und gegebenenfalls auch verhandelt werden, weil die ursprüngliche Identität von Religion und Staatsbürgerschaft weg- gefallen ist. Neue Muster von „Religion und Öffentlichkeit“ Wenn sich eine solche Anstrengung lohnen soll, müsste auf einer neuen, mittleren Abstraktions- höhe formuliert werden können, warum „Religion in der Öffentlichkeit“ sich lohnt. Wir sind es seit 50 Jahren gewohnt, auf diese Frage mit dem Wort Prof. Dr. Hinnerk Wißmann von Ernst-Wolfgang Böckenförde zu antworten, Westfälische Wilhelms- wonach der freiheitliche Verfassungsstaat von Vor- Universität Münster Professor für Öffentliches aussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren Recht, kann – und dass er dieses Wagnis um der Freiheit Verwaltungswissenschaften, Kultur- und Religions- willen eingegangen ist. In seiner ursprünglichen verfassungsrecht, Version („1.0“) war das Wagnis letztlich begrenzt, Mitglied des Exzellenzclusters weil es ja eben von der großen Schnittmenge von „Religion und Politik“ 15
„NOSTRA AETATE“ DAS KONZILSDOKUMENT ALS WEGWEISENDE BASIS DES CHRISTLICH-INTERRELIGIÖSEN DIALOGS Interreligiöser Dialog ist für die katholische Kir- besonders auch Johannes Paul II. ein wichtiges che nicht nur ein wesentlicher Beitrag zum Frie- Anliegen. Nachdem man über Jahrhunderte vor den unter den Völkern. Er ist eine Konsequenz allem die Unterschiede zwischen dem Christen- aus unserem christlichen Glauben und damit tum (und näherhin der katholischen Kirche) und zugleich seine Bezeugung in der Welt. den anderen Religionen hervorgehoben hatte, ver- sucht NA nun einen neuen, wertschätzenden Blick auf Gemeinsamkeiten zu richten (die genauen Be- von Pfarrer Dr. Ludger Kaulig obachterinnen und Beobachtern auch zuvor kaum entgangen sein dürften). Hintergrund und Perspektivwechsel Unter dem Eindruck des Holocaust fällt beim Begründungen 2. Vatikanischen Konzil die Entscheidung, ein Der Mensch klärendes Wort zum Verhältnis der Kirche zu den Die theologische Begründung setzt dabei zu- Juden zu sagen. Der rassistische Antisemitismus nächst nicht bei den Religionen, sondern beim unterscheidet sich zwar vom religiös motivierten, Menschen an: Gott ist der Schöpfer und das der genauer „Antijudaismus“ genannt werden Ziel aller Menschen und begleitet sie durch die müsste und wenigstens ursprünglich die Taufe von Zeit. „Einheit und Liebe unter den Menschen Juden zum Ziel hatte, aber er bedient sich bei den und damit auch unter den Völkern zu fördern“ gleichen Vorurteilen, Mythen und Verschwörungs- (NA 1), ist daher der Rahmen des christlichen theorien, die Hass, Diskriminierung und oft töd- Auftrags in der Welt. liche Verfolgung fördern und kann nahtlos darauf aufbauen. Entsprechend unterscheidet das Konzil Die Verkündigung des Evangeliums nicht zwischen diesen Formen. Es erkennt seine Manche kennen noch die alten Bilder, die Verantwortung an, indem es diesem Hass die den Hl. Bonifatius darstellen, wie er bei der Möglichkeit nimmt, sich weiterhin auch aus der Germanenmission die (oder wenigstens eine) christlichen Glaubenslehre zu begründen. Wotanseiche fällt und damit in jeder Hinsicht die Überlegenheit des Christentums machtvoll Schon bald wird klar, dass diese vor allem demonstriert. Vor allem jene Ordensgemein- europäische Perspektive in einer globalen Kirche, schaften, die antraten, muslimisch geprägte die sich immer deutlicher der Vernetzung aller Regionen unserer Welt zu missionieren, durften Menschen bewusst wird, um den Blick auf alle feststellen, dass das so einfach nicht geht. Sie Religionen ergänzt werden muss. Es entsteht die trafen vielmehr auf Menschen, die auch theo- „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den logisch mit ihnen auf Augenhöhe sprechen und nichtchristlichen Religionen“, wie alle Konzilsdo- beeindruckende spirituelle Erfahrungen auf- kumente kurz nach den ersten beiden Worten des weisen konnten. Mehr als bei vielen anderen lateinischen Textes benannt: „Nostra aetate“ („In Religionen zeigten sich dank gemeinsamer unserer Zeit“, abgekürzt: NA + Abschnittnummer). Wurzeln auch viele Gemeinsamkeiten in den Die hier gebündelten Einsichten setzen sich fort Früchten des Glaubens. Aus dieser Erfahrung im Lehramt der Päpste seit Paul VI. und waren nährt sich NA 3, der Abschnitt, der sich speziell 16
mit unserer Beziehung zu den Muslimen be- Konsequenzen fasst. Das weckt Erinnerungen: Zeigte sich Interreligiöser Dialog meint, auf der Basis eines nicht besonders in den ersten christlichen freundlich-wertschätzenden Umgangs miteinan- Jahrhunderten aber auch später immer wieder, der, voreinander (!) zu bezeugen, aus welchem dass die Verkündigung des Evangeliums immer Glauben wir jeweils leben, die Gemeinsamkeiten dort besonders fruchtbar und nachhaltig ist, wo zu heben und – wo möglich – gemeinsam daraus sie nicht auf unlautere Machtmittel zurück- zu handeln, um Gottes Liebe zu den Menschen zu greift? Entsprechend wenden sich die Konzils- bezeugen. Die Motivation dafür liegt für uns Chris- texte über die Religionsfreiheit und über die tinnen und Christen in unserem eigenen Glauben, christliche Mission gegen jede Verbindung der nicht aus Gründen oder Gegengründen, die von Verkündigung des Evangeliums mit dem Zwang außen an uns herantreten. Anders zu handeln, ist zur Bekehrung. Wer den Glauben an Christus deshalb eine Verdunklung unseres Glaubens, ein bezeugt, soll das entsprechend auf Augenhöhe Zeugnis des Misstrauens gegenüber dem Weg der tun, sich den Menschen liebevoll zuwenden Liebe Jesu. und dieses Leben mit ihnen teilen. Dabei zeigt sich immer wieder Gottes Spur im Leben und Glauben aller Menschen. Diese Spur gilt es auf- zunehmen und zu stärken. Jesus Christus Im Kern heißt das zweierlei: Der Hl. Geist, Gott, wirkt auch in vielen Kulturen und Religionen. Vor allem aber: Wir wissen um die unendliche Liebe Gottes zu den Menschen, weil er für sie alle in Jesus Christus sogar Leiden und Tod auf Pfarrer Dr. Ludger Kaulig Leitender Pfarrer in Ahlen sich genommen hat (NA 4). Das ist unser Maß- Bischöflicher Beauftragter stab. Ausdrücklich zitiert NA 5: „Wer nicht liebt, für den Islam kennt Gott nicht“ (1 Joh 4,8). kaulig-l@bistum-muenster.de 17
WACHSENDES GEGEN- SEITIGES VERTRAUEN DER CHRISTLICH-JÜDISCHE DIALOG Die Konzilserklärung Nostra Aetate von 1965 mit Zentralkomitee der deutschen Katholiken, um ihrer – geradezu revolutionären – Änderung der die Impulse der Konzilserklärung in die Kirche zu katholischen Lehre in Bezug auf das Judentum tragen. Weitere institutionelle Verankerungen, die schaffte die Basis für den christlich-jüdischen Aufnahme vollständiger Beziehungen zwischen Dialog, wie wir ihn heute kennen. Zum ersten dem Vatikan und Israel und viele Begegnungen Mal wurde offiziell nicht nur der Antisemitismus und Zusammenarbeit schufen eine Atmosphäre, verurteilt, sondern die bleibende Erwählung des die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten den jüdischen Volkes und seine Bedeutung als Wur- Dialog weiter vertiefte. So entstand auf jüdischer zel des Christentums anerkannt. Das Judentum Seite das Vertrauen darauf, dass die Neuausrich- wurde nicht länger als verworfen betrachtet und tung der Kirche nachhaltig und unveränderbar ist. die Substitutionslehre sowie der Gottesmordvor- Im Jahr 2000 veröffentlichte zum ersten Mal eine wurf abgelehnt. Nostra Aetate war ein Meilen- Gruppe jüdischer Akademikerinnen, Akademiker stein in der Entwicklung des Dialogs und wirkte und Rabbiner eine Erklärung zum Christentum weit über die katholische Kirche hinaus auch in unter dem Titel Dabru Emet („Redet Wahrheit“).1 andere christliche Kirchen hinein. Sie wurde auf christlicher Seite sehr positiv aufge- nommen, auch wenn es auf jüdischer Seite Kritik an einigen Formulierungen gab. Für manche war von Dr. Jehoschua Ahrens sie zu amerikanisch und liberal geprägt. Der Beginn eines christlich-jüdischen Dialogs in Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten Deutschland Immer wieder kam es zu Kontroversen im 1971 gründeten engagierte katholische Gläu- christlich-jüdischen Dialog. In der jüngeren Ver- bige mit jüdischen Partnerinnen und Partnern gangenheit gab es verschiedene Streitpunkte den Gesprächskreis Juden und Christen beim während des Pontifikats von Benedikt XVI. und 18
ebenso nach seinem Rücktritt vom Amt des die klare Ablehnung der sogenannten Judenmis- Papstes. Insbesondere die Neuformulierung der sion in der katholischen Kirche im vatikanischen Karfreitagsfürbitte 2008 und die Aufhebung der Papier. Beide jüdisch-orthodoxen Erklärungen Exkommunikation von vier Weihbischöfen der erinnern an die schwierige Beziehung zwischen umstrittenen Pius-Bruderschaft 2009 führten zu Christen und Juden in der Vergangenheit, an- immenser Kritik von jüdischen Verbänden und erkennen die Änderungen in den Kirchen, be- lösten auch innerkatholisch eine Debatte aus. zeichnen christliche Gläubige als „Brüder“ und Kardinal Walter Kasper, zu diesem Zeitpunkt „Partnerinnen“ und wünschen sich eine Vertie- Präsident der Vatikanischen Kommission für die fung des Dialogs. Die Erklärung von 2015 würdigt religiösen Beziehungen zu den Juden, konnte die in Anknüpfung an die mittelalterlichen Lehrer Situation zwar etwas entspannen, aber Benedikt Maimonides und Jehuda ha-Levi das Christen- XVI. wurde seitdem von jüdischer Seite äußerst tum als „göttlich gewollt und ein Geschenk an die kritisch beäugt. Mit seinem Aufsatz „Gnade und Völker“. Berufung ohne Reue“ in der theologischen Zeit- schrift Communio (47/2018, 387-406) geriet der Der Dialog ist zweifellos in einer neuen Phase emeritierte Papst 2018 erneut in die Kritik. Letzt- und hat eine besondere Qualität und Stärke be- lich konnten alle Kontroversen entschärft werden. kommen. Davon zeugte etwa auch die gemeinsa- Das macht deutlich, dass der katholisch-jüdische me Fachtagung der Deutschen Bischofskonferenz Dialog mittlerweile so gefestigt ist, dass er selbst und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz vom bei großen Meinungsverschiedenheiten zu keiner November 2019. Zeit ernsthaft in Gefahr ist. Ausblick Das Jubiläumsjahr von Nostra Aetate 2015 Der stetig gewachsene Dialog in den letzten Jah- Mitentscheidend für die Stärke des christlich-jüdi- ren hat es geschafft, die traditionellen Konfliktli- schen Dialogs heute war das 50. Jubiläum von nien zu überwinden, ohne die jeweiligen eigenen Nostra Aetate. Zunächst bekräftigte der Vatikan Glaubenswahrheiten zu relativieren. Bischof Ul- im Jubiläumsjahr nochmals seine Position mit rich Neymeyr, Vorsitzender der Unterkommission dem Dokument „Denn unwiderruflich sind Gnade für die religiösen Beziehungen zum Judentum der und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29) – Deutschen Bischofskonferenz, bemerkte treffend, Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in dass „auch aus jüdischer Sicht das christlich-jüdi- den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass sche Verhältnis ein besonderes ist und zwar aus des 50jährigen Jubiläums von „Nostra aetate“ theologischen Gründen.“ (Nr. 4), das insgesamt von jüdischer Seite sehr Jüdische und christliche Gläubige, die Kirchen und positiv aufgenommen wurde. Am 20. April 2015, die jüdischen Gemeinden erkennen zunehmend, also genau 50 Jahre nach Beschluss von Nostra dass wir gemeinsam als Menschen des Glaubens Aetate, besuchte zum ersten Mal eine offizielle und des guten Willens zusammenarbeiten müs- Delegation der Conference of European Rabbis sen, um Gott und die gemeinsamen religiösen (CER), des orthodoxen europäischen Rabbinerver- Werte in unserer Gesellschaft zu erhalten und zu bands, Papst Franziskus in einer Audienz. Leiter fördern. der Delegation waren der CER-Präsident Rabbiner Pinchas Goldschmidt, Oberrabbiner von Moskau, und Rabbiner Haim Korsia, Oberrabbiner von Frankreich. Das Jubiläumjahr gab den Anstoß zu zwei orthodox-jüdischen Erklärungen zum Chris- Dr. Jehoschua Ahrens tentum, „Den Willen unseres Vaters im Himmel Rabbiner Director Central Europe tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden Center for Jewish-Christian und Christen“ (Dezember 2015) und „Zwischen Understanding and Cooperation, Jerusalem und Rom“ (August 2017). Hintergrund Jerusalem Mitglied der Orthodoxen Rabbiner- war die weitere Vertiefung des Dialogs zwischen konferenz Deutschland den Kirchen und der jüdischen Orthodoxie sowie jjbahrens@gmx.de 1 Diese und die folgenden Stellungnahmen zum jüdisch-christlichen Dialog aus jüdischer Perspektive können eingesehen werden unter: URL: https://www.jcrelations.net/de/stellungnahmen.html. (zuletzt abgerufen am 17.02.2021). 19
ZUSAMMENLEBEN IST MEHR ALS KOEXISTENZ EINE WÜRDIGUNG VON INTERRELIGIÖS ORIENTIERTEN ERKLÄRUNGEN ZUR GESELLSCHAFTLICHEN VERANTWORTUNG 20
Mit der gemeinsamen Erklärung von Abu Dhabi über die Geschwisterlichkeit aller Menschen“ von und der Enzyklika „Fratelli Tutti“ betonen Groß- Abu Dhabi3 ist der Beginn einer neuen Phase, in imam At-Tayyib und Papst Franziskus die gesell- seiner Bedeutung zu vergleichen mit dem Frie- schaftliche Notwendigkeit einer interreligiösen densgebet von Assisi 1986.4 Nicht nur in seinem Solidarität. Damit zeigen sie: Der Interreligiöse Inhalt, sondern vor allem in seiner Entstehung ist Dialog betrifft nicht nur die jeweilige Religion, es ein interreligiöses Ereignis: Durchaus vor dem sondern auch die Zivilgesellschaft. Hintergrund der politischen Interessenkonstella- tion zwischen den Vereinigten Arabischen Emira- ten und Ägypten, die jüngst zum Friedensvertrag von P. Dr. Tobias Specker SJ mit Israel führte, wirkt Papst Franziskus mit der religiös-sunnitischen Autorität der al-Azhar Uni- Es ist eine einfache, aber erstaunliche Einsicht, versität und des emiratischen Muslim Council of die die Adyan-Stiftung, ein profiliertes interreligi- Elders, personifiziert im Großimam Ahmed at- öses Dialog- und Forschungszentren im Libanon, Tayyib und in der prägenden Gestalt des Scheich formuliert. Sie skizziert in einer umfassenden ibn Bayyah, zusammen. Diese Konstellation Auswertung von nahöstlichen interreligiösen schlägt sich auch in der Enzyklika „Fratelli Tutti“5 Dialoginitiativen, dass sich die Ziele und Themen nieder, die Abu Dhabi ausführlich als Inspirations- des Dialogs von theologischen Kernthemen über quelle heranzieht. Die grundlegende gesell- die politisch motivierte Gewaltfrage hin zu ge- schaftspolitische Bedeutung beider Dokumente meinsamen sozialen und zivilgesellschaftlichen liegt darin, dass sie ausdrücklich gegen eine Anliegen entwickelt hat, so dass besonders für selbstbezügliche, abgrenzende und separative jüngere Aktivistinnen und Aktivisten der Dialog Form religiöser Identität antreten. Eine Ver- der Ort ist, ihre gesellschaftlichen Anliegen und bundenheit, die mehr ist als nur funktionales Visionen zu artikulieren. soziales Networking und anderes als eine Allianz starker durchsetzungsfähiger Individualisten, Diese Entwicklung ist keineswegs auf den prägt ihre gesellschaftliche Vision: Verbunden- Nahen Osten beschränkt: Auch im deutschspra- heit entspringt der Zerbrechlichkeit menschlicher chigen Kontext kann man eine Linie von einer Existenz und dem Aufeinander-Angewiesensein. ersten Phase der Anwaltschaft für die religiösen Gesellschaftspolitisch konkretisiert sich diese An- Bedürfnisse der Minderheitenreligionen über gewiesenheit darin, dass Christen und Muslime eine Phase des wechselseitigen Kennenlernens als gleiche Bürger eines Staates betrachtet wer- der jeweiligen religiösen Eigenheit hin zu einer den. Dieser Punkt ist eine nicht zu unterschätzen- gemeinsamen Verantwortung in gesellschaft- de Errungenschaft, die auch Bewegungen in der lichen Fragen ziehen. Programmatisch nennt islamischen Welt entspricht. der Gesprächskreis Christen und Muslime des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) Bewegung in islamischen Kontexten seine Erklärung von 2012 „Christen und Muslime Wurden in den islamischen Erklärungen des ver- - Partner in der pluralistischen Gesellschaft“.1 gangenen Jahrzehnts wie dem „Common Word“ Die aktuelle Grundtendenz aller Erklärungen ist, von 20076 eher in allgemeiner religiös-theologi- einerseits die religiösen Dimensionen von Kon- scher Hinsicht die religiöse Vielfalt legitimiert flikten ernst zu nehmen, andererseits Religion und der Zusammenhang von Gottes- und als Ressource zur Konfliktlösung und Friedens- Nächstenliebe unterstrichen, so bejahen wichtige stiftung zu sehen. Exemplarisch ist hier die Er- Erklärungen der letzten Jahre, zum Beispiel klärung des genannten Gesprächskreises des ZdK die „Marrakesch“ Erklärung von 20167 und die „Keine Gewalt im Namen Gottes! Christen und „al-Azhar Deklaration“ von 20178, ausdrücklich Muslime als Anwälte für den Frieden“ von 2016 die gemeinsame Staatsbürgerschaft religiöser zu nennen.2 Minderheiten. Sie illustrieren damit ihrerseits die Entwicklung von theologischen zu gesellschafts- Kulminationspunkte: Abu Dhabi und Fratelli politischen Fragen. Sie zeigen jedoch auch, wie Tutti wichtig weiterhin grundlegende theologische 22 muslimische Geistliche aus verschiedenen Diskussionen sind. Während die Marrakesch-Er- Weltregionen sind sich in ihrer gemeinsamen klärung die Staatsbürgerschaft durch den Verweis Stellungnahme von 2019 einig: „Das Dokument auf das ideale islamische Gemeinwesen in Medi- 21
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