Flüchtlingspolitik: Ein Jahr nach Lampedusa Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich - wofür?
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sopos 3/2015 1/12 Flüchtlingspolitik: Ein Jahr nach Lampedusa Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich – wofür? von Arian Schiffer-Nasserie Weltrekord! Über 50 Millionen Menschen chenvertreter öffentlich wahrhaben wol- waren laut UNHCR im vergangenen Jahr len. Wenngleich die vielen Grenztoten auf der Flucht – mehr als je zuvor seit der EU – im Unterschied zu den etwa Weltkrieg Nummer 2 und allein sechs 200 Maueropfern in 40 Jahren DDR- Millionen mehr als im Vorjahr. Ein kleiner Geschichte – nicht zur Verurteilung eines Teil der Flüchtenden erreichte die Außen- Staats oder gar eines ganzen Staaten- grenzen der EU und versuchte Mauern, bündnisses herangezogen werden dürfen Zäune und Seegrenzen ohne Erlaubnis und ein Schluss auf das ökonomische Sy- des Staatenbündnisses zu überwinden. stem des Westens unerwünscht ist, so ist Kritik doch erlaubt und wird auch geäu- Etwas mehr als ein Jahr liegt die „Flücht- ßert: Europaweit werfen Flüchtlings- und lingskatastrophe“ von Lampedusa be- Kirchengruppen, Linke und Menschen- reits zurück. An öffentlicher Anteilnahme, rechtler den Verantwortlichen Abschot- an zur Schau gestellter Scham, Trauer tung vor. Sie konstatieren, dass die EU und Betroffenheitsbekundungen der eu- keinen Schutz für Flüchtlinge, sondern ropäischen Eliten hatte es danach ja kei- Schutz vor Flüchtlingen betreibe. Öffent- nesfalls gemangelt. Sogar politische Kon- lich verurteilt werden die Repräsentanten sequenzen wurden in Aussicht gestellt: der EU für ihre angeblich „unterlassene Alles sollte anders werden. Davon will Hilfeleistung“ (vgl. etwa H. Prantl in der man ein Jahr später kaum noch etwas Süddeutschen Zeitung vom 7. 10. 2013) wissen. und ihre „Verantwortungslosigkeit“. Allein seit dem 3. Oktober 2013 kostete Der vorliegende Beitrag will die hier an- der Versuch der unerlaubten Einreise gerissenen Aspekte in zwei Teilen ge- mehr als 3000 Menschen das Leben. Das nauer untersuchen. Teil eins geht der ist ebenfalls Rekord. Die meisten von ih- Frage nach, warum und wofür die Flücht- nen ertranken im Mittelmeer – und das linge und ihr massenhafter Tod an den während einer fl üchtlingspolitischen EU-Außengrenzen – allen öffentlichen Be- Sonderphase, in der die italienische Kü- teuerungen zum Trotz – offenbar unver- stenwache die Seenotrettung von Flücht- meidlich sind. Teil zwei behandelt die öf- lingen noch vor deren Abwehr stellte. In- fentliche Auseinandersetzung und Kritik nerhalb eines Jahres rettete das Pro- nach der so genannten „Flüchtlingskata- gramm „Mare Nostrum“ nach Angaben strophe von Lampedusa“ anhand von drei der Regierung in Rom und gegen den Wil- Beispielen. len der Bundesrepublik, die sich an den Kosten nicht beteiligen wollte, zum Preis Teil I – Fluchtursachen und von ca. 9 Mio. Euro monatlich immerhin Flüchtlingspolitik 120.000 Menschenleben. Das Nachfolge- programm „Triton“ bemüht sich denn in- Wenn in Deutschland über die Lage von zwischen auch wieder ganz im Sinne der Flüchtenden, über Flüchtlingskatastro- Bundesregierung um die gewünschte Ab- phen und Flüchtlingspolitik nachgedacht schreckung, Abschottung und Abschie- und gestritten wird, dann zeichnen sich bung; mit den bekannten Folgen. bei aller Kontroversität zwei als selbst- verständlich unterstellte Vorannahmen So geht das Sterben rekordverdächtig ab: weiter. Entgegen aller öffentlichen Ver- lautbarungen hat das Flüchtlingselend Die erste geht davon aus, das Flüchtlings- also offenbar doch viel mehr mit den vita- elend müsse eigentlich nicht sein, wenn len Interessen der europäischen Staaten nur alle Beteiligten – also die Flüchtlinge zu tun, als dies Politik-, Presse-, und Kir- aus den Armuts- und Kriegsregionen
sopos 3/2015 2/12 Mauerkreuze an der EU-Außengrenze, Aktion des Zentrums für Politische Schönheit, 2014 (http://www.politicalbeauty.de/) selbst, die Regierungen ihrer Herkunfts- ten der Beteiligten zurückzuführen ist – länder, die Schleuser, Frontex und die also auch nicht durch moralisierende Ap- (un)verantwortlichen Politiker der EU – pelle an die vermeintlich Schuldigen zu ihrer Verantwortung korrekt nachkämen. bewältigen ist – sondern regelrecht syste- Auf diesem festen Glaubenssatz baut die matische Ursachen hat. Die zentrale deutsche Diskussion mit viel Emphase These lautet: Die Flüchtlinge und ihre lei- auf und es wird munter je nach politi- chenträchtige Abwehr sind für die ökono- scher Position darum gerechtet, wem die mischen, politischen und militärischen In- Schuld für den massenhaften Tod auf teressen der EU unvermeidlich. Dies soll dem Meer zu geben sei. Die Antworten im Folgenden bewiesen werden. fallen den politischen Standpunkten ent- Ökonomisch sind die Flüchtlinge für sprechend, also leider in aller Regel äu- den europäischen Kapitalismus ßerst gehässig, aus. unvermeidlich, Vorannahme zwei diskutiert Deutschland 1. weil die EU – Deutschland vorneweg – ausschließlich als Aufnahme- und Helfer- mit überlegenen Unternehmen und sub- land oder zumindest als potentielle ventionierten Waren die afrikanischen Schutzmacht für die Bedrängten dieser und arabischen Ökonomien erfolgreich Welt. Flüchtlingsfeinde und Flüchtlings- kaputt konkurriert und den betroffenen freunde teilen einträchtig auch diesen Menschen damit ihre Lebensgrundlage Grundsatz – um auf dessen Basis wild nimmt. Dies geschieht durch die Zerstö- darüber zu streiten, ob Deutschland rung traditioneller Wirtschaften und schon viel zu viele Flüchtlinge aufnehme Märkte, wo diese noch vorhanden sind oder aber seiner humanitären Verantwor- (zum Beispiel durch den Export von tung ganz unzureichend gerecht werde. Hühnchenfl ügeln und Schlachtabfällen In Anbetracht solcher Gewissheiten er- aus Niedersachen in die Märkte Zentral- scheint es angezeigt, zunächst die in der afrikas). Oder durch die Ruinierung der deutschen Flüchtlingsdiskussion bezeich- heimischen Unternehmen, insbesondere nend wenig thematisierten Fluchtursa- der verarbeitenden Gewerbe (zum Bei- chen zu betrachten. Sie sind dazu geeig- spiel der Fischindustrie des Maghreb), net, einige grundlegende Illusionen der die dann ihrerseits keinen Gebrauch Diskussion in Frage zu stellen. Es wird mehr von den eigentumslosen Arbeits- sich zeigen, dass das Flüchtlingselend kräften machen, so dass die abhängig keinesfalls auf vermeidbares Fehlverhal- Beschäftigten ihrer Existenzgrundlage
sopos 3/2015 3/12 beraubt sind, wortlich um den eigenen Gelderwerb kümmern zu dürfen, die tatsächliche 2. weil die Lebensmittel bzw. fruchtbaren Möglichkeit dazu in ihrer Heimat keines- Böden (zum Beispiel die Palmölplantagen wegs einschließt., in der Elfenbeinküste, Rosen aus Kenia, Erdnüsse aus dem Senegal usw.), die 5. weil die Überflüssigen seit der Euro- Fischfanggebiete (Beispiel Mauretanien) krise selbst als Wanderarbeiter und Ern- und die Rohstoffvorkommen ihrer Heimat tehelfer in der EU weniger gebraucht (zum Beispiel Uran aus Niger, Tschad werden. Und dort, wo sie weiterhin be- und Mali) exklusiv der Verwertung westli- schäftigt werden, besteht die bittere Iro- cher Kapitale dienen – und damit der ört- nie ihres „Glücks“ darin, dass sie mit ih- lichen Bevölkerung als Lebensgrundlage ren Dritte-Welt-Löhnen kombiniert mit entzogen werden, der Produktivität europäischer Betriebe unfreiwillig dazu beitragen, den auswärti- 3. weil die Menschen vor Ort zwar genau gen Erfolg Europäischer Unternehmen wie die abhängig Beschäftigten in Europa Exkurs zu den Fortschritten der freiheitlichen Weltordnung Man kann es gar nicht oft genug betonen: Freiheit – nicht Zwang charakterisiert das Elend der Überflüssigen in der heutigen Weltordnung! Wurden zu Kolonialzeiten die Ar- beitssklaven zwangsweise in Ketten und auf Kosten ihrer europäischen und amerikani- schen Anwender über das Meer geschifft, so ist die Situation im Zeitalter der globalen Geltung von Freiheit und Eigentum weit fortgeschritten: Die ehemaligen Sklaven rudern inzwischen selber! Und zwar aus eigenem Entschluss und auf eigene Kosten als freie und eigentumslose Personen. Die ehemaligen Kolonial- und Sklavenhalterstaaten in Eu- ropa und Nordamerika, inzwischen allesamt Hüter der universellen Menschenrechte, können bequem nach eigenem Bedarf entscheiden, ob und wem sie die Gnade gewäh- ren, in ihren Ländern den privaten Reichtum ihrer Unternehmen zu mehren. Wenn schon nicht in der Vermeidung von Not und Leid, so sind die neuen Weltordnungs- mächte ihren historischen Vorgängern zumindest bezüglich dieser freiheitlichen und grundsoliden Herrschaftstechnik weit überlegen ... und damit die Ruinierung der heimischen in Ermangelung alternativer Lebens- Ökonomie ihrer Herkunftsländer weiter grundlagen existenziell darauf angewie- voran zu treiben, sen sind, von einem Arbeitgeber ange- wendet zu werden, um leben zu können, 6. weil Weltbank und IWF darauf beste- im Unterschied zu europäischen Arbeit- hen, dass die arabischen und afrikani- nehmern aber in der Regel als Lohnab- schen Staaten die Ernährung ihrer Völker hängige nicht gebraucht werden, sich in nicht subventionieren dürfen, wenn sie der Konkurrenz um Lohnarbeit folglich weiterhin vom Westen Kredit wollen. (Die immer weiter unterbieten und deshalb Liste ließe sich leider noch fortsetzen.) massenhaft verelenden, Politisch sind die Flüchtlinge eine 4. weil sie also für das kapitalistische Ge- notwendige Folge westlicher Weltord- schäft in der großen Masse schlicht über- nung, fl üssig sind, d.h. „Überbevölkerung“, die 1. weil nicht geduldet wird, wenn sich die stört, wo immer sie rumvegetiert und des- Überfl üssigen in ihrer Not gegen ihre po- halb nicht selten ein Fall für die Armuts-, litische Herrschaft aufl ehnen oder ande- Kriminalitäts-, und Aufstandsbekämp- ren politischen Mächten zuwenden, so- fung durch Polizei, Militär und Ordnungs- fern dies den Ordnungsvorstellungen eu- politik werden. Mit anderen Worten: Weil ropäischer und amerikanischer Mächte die Freiheit, die den ehemaligen Koloni- widerspricht. Historisch war dies in der sierten gewährt wird, sich selbstverant- Phase der Entkolonialisierung der Fall,
sopos 3/2015 4/12 als sich viele Befreiungsbewegungen der 6. weil sie mit Wirtschaftsembargos und gerade entstehenden Dritten Welt Hilfe Blockaden die Lage der Völker in unlieb- suchend an die alternative Weltmacht samen Staaten weiter zu verschlechtern UdSSR oder die junge Volksrepublik suchen (allein dem Irak-Embargo der China wandten und dafür direkt (Korea, USA, politisch gegen S. Hussein gerich- Vietnam, Laos, Kambodscha, Algerien, tet, fi elen durch Mangelernährung und Simbabwe usw.) oder indirekt (Kuba, fehlende Medikamente 500.000 irakische Chile, Nicaragua, Angola, Namibia, Mo- Kinder zum Opfer), um sie in Hungerauf- cambique, Palästina, Ägypten, Syrien ständen gegen ihre Regierung aufzubrin- usw.) mit Stellvertreterkriegen, Milizen gen, und Embargos vom Westen bekämpft 7. weil sie Putschs gegen antiwestliche wurden. Heute ist das der Fall, wenn ent- Regierungen, die auf demokratischem sprechende Staaten oder Bewegungen Wege an die Macht gekommen sind, und ihr Heil in der ökonomischen Erschlie- dazugehörige Militärdiktaturen offen un- ßung durch China, durch Bündnisse und terstützen (Algerien) oder zumindest dek- Beistandsbekundungen mit den „Schur- ken und militärisch ausrüsten (Ägypten). ken“ der Weltordnung, insbesondere Rus- sland, Iran, Kuba, Venezuela und Nordko- Und militärisch sind Flüchtlinge Teil rea oder in der Hinwendung zum politi- der „Kollateralschäden“ des westli- schen Islam entdecken, chen Engagements, 2. weil EU und USA die Verzweifelten in weil die USA und die EU-Staaten überall Afrika, im Nahen und Mittleren Osten in dort, wo diese friedliche Diplomatie nicht Zentralasien für ihre Einfl ussnahme auf ausreicht, um ihre Interessen durchzuset- die Regionen zu instrumentalisieren su- zen, entweder im Alleingang, im NATO- chen und westliche Regierungen die Auf- Bündnis oder in einer Koalition der Willi- stände der Überfl üssigen – je nach Be- gen zur offenen Kriegführung übergehen, darf – gegen unliebsame Regierungen un- Söldnertruppen zusammenstellen oder terstützen oder unterdrücken (Syrien, gleich selber „Luftschläge erteilen“, bom- Libyen, Libanon, Iran, Ägypten usw.), bardieren, einmarschieren und besetzen. Und das alles bekanntlich nur – um die 3. weil sie, wo dies zur Durchsetzung der „Zivilbevölkerung zu schützen“. eigenen Interessen opportun erscheint, zur ethnischen und religiösen Spaltung Die Flüchtenden sind also tatsächlich die ganzer Staaten beitragen und die dafür ebenso unerwünschte wie unvermeidli- nötigen Kriege fi nanzieren (früher Erit- che Konsequenz der ökonomischen, poli- rea, heute Sudan, Irak, Syrien), so dass tischen und militärischen Konkurrenzan- ethnische Säuberungen und Vertreibun- strengungen der EU-Staaten, ihrer Ver- gen die zwangsläufi ge Konsequenz sind, bündeten und ihrer Unternehmen. Die Flüchtenden sind der auch in den Metro- 4. weil die Staaten des Westens unlieb- polen wahrnehmbare Ausdruck der Rui- same Bewegungen und Organisationen nierung weiter Teile der Welt durch die bespitzeln, verfolgen, ihre Mitglieder und herrschende Weltordnung. deren Angehörige foltern, sie mit Droh- nen beschießen, sie von Milizen vernich- Flüchtlingspolitik an den Grenzen der ten lassen usw. (Jemen, Pakistan, Soma- Europäischen Union Schließlich wer- lia, Afghanistan...), den die Überfl üssigen und Vertriebenen dann noch Opfer der ebenfalls für die EU- 5. weil sie befreundete und verbündete Staaten notwendigen Grenz- und Flücht- Regime bei ihrer Kriegführung unterstüt- lingspolitik: Wenn nämlich diese viel zi- zen (Saudi-Arabien, Khatar, Arabische tierte „Zivilbevölkerung“, auf die sich die Emirate, Jordanien, Türkei usw.), d.h. westlichen Staaten so gerne bei ihren Diktaturen, Demokratien, Monarchien Kriegsbegründungen berufen, den oben und Gottesstaaten für ihre Beiträge zur aufgezählten Horror überlebt und aus ih- westlichen Weltordnung aus- und aufrü- rer Verzweifl ung und Ohnmacht den sten und so von sich abhängig machen,
sopos 3/2015 5/12 Schluss zieht, nach Europa oder Nord- nung darstellen. Die Toten an den EU-Au- amerika zu fl iehen, dann muss diese Zi- ßengrenzen sind die zivilen Opfer dieses vilbevölkerung erfahren, dass die „huma- Erfolgswegs des Europäischen Staaten- nitäre Hilfe“ des Westens so nicht ge- bündnisses. meint war. Die politökonomische Notwendigkeit Als Flüchtlinge stoßen sie an die Außen- des EU-Imperialismus Die oben darge- grenzen der Europäischen Union und stellte ökonomische, politische und mili- dürfen nicht einreisen. Der sichere und tärische Ruinierung ganzer Weltgegen- unkomplizierte Zugang mit Fähren und den durch die EU, ihre Verbündeten und Fluggesellschaften von ihren Heimatlän- ihre Unternehmen ist – die nötige Unbe- dern aus – die ja nicht selten zugleich fangenheit vorausgesetzt – kaum zu über- beliebte Destinationen des Ferntouris- sehen. Und Deutschland ist innerhalb der mus sind – bleibt ihnen ohne rechtlichen EU deren größter Nutznießer und folglich Aufenthaltstitel der EU verwehrt. Jede auch eine treibende Kraft entsprechender Hoffnung der „unschuldigen Zivilbevölke- Machenschaften. Will man nicht von der rung“, der „schutzlosen Männer, Frauen theoretisch unbefriedigenden Idee von und Kinder“ auf legale und sichere Weise lauter „Fehlentwicklungen“ und „Verstö- diesem Horror zu entgehen, wird durch ßen“ ausgehen, so stellt sich die Frage: ein hermetisches Grenzregime zunichte Warum betreiben kapitalistisch erfolgrei- gemacht. Der Versuch, es auf unerlaubte che Staaten, in diesem Fall also die Staa- Weise doch zu tun, also illegal einzurei- ten der EU, eine so grauenvolle Politik? sen, kostet dann weiteren Tausenden das Die Antwort kann im Rahmen dieses Bei- Leben. trages nur in stark komprimierter Form in ihrem politökonomischen Kern gege- Es ist insofern auch konsequent, dass Fi- ben werden: scher nicht helfen und vorbeifahrende Container,- und Kreuzfahrtschiffe die Er- Kapitalwachstumist die wirtschaftliche trinkenden nicht retten, ihre Hilferufe Grundlage der politischen Macht der nicht erhören, da den Rettern möglicher- Bundesrepublik wie aller marktwirt- weise Strafe droht. Es ist auch nur folge- schaftlicher Staaten. Von der KiTa über richtig, dass Überlebende angeklagt wer- die Autobahn bis zum Panzer kauft sich den und Fluchthelfer mit hohen Strafen der moderne Staat die Mittel seiner Poli- rechnen müssen, noch bevor alle Leichen tik. Deshalb setzen sich deren Regierun- beseitigt sind, damit kein falsches Signal gen parteiübergreifend für Wachstum an jene ergeht, die auf der anderen Seite ein. Denn nur wenn private Unternehmen des Meeres noch leben.1 aus ihrem Geld mehr Geld machen, be- kommen die Lohnabhängigen überhaupt Zwischenfazit Arbeit und Gehalt, machen die Unterneh- Die Flüchtlinge sind notwendig, weil die men Gewinne, fi ndet Handel und Kredit- Ruinierung der Existenzgrundlagen der geschäft statt. Und nur dann kann der eigentumslosen Massen in der Dritten Fiskus all diese privaten Einnahmequel- Welt zwar nicht der Zweck, aber doch die len, ganz besonders den Lohn, besteuern, unvermeidliche Folge der europäischen d.h. teilweise enteignen, verstaatlichen Wachstumspolitik und ihrer außenpoliti- und schließlich auf das so geschaffene schmilitärischen Flankierung ist. Der Zu- Steueraufkommen seine Verschuldungs- zug der Überfl üssigen in die EU ist uner- fähigkeit gründen. Wachstum, das schon wünscht und folglich vom Gesetzgeber seinem Begriff nach maßlos ist, muss des- verboten, weil sie in den Zentren nicht halb sein: Wachstum ist die Staatsräson gebraucht werden, also nur eine Bela- bürgerlicher Herrschaft. Je mehr desto stung und Gefährdung der inneren Ord- besser. Auf die menschlichen und natürli- 1. Zu dieser Strategie gehört es auch, zum Zwecke der Abschreckung in den Herkunfts- und Tran- sitländer Filme über den qualvollen Tod der Flüchtlinge zu zeigen, die diesseits des Mittelmee- res den Fernsehzuschauer eher nicht zugemutet werden sollen.
sopos 3/2015 6/12 chen Grenzen des kapitalistischen möglichst globale Ausmaße annimmt, Wachstums nehmen moderne Staaten in bemühen sich Politiker mit aller Macht ihrer Sozial- und Umweltpolitik deshalb um die Konvertibilität ihrer Landeswäh- nur dann Rücksicht, wenn sie sich davon rungen, Zollbestimmungen, Handelsver- „nachhaltig“ noch mehr Wachstum ver- träge, Abkommen und so weiter. Sie sind sprechen. Und in ihrer Wirtschafts- und also nicht die ohnmächtigen Opfer, son- Außenpolitik setzen sie sich deshalb da- dern die mächtigen Akteure und im Falle für ein, dass auch die nationalstaatlichen der Bundesrepublik auch die Profiteure Grenzen ihrer eigenen Herrschaft keine der allseits beschworenen Globalisie- Grenzen der kapitalistischen Akkumula- rung! tion darstellen. Im Unterschied zu der Stichwort EU-Binnenmarkt Sowohl in- eher idealistischen Forderung der radika- nerhalb Europas als auch weltweit soll len Flüchtlingsfreunde gilt hier wirklich: deutsches Kapital auf Kosten auswärtiger Grenzen auf für alle! Nämlich für auslän- Konkurrenten expandieren und damit dische Rohstoffe, für Waren, Geld, Kapi- auch auf Kosten anderer Staaten wach- tal und ggf. auch für ausländische Ar- sen. Entgegen aller Beteuerungen von beitskräfte, wenn diese für die nationale Unternehmern, Politikern und Volkswirt- Bilanz wachstumsdienlich sind. Damit die schaftlern ist die globale Konkurrenz staatlichen Grenzen ihre wachstumsbe- nämlich weder eine harmonische Einrich- schränkende Wirkung verlieren und der tung der „internationalen Arbeitsteilung“ kapitalistische Erfolg ihrer Unternehmer Exkurs zum Pazifismus von SPD, Grünen und Linkspartei Die Parteigeschichte der deutschen Sozialdemokratie als großes Drama des 20. Jahrhun- derts, die Geschichten der Grünen und der Linkspartei als zunehmende Farce; sie alle geben für die o.g. Behauptung die praktische Anschauung. Sie belegen nämlich ebenso die sozial- und friedenspolitische Ernsthaftigkeit der genannten Parteien in ihrer stürmi- schen Gründungsphase als auch den mühevollen Weg hin zu einer realpolitischen Kraft, die sich zur Regierungsfähigkeit des deutschen Kapitalismus vorgearbeitet hat und die dafür nötigen Härten selbstbewusst vertritt. Das hat einen logischen Grund: Wer sich vornimmt, den Kapitalismus im Interesse seiner Opfer zu regieren, die politi- sche Macht in der Bundesrepublik also im Namen der Armen und Entrechteten zu er- obern, der muss eben auch auf die ökonomische Grundlage dieser Macht und ihre welt- weiten Verwertungsbedingungen Rücksicht nehmen. Das schließt zahlreiche innen- und außenpolitische Rücksichtslosigkeiten gegen genau jene Adressaten der sozialen, ökolo- gischen und pazifi stischen Machtausübung ein, die man im Ausgangspunkt zu beglük- ken gedachte. Die interne Begründung für solche Härten auf den entsprechenden Parteitagen verweist ganz systemimmanent darauf, dass mit einer kriselnden Ökonomie, mit Massenarbeitslo- sigkeit und leeren Staatskassen auch niemand gedient sei und außenpolitisch ein „robu- stes Auftreten“ unumgänglich sei, gerade um die hohen Werte der Partei zu verteidigen. Was der Sache nach das Eingeständnis ist, dass sich die bürgerliche Staatsgewalt entge- gen der anfänglichen Parteiideale doch nicht einfach zu einer Hilfseinrichtung für ihre Opfer umwidmen lässt, wollen die sozialen Demokraten natürlich genau umgekehrt ver- standen wissen; nämlich so, dass ihre Brutalitäten letztendlich nur die realpolitische Vervollkommnung ihrer pazifi stischen Ideale seien. Ein solcher politischer Reifungspro- zess von der außerparlamentarischen Protest- zur parlamentarischen Oppositions- und schließlich kriegsbereiten Regierungspartei braucht seine Zeit und geht nicht ohne Aus- grenzung von so genannten „Spinnern“ oder „Fundamentalisten“ ab, die darauf insistie- ren, dass der Kapitalismus „System hat“, also nicht parlamentarisch zu verbessern, son- dern revolutionär zu überwinden ist ...
sopos 3/2015 7/12 noch eine unsichtbare, aber segensreiche Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel „Hand“, die zum gemeinsamen Nutzen al- ganze regionale Instabilitäten zu verhin- ler Teilnehmer wirkt. Die Ergebnisse der dern, die mit Sicherheit dann auch auf deutschen Konkurrenzanstrengungen unsere Chancen zurückschlagen negativ sind vielmehr innerhalb der EU (z.B. ge- durch Handel, Arbeitsplätze und Einkom- genüber Griechenland) als auch global – men. Alles das soll diskutiert werden und z.B. im Verhältnis zur sog. Dritten Welt ich glaube, w ir sind auf einem nicht so zu besichtigen. schlechten Weg. […] Es w ird w ieder so- zusagen Todesfälle geben. Nicht nur bei Weil sich das angestrebte grenzüber- schreitende Wachstum somit gegen an- Soldaten, möglicherweise auch durch Un- fall mal bei zivilen Aufbauhelfern. […] dere Staaten und deren Kapitalwachstum Man muss auch um diesen Preis sozusa- richtet, bedarf es der diplomatischen, gen seine am Ende Interessen wahren. politischen und notfalls militärischen […]“ (Horst Köhler am 22. Mai 2010 in ei- Durchsetzung durch die Staaten mit er- nem Interview mit dem Deutschlandra- folgreicher Kapitalakkumulation. Es ist insofern kein Zufall, dass die kapitali- dio) stisch erfolgreichen Staaten zugleich Und das weiß auch der aktuelle Bundes- auch die politischen Hauptakteure auf präsident Gauck, wenn er von einer grö- der Welt sind. Denn je größer und erfolg- ßeren „Verantwortung“ Deutschlands in reicher das akkumulierte Kapital bereits der Welt spricht. ist, desto größer wird das Bedürfnis nach Die nationalstaatlich verfasste Marktwirt- globaler Expansion. Zugleich liefern die schaft ist also der zwingende politökono- weit entwickelten kapitalistischen Unter- mische Grund für jene Maßnahmen, die nehmen ihren Staaten die finanziellen oben in groben Zügen dargelegt wurden. Mittel und die technisch-militärische Aus- Es sind also gerade nicht die Einstellun- rüstung, um das imperialistische Bedürf- gen oder Denkweisen der Regierenden nis erfolgreich durchzusetzen. Der kapi- wie Chauvinismus, Eurozentrismus, Pa- talistische Erfolg auf dem Weltmarkt und ternalismus (deren Existenz in Teilen der die Durchsetzung als nationalstaatliche Elite deshalb überhaupt nicht bestritten Weltmacht bedingen sich also wechselsei- werden muss). Imperialismus ist auch tig. keine Frage der friedenspolitischen Das war es also, was der ehemalige Bun- Ernsthaftigkeit der politischen Parteien. despräsident Horst Köhler – vielleicht Der aggressive und zerstörerische Cha- etwas ungeschickt – bei einem Interview rakter des außenpolitischen Engage- für das Deutschlandradio am 22. Mai ments kapitalistischer Gewinnerstaaten 2010 im Hinblick auf künftige Kriegsein- ist überhaupt keine Frage guter oder sätze der Bundeswehr seinem Volk sagen schlechter Politik, friedliebender oder wollte: aggressiver Parteiprogramme. „Meine Einschätzung ist aber, dass insge- Erst recht ist Imperialismus – um diesen samt w ir auf dem Wege sind, doch auch alten und beinahe tabuisierten Begriff in der Breite der Gesellschaft zu verste- noch einmal zu verwenden – kein Spezifi- hen, dass ein Land unserer Größe mit die- kum besonders „böser“ Nationen, die je ser Außenhandelsorientierung und damit nach Standpunkt wahlweise in den USA, auch Außenhandelsabhängigkeit auch Großbritannien, China, Japan oder in w issen muss, dass im Zweifel, im Notfall Deutschland ausgemacht werden.2 Der auch militärischer Einsatz notwendig ist, skizzierte Imperialismus ist schlicht ein um unsere Interessen zu wahren, zum politökonomisches Funktionserfordernis 2. Die Beurteilung von Kriegen im Hinblick auf deren Rechtfertigung, die so beliebte Unterschei- dung zwischen fremder böser und eigener guter Gewalt (bei Linken ist es manchmal auch anders herum), die Frage, wem auf dem imperialistischen Schlachtfeld unsere Sympathie gebührt – all diese Anstrengungen zeugen überhaupt nur vom parteilichen Nachvollzug der praktischen imperialistischen Konkurrenz.
sopos 3/2015 8/12 in nationalstaatlich regierten und erfolg- Konfrontiert mit der öffentlichen Empö- reich wachsenden Marktwirtschaften, rung nach dem hundertfachen Tod der das deren Politiker machtvoll gegen an- Flüchtlinge vor Lampedusa am 3. Okto- dere Staaten durchsetzen und dafür die ber 2013 betreibt Bundespräsident Gauck eigene Bevölkerung rücksichtslos in An- am Folgetag anlässlich der Verleihung spruch nehmen. des Bundesverdienstkreuzes zum Tag der Deutschen Einheit im Schloss Bellevue Teil II – Flüchtlingspolitischer eine gekonnte Selbstanklage, bei der er – Diskurs immerhin gelernter Pfarrer – mit der Die steigenden Flüchtlingszahlen sind größten Selbstverständlichkeit alle seine also ein Resultat der außenpolitischen Bürger – ob arm, ob reich, ob mächtig Durchsetzung des Wachstumspro- oder ohnmächtig – geradezu gleichma- gramms für den Standort Deutschland. cherisch mitverantwortlich macht: Weil die Flüchtlinge und ihr massenhaf- „Leben zu schützen und Flüchtlingen ter Tod ebenso unerwünscht wie unver- Gehör zu gewähren, sind wesentliche meidlich sind, wird ihr Leid in der politi- Grundlagen unserer Rechts- und Werte- schen Öffentlichkeit ordnung. Zuflucht Suchende sind Men- • in „normalen“ Zeiten verharmlost schen – und die gestrige Tragödie zeigt oder geleugnet und kommt höchstens als das – besonders verletzliche Menschen. Randnotiz in den großen Zeitungen vor; Sie bedürfen des Schutzes. Wegzu- schauen und sie hineinsegeln zu lassen in • in Zeiten besonders großer Leichen- einen vorhersehbaren Tod, das missach- berge direkt vor der eigenen Küste wird tet unsere europäischen Werte.“ das Elend als „Drama“ oder „Tragödie“ skandalisiert und damit gleichsam das Damit gibt der Bundespräsident das Mu- alltägliche Sterben als Normalität ster der öffentlichen Befassung vor. Ge- affirmiert; mäß der selbst formulierten Anklage lau- tet der Vorwurf auf unterlassene Hilfelei- • mit staatlichen Ehren und unter Trä- stung bei der Rettung der Flüchtlinge. nen und aufrichtiger Anteilnahme der Bereits durch diese Anklage ist die Bun- EU-Prominenz bedacht, während die desrepublik von jeglicher ursächlichen Grenzsicherung gleichzeitig verschärft Verantwortung sowohl für die Not der ausgebaut wird; Flüchtlinge in ihren Heimatländern als • und bei Bedarf derart umgedeutet, auch für die tödlichen Konsequenzen ih- dass sich die Politik im Namen der rer Flucht frei gesprochen. Überhaupt „Bekämpfung der Fluchtursachen vor bezichtigt der oberste Repräsentant der Ort“ einen neuen Auftrag zu noch mehr Bundesrepublik Deutschland keineswegs wirtschaftlicher, politischer und militäri- den Staat, dem er vorsteht, sondern groß- scher „Verantwortung in der Welt“ zügig seine Ehrengäste in ihrer Rolle als erteilt. Rechts- und Wertegemeinschaft. Die an- gesprochenen Werte sind zwar nicht wei- Bereits diese verlogenen Diskurse von ter erläuterungsbedürftig und ohnehin Politik und Presse werfen ein Licht dar- über jeden Zweifel erhaben, erleiden auf, dass die erste und die vierte Gewalt aber ausgerechnet am Nationalfeiertag offenbar ein Bewusstsein davon haben, durch den massenhaften Tod vor Lampe- dass es für die Staatsräson der Bundesre- dusa einen Imageschaden, so dass ein publik keine grundlegende Alternative im wenig Scham, Trauer und Betroffenheit Umgang mit Flüchtlingen gibt. Anhand dem zur moralischen Gemeinschaft ver- von drei Beispielen, nämlich anhand der klärten Staatswesen gar nicht schlecht zu öffentlichen Stellungnahmen von Politik, Gesicht steht. Das sieht auch der partei- Presse und Pro Asyl soll dieser Diskurs vorsitzende Sozialdemokrat Gabriel so nun näher betrachtet werden. und lässt in Bild am Sonntag wissen, um 1. „Scham und Trauer“ – die Selbstin- wen er sich Sorgen macht: „Was auf Lam- szenierung der Macht pedusa passiert, ist eine große Schande
sopos 3/2015 9/12 für die Europäische Union.“(zitiert nach die nächsten Toten auch schon am Folge- SZ vom 5. 10. 2013) tag einstellen. Nachdem die Stirn den Erfordernissen Ganz ähnlich melden sich die meisten Po- entsprechend ein paar Momente in dunk- litiker in Deutschland und der EU zu len Sorgenfalten verharrt, kann der ein- Wort. Ihren Streit über die Dublin II- bzw. gangs zitierte Präsident am Ende dersel- Dublin III-Verordnung, also über die La- ben Rede übrigens auch schon wieder stenverteilung bei der Flüchtlingsab- frohlocken: „Ich weiß schon jetzt, dass wehr, die Internierung der Flüchtlinge in ich mich im nächsten Jahr um diese Zeit meist privatisierten Lagern, über Pro- mit einem Lächeln an diesen Tag erinnern zessdurchführung und Abschiebung in- werde.“ szenieren sie unter Berufung auf die Ka- Mauerkreuze an der EU-Außengrenze, Aktion des Zentrums für Politische Schönheit, 2014 (http://www.politicalbeauty.de/) tastrophe auf einem Innenministergipfel Ebenso realpolitisch wie hochideologisch im Oktober 2013 in Brüssel als Lehren greift der damalige Innenminister Friede- aus den schrecklichen Ereignissen von rich (CSU) den Vorwurf der unterlasse- Lampedusa. Am Ende der Konferenz nen Hilfeleistung auf und erteilt sich bleibt alles beim Alten. Deutschland setzt selbst, seinem Ministerium und seinen sich gegen Italien, Spanien und Griechen- Beamten den einzig systemgemäßen Auf- land durch, die auch weiterhin als Erst- trag für einen verbesserten Flüchtlings- aufnahmeländer größtenteils die Flücht- schutz: „Fest steht, dass w ir noch stärker lingsabwehr im Interesse Deutschlands die Netzwerke organisierter und ausbeu- zu bewältigen haben. Ganz nebenbei ge- terischer Schleusungskriminalität be- lingt den versammelten Demokraten un- kämpfen müssen.“ (SZ vom 5. 10. 2013) ter Mithilfe der meisten Leitmedien dabei Dies freilich, ohne deren Geschäftsgrund- die Umdefi nition vom tödlichen Problem lage, immerhin die eigene Flüchtlingspo- der Flüchtlinge zum Flüchtlingsproblem litik, auch nur in Betracht, geschweige der EU! So weit, so brutal, so konsequent denn in Zweifel zu ziehen, so dass sich
sopos 3/2015 10/12 ... Hauptinhalt dieser Politik ist.“ (Hervorh. d. Verf.) 2. „Krokodilstränen der Politik“ – die Anklage der kritischen Presse Prantl beschönigt nichts und er differen- ziert. An Stelle einer pauschalisierenden Entgegen der geheuchelten Warnung Kollektivverurteilung nach dem Motto etwa der ehemaligen Ausländerbeauftra- „Wir alle“ nennt er das entscheidende gen der Bundesregierung Maria Böhmer Subjekt beim Namen: Die EU-Politik und (CDU), das Mittelmeer dürfe kein Mas- ihre karrierebewussten Vertreter! Prantl sengrab werden, beginnt Heribert Prantl kennt die Prioritäten der Flüchtlingspoli- in der Süddeutschen Zeitung vom 7. 10. tik und sogar ihren Zweck, wenn er fest- 2013 den Kommentar „Das Boot ist leer“ hält: „In dieser Politik hat die Abwehr von mit einer bewussten Entgegensetzung: Menschen Vorrang vor der Rettung von „Das Mittelmeer ist (!) ein Massengrab. Menschen. [...] Der Tod der Flüchtlinge Die toten Flüchtlinge sind Opfer unterlas- „Grenzen auf für alle!“ – Exkurs zur Kritik der radikalen Flüchtlingsfreunde Wollen die wenigen ernsthaften Kritiker dieses tödlichen Programms wirklich bei der ebenso bornierten wie unrealistischen Forderung stehen bleiben, dass die Staaten, die dieses globale Elend samt lokaler Flüchtlingspolitik zu verantworten haben, ausgerech- net ihre Grenzen für jene öffnen sollen, mit denen Staat und Kapital schon in ihrer Hei- mat nichts anzufangen wissen? Wollen sie ihre Kritik nicht auf die Ursachen der Not und deren Verursacher richten, sondern die Täter erst fälschlich zu Rettern verklären, um diese schließlich wegen unterlassener Hilfeleistung moralisch anzuklagen? Und wäre es – einmal davon abgesehen, dass die europäischen Regierungen solche For- derungen aus den genannten Gründen ablehnen müssen – überhaupt sinnvoll und wün- schenswert, alle Opfer der globalen Weltordnung die Chance zu eröffnen, mit den be- reits ortsansässigen Armen um eine Wohnung im segensreichen Moloch deutscher, fran- zösischer oder britischer Slums zu konkurrieren, darum zu streiten, wer dort die Klos von McDonalds oder die Flure deutscher Ämter und Behörden putzen darf oder sich mit iberischen Arbeitslosen darum zu schlagen, wer auf den Plantagen spanischer Agrarkon- zerne die Chance bekommt, Pestizide zu inhalieren? Wohl eher nicht ... sener Hilfeleistung; womöglich handelt ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik. Er ge- es sich auch um Tötung durch Unterlas- hört zur Abschreckungsstrategie, die der sen. Sie sind jedenfalls Opfer der europäi- Hauptinhalt dieser Politik ist.“ Schließlich schen Flüchtlingspolitik, der Politik des ist auch die Schlussfolgerung aus seiner Friedensnobelpreisträgers von 2012, der Anklage am Ende des zitierten Kommen- Europäischen Union. In dieser Politik hat tars durchaus beachtlich: „In einem Flug- die Abwehr von Menschen Vorrang vor blatt der Weißen Rose hieß es einst: ‚Zer- der Rettung von Menschen. [...] Hilfe gilt reißt den Mantel der Gleichgültigkeit, als Fluchtanreiz. Deshalb ist sie verboten, den Ihr um Euer Herz gelegt.’ Diese deshalb w ird sie bestraft, deshalb nimmt Sätze aus furchtbarer Zeit sind keine die EU-Politik den Tod der Flüchtlinge fa- Sätze nur für das Museum des Widerstan- talistisch hin. [...] Die Tränen, die nun an- des, sie haben ihre eigene Bedeutung in gesichts des Massentodes vor Lampedusa jeder Zeit – auch in unserer!“ zerdrückt werden, sind Krokodilstränen; Dennoch ist sein Hauptvorwurf verkehrt. und die Reden dieser Politiker sind Kro- Denn der Vorwurf der „unterlassenen Hil- kodilsreden. Der Tod der Flüchtlinge ist feleistung“ der Festung Europa geht Teil der EU-Flüchtlingspolitik. Er gehört nicht nur bei Gauck brutal an der Sache zur Abschreckungsstrategie, die der vorbei. Die EU tut nicht zu wenig beim
sopos 3/2015 11/12 Flüchtlingsschutz. Die EU produziert die Wunschvorstellungen entwickelt und es Flüchtlinge. Kein Wunder und überhaupt wird erwartet, dass der real existierende kein Widerspruch ist es daher zu ihrem Staat diese zu verwirklichen habe.3 Die Auftrag, wenn sie die Opfer ihrer eigenen gegenteilige Erfahrung in der Wirklich- Erfolgsstrategie nicht haben will! Im Ge- keit, nämlich die tödliche Abschottungs- genteil: Die Öffnung der Grenzen für die politik – Pro Asyl macht die deutsche Öf- unendlich vielen Verzweifelten, die der fentlichkeit darauf beharrlich und durch- Westen von den Philippinen bis Haiti von aus dankenswerter Weise aufmerksam – Afghanistan bis Mali durch seinen Erfolg wird nicht als wörtliche und durchaus er- global erst in Not bringt, stünde tatsäch- freuliche Ent-Täuschung über die eigenen lich im Widerspruch zum Erfolg dieser Ideale genommen, sondern moralisch Staaten und ihren realen Höchstwerten – enttäuscht zur Kenntnis genommen, ganz Dollar und Euro. nach dem Motto: ‚Der Staat wird Aufga- ben, die er selbst zwar gar nicht verfolgt, 3. „Scheitern der europäischen aber an die ich, d.h. Pro Asyl, gerne Flüchtlingspolitik“ – die Kritik von glaube, gar nicht gerecht! Er entspricht Pro Asyl nicht meinen höheren Idealen über ihn.’ „PRO ASYL fordert einen völligen Neube- Bei aller Kritik an der politischen Wirk- ginn in der Flüchtlingspolitik Europas. lichkeit lässt man sich den guten Glauben Die Abschottungspolitik der beiden letz- an die segensreichen Aufgaben der politi- ten Dekaden ist gescheitert. Der tausend- schen Gewalt, der man unterworfen ist, fache Tod von Flüchtlingen an den Außen- nicht nehmen. Heraus kommt eine Kritik, grenzen Europas bedeutet den morali- die als Hass-Liebe bezeichnet werden schen Bankrott der Flüchtlings – und kann. Bei aller Kritik an den real existie- Menschenrechtspolitik der EU“ (Presse- renden Politikern bleibt man unerschüt- erklärung Pro Asyl 4. 10. 2013) terlicher Parteigänger jenes Staates, des- Pro Asyl spricht angesichts der Toten vor sen Interessen die Politiker vertreten. Lampedusa in seiner Presseerklärung Um das an einem zweiten Beispiel zu ver- vom Scheitern der europäischen Flücht- deutlichen: Auch Pro Asyl wirft dem deut- lingspolitik. Dabei ist – zumindest nüch- schen Innenminister „Verantwortungslo- tern betrachtet – offensichtlich nicht die sigkeit“ vor, wenn dieser mit all seiner Flüchtlingspolitik der EU, sondern das Macht in der EU für Dublin II und III und Leben der Flüchtlinge an der durchaus eine verschärfte Flüchtlingspolitik ein- wirkungsvollen Politik gescheitert. Wie tritt. Wie dies? – möchte man fragen, wo kommt es zu dieser – zunächst einmal doch ganz offensichtlich ist, dass der Mi- „nur“ sachlich verkehrten – Kritik? nister bewusst und öffentlich für seine Menschenrechts- und Hilfsorganisationen Ziele eintritt? Offenbar will man sich die stellen sich offenbar vor, Flüchtlingspoli- Macht demokratischer Politiker nicht als tik habe eigentlich (!) dem Schutz für Macht über das Leben anderer (in diesem Flüchtlinge und nicht dem Schutz vor Fall der Flüchtlinge) vorstellen, sondern Flüchtlingen zu dienen. Über Asyl- und als Verantwortung für die Untergebenen. Menschenrechte werden also Ideale, d.h. Auch hier wird die gegenteilige Erfah- 3. Dabei könnte schon Art. 16 GG Absatz 1 „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ hellhörig machen, stellt er doch klar, dass der Gesetzgeber nicht die Not der Flüchtenden, sondern nur den von ihm zu defi nierenden Tatbestand der „politischen“ Verfolgung durch auswärtige, meist von ihm als feindlich eingestufte Souveräne zum Anlass für eine Asylrechtsgewährung nimmt. Vom Standpunkt des Überlebenswillens der Flüchtenden jedenfalls wäre die sachlich ohnehin kaum haltbare Unterscheidung zwischen politischen und wirtschaftlichen Fluchtgründen gänz- lich unerheblich. Dass die Inschutznahme von politisch Verfolgten weniger der Sorge um deren Wohlergehen als vielmehr der damit intendierten Verurteilung der Verfolgerstaaten geschuldet ist, ist denn auch jedermann sofort klar, wenn sich andere, möglicherweise sogar feindliche Staaten wie z.B. Russland im Falle Edward Snowdens dieses außenpolitischen Kampfmittels bedienen. (Vgl. dazu A. Krölls „Das Grundgesetz – ein Grund zum Feiern?“ Hamburg 2009)
sopos 3/2015 12/12 rung nicht zum Anlass zunächst einer Ein Mann, der etwas davon versteht, pre- Selbstkritik, die eigene Idealisierung der digt seinen Bundesschäfchen öffentlich- Macht betreffend, genommen, sondern rechtlich zu Weihnachten: im Gegenteil der Macht vorgeworfen, „Machen w ir unser Herz nicht eng mit dass sie einmal mehr nicht so gut war, der Feststellung, dass w ir (!) nicht jeden wie man an sie zu glauben bereit ist. (!), der kommt, in unserem Land aufneh- Bei den charakterisierten Denkmustern men können. Ich weiß ja, dass dieser Satz handelt es sich um Fälle eines enttäusch- sehr, sehr (!) richtig ist. Aber zu einer ten Staatsidealismus. Der ist und bleibt Wahrheit (!) w ird er doch erst, wenn w ir bei aller Enttäuschung ein Idealismus. zuvor unser Herz gefragt haben, was es Ein Wunschdenken, die eigene Staatsge- uns sagt, wenn w ir die Bilder der Verletz- walt und ihre menschenrechtlichen Prin- ten und Verjagten gesehen haben. Tun zipien betreffend. Die Folge ist der fol- w ir w irklich schon alles, was w ir tun genlose und gerade darin staatstragende könnten?“ (Weihnachtsansprache des Ruf nach guten Gesetzen, verantwor- Bundespräsidenten 2013; Hervorhebung tungsvollen Politikern, unverbrauchten d. Verf.) Parteien. Und genau das ist das Material, Der betroffene Blick auf die „Verletzten mit dem immer neue, unverbrauchte Poli- und Verjagten“, die natürlich mit der ei- tikergenerationen ihre Konkurrenz um genen Politik nichts zu tun haben; die ge- die Macht im kapitalistischen National- konnt beklommene Frage, ob „wir“ auch staat betreiben und bei ihren potentiellen genug helfen – sie gehören einfach dazu. Wählern geschickt den Idealismus der Nämlich zur Pfl ege des Glaubens an die Verantwortung gegen den Realismus der höheren Werte und des guten Gewissens Macht ausspielen ... einer imperialistischen Nation. Statt eines Fazits: Erbauliches zur Weihnachtszeit! Arian Schiffer-Nasserie, Prof. Dr., unterrichtet Politikw issenschaft an der Evangelischen Fachhochschule R-W-L in Bochum. Schwerpunkte: Migrations- und Sozialpolitik sow ie Rassismusforschung. schiffer-nasserie@efh-bochum.de Zuerst erschienen in standpunkt : sozial 3/2014 Der Artikel ist im Internet abrufbar unter: http://sopos.org/aufsaetze/55191d63348f7/1.phtml
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