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DIE ZEITSCHRIFT FÜR AUSLANDSCHWEIZER APRIL 2009 / NR. 2 Braucht die Schweiz Atomkraftwerke? Schweizer Wirtschaft ist in einer guten Verfassung In Lausanne fährt die erste Metro der Schweiz
EDITORIAL I N H A LT 3 Braucht die Schweiz Atomkraftwerke – und wenn ja, wie viele? I n der schweiz sind derzeit fünf Atomkraftwerke in Betrieb: Beznau I und Beznau II im Kanton Aargau, Mühleberg im Kanton Bern sowie die zwei grösseren Anlagen im solothurnischen Gösgen und im aargauischen Leibstadt. Diese Atom- kraftwerke müssen ihren Betrieb aufgrund gesetzlicher Vorschriften zwischen 2020 und 2045 einstellen. Deshalb läuft die Planung neuer Atomkraftwerke auf Hochtouren, drei Baugesuche sind eingereicht worden, und die hitzigen Diskussionen zwischen Gegnern und Befürwortern der Kernenergie haben bereits mit aller Heftigkeit begonnen. Zur Erinnerung: In zwei heftig umstrittenen Volksabstimmungen haben die Schwei- Eines der Pressebilder des Jahres 2008: Die letzte zerinnen und Schweizer bereits vor Jahren die Weichen in der Energiepolitik gestellt. Am UBS-GV von Marcel Ospel. 23. September 1990 lehnten Volk und Kantone die Volksinitiative «für den Ausstieg aus der Atomenergie» mit 52,9 Prozent Nein-Stimmen knapp ab. Gleichzeitig wurde die 5 Briefkasten Volksabstimmung über das Moratorium «Stopp dem Atomkraftwerkbau» mit 54,4 Pro- zent der Stimmen von Volk und Ständen angenommen. Am selben Tag stimmten Volk 5 und Kantone auch dem neuen Energieartikel in der Bundesverfassung mit 71,1 Prozent Gelesen: Streik in Bellinzona der Stimmen zu. 6 Am 18. Mai 2003 wurden zwei energiepolitische Vorlagen von Volk und Ständen deut- Gesehen: Swiss Press Photo 2008 lich verworfen: die Volksinitiative «Moratorium plus – Für eine Verlängerung des Atom- 7 kraftwerk-Baustopps und die Begrenzung des Atomrisikos» mit 58,4 Prozent Nein-Stim- Energie: Gehen in der Schweiz men und die Volksinitiative «Strom ohne Atom – Für eine Energiewende und schrittweise die Lichter aus? Stilllegung der Atomkraftwerke» mit 66,3 Prozent ablehnenden Stimmen. Damit hielt 10 sich das Volk die Option Atomenergie offen. Wirtschaftskrise: ein Gespräch mit dem Für den Bundesrat und die Energiewirtschaft ist der Fall klar: Sie halten den Bau von Basler Ökonomen Silvio Borner neuen Atomkraftwerken für absolut notwendig. Umweltpolitiker sind hingegen ganz an- derer Meinung und kritisieren die bundesrätlichen Vorschläge für 12/13 Politik Energieeffizienz und erneuerbare Energien als «mutlos». Sie set- zen ihre ganze Hoffnung auf eine grüne Zukunft mit staatlich ge- förderten erneuerbaren Energien und mit der Kohlendioxid-Steuer Regionalseiten auf fossilen Brenn- und Treibstoffen. Sicher ist, dass das Potential von alternativer Energie noch bei 14 Weitem nicht ausgeschöpft ist und auch nach wie vor sehr viel Aus dem Bundeshaus Strom eingespart werden könnte. Ob der Strombedarf der Zukunft 16 Heinz Eckert ohne Atomkraftwerke gedeckt werden kann und soll, ist auch eine Lausanne hat die erste Metro der Schweiz Glaubensfrage. Während die Befürworter der Atomenergie sich nicht nur für die «sau- 18 berste Energie» einsetzen und selbst das Problem der Endlagerung des Atommülls als Erlebnis Schweiz gelöst betrachten, sehen die Gegner gerade im hoch radioaktiven Abfall ein Problem für die Menschheit schlechthin. 20 ASO-Informationen Die Frage, ob und wie viele Atomkraftwerke die Schweiz braucht, wird die Bevölke- rung emotional beschäftigen und teilen, solange sie im Sinne der Energieversorgung 23 gestellt werden muss. Sicher ist, dass Strom gespart und alternative Energie in allen Be- Echo reichen intensiv gefördert werden muss. Beim schier masslosen Energiekonsum wird die Politik aber kaum darum herumkommen, den Bau von neuen Atomkraftwerken zu be- Titelbild: Die Staumauer Cavagnoli staut den See willigen. Die Zeit seit dem Moratorium wurde in der Schweiz leider viel zu wenig genutzt, Lago dei Cavagnöö bei Fusio im Kanton Tessin. Hinten befindet sich der Stausee Lago di Robiei. Alternativen zur Atomenergie auf breiter Basis zu fördern. HEINZ ECKERT, CHEFREDAK TOR Foto: Keystone S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 IM P R E S S U M : «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, erscheint im 36. Jahrgang in deutscher, französischer, italienischer, englischer und spanischer Sprache in 14 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 408 000 Exemplaren. Regionalnachrichten erscheinen viermal im Jahr. ■ R E DA K T I O N : Heinz Eckert (EC), Chefredaktor; Rolf Ribi (RR); René Lenzin (RL); Alain Wey (AW); Rahel Schweizer (RS), Auslandschweizerdienst EDA, CH-3003 Bern, verantwort- lich für «Aus dem Bundeshaus». Übersetzung: CLS Communication AG ■ P O S T A D R E S S E : Herausgeber/Sitz der Redaktion/Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, CH-3006 Bern, Tel. +4131356 6110, Fax +4131356 61 01, PC 30-6768-9. Internet: www.revue.ch ■ E - M A I L : revue@aso.ch ■ D RUC K: Zollikofer AG, CH-9001 St.Gallen. ■ A D R E S S Ä N D E RU N G: Bitte teilen Sie Ihre neue Adresse Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit und schreiben Sie nicht nach Bern. ■ Alle bei einer Schweizer Vertretung immatriku- lierten Auslandschweizer erhalten das Magazin gratis. Nichtauslandschweizer können das Magazin für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 25.–/ Ausland: CHF 40.–). Abonnenten wird das Magazin manuell aus Bern zugestellt. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 9.2.2009
BRIEFKASTEN GELESEN 5 Streik in Bellinzona – ein Kanton revoltiert Nicht nur Auslandschweizer und Nonprofit-Organisationen Der einmonatige Streik im Industriewerk der Schweize- profitieren spenden. Das sind alles Gelder, rischen Bundesbahnen in Bellinzona gehörte zu den heraus- Ich lebe seit 18 Jahren auf der die sonst der Staat oder die ragenden Ereignissen im schweizerischen Politjahr 2008. Am Osterinsel in Chile. Mit grossem Allgemeinheit aufbringen müsste. 7. März traten die rund 400 Angestellten der «Officine» in ei- Interesse lese ich die «Schweizer Ich glaube, kein Steuergesetz nen unbefristeten Ausstand, um gegen die aus ihrer Sicht Revue», um mit meinem Heimat- könnte einen Ausgleich zwischen ungerechten und falschen Restrukturierungsbeschlüsse der land verbunden zu bleiben. Arm und Reich erzielen, etwas SBB zu protestieren. Politiker aller Couleurs und praktisch Die «Schweizer Revue» in spa- mehr Mitgefühl für die Armen die ganze Kantonsbevölkerung stellten sich in einer ein- nischer Sprache liegt bei mir auf jedoch schon. drücklichen Solidaritätsbewegung hinter die Streikenden dem Tisch und alle Besucher, E. HAUSKNOST, MONTREAL, KANADA und ihre ebenso leidenschaftliche wie klassenkämpferische sogar Kinder, blättern darin und Protestaktion. «Giù le mani dalle officine» – «Hände weg vom lesen mit grossem Interesse, was Mehr als nur ein Newsletter Industriewerk» hallte als Leitspruch tausendfach durch die in dem berühmten Alpenland vor Die «Schweizer Revue» ist ganze Südschweiz und auch in den Rest der Schweiz. Am sich geht. mehr als nur ein Newsletter. Sie 19. März zogen Tausende von Tessinern nach Bern, um ihren Die jährlichen Ausgaben gebe ist eine Zeitschrift, extra gemacht Protest in die Bundesstadt zu tragen. Auf den Tag genau ei- ich gebündelt der Schulbiblio- für die 700 000 Auslandschwei- nen Monat nach Streikbeginn beendeten die Bähnler den Aufstand, thek der Osterinsel weiter, wo zer. Sie ist keine beliebige Tages- nachdem die SBB ihre Restrukturierungspläne zurückgezogen hat- über 1000 Schüler davon profi- oder Wochenzeitung. Die ten. Seither wird an einem runden Tisch über die Zukunft des tieren können. «Schweizer Revue» ist eine Zei- Industriewerks diskutiert. Ziel ist es, die «Officine» zu erhalten Die «Schweizer Revue» wird tung extra für mich; mit Informa- und gleichzeitig ihre Wirtschaftlichkeit deutlich zu verbessern. nicht nur von den 10 Prozent tionen, die mich als Ausland- Der Radiojournalist und Hörspielautor Hanspeter Gschwend Schweizer Staatsangehörigen im schweizer, als Vereinspräsident hat eine lesenswerte Chronik über die bewegten und bewegenden Ausland gelesen, sondern auch und als Mitglied des Ausland- Tage des Streiks vorgelegt. Als Reporter hat Gschwend die Ereig- von deren Bekannten und Freun- schweizerrates betreffen. Ich nisse stets an vorderster Front begleitet. Daraus ergab sich ein rei- den im Gastland. Mit der Verla- kann die Zeitschrift nutzen, um cher Fundus an Tonaufnahmen und anderen Materialien, die er für gerung aufs Internet verlieren all mich zielgerichtet und konzent- sein Buchprojekt verwenden konnte. Darüber hinaus hat Gschwend die interessanten Informationen riert mit anderen Schweizern nach dem Streik Gespräche mit den wichtigsten Akteuren geführt ihren Wert, da sie von Bekannten im Ausland auszutauschen. und die Berichterstattung anderer Medien durchforstet. von Auslandschweizern nicht Ich bin enttäuscht, dass die ver- Entstanden ist ein Buch, das Fakten und Hintergründe darlegt. mehr gelesen werden können und schiedenen Resolutionen in dem Gschwend erhellt die historischen Wurzeln der Streikbewegung und somit verschwindet die Schweiz Zusammenhang nicht mehr die unmittelbare Vorgeschichte des Ausstandes ebenso wie die immer mehr von der Bildfläche. bewirken konnten. komplexen Beziehungen zwischen den Angestellten des Werks, der Es ist geradezu lächerlich, A. HAUENSTEIN, MERZENICH, Streikleitung, der Gewerkschaften, den Politikern aller Ebenen, der wenn die Parlamentarier 500 000 DEUTSCHL AND Kirche und der Bevölkerung. Über 100 Bilder, fünf Kurzporträts Franken «sparen» und gleichzei- Ohne Elektronik von Streikenden und eine tabellarische Chronologie runden das tig Milliarden für Unternehmen Mit grossem Interesse lese ich Buch ab, das auf Deutsch und Italienisch erschienen ist. gutschreiben, die ganze Staaten die «Schweizer Revue», die mich Gschwend schreibt aus der Warte des kritischen Sympathi- in den Ruin treiben. mit guten und vielseitigen Infor- santen. Mit viel Empathie erforscht er die Motive, die Wut und die J. W. SCHMID, HANGA ROA, CHILE mationen versorgt. Die Zeit- Ängste der Streikenden und ihrer Angehörigen. Er zeigt aber auch schrift wird mir von der Elfen- auf, wie die Streikleitung unter Gianni Frizzo die Stimmung immer Arm und Reich in der Schweiz beinküste her zugestellt; sie ist wieder bewusst und gezielt aufgeheizt hat, wenn sie dies für den Der Artikel «Arm und Reich meine einzige Informationsquelle Erfolg der Aktion als nötig erachtete. Das gilt insbesondere für den im Schweizerland» der Dezem- aus der Schweiz. Beginn des Streiks. Als Nicolas Perrin, der Direktor von SBB Cargo, ber-Ausgabe ist sehr aufschluss- Im Norden des Niger, wo ich den Angestellten die Restrukturierungspläne erläutern wollte, reich, aber eigentlich nichts mit Halbnomaden arbeite, wurde er unter Frizzos Regie niedergeschrien und musste die Neues. Es liegt in der Natur des kommt die Elektronik noch nicht «Officine» fluchtartig durch einen Hintereingang verlassen. Solch Kapitalismus, dass sich über hin. Alle zehn Wochen fahre ich beängstigende Momente beschreibt Hanspeter Gschwend genau so Jahre die Extreme polarisieren nach Maradi, wo Post auf mich treffend wie die zahlreichen Happenings, De- auf Kosten der Mitte. Ein Aspekt wartet. Für viele Auslandschwei- monstrationen und Solidaritätsaktionen, die der Reichen und Superreichen zer mag die elektronische Zustel- den Streik einen Monat lang begleitet haben. wurde hingegen nicht aufgegrif- lung der Zeitschrift einfacher und RENÉ LENZIN S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 fen. Im Allgemeinen klagt der schneller sein, für mich ist sie un- Mittelstand darüber, dass die möglich. Deshalb danke ich Ihnen Hanspeter Gschwend, STREIK IN BELLINZONA – Reichen nicht mehr Steuern be- herzlich, wenn Sie mich auch in ein Kanton revoltiert. Verlag Huber, Frauenfeld 2008, zahlen, ohne zu berücksichtigen, der Zukunft mit der Papierver- 190 Seiten, CHF 36.-, Euro 23.90. Hanspeter Gschwend, SCIOPERO A BELLINZONA – was für Summen diese Super- sion versorgen. S. DÜRRENMATT, il Cantone si rivolta. Rezzonico Editore, Locarno 2008, reichen an Wohltätigkeit, Kunst, MARADI, REPUBLIK NIGER 200 pagine.
6 GESEHEN Swiss Press Photo 2008 Die Jury hat dieses Jahr 1791 Bilder von 135 Fotografen gesichtet und bewertet. Sie wurde dabei von zwei Vertretern aus Deutschland und Frankreich unterstützt, die für die Fotografie in den Magazinen «Stern» und «Geo» zuständig sind. Der Wettbewerb ist eine Plattform für die Schweizer Pressefotografie. Die «Schweizer Revue» zeigt eine kleine Auswahl der prämierten Bilder. Alessandro Della Bella: Bankenkrise. Marcel Ospel, UBS-Chef, tritt nach heftiger Didier Ruef: Bahnarbeiter im Streik. Der Restrukturierungsplan der SBB Cargo Kritik an der Generalversammlung im April zurück. in Bellinzona sieht die Entlassung von 200 Arbeitern vor. Michael Buholzer: Der Kapitän der Schweizer Fussballnationalmannschaft Stefan Wermuth: Roland Nef, Chef Schweizer Armee, tritt im Sommer zurück, Alexander Frei verletzt sich am Euro 08-Eröffnungsspiel gegen Tschechien. nachdem ihm die Medien ein Strafverfahren wegen Nötigung vorwerfen. S C HW EIZER REVU E April 2009 / Nr. 2 Fotos: Swiss Press Photo 08 Charles Ellena: Eine Gegendemonstration stoppt den Marsch der SVP durch Bern Peter Klaunzer: Die Ratslinke applaudiert nach Bekanntgabe der Nichtwahl von und bringt eine streng bewachte Ruhepause für Christoph und Silvia Blocher. Christoph Blocher.
ENERGIE FÜR DIE SCHWEIZ 7 Gehen in der Schweiz die Lichter aus? weise Abschaltung der ältesten Atomkraft- Mahnende Worte von der Elektrizitätswirtschaft: Ohne neue werke ab 2020 und die steigende Stromnach- frage.DazukommtdasAuslaufenlangfristiger Grosskraftwerke kann die Stromversorgung im Land gefährdet Lieferverträge mit Frankreich ab 2018. Für sein. Braucht es wirklich neue Atom- oder Gaskraftwerke, den Verband Schweizerischer Elektrizitäts- oder kann der «grüne» Strom die Energiezukunft sichern? unternehmen (VSE) entsteht eine Strom- lücke von 13 bis 22 TWh (1 Terawattstunde Von Rolf Ribi entspricht 1 Milliarde Kilowattstunden) im Jahr 2022 und von 17 bis 31 TWh für 2035. Das Bundesamt kommt für die gleichen Re- ferenzjahre auf Lücken von 14 bis 17 respek- tive 12 bis 21 TWh. «Gehen in den Schweizer Stuben dereinst die Lichter aus?», fragen sich besorgte Bür- gerinnen und Bürger. Heinz Karrer, Chef beim Stromriesen Axpo, rechnet «im Ex- tremfall mit Versorgungsunterbrüchen» und mit einer höheren Abhängigkeit vom Ausland. «Stromabschaltungen von einzelnen Regi- onen wären katastrophal für das ganze Land», warnt Giovanni Leonardi, Chef des grössten Stromkonzerns Alpiq. Eine «erhöhte Wahr- scheinlichkeit von Stromausfällen» sieht das wirtschaftsnahe Institut Avenir Suisse, «wenn es in den umliegenden Ländern auch an Pro- duktionskapazitäten mangelt». Kontroverse um die Stromlücke Das eingereichte Projekt in Beznau. «Schon der Ausdruck der Stromlücke ist schief», kommentierte die «Neue Zürcher «Die billigste und umweltfreundlichste Flusskraftwerken und Speicherkraftwerken Zeitung». Diese «mechanistische Sicht» ver- Energie ist jene, die nicht gebraucht wird.» in den Bergen und 42 Prozent von den fünf kenne, dass eine Verknappung des Stroman- Das Bonmot von Bundesrat Moritz Leuen- Atomkraftwerken (die restlichen Prozente gebots zu höheren Preisen führen und so die berger ist schon hundertmal in Reden von kommen von der Abfallverwertung, Klein- Nachfrage senken würde. Steigende Energie- Politikern und Managern zum Thema Ener- kraftwerken und von erneuerbaren Ener- preise hätten zudem den «willkommenen gie verwendet worden. Allerdings ohne nach- gien). An der Steckdose sieht die Realität Nebeneffekt, dass bis dahin unwirtschaft- haltige Wirkung: Im Zeitraum von 2000 bis indes anders aus: Weil unser Land im inter- liche Energieträger und Technologien markt- 2006 (neuste Zahlen) ist der gesamte Ener- nationalen Stromhandel aktiv ist, sauberen fähig werden». Der Autor erinnert an den gieverbrauch in der Schweiz um 3,5 Prozent Wasserstrom exportiert und nicht ökolo- marktwirtschaftlichen Leitspruch «Scarcity angestiegen. Den grössten Zuwachs gab es gischen Atom- und Kohlestrom importiert, is the mother of invention». beim Stromverbrauch, nämlich um volle verbleiben nur 34 Prozent Wasserenergie Mit der angedrohten Stromlücke in der zehn Prozent. Seit dem Jahr 1990 ver- gegenüber 60 Prozent Atom- und Kohle- Elektrizitätswirtschaft gehen die grünen Kri- brauchten die Eidgenossen jedes Jahr ein bis strom. tiker hart ins Gericht. Die Schweizerische zwei Prozent mehr elektrische Energie. Die Energie-Stiftung (SES) spricht von einer Gründe sind schnell zur Hand: mehr Men- Lücke in der Stromversorgung? «Panikmache», um die fünf bestehenden schen, mehr wirtschaftliches Wachstum, «Die Versorgung der Schweiz mit fossilen Atomkraftwerke möglichst lange am Netz zu mehr Wohlstand, aber auch Absurditäten Energien, also mit Erdöl und Erdgas, sollte halten. Denn jedes zusätzliche Betriebsjahr wie wartende Kaffeemaschinen, hungrige bis zum Jahr 2020 gesichert sein», sagte über die erlaubte Laufzeit hinaus führe zu Elektroheizungen und der Stand-by-Leer- Walter Steinmann, Direktor des Bundes- hohen Mehreinnahmen. Und so tönt es beim lauf vieler elektrischer Geräte. amtes für Energie. Und das gelte bis zu je- WWF Schweiz: «Es geht den Stromkonzer- Die gesamte Energieversorgung der nem Zeitpunkt auch für die Versorgung mit nen mehr um das lukrative Spitzenstrom-Ge- S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 Schweiz von 2006 zeigt dieses Bild: Vier elektrischer Energie. Beim Blick in die Zu- schäft mit dem Ausland als um die Sicherung Fünftel entfallen auf fossile Brenn- und kunft orten wirtschaftsnahe Kreise und das der schweizerischen Stromversorgung.» Treibstoffe für Heizwärme, industrielle Pro- zuständige Bundesamt für die Zeit nach Die Schweiz ist in der Tat eine Dreh- zesswärme und den Verkehr, ein Fünftel wird 2020 eine Lücke zwischen inländischer Pro- scheibe des europäischen Stromhandels. Al- Foto: Keystone vom Strom gedeckt. Rund 53 Prozent der in- duktion und inländischer Nachfrage. Zwei lein die zur Axpo-Gruppe gehörende Elekt- ländischen Stromerzeugung stammen von Faktoren sind dafür massgebend: die schritt- rizitäts-Gesellschaft Laufenburg (EGL)
8 ENERGIE FÜR DIE SCHWEIZ verschob im Geschäftsjahr 2007 insgesamt Vorhaben in unserem Land – Atomkraft- heit getragen. «Der Kraftwerkbetreiber wird 67 Milliarden kWh Strom – mehr als die werke wie atomare Endlager – unterliegen subventioniert, so dass die Kernenergie ge- Schweiz in einem Jahr verbraucht. Mit güns- einem langen gesetzlichen Verfahren. genüber anderen Energieformen bevorzugt tiger Energie aus Atomkraftwerken wird wird», attestiert die atomfreundliche Avenir Wasser in die hoch gelegenen Speicherseen Sicherheit und Haftung Suisse. gepumpt und die so gewonnene Spitzenener- Fragen zu den geplanten Atomkraftwerken gie zu teureren Preisen verkauft. «Der gibt es manche – vor allem zur Sicherheit Ungelöstes Abfallproblem Stromhandel ist zweifellos ein gutes Ge- und zur Endlagerung der radioaktiven Ab- Die Entsorgung radioaktiver Abfälle ist das schäft», sagte Axpo-Chef Heinz Karrer. fälle. Kardinalproblem der Atomenergie. Seit der Europas Strom aus Atom: Realität und Zukunft. Alternative Energieproduktion. Umstrittene Atomenergie Wenn es um die Sicherheit von Atomkraft- zivilen Nutzung der Atomkraft haben sich Fünf Atomkraftwerke sind in der Schweiz werken geht, streiten sich Gegner und Be- weltweit 300 000 Tonnen hoch radioaktiven im Betrieb – die kleineren Anlagen von Bez- fürworter besonders heftig. In der Schweiz Materials angesammelt (davon 2000 Tonnen nau I und Beznau II im Kanton Aargau so- gilt die gesetzliche Regel, dass das Risiko für waffenfähiges Plutonium), und mehr als wie Mühleberg im Kanton Bern und die zwei einen Schaden im Reaktorkern pro Betriebs- 10 000 Tonnen kommen jedes Jahr neu dazu. grösseren Werke im solothurnischen Gös- jahr nicht höher sein darf als 1 zu 100 000. Weltweit ist noch kein geologisches Tiefen- gen (970 Megawatt Leistung) und im aar- Neue Anlagen der «dritten Generation» (wie lager für hoch aktive Abfälle in Betrieb. Der gauischen Leibstadt (1030 MW). Die ge- sie bei uns geplant sind) müssten sogar eine grösste Teil des Atommülls strahlt in Was- setzliche Laufzeit dieser Werke endet Kernschmelze, den grössten möglichen Un- serbecken von «Zwischenlagern» nahe den zwischen 2020 und 2045. Nicht weniger als fall, bewältigen können, erklärte Anton Reaktoren. Die Lagerung hoch aktiver Ab- drei Gesuche für neue Atomkraftwerke sind Treier von der Hauptabteilung des Bundes fälle aus Atomkraftwerken muss auf einen im letzten Jahr auf dem Tisch von Energie- für die Sicherheit von Kernanlagen. Aber es Zeithorizont von einer Million Jahre ausge- minister Leuenberger gelandet: Der Strom- könne «nicht vollständig garantiert werden, legt sein, die Entsorgung schwach- und mit- riese Atel will Gösgen II bauen, die Strom- dass es bei einem schweren Störfall zu keiner telaktiver Abfälle auf 10 000 Jahre. «Für so konzerne Axpo und Bernische Kraftwerke Freisetzung von Radioaktivität kommt». lange Zeiträume eine endgültige Lösung fin- planen neue Atommeiler in Beznau und in Die Kernschmelze des Reaktors mit gros- den zu wollen, grenzt an Science-Fiction», Mühleberg. Mit einem neuen Atomkraft- sen Schäden für Mensch und Umwelt wäre meint Jürg Buri von der Schweizerischen werk von 1600 MW Leistung könnten Bez- der «Worst Case» beim Betrieb eines Atom- Energie-Stiftung. nau I und Beznau II sowie Gösgen gleichzei- kraftwerkes. Schweizer Betreiber solcher Nach dem schweizerischen Kernenergie- tig ersetzt werden. Anlagen müssen eine Haftpflichtversiche- gesetz müssen radioaktive Abfälle «grund- Die drei Projekte haben Gemeinsam- rung mit einer Deckungssumme bis zu 1 Mil- sätzlich» im Inland entsorgt werden. Die Su- S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 keiten: den Europäischen Druckwasserreak- liarde Franken abschliessen. Für weiter che nach geeigneten Lagerstätten dauert in tor EPR-3, relativ niedrige Kühltürme ohne reichende Schäden tritt der Bund bis zu unserem Land schon dreissig Jahre. Die Na- grosse Dampfschwaden, Kosten von 6 bis 7 1 Milliarde Franken als Versicherer auf (ge- tionale Genossenschaft für die Lagerung ra- Milliarden Franken, geeignete Standorte und plant ist eine Erhöhung auf 1,8 Milliarden dioaktiver Abfälle (Nagra) hält den Bau eines Bilder: Keystone Akzeptanz bei der Wohnbevölkerung (aus- Franken). Die auf den Bund entfallenden Endlagers für radioaktive Abfälle in rund 600 genommen Mühleberg). Aber alle nuklearen Kosten werden letztlich von der Allgemein- Meter Tiefe im sogenannten Opalinusge-
9 stein für machbar. Gemäss der Regierung ist Millionen Franken. Aber es gibt zwei gewich- 0,8 Prozent von der Erdwärme, aber nur 0,13 damit der gesetzlich verlangte «Entsorgungs- tige Nachteile – die Brennstoffkosten und Prozent von der Sonnenenergie und ganze nachweis» für abgebrannte Brennelemente die Umweltbelastung. 0,004 Prozent von der Windenergie. und hoch aktive Abfälle erbracht. Ziel der Die Brennstoffkosten machen 72 Prozent Nun soll die «grüne Energie» auch bei uns Regierung ist ein Endlager für schwach- und der Produktionskosten aus, was eine hohe gefördert werden. Die Energiepolitik hat das mittelaktive Abfälle bis 2030 und für hoch Abhängigkeit vom Erdgaspreis bedeutet. «Je Ziel gesetzt, mit Sonnenenergie (Photovol- aktiven Müll bis 2040. unsicherer die Gaspreise sind, desto unsi- taik) und Windenergie, Kleinwasserkraft- cherer sind die Preise für Strom» (Avenir werken, Erdwärme und Biomasse bis 2030 Die Nagra im Kreuzfeuer Suisse). Und was ist mit der Versorgung der immerhin zehn Prozent des heutigen Strom- Als die Nagra im vergangenen Herbst sechs Schweiz mit Erdgas, das 12 Prozent des ge- verbrauchs bereitzustellen. Wie in anderen mögliche Standorte für den Atommüll samten Energieverbrauchs abdeckt? «Dank Ländern wird der noch relativ teure Öko- nannte, reagierten alle betroffenen Kantone geografisch breit abgestützter Beschaffung strom künstlich verbilligt: Seit Anfang Jahr und Regionen mit empörtem Widerstand. ist unsere Versorgung gut abgesichert», er- zahlen alle Konsumenten 0,45 Rappen pro Vom Zürcher Weinland bis zum aargauischen klärt Geschäftsleiter Ruedi Rohrbach von Kilowattstunde in einen Fonds, aus dessen Bözberg und zum Jura-Südfuss gab es deut- Swissgas. Das in unserem Land genutzte Mitteln der grüne Strom bei seiner Einspei- lichen Widerspruch. Auch aus Süddeutsch- Erdgas wird zu drei Vierteln in Westeuropa sung in das Strommetz 20 bis 25 Jahre lang land und Vorarlberg kamen ablehnende Re- gefördert, vor allem in Norwegen und den verbilligt wird. Nur mit dieser staatlichen aktionen. Für eine Rahmenbewilligung für Niederlanden. Mit russischen Produzenten Hilfe können neue umweltfreundliche Pro- ein atomares Endlager ist das eidgenössische gibt es keine Lieferverträge, dennoch liegt jekte und Technologien eine Marktchance Parlament zuständig. Bei einem Referendum der Anteil an russischem Erdgas an unseren haben. Das Parlament mit seiner starken liegt das letzte Wort beim Schweizervolk – Gasimporten bei 21 Prozent. Lobby aus der Elektrizitäts- und Atomwirt- kaum vor dem Jahr 2019. Gaskraftwerke belasten die Umwelt mit schaft hat allerdings die Obergrenze dieser Auch wenn die Pläne der Nagra auf Wider- dem Treibhausgas Kohlendioxid. Das Parla- Subvention eng gesetzt. Die verfügbaren 250 stand stossen, eine Anerkennung bleibt ih- ment verlangte die vollständige Kompensa- Millionen Franken waren schon in kurzer ren Fachleuten: Wenn Forscher im Ausland tion dieser Emissionen, namentlich durch Zeit mit Projektgesuchen erreicht. Jetzt nach Endlagern für den Atommüll suchen, den Zukauf von sogenannten Emissionszer- steht eine Erhöhung der Abgabe auf 0,6 Rap- besuchen sie zwei Felskavernen der Nagra tifikaten. Mit dem Ertrag aus solchen Zerti- pen pro Kilowattstunde auf der politischen am Grimselpass und nahe dem mittelalter- fikaten werden kohlendioxidsparende Tech- Traktandenliste. lichen Jura-Städtchen Saint-Ursanne. Ob niken im Inland und Ausland finanziert. Die «Es ist möglich, die ganze Schweiz im nächs- Granit oder Tongestein, beide Gesteins- Kosten für den Kauf von CO2-Zertifikaten ten Jahrzehnt mit erneuerbaren Energien schichten halten die Nagra-Fachleute für sind im Ausland tiefer als im Inland. Bei zu versorgen», erklärt der SP-Nationalrat ideale Tiefenlager mehrere Hundert Meter einem Auslandanteil von 50 Prozent könnte Rudolf Rechsteiner. Mit dem heutigen im Berg. «Die Geologie gibt uns die Sicher- das geplante Gaskraftwerk in Chavalon im System zur Förderung dieser Energien drohe heit für Jahrtausende.» Wallis gemäss dem Stromkonzern EOS ge- die Schweiz aber den Anschluss zu verlieren. Die allfälligen Chancen für neue Atom- baut werden. Der Basler Politiker verlangt die unbe- kraftwerke in der Schweiz beurteilte Ener- Aber auch gegen Gaskraftwerke gibt es schränkte Einspeisung von subventioniertem gieminister Moritz Leuenberger so: «Eine Widerstand. Linke und grüne Kreise setzen Ökostrom in das Netz – wenn nötig mit Mehrheit der Stimmbürger für neue Kern- vorrangig auf erneuerbare Energien, ein Gas- einer eidgenössischen Volksinitiative. kraftwerke wird sich nur bilden, wenn kraftwerk kommt für sie nur beim Verzicht wirklich alles Erdenkliche für die Energie- auf Atomkraft in Frage. Bürgerliche Parteien DOKUMENTATION Urs Meister: Strategien für die Schweizer Elektrizitäts- effizienz und für erneuerbare Energien un- sind zumeist gegen fossile Kraftwerke, weil versorgung im europäischen Kontext. Zürich 2008, ternommen worden ist.» Und: «Eine Volks- sie die Atomenergie fördern wollen. Für den Avenir Suisse (www.avenir-suisse.ch) abstimmung wird schwierig zu gewinnen sein, WWF Schweiz haben Gaskraftwerke «in un- Die Zukunft der Elektrizitätsversorgung in der Schweiz. Zürich 2009, The Energy Consulting Group solange die Problematik der Endlagerung der serer Klimapolitik keinen Platz». (www.the-ecgroup.com/publ.htm) radioaktiven Abfälle nicht gelöst ist.» Schweizerische Energie-Stiftung: Magazin Energie und Umwelt, Zürich 2007/08. Verschiedene Themen Erneuerbare Energien zu erneuerbaren Energien und zur Atomenergie Gaskraftwerke als Lösung? Was leisten in unserem Land erneuerbare (www.energiestiftung.ch) Dokumentationszentrum www.doku-zug.ch Könnte ein Gas-Grosskraftwerk, das Gastur- Energien wie die Wasserkraft und die soge- binen und Dampfturbinen zur Stromerzeu- nannt neuen erneuerbaren Energien von gung nutzt, an die Stelle von Atomkraftwer- Sonne und Wind, Erdwärme und Biomasse? ken treten? Manches spricht für diese Der ökologische Strom aus allen diesen S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 moderne Technologie: Ein hoher technischer Quellen deckt 56 Prozent der gesamten Wirkungsgrad von etwa 55 Prozent, die Stromproduktion, hauptsächlich dank der Kraftwerkgrösse von rund 400 MW, die Pro- Wasserkraft. Auch beim Stromverbrauch ist duktion von Grundlastenergie rund um die der Beitrag der neuen erneuerbaren Ener- Uhr, die kurze Realisierungszeit von nur drei gien mit 5,7 Prozent noch sehr bescheiden – Jahren, die mässigen Baukosten von etwa 380 3,7 Prozent stammen von Holz und Biogas,
10 WIRTSCHAFTSKRISE «Die Schweizer Wirtschaft befindet sich in guter Form» Als die amerikanische Immobilienblase zerplatzte, kam es zur Finanzkrise, welche zur weltweiten Wirtschaftskrise führte. Wie schlimm ist die Krise wirklich? Und welches sind die Folgen für die Schweiz? Wir fragten den Basler Wirtschaftsprofessor Silvio Borner. Interview Heinz Eckert «SCHWEIZER REVUE»: effiziente Instrumente, die man Sind Sie von der Krise damals noch nicht kannte, und überrascht worden? die Währungen sind nicht mehr SILVIO BORNER: Ja. Ei- an den Goldstandard gebunden. gentlich schon. Obwohl uns Auch die Rahmenbedingungen Ökonomen bewusst war, dass es waren ganz anders als heute. Die spekulative Blasen gab, konnte Wirtschaft war noch nicht glo- das Platzen nicht vorausgesagt balisiert, und es ist unklar, wie werden. Auch das Ausmass war die damalige Krise überwunden überraschend. Sonst hätte ich werden konnte. War es wirklich mein bescheidenes Aktien- der New Deal von Roosevelt portefeuille im richtigen Zeit- oder vielleicht doch der Zweite punkt verkauft. Weltkrieg, für den aufgerüstet werden musste? Welche Blasen hat man im Auge gehabt? Wird im Moment übertrieben? Zum Beispiel die Immobili- Viele grosse Schweizer enblase. Dass ihr Platzen aller- Unternehmen befinden sich dings zu einer weltweiten Krise doch in Topform. führen konnte, kam schon sehr Das stimmt schon. Die überraschend. Die Blasen in den SILVIO BORNER Schweizer Wirtschaft ist in einer USA, England und Spanien wa- Silvio Borner, geboren 1941, ist Professor für Nationalökonomie sehr guten Form und wird die ren schon lange bekannt. Ich an der Universität Basel und Leiter der Abteilung Wirtschaft und Krise gut überstehen. Zudem: muss aber immer daran erinnern, Politik am Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum (WWZ), Basel. Wenn die EU für 2009 einen dass wir Anfang der Neunziger- Seit mehr als 30 Jahren lehrt er in Basel Wirtschaft und Politik und Rückgang des Bruttoinlandspro- jahre in der Schweiz auch 100 bezeichnet sich selber als einen der letzten Allrounder des Fachs. dukts (BIP) um 1,9 Prozent prog- Milliarden im Immobilienbe- Er ist ausserdem Mitglied im Leitungsausschuss von Avenir Suisse nostiziert, so dürfen wir nicht reich abschreiben mussten. So in Zürich, VR-Präsident der Patria-Genossenschaft in Basel, und vergessen, dass wir während der gesehen ist das Ausmass der Im- Präsident des Stiftungsrates Helvetia Patria Jeunesse. letzten Jahre immer Zuwachsra- mobilienkrise in den USA im ten von ein bis zwei Prozent ver- Verhältnis gar nicht so gross. Überrascht hat kenkrise geworden, und das ist jetzt das zeichnen konnten. Wir leiden momentan auf die rasche Ausbreitung und die Tiefe der grösste Problem. Wenn es nur um fehlende einem sehr hohen Niveau. Ich finde manch- Krise. Liquidität gegangen wäre, hätten die Noten- mal, man habe von Staates wegen fast zu viel banken das Problem lösen können. Aber die getan und fast panisch reagiert. Man sollte Gibt es Schuldige für die Krise? Banken waren eben in ihrer Substanz getrof- nicht übertreiben. Wir Ökonomen sind keine Moralisten. Ich fen, sie hatten kein Geld mehr und mussten möchte weder von übertriebener Gier noch rekapitalisiert werden. In diesem Fall fehlen Selbst der Präsident der Schweizerischen von Abzockern reden und auch nicht fest- auch die privaten Investoren. Deshalb gin- Nationalbank hat gesagt, die Schweizer stellen, dass die Kontrollen versagt haben. gen ein paar Banken ein, andere wurden vom Wirtschaft werde die Krise sehr gut Das greift alles zu kurz. Es hat immer Finanz- Staat gerettet. überstehen. krisen gegeben und es wird sie immer wieder Abgesehen davon, dass der Nationalbank- S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 geben. Es war einfach so, dass der ganze Fi- Wie tauglich sind die Vergleiche mit der Krise präsident im Moment die Krise nicht mit ne- nanzmarkt mit den verschiedenen Anlage- von 1929? gativen Aussagen schüren darf, stimme ich produkten so gross und kompliziert gewor- Vergleiche mit der ersten Weltwirtschafts- dem zu. Wir haben nicht nur eine starke den war, dass den Verantwortlichen schlicht krise sind nur sehr beschränkt möglich. Da- Wirtschaft, sondern auch keine Immobilien- Foto: Keystone die Übersicht abhanden gekommen ist. mals war ja alles ganz anders. Die Noten- krise. Das Problem fokussiert sich bei uns ei- Schliesslich ist die Finanzkrise zu einer Ban- banken verfügen heute über neue und gentlich nur auf den Finanzsektor.
11 Wie meinen Sie das? spät. Leider. Und dann spielt halt eine grosse Nein, sonst hätten auch die Postkutschen Rückblickend sind wir ja alle gescheiter. Rolle, für was sie eingesetzt werden. Wenn gerettet werden sollen. 1896 wurde die ame- Aber die Schweizer Banken hätten sich im- sie in langfristige Infrastruktur investiert wer- rikanische Börse gegründet. Von den Grün- mer auf ihr Kerngeschäft, die Vermögensver- den, dann ist es gut. Für mächtige Interessen- dungsfirmen besteht heute nur noch Gene- waltung, beschränken müssen. Das können ten sind Konjunkturprogramme jedoch ein ral Electric. Es werden immer wieder grosse sie gut und das gehört zur Swissness, die bei gefundenes Fressen: Endlich können sie ihre Unternehmen verschwinden, wie die Flug- den Grossbanken in den letzten Jahren ver- bisher als unwirtschaftlich abgelehnten Lieb- gesellschaften Pan American oder Trans loren gegangen ist. Der Finanzplatz Schweiz lingsprojekte vom Staat finanzieren oder zu- World Airlines. Nicht nur in den USA. Da- erträgt doch keine zwei Investmentbanken, mindest subventionieren lassen. Wenn das rin sah der österreichische Ökonom Joseph die zu den grössten der Welt gehören. Das Geld in Sozial- oder Ökoromantik investiert Schumpeter als Chance die «schöpferische ist grössenwahnsinnig. Ich möchte die Krise wird, finde ich es nicht gut. Zerstörung». Aus der Basler Seidenband- nicht herunterspielen, aber auch nicht dra- industrie sind ja auch die heutigen Basler matisieren. Wenn die Schweizer Gross- Was meinen Sie damit? Chemiemultis entstanden. banken schrumpfen, kann das für den Fi- Wenn damit beispielsweise Basel zur So- nanzplatz Schweiz nur gut sein. larstadt umfunktioniert werden sollte. Warum verdient denn die Finanzbranche eine Sonderbehandlung? Für Sie als Neoliberaler müssen die staatlichen Die USA haben auch die Autoindustrie Der Zusammenbruch der Finanzbranche Eingriffe der jüngsten Zeit ja ein Gräuel sein. vor dem Konkurs gerettet. Finden Sie diese beinhaltet Systemrisiken; das heisst, die Auch ein Neoliberaler will nicht ohne Staat Intervention denn gerechtfertigt? ganze Wirtschaft könnte Gefahr laufen zu- wirtschaften. Vor allem nicht im Bankge- Das ist eben der Fluch. Die staatlichen In- sammenzubrechen. Es gibt aber auch in der schäft. Nichts ist so stark reguliert wie der terventionen im Finanzsektor haben auch Finanzbranche strukturelle Fehlentwick- Finanzsektor. Das heisst, dass bei der Finanz- den Appetit anderer Branchen geweckt, die lungen, wie das Beispiel UBS zeigt. Es spricht krise auch der Staat versagt hat. Wir brau- in Schwierigkeiten stecken. Wichtig ist je- auch einiges dafür, dass überall redimensio- chen nicht mehr Regulierung, sondern eine doch, dass der Strukturwandel nicht behin- niert werden muss. So muss aufgepasst wer- bessere, effizientere Aufsicht der Banken. dert wird. Der US-Autoindustrie geht es den, dass die staatlichen Feuerlöschaktionen Wer nach mehr Regulierung ruft, darf nicht schon lange schlecht. Ihre Produkte sind die notwendige Strukturbereinigung mittel- vergessen, dass die Banken so kreativ sind, nicht mehr zeitgemäss, von Innovation ist fristig nicht unterbinden. So muss man sich dass sie immer wieder Mittel und Wege fin- keine Spur zu entdecken. Ob sie nun für län- im Nachhinein die Frage stellen, ob die UBS den, um auch neue Hindernisse und Vor- gere Zeit über dem Berg ist, bleibt fraglich. nicht sofort geordnet redimensioniert hätte schriften legal zu umgehen. Es ist wie im werden sollen, ob das Investmentgeschäft Doping: Die Kontrollen hinken dem medizi- Mit den staatlichen Interventionen sollen vor nicht besser verkauft worden wäre. Aber nischen Fortschritt immer hinterher. allem auch Arbeitsplätze gerettet werden. Ist mitten in der Krise war das ja nicht mehr das kein Argument? möglich. Wurde denn falsch reagiert, indem die UBS vom Staat 68 Milliarden Franken bekommen hat? Man kann sich wirklich fragen, ob die DIE DREI KRISEN Programme zur Ankurbelung häuft, die die Zukunft schwer Schweiz unbedingt zwei Grossbanken Prof. Dr. Silvio Borner: «Ab- der Konjunktur berechtigen belasten und im extremen braucht. Das Land braucht zum Überleben gesehen von der Finanzkrise zur Hoffung, dass in der Fall zu neuen – diesmal staat- die UBS so wenig, wie sie die Swissair ge- war der Konjunkturzyklus zweiten Hälfte 2009 oder lichen – Finanzkrisen führen braucht hat. «Was wir brauchen, ist ein inter- 2007/2008 ohnehin am obe- spätestens im 2010 auch der könnten. nationaler Flughafen. Alles andere ergibt sich ren Wendepunkt angelangt. untere Wendepunkt des Kon- Zudem hat sich der Staat von selbst.» Das haben wir schon bei der Doch jetzt droht das Zusam- junkturzyklus durchschritten grosser Teile der ehemals pri- Swissair-Krise gesagt und Recht bekommen. mentreffen mit dem grössten werden wird. Beide Annah- vaten Finanzunternehmen Ich hätte die Entscheidung für die 68 Mil- Desaster der Finanzmärkte in men sind optimistisch, aber bemächtigt und betreibt nun liarden nicht fällen wollen. Was mir zu den- eine schwere Rezession aus- nicht unrealistisch. Sind wir politisch motivierte Investi- ken gibt, ist nicht der Umstand, dass der Staat zuarten. Einige sprechen so- dann alle Sorgen los? Leider tionslenkung. Verstaatlichte der UBS minderwertige Papiere abgekauft gar in Anlehnung an die nicht, denn dann geht viel- Banken haben in der Vergan- hat, sondern dass sie sich mit sechs Milliarden 1930er-Jahre von einer De- leicht die Wachstumskrise genheit viel Unheil produ- am Aktienkapital beteiligt hat. Das stösst pri- pression. Ich bin der Ansicht, erst recht wieder los. Dieses ziert. Finanzhilfen und Kon- vate Anleger ab. Denn an einem Staatsbetrieb dass die Finanzkrise dank der Risiko besteht nicht trotz der junkturspritzen behindern S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 wollen sich die wenigsten beteiligen. gigantischen staatlichen historisch einmaligen staat- oder verhindern gar die drin- Spritzen von Notenbanken lichen Hilfsaktion, sondern gend notwendigen Struktur- Was halten Sie von den staatlichen Program- und Finanzministerien lang- gerade deswegen. Der Grund: anpassungen innerhalb men, die Konjunktur anzukurbeln? sam Boden findet. Die im Der Staat hat sich vielleicht und ausserhalb des Finanz- Ich frage mich, ob sie viel helfen. Bis sie historischen Vergleich eben- selber finanziell übernommen sektors.» spruchreif werden, kommen sie meistens zu falls enormen staatlichen und Schuldenberge ange-
12 POLITIK Definitives Ja zum freien Personenverkehr Kommentar: Deutlicher als erwartet haben die Stimmberechtigten der Fort- Glaubwürdige Schweiz führung der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union Wenn Schweizerinnen und Schweizer vor ei- zugestimmt. Gleichzeitig weiteten sie das Abkommen auf ner Abstimmung Zweifel plagen, legen sie in der Regel ein Nein in die Urne. Nach der Ab- Bulgarien und Rumänien aus. Bei einer Stimmbeteiligung von stimmung vom 8. Februar lässt sich daher sa- 51 Prozent legten 60 Prozent ein Ja in die Urne. Von René Lenzin gen: Am bilateralen Weg in der Europapolitik gibt es keine Zweifel mehr. Sechs von zehn Das Thema Europa vermag die Stimmbe- sieben Jahre abgeschlossen hatten. Als das Stimmenden haben die Weiterführung des rechtigten nach wie vor zu mobilisieren. Parlament die Weiterführung des Vertrags freien Personenverkehrs sowie dessen Aus- Zum ersten Mal seit September 2005 über- mit der Ausdehnung auf Bulgarien und Ru- dehnung auf Bulgarien und Rumänien gut- schritt die Beteiligung an einer eidgenös- mänien verknüpft hatte, ergriffen verschie- geheissen. Das sind deutlich mehr, als vor sischen Volksabstimmung am 8. Februar wie- dene Rechtsparteien erfolgreich das Refe- gut drei Jahren die Erweiterung des Abkom- der die 50-Prozent-Marke. Beide Male ging rendum. Mit dem Ja des Volkes ist nicht nur mens auf die damaligen zehn neuen EU- es um den freien Personenverkehr: Damals die Personenfreizügigkeit definitiv verankert, Staaten befürwortet haben. hiess das Volk die Ausdehnung auf die zehn sondern auch die sechs mit ihr verbundenen Mit einem so klaren Ergebnis war nicht ost- und südeuropäischen Länder gut, die der Abkommen der ersten bilateralen Verhand- unbedingt zu rechnen. Denn die missliche EU frisch beigetreten waren. Nun befürwor- lungsrunde. Sie regeln unter anderem den Wirtschaftslage mit Aussicht auf eine länger tete es die Weiterführung des Abkommens Land- und Luftverkehr, die Anerkennung dauernde Rezession liess eine eher knappe sowie die Erweiterung auf Bulgarien und Ru- von Diplomen und den Abbau von Handels- Ausmarchung erwarten. Nichtsdestotrotz mänien. Die schrittweise Einführung der hemmnissen. hat die Bevölkerung zum fünften Mal jenen Personenfreizügigkeit mit den beiden Weg bekräftigt, den sie 1992 nach dem Nein jüngsten EU-Mitgliedern soll frühestens ab Das fünfte Ja zum Bilateralismus zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1. April und mit einer siebenjährigen Über- Der Bundesrat wertete das Votum als Sieg eingeschlagen hatte. gangsfrist starten. für den Wirtschaftsstandort Schweiz und als Die Verlierer dieses Abstimmungssonntags Die Zustimmung fiel höher aus, als Um- Bekräftigung des bilateralen Weges. Tatsäch- sind die Schweizerische Volkspartei und ihr fragen im Vorfeld hatten vermuten lassen. lich hat das Volk zum fünften Mal Verträgen Vordenker Christoph Blocher. Nach einem 59,6 Prozent der Stimmenden sagten Ja, nur zugestimmt, welche die Schweiz und Brüs- wirren Zickzackkurs hat die Partei die Nein- gerade die vier Kantone Appenzell Innerrho- sel abgeschlossen hatten. Im Mai 2000 pas- parole beschlossen – wohl nicht zuletzt den, Glarus, Schwyz und Tessin lehnten die sierte das erste bilaterale Verhandlungspaket als Zugeständnis an die öffnungsskeptische Vorlage ab. Traditionell hoch war der Ja- die Abstimmung mit 67,2 Prozent Ja; im Juni Basis. Doch die anschliessende Kampagne, Stimmenanteil in der Westschweiz und in 2005 stimmten 54,6 Prozent dem Beitritt zu die auf die Angst vor einem Kollaps des den städtischen Gebieten der Deutsch- den Abkommen von Schengen und Dublin Sozialstaats baute, hat nicht verfangen. schweiz. Diesmal zeigten sich aber auch die zu; im Herbst des gleichen Jahres befürwor- Blocher und seine Getreuen haben seinerzeit meisten ländlichen Kantone der Zentral- teten 56 Prozent die Ausdehnung des freien den Beitritt zum EWR knapp verhindern kön- und Ostschweiz öffnungsfreudiger als auch Personenverkehrs auf die zehn neuen EU- nen, und den EU-Beitritt haben sie für lange schon (siehe Karte). Staaten; und schliesslich sagten im Novem- Zeit aus der politischen Agenda verbannt. Die Abstimmung war nötig geworden, weil ber 2006 53,4 Prozent Ja zu Kohäsions- Aber sie finden keine Mehrheit, wenn sie die die Schweiz und die EU das Abkommen über beiträgen von einer Milliarde Franken für schrittweise Annäherung an die Europäische den freien Personenverkehr vorerst nur auf ebendiese Länder. Union über Abkommen in einzelnen Sach- fragen bremsen wollen. Ja-Stimmenanteil zum freien Der Weg der bilateralen Verhandlungen Personenverkehr = 59,6% mag zuweilen steinig und langwierig sein. Abgelehnt wurde die Vorlage Aber er bleibt die einzige von der Bevölke- nur in den Kantonen Schwyz, rung getragene Option in der Europapolitik. Glarus, Appenzell IR und Tessin. Schliesst der Bundesrat vernünftige Verträge ab, weiss er das Volk hinter sich. Manche Re- gierung in der EU wäre wohl froh, wenn sie ihre Integrationspolitik in der Bevölkerung ebenso tief verankert wüsste. Diese direkt- S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 demokratisch abgestützte Kontinuität macht die Schweiz zum zuverlässigen und glaub- würdigen Partner für die Union. Und sie gibt dem Bundesrat die Kraft, in künftigen Ver- handlungen mit dem nötigen Selbstver- trauen aufzutreten. RENÉ LENZIN
POLITIK 13 Bern und Brüssel streiten über Unternehmenssteuern steuerungen von europäischen Firmen in der Schweiz. Seit Langem stören sich viele EU- Nach dem weiteren Ja zum freien Personenverkehr verhan- Länder an den kantonal unterschiedlichen deln die Schweiz und die Europäische Union über Strom- und teilweise sehr tiefen Steuern für Brief- transit und Agrarfreihandel. Zudem will die EU kantonalen kastenfirmen, also Unternehmen, die in der Schweiz bloss eine Adresse, aber keine An- Steuerprivilegien für ausländische Firmen an den Kragen. gestellten haben. Zudem kritisiert die EU Von René Lenzin die Ungleichbehandlung von in- und auslän- dischen Holdinggesellschaften in der Schweiz. Am 8. Februar hat das Schweizervolk das Ab- Daneben laufen Gespräche über weniger Erste dürfen keine eigene Geschäftstätigkeit kommen mit der EU über den freien Perso- gewichtige Dossiers, die sich meist aus der ausüben, zweite hingegen schon. Das erlaubt nenverkehr definitiv bestätigt und auf die Weiterentwicklung des EU-Rechts ergeben. ihnen, ihre Erträge im EU-Raum zu generie- neuen EU-Mitglieder Bulgarien und Rumä- Um allfällige Anpassungen der Schweizer ren, aber in Schweizer Fiskalparadiesen zu nien ausgedehnt (siehe Seite 12). Damit ist Gesetze an solch neue Bestimmungen ratio- versteuern. zwar ein grosser Brocken aus dem Weg der neller vornehmen zu können, steht seit län- Ultimativ verlangt Brüssel die Beseitigung bilateralen Beziehungen geräumt, aber fer- gerer Zeit ein Rahmenabkommen für bilate- solcher Steuerprivilegien, weil diese gegen tig gebaut ist die Strasse längst nicht. Vor rale Verhandlungen zur Diskussion. Dabei das Freihandelsabkommen von 1972 versties- allem in zwei Bereichen führen Bern und handelt es sich um einen institutionalisier- sen. Ohne Zugeständnisse in dieser Frage, Brüssel derzeit Verhandlungen über weitere ten Dialog, der über die bereits existierenden hat die EU signalisiert, gebe es keine Fort- Abkommen: Expertengruppen in bestimmten Fachbe- schritte in anderen Dossiers. Die Schweiz ■ Als Land im Herzen Europas und als wich- reichen hinaus ginge. Aussenministerin stellt zwar einen Konnex mit dem Abkom- tiger Produzent von Elektrizität nimmt die Micheline Calmy-Rey hat ein solches men von 1972 in Abrede und will auch nicht Schweiz eine zentrale Position im liberali- Abkommen nach der Abstimmung vom über ihr Steuersystem mitsamt kantonaler sierten europäischen Strommarkt ein. Beide 8. Februar wieder aufs Tapet gebracht, doch Autonomie verhandeln. Der Bundesrat ist je- Seiten streben daher ein Abkommen über die Reaktionen der Parteien fielen eher kühl doch bereit, der EU mit eigenständigen Re- den Stromtransit an. aus. Viele Politiker fürchten, die EU habe es formen entgegenzukommen. Im Dezember ■ Verhandelt wird ausserdem über mehr auf ein Gefäss für den automatischen Nach- hat er dazu Vorschläge lanciert: Abschaffung Freihandel im Agrar- und Lebensmittel- vollzug ihres Rechts durch die Schweiz ab- der Briefkastenfirmen, Verbot der Ge- bereich. Es geht um den Abbau von Schutz- gesehen. Das würde unser Land letztlich zu schäftstätigkeit von ausländischen Holdings. zöllen und Kontingenten sowie um die An- einer Art B-Mitglied der EU machen. Noch ist offen, welche Auswirkungen diese gleichung von Produktionsvorschriften. Das Massnahmen auf den Wirtschaftsstandort Dossier ist innenpolitisch umstritten: Die Verhandlungen, ohne zu verhandeln hätten und ob sie die Gemüter in der EU zu Befürworter versprechen sich tiefere Konsu- Das schwierigste Dossier in den Beziehungen beruhigen vermögen. mentenpreise, die Gegner fürchten um die zwischen Bern und Brüssel ist eines, über das Existenz vieler Bauern. offiziell gar nicht verhandelt wird: die Be- Fingerabdruck im Pass? Am 17. Mai stimmt das Volk über bio- Speicherung der biometrischen Daten zu metrische Pässe und Komplementärmedizin ab. Von René Lenzin wenig streng sei. Ab Ende dieses Jahres sollen alle Pässe so ge- auch dessen Weiterentwicklung zu überneh- «Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer nannt biometrische Daten enthalten. Kon- men. Weil die Europäische Union biome- Zuständigkeiten für die Berücksichtigung kret geht es um einen Chip, auf dem ein trische Pässe für obligatorisch erklärt hat, der Komplementärmedizin.» Diesen Satz Gesichtsbild und Fingerabdrücke des Pass- vollzieht auch die Schweiz diesen Schritt. will die Mehrheit des Parlaments gegen den inhabers gespeichert sind. Bundesrat und Ausgelöst haben diese Entwicklung jedoch Willen des Bundesrats in die Verfassung Parlament haben beschlossen, die Produk- nicht die europäischen Staaten, sondern die schreiben. Ziel ist es, alternativen Heilme- tion der bisherigen Pässe einzustellen und USA. Nach den Anschlägen vom 11. Septem- thoden wie der anthroposophischen Medi- neu nur noch biometrische Reisedokumente ber 2001 haben sie die Immigrationsbestim- zin, der Homöopathie, der Neuraltherapie, auszustellen. Die bisherigen Pässe bleiben mungen verschärft. Wer bisher ohne Visum der Pflanzenheilkunde oder der traditio- allerdings bis zum Ablaufdatum gültig. Ge- einreisen durfte, darf dies nur noch mit nellen chinesischen Medizin mehr Gewicht gen diesen Beschluss wurde das Referendum einem biometrischen Pass. zu geben. Schul- und Komplementärmedi- S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 ergriffen, so dass nun das Volk entscheiden Im Ständerat war der Beschluss praktisch zin sollen enger zusammenarbeiten. Die neue muss. unbestritten: Er wurde mit 36 zu 2 Stim- Bestimmung ist der Gegenvorschlag zu einer Formal handelt es sich beim Beschluss um men angenommen. Mehr Widerstand gab noch weiter gehenden Volksinitiative, die in- den Nachvollzug von europäischem Recht. es im Nationalrat, der im Verhältnis von 94 zwischen zurückgezogen wurde. Der Natio- Mit dem Beitritt zum Abkommen von zu 81 zustimmte. Die Gegner bemängeln, nalrat hat die Vorlage mit 152 zu 6 Stimmen Schengen hat sich die Schweiz verpflichtet, dass der Datenschutz bei der zentralen angenommen, der Ständerat mit 41 zu 0.
14 AUS DEM BUNDESHAUS «Wenn einer eine Reise tut … Beachten Sie, dass in einigen Ländern ein Pass noch mindestens zwei freie, gegenüberliegende Seiten aufweisen muss, wenn Sie ein …, so kann er was erzählen.» Leider sind nicht immer alle Erleb- Visum beantragen. nisse im Zusammenhang mit einer Ferien- oder Geschäftsreise Falls Sie einen neuen Schweizer Pass benötigen, beantragen Sie positiv. Eine gute Reisevorbereitung lohnt sich und kann in vielen ihn rechtzeitig (mindestens sechs Wochen vor Nutzung) bei der Fällen Verdruss oder gar das Schlimmste verhindern. Vertretung, bei der Sie immatrikuliert sind: www.eda.admin.ch (Vertretungen). Provisorische Pässe können zwar ausgestellt Folgende Tipps sollen Ihnen helfen, die schönsten Wochen des Jah- werden, sind jedoch maximal zwölf Monate gültig, umfassen nur res vorzubereiten und zu geniessen: 16 Seiten und kosten 100 Franken. Es existieren keine proviso- rischen Pässe mit biometrischen Daten. Beschaffung von Informationen Bewahren Sie Ihren Pass zu Hause wie auch unterwegs sorgfältig Informieren Sie sich rechtzeitig über Ihr Ferienland mittels Reise- auf und schützen Sie ihn vor Diebstahl und Verlust. Bei Passverlust führern, Internet, Medien, Reisehinweisen des EDA (siehe Kasten) können sich vor der Reise vom Pass erstellte Kopien als hilfreich er- etc. Die Broschüre «Wenn einer eine Reise tut…» vom Eidgenös- weisen. Sie ersetzen aber weder den Originalpass noch die Abklä- sischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA bietet rungen der schweizerischen Vertretungen, die eine gewisse Zeit in Ihnen eine Fülle an bewährten Ratschlägen: www.eda.admin.ch/ Anspruch nehmen können, insbesondere über ein Wochenende. reisehinweise, Kapitel «Tipps vor der Reise». Diese Broschüre kön- Verlangen Sie bei Passverlust von der Polizei einen Polizeirapport. nen Sie auf Deutsch, Französisch und Italienisch auch beim Bundes- Dieser ist für die Ausstellung eines provisorischen Passes sowie für amt für Bauten und Logistik, Bundespublikationen, CH-3003 Bern, die Annullierung Ihres gestohlenen Passes notwendig. bestellen. Versicherungen Unter dem Begriff Reisehinweise veröffentlicht das EDA seine Einschätzung Arzt- und Spitalkosten sind in vielen Ländern mit der Schweiz der Sicherheitslage in über 150 Ländern im Internet. vergleichbar oder noch höher. Auch ein kurzer Spitalaufenthalt Die Reisehinweise konzentrieren sich auf die Einschätzung der Sicherheitslage in oder gar eine Repatriierung können sehr kostspielig sein. den Bereichen Politik und Kriminalität. Sie weisen auf mögliche Risiken hin und empfehlen Vorsichtsmassnahmen für unterwegs. Schätzt das EDA die Gefahren in Klären Sie mit Ihren Versicherungen vor der Reise ab: einem Land oder Landesteil als besonders gross ein, rät es von Reisen dorthin ab. ■ Wie ist die Versicherungsdeckung im Ausland? Die Reisehinweise konzentrieren sich also auf einen ganz spezifischen Aspekt des ■ Müssen Sie die Rechnungen im Ausland selber bezahlen und erhal- Reisens. Für andere Aspekte nennen sie die zuständigen Stellen, beispielsweise für Auskunft über die Einreisevorschriften und über die Verbreitung von Krank- ten erst später durch die Versicherung eine Rückvergütung? heiten. Die Reisehinweise werden in den drei Amtssprachen Deutsch, Französisch ■ Besteht eine Annullierungsversicherung? und Italienisch publiziert, laufend überprüft und bei Änderungen der Lage- Einschätzung angepasst: www.eda.admin.ch/reisehinweise Gegebenenfalls ist eine zusätzliche Kranken- und/oder Reisever- ESTHER LEUPP, EDA, REISEHINWEISE sicherung zu empfehlen. Reisedokumente Geld Informieren Sie sich frühzeitig über die Einreisebestimmungen bei Wenn Ihnen das Geld ausgeht oder gestohlen wird, können Ihnen der Vertretung (Botschaft oder Generalkonsulat) Ihres Ferienlandes Angehörige oder Freunde innert kurzer Zeit Geld über Agenturen wie (die schweizerischen Vertretungen können Ihnen diesbezüglich keine zum Beispiel Western Union (www.westernunion.com) überweisen. Auskunft geben): ■ Ist ein Reisepass notwendig oder reicht eine Identitätskarte? Der Artikel musste aus Platzgründen stark gekürzt werden. Den (für EU: http://europa.eu/abc/travel/doc/index_de.htm) vollständigen Artikel können Sie auf www.revue.ch lesen. Wir hoffen, ■ Reicht ein maschinenlesbarer Pass oder ist ein biometrischer Pass dass diese Ratschläge zu einem unvergesslichen Urlaub beitragen, und notwendig? Genügt ein provisorischer Pass (gewisse Länder, wie zum wünschen Ihnen schöne Ferienerlebnisse und eine problemlose Reise! Beispiel Katar, Kuwait, Bahrain, verlangen in einem provisorischen Pass ein Visum)? (Informationen für USA: http://bern.usembassy. Wenn dennoch etwas passiert … gov/niv_waiver_program.html, www.schweizerpass.admin.ch), Melden Sie sich bei Ihren Angehörigen, wenn Sie von einer Katastro- ■ Benötigen Sie ein Einreise-, Transit- oder Ausreisevisum? phe in Ihrem Ferienland hören. Sie machen sich bestimmt Sorgen um ■ Müssen Sie das Visum vor Abreise in Ihrem Wohnsitzland ein- Sie. holen oder erhalten Sie es am Flughafen bei der Einreise? Wenn Selbsthilfe nicht mehr genügt, können Sie sich an die ■ Gibt es andere Vorschriften vor der Einreise zu beachten? zuständige schweizerische Vertretung wenden: www.eda.admin.ch (zum Beispiel die seit dem 12.1.09 obligatorische Einreisebewilli- (Vertretungen). Die Bemühungen der Botschaft oder des General- gung für die USA: https://esta.cbp.dhs.gov) konsulats bestehen in erster Linie darin, Ihnen wieder auf die ■ Benötigen Minderjährige, die allein oder in Begleitung nur eines eigenen Füsse zu helfen. Sie können zum Beispiel Kontakte zu S C HWE IZER REVU E April 2009 / Nr. 2 Elternteils reisen, eine besondere Reiseerlaubnis der Eltern, respek- Ärzten oder Spitälern vermitteln, Heimschaffungen organisieren, tive des nicht mitreisenden Elternteils? einen Rechtsanwalt unverbindlich vermitteln oder bei Passverlust Beachten Sie, dass trotz Schengen in der EU eine Ausweispflicht ein Reisedokument ausstellen. Für bestimmte Dienstleistungen besteht. Sie müssen sich jederzeit ausweisen können. müssen die Vertretungen Gebühren erheben. Weitere Informa- Hat Ihr Pass noch genügend Seiten und ist er noch mindestens tionen finden Sie auf www.eda.admin.ch (Dienstleistungen – Hilfe sechs Monate über die Einreise in Ihr Ferienland hinaus gültig? im Ausland). Bitte erwarten Sie aber nichts Unmögliches, denn die
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