Flüchtlingspolitik: Ein Jahr nach Lampedusa Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich - wofür?

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sopos 3/2015                                   1/12

Flüchtlingspolitik: Ein Jahr nach Lampedusa
Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich – wofür?
von Arian Schiffer-Nasserie

Weltrekord! Über 50 Millionen Menschen                chenvertreter öffentlich wahrhaben wol-
waren laut UNHCR im vergangenen Jahr                  len. Wenngleich die vielen Grenztoten
auf der Flucht – mehr als je zuvor seit               der EU – im Unterschied zu den etwa
Weltkrieg Nummer 2 und allein sechs                   200 Maueropfern in 40 Jahren DDR-
Millionen mehr als im Vorjahr. Ein kleiner            Geschichte – nicht zur Verurteilung eines
Teil der Flüchtenden erreichte die Außen-             Staats oder gar eines ganzen Staaten-
grenzen der EU und versuchte Mauern,                  bündnisses herangezogen werden dürfen
Zäune und Seegrenzen ohne Erlaubnis                   und ein Schluss auf das ökonomische Sy-
des Staatenbündnisses zu überwinden.                  stem des Westens unerwünscht ist, so ist
                                                      Kritik doch erlaubt und wird auch geäu-
Etwas mehr als ein Jahr liegt die „Flücht-
                                                      ßert: Europaweit werfen Flüchtlings- und
lingskatastrophe“ von Lampedusa be-
                                                      Kirchengruppen, Linke und Menschen-
reits zurück. An öffentlicher Anteilnahme,
                                                      rechtler den Verantwortlichen Abschot-
an zur Schau gestellter Scham, Trauer
                                                      tung vor. Sie konstatieren, dass die EU
und Betroffenheitsbekundungen der eu-
                                                      keinen Schutz für Flüchtlinge, sondern
ropäischen Eliten hatte es danach ja kei-
                                                      Schutz vor Flüchtlingen betreibe. Öffent-
nesfalls gemangelt. Sogar politische Kon-
                                                      lich verurteilt werden die Repräsentanten
sequenzen wurden in Aussicht gestellt:
                                                      der EU für ihre angeblich „unterlassene
Alles sollte anders werden. Davon will
                                                      Hilfeleistung“ (vgl. etwa H. Prantl in der
man ein Jahr später kaum noch etwas
                                                      Süddeutschen Zeitung vom 7. 10. 2013)
wissen.
                                                      und ihre „Verantwortungslosigkeit“.
Allein seit dem 3. Oktober 2013 kostete
                                                      Der vorliegende Beitrag will die hier an-
der Versuch der unerlaubten Einreise
                                                      gerissenen Aspekte in zwei Teilen ge-
mehr als 3000 Menschen das Leben. Das
                                                      nauer untersuchen. Teil eins geht der
ist ebenfalls Rekord. Die meisten von ih-
                                                      Frage nach, warum und wofür die Flücht-
nen ertranken im Mittelmeer – und das
                                                      linge und ihr massenhafter Tod an den
während einer fl üchtlingspolitischen
                                                      EU-Außengrenzen – allen öffentlichen Be-
Sonderphase, in der die italienische Kü-
                                                      teuerungen zum Trotz – offenbar unver-
stenwache die Seenotrettung von Flücht-
                                                      meidlich sind. Teil zwei behandelt die öf-
lingen noch vor deren Abwehr stellte. In-
                                                      fentliche Auseinandersetzung und Kritik
nerhalb eines Jahres rettete das Pro-
                                                      nach der so genannten „Flüchtlingskata-
gramm „Mare Nostrum“ nach Angaben
                                                      strophe von Lampedusa“ anhand von drei
der Regierung in Rom und gegen den Wil-
                                                      Beispielen.
len der Bundesrepublik, die sich an den
Kosten nicht beteiligen wollte, zum Preis             Teil I – Fluchtursachen und
von ca. 9 Mio. Euro monatlich immerhin                Flüchtlingspolitik
120.000 Menschenleben. Das Nachfolge-
programm „Triton“ bemüht sich denn in-                Wenn in Deutschland über die Lage von
zwischen auch wieder ganz im Sinne der                Flüchtenden, über Flüchtlingskatastro-
Bundesregierung um die gewünschte Ab-                 phen und Flüchtlingspolitik nachgedacht
schreckung, Abschottung und Abschie-                  und gestritten wird, dann zeichnen sich
bung; mit den bekannten Folgen.                       bei aller Kontroversität zwei als selbst-
                                                      verständlich unterstellte Vorannahmen
So geht das Sterben rekordverdächtig                  ab:
weiter. Entgegen aller öffentlichen Ver-
lautbarungen hat das Flüchtlingselend                 Die erste geht davon aus, das Flüchtlings-
also offenbar doch viel mehr mit den vita-            elend müsse eigentlich nicht sein, wenn
len Interessen der europäischen Staaten               nur alle Beteiligten – also die Flüchtlinge
zu tun, als dies Politik-, Presse-, und Kir-          aus den Armuts- und Kriegsregionen
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  Mauerkreuze an der EU-Außengrenze, Aktion des Zentrums für Politische Schönheit,
  2014 (http://www.politicalbeauty.de/)

selbst, die Regierungen ihrer Herkunfts-           ten der Beteiligten zurückzuführen ist –
länder, die Schleuser, Frontex und die             also auch nicht durch moralisierende Ap-
(un)verantwortlichen Politiker der EU –            pelle an die vermeintlich Schuldigen zu
ihrer Verantwortung korrekt nachkämen.             bewältigen ist – sondern regelrecht syste-
Auf diesem festen Glaubenssatz baut die            matische Ursachen hat. Die zentrale
deutsche Diskussion mit viel Emphase               These lautet: Die Flüchtlinge und ihre lei-
auf und es wird munter je nach politi-             chenträchtige Abwehr sind für die ökono-
scher Position darum gerechtet, wem die            mischen, politischen und militärischen In-
Schuld für den massenhaften Tod auf                teressen der EU unvermeidlich. Dies soll
dem Meer zu geben sei. Die Antworten               im Folgenden bewiesen werden.
fallen den politischen Standpunkten ent-
                                                   Ökonomisch sind die Flüchtlinge für
sprechend, also leider in aller Regel äu-
                                                   den europäischen Kapitalismus
ßerst gehässig, aus.
                                                   unvermeidlich,
Vorannahme zwei diskutiert Deutschland
                                                   1. weil die EU – Deutschland vorneweg –
ausschließlich als Aufnahme- und Helfer-
                                                   mit überlegenen Unternehmen und sub-
land oder zumindest als potentielle
                                                   ventionierten Waren die afrikanischen
Schutzmacht für die Bedrängten dieser
                                                   und arabischen Ökonomien erfolgreich
Welt. Flüchtlingsfeinde und Flüchtlings-
                                                   kaputt konkurriert und den betroffenen
freunde teilen einträchtig auch diesen
                                                   Menschen damit ihre Lebensgrundlage
Grundsatz – um auf dessen Basis wild
                                                   nimmt. Dies geschieht durch die Zerstö-
darüber zu streiten, ob Deutschland
                                                   rung traditioneller Wirtschaften und
schon viel zu viele Flüchtlinge aufnehme
                                                   Märkte, wo diese noch vorhanden sind
oder aber seiner humanitären Verantwor-
                                                   (zum Beispiel durch den Export von
tung ganz unzureichend gerecht werde.
                                                   Hühnchenfl ügeln und Schlachtabfällen
In Anbetracht solcher Gewissheiten er-             aus Niedersachen in die Märkte Zentral-
scheint es angezeigt, zunächst die in der          afrikas). Oder durch die Ruinierung der
deutschen Flüchtlingsdiskussion bezeich-           heimischen Unternehmen, insbesondere
nend wenig thematisierten Fluchtursa-              der verarbeitenden Gewerbe (zum Bei-
chen zu betrachten. Sie sind dazu geeig-           spiel der Fischindustrie des Maghreb),
net, einige grundlegende Illusionen der            die dann ihrerseits keinen Gebrauch
Diskussion in Frage zu stellen. Es wird            mehr von den eigentumslosen Arbeits-
sich zeigen, dass das Flüchtlingselend             kräften machen, so dass die abhängig
keinesfalls auf vermeidbares Fehlverhal-           Beschäftigten ihrer Existenzgrundlage
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beraubt sind,                                         wortlich um den eigenen Gelderwerb
                                                      kümmern zu dürfen, die tatsächliche
2. weil die Lebensmittel bzw. fruchtbaren
                                                      Möglichkeit dazu in ihrer Heimat keines-
Böden (zum Beispiel die Palmölplantagen
                                                      wegs einschließt.,
in der Elfenbeinküste, Rosen aus Kenia,
Erdnüsse aus dem Senegal usw.), die                   5. weil die Überflüssigen seit der Euro-
Fischfanggebiete (Beispiel Mauretanien)               krise selbst als Wanderarbeiter und Ern-
und die Rohstoffvorkommen ihrer Heimat                tehelfer in der EU weniger gebraucht
(zum Beispiel Uran aus Niger, Tschad                  werden. Und dort, wo sie weiterhin be-
und Mali) exklusiv der Verwertung westli-             schäftigt werden, besteht die bittere Iro-
cher Kapitale dienen – und damit der ört-             nie ihres „Glücks“ darin, dass sie mit ih-
lichen Bevölkerung als Lebensgrundlage                ren Dritte-Welt-Löhnen kombiniert mit
entzogen werden,                                      der Produktivität europäischer Betriebe
                                                      unfreiwillig dazu beitragen, den auswärti-
3. weil die Menschen vor Ort zwar genau
                                                      gen Erfolg Europäischer Unternehmen
wie die abhängig Beschäftigten in Europa

Exkurs zu den Fortschritten der freiheitlichen Weltordnung
Man kann es gar nicht oft genug betonen: Freiheit – nicht Zwang charakterisiert das
Elend der Überflüssigen in der heutigen Weltordnung! Wurden zu Kolonialzeiten die Ar-
beitssklaven zwangsweise in Ketten und auf Kosten ihrer europäischen und amerikani-
schen Anwender über das Meer geschifft, so ist die Situation im Zeitalter der globalen
Geltung von Freiheit und Eigentum weit fortgeschritten: Die ehemaligen Sklaven rudern
inzwischen selber! Und zwar aus eigenem Entschluss und auf eigene Kosten als freie
und eigentumslose Personen. Die ehemaligen Kolonial- und Sklavenhalterstaaten in Eu-
ropa und Nordamerika, inzwischen allesamt Hüter der universellen Menschenrechte,
können bequem nach eigenem Bedarf entscheiden, ob und wem sie die Gnade gewäh-
ren, in ihren Ländern den privaten Reichtum ihrer Unternehmen zu mehren. Wenn
schon nicht in der Vermeidung von Not und Leid, so sind die neuen Weltordnungs-
mächte ihren historischen Vorgängern zumindest bezüglich dieser freiheitlichen und
grundsoliden Herrschaftstechnik weit überlegen ...

                                                      und damit die Ruinierung der heimischen
in Ermangelung alternativer Lebens-
                                                      Ökonomie ihrer Herkunftsländer weiter
grundlagen existenziell darauf angewie-
                                                      voran zu treiben,
sen sind, von einem Arbeitgeber ange-
wendet zu werden, um leben zu können,                 6. weil Weltbank und IWF darauf beste-
im Unterschied zu europäischen Arbeit-                hen, dass die arabischen und afrikani-
nehmern aber in der Regel als Lohnab-                 schen Staaten die Ernährung ihrer Völker
hängige nicht gebraucht werden, sich in               nicht subventionieren dürfen, wenn sie
der Konkurrenz um Lohnarbeit folglich                 weiterhin vom Westen Kredit wollen. (Die
immer weiter unterbieten und deshalb                  Liste ließe sich leider noch fortsetzen.)
massenhaft verelenden,
                                                      Politisch sind die Flüchtlinge eine
4. weil sie also für das kapitalistische Ge-          notwendige Folge westlicher Weltord-
schäft in der großen Masse schlicht über-             nung,
fl üssig sind, d.h. „Überbevölkerung“, die
                                                      1. weil nicht geduldet wird, wenn sich die
stört, wo immer sie rumvegetiert und des-
                                                      Überfl üssigen in ihrer Not gegen ihre po-
halb nicht selten ein Fall für die Armuts-,
                                                      litische Herrschaft aufl ehnen oder ande-
Kriminalitäts-, und Aufstandsbekämp-
                                                      ren politischen Mächten zuwenden, so-
fung durch Polizei, Militär und Ordnungs-
                                                      fern dies den Ordnungsvorstellungen eu-
politik werden. Mit anderen Worten: Weil
                                                      ropäischer und amerikanischer Mächte
die Freiheit, die den ehemaligen Koloni-
                                                      widerspricht. Historisch war dies in der
sierten gewährt wird, sich selbstverant-
                                                      Phase der Entkolonialisierung der Fall,
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als sich viele Befreiungsbewegungen der             6. weil sie mit Wirtschaftsembargos und
gerade entstehenden Dritten Welt Hilfe              Blockaden die Lage der Völker in unlieb-
suchend an die alternative Weltmacht                samen Staaten weiter zu verschlechtern
UdSSR oder die junge Volksrepublik                  suchen (allein dem Irak-Embargo der
China wandten und dafür direkt (Korea,              USA, politisch gegen S. Hussein gerich-
Vietnam, Laos, Kambodscha, Algerien,                tet, fi elen durch Mangelernährung und
Simbabwe usw.) oder indirekt (Kuba,                 fehlende Medikamente 500.000 irakische
Chile, Nicaragua, Angola, Namibia, Mo-              Kinder zum Opfer), um sie in Hungerauf-
cambique, Palästina, Ägypten, Syrien                ständen gegen ihre Regierung aufzubrin-
usw.) mit Stellvertreterkriegen, Milizen            gen,
und Embargos vom Westen bekämpft
                                                    7. weil sie Putschs gegen antiwestliche
wurden. Heute ist das der Fall, wenn ent-
                                                    Regierungen, die auf demokratischem
sprechende Staaten oder Bewegungen
                                                    Wege an die Macht gekommen sind, und
ihr Heil in der ökonomischen Erschlie-
                                                    dazugehörige Militärdiktaturen offen un-
ßung durch China, durch Bündnisse und
                                                    terstützen (Algerien) oder zumindest dek-
Beistandsbekundungen mit den „Schur-
                                                    ken und militärisch ausrüsten (Ägypten).
ken“ der Weltordnung, insbesondere Rus-
sland, Iran, Kuba, Venezuela und Nordko-            Und militärisch sind Flüchtlinge Teil
rea oder in der Hinwendung zum politi-              der „Kollateralschäden“ des westli-
schen Islam entdecken,                              chen Engagements,

2. weil EU und USA die Verzweifelten in             weil die USA und die EU-Staaten überall
Afrika, im Nahen und Mittleren Osten in             dort, wo diese friedliche Diplomatie nicht
Zentralasien für ihre Einfl ussnahme auf            ausreicht, um ihre Interessen durchzuset-
die Regionen zu instrumentalisieren su-             zen, entweder im Alleingang, im NATO-
chen und westliche Regierungen die Auf-             Bündnis oder in einer Koalition der Willi-
stände der Überfl üssigen – je nach Be-             gen zur offenen Kriegführung übergehen,
darf – gegen unliebsame Regierungen un-             Söldnertruppen zusammenstellen oder
terstützen oder unterdrücken (Syrien,               gleich selber „Luftschläge erteilen“, bom-
Libyen, Libanon, Iran, Ägypten usw.),               bardieren, einmarschieren und besetzen.
                                                    Und das alles bekanntlich nur – um die
3. weil sie, wo dies zur Durchsetzung der
                                                    „Zivilbevölkerung zu schützen“.
eigenen Interessen opportun erscheint,
zur ethnischen und religiösen Spaltung              Die Flüchtenden sind also tatsächlich die
ganzer Staaten beitragen und die dafür              ebenso unerwünschte wie unvermeidli-
nötigen Kriege fi nanzieren (früher Erit-           che Konsequenz der ökonomischen, poli-
rea, heute Sudan, Irak, Syrien), so dass            tischen und militärischen Konkurrenzan-
ethnische Säuberungen und Vertreibun-               strengungen der EU-Staaten, ihrer Ver-
gen die zwangsläufi ge Konsequenz sind,             bündeten und ihrer Unternehmen. Die
                                                    Flüchtenden sind der auch in den Metro-
4. weil die Staaten des Westens unlieb-
                                                    polen wahrnehmbare Ausdruck der Rui-
same Bewegungen und Organisationen
                                                    nierung weiter Teile der Welt durch die
bespitzeln, verfolgen, ihre Mitglieder und
                                                    herrschende Weltordnung.
deren Angehörige foltern, sie mit Droh-
nen beschießen, sie von Milizen vernich-            Flüchtlingspolitik an den Grenzen der
ten lassen usw. (Jemen, Pakistan, Soma-             Europäischen Union Schließlich wer-
lia, Afghanistan...),                               den die Überfl üssigen und Vertriebenen
                                                    dann noch Opfer der ebenfalls für die EU-
5. weil sie befreundete und verbündete
                                                    Staaten notwendigen Grenz- und Flücht-
Regime bei ihrer Kriegführung unterstüt-            lingspolitik: Wenn nämlich diese viel zi-
zen (Saudi-Arabien, Khatar, Arabische
                                                    tierte „Zivilbevölkerung“, auf die sich die
Emirate, Jordanien, Türkei usw.), d.h.
                                                    westlichen Staaten so gerne bei ihren
Diktaturen, Demokratien, Monarchien
                                                    Kriegsbegründungen berufen, den oben
und Gottesstaaten für ihre Beiträge zur
                                                    aufgezählten Horror überlebt und aus ih-
westlichen Weltordnung aus- und aufrü-
                                                    rer Verzweifl ung und Ohnmacht den
sten und so von sich abhängig machen,
sopos 3/2015                                  5/12

Schluss zieht, nach Europa oder Nord-                nung darstellen. Die Toten an den EU-Au-
amerika zu fl iehen, dann muss diese Zi-             ßengrenzen sind die zivilen Opfer dieses
vilbevölkerung erfahren, dass die „huma-             Erfolgswegs des Europäischen Staaten-
nitäre Hilfe“ des Westens so nicht ge-               bündnisses.
meint war.
                                                     Die politökonomische Notwendigkeit
Als Flüchtlinge stoßen sie an die Außen-             des EU-Imperialismus Die oben darge-
grenzen der Europäischen Union und                   stellte ökonomische, politische und mili-
dürfen nicht einreisen. Der sichere und              tärische Ruinierung ganzer Weltgegen-
unkomplizierte Zugang mit Fähren und                 den durch die EU, ihre Verbündeten und
Fluggesellschaften von ihren Heimatlän-              ihre Unternehmen ist – die nötige Unbe-
dern aus – die ja nicht selten zugleich              fangenheit vorausgesetzt – kaum zu über-
beliebte Destinationen des Ferntouris-               sehen. Und Deutschland ist innerhalb der
mus sind – bleibt ihnen ohne rechtlichen             EU deren größter Nutznießer und folglich
Aufenthaltstitel der EU verwehrt. Jede               auch eine treibende Kraft entsprechender
Hoffnung der „unschuldigen Zivilbevölke-             Machenschaften. Will man nicht von der
rung“, der „schutzlosen Männer, Frauen               theoretisch unbefriedigenden Idee von
und Kinder“ auf legale und sichere Weise             lauter „Fehlentwicklungen“ und „Verstö-
diesem Horror zu entgehen, wird durch                ßen“ ausgehen, so stellt sich die Frage:
ein hermetisches Grenzregime zunichte                Warum betreiben kapitalistisch erfolgrei-
gemacht. Der Versuch, es auf unerlaubte              che Staaten, in diesem Fall also die Staa-
Weise doch zu tun, also illegal einzurei-            ten der EU, eine so grauenvolle Politik?
sen, kostet dann weiteren Tausenden das              Die Antwort kann im Rahmen dieses Bei-
Leben.                                               trages nur in stark komprimierter Form
                                                     in ihrem politökonomischen Kern gege-
Es ist insofern auch konsequent, dass Fi-
                                                     ben werden:
scher nicht helfen und vorbeifahrende
Container,- und Kreuzfahrtschiffe die Er-            Kapitalwachstumist die wirtschaftliche
trinkenden nicht retten, ihre Hilferufe              Grundlage der politischen Macht der
nicht erhören, da den Rettern möglicher-             Bundesrepublik wie aller marktwirt-
weise Strafe droht. Es ist auch nur folge-           schaftlicher Staaten. Von der KiTa über
richtig, dass Überlebende angeklagt wer-             die Autobahn bis zum Panzer kauft sich
den und Fluchthelfer mit hohen Strafen               der moderne Staat die Mittel seiner Poli-
rechnen müssen, noch bevor alle Leichen              tik. Deshalb setzen sich deren Regierun-
beseitigt sind, damit kein falsches Signal           gen parteiübergreifend für Wachstum
an jene ergeht, die auf der anderen Seite            ein. Denn nur wenn private Unternehmen
des Meeres noch leben.1                              aus ihrem Geld mehr Geld machen, be-
                                                     kommen die Lohnabhängigen überhaupt
Zwischenfazit
                                                     Arbeit und Gehalt, machen die Unterneh-
Die Flüchtlinge sind notwendig, weil die             men Gewinne, fi ndet Handel und Kredit-
Ruinierung der Existenzgrundlagen der                geschäft statt. Und nur dann kann der
eigentumslosen Massen in der Dritten                 Fiskus all diese privaten Einnahmequel-
Welt zwar nicht der Zweck, aber doch die             len, ganz besonders den Lohn, besteuern,
unvermeidliche Folge der europäischen                d.h. teilweise enteignen, verstaatlichen
Wachstumspolitik und ihrer außenpoliti-              und schließlich auf das so geschaffene
schmilitärischen Flankierung ist. Der Zu-            Steueraufkommen seine Verschuldungs-
zug der Überfl üssigen in die EU ist uner-           fähigkeit gründen. Wachstum, das schon
wünscht und folglich vom Gesetzgeber                 seinem Begriff nach maßlos ist, muss des-
verboten, weil sie in den Zentren nicht              halb sein: Wachstum ist die Staatsräson
gebraucht werden, also nur eine Bela-                bürgerlicher Herrschaft. Je mehr desto
stung und Gefährdung der inneren Ord-                besser. Auf die menschlichen und natürli-

1. Zu dieser Strategie gehört es auch, zum Zwecke der Abschreckung in den Herkunfts- und Tran-
   sitländer Filme über den qualvollen Tod der Flüchtlinge zu zeigen, die diesseits des Mittelmee-
   res den Fernsehzuschauer eher nicht zugemutet werden sollen.
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chen Grenzen des kapitalistischen                   möglichst globale Ausmaße annimmt,
Wachstums nehmen moderne Staaten in                 bemühen sich Politiker mit aller Macht
ihrer Sozial- und Umweltpolitik deshalb             um die Konvertibilität ihrer Landeswäh-
nur dann Rücksicht, wenn sie sich davon             rungen, Zollbestimmungen, Handelsver-
„nachhaltig“ noch mehr Wachstum ver-                träge, Abkommen und so weiter. Sie sind
sprechen. Und in ihrer Wirtschafts- und             also nicht die ohnmächtigen Opfer, son-
Außenpolitik setzen sie sich deshalb da-            dern die mächtigen Akteure und im Falle
für ein, dass auch die nationalstaatlichen          der Bundesrepublik auch die Profiteure
Grenzen ihrer eigenen Herrschaft keine              der allseits beschworenen Globalisie-
Grenzen der kapitalistischen Akkumula-              rung!
tion darstellen. Im Unterschied zu der
                                                    Stichwort EU-Binnenmarkt Sowohl in-
eher idealistischen Forderung der radika-
                                                    nerhalb Europas als auch weltweit soll
len Flüchtlingsfreunde gilt hier wirklich:
                                                    deutsches Kapital auf Kosten auswärtiger
Grenzen auf für alle! Nämlich für auslän-
                                                    Konkurrenten expandieren und damit
dische Rohstoffe, für Waren, Geld, Kapi-
                                                    auch auf Kosten anderer Staaten wach-
tal und ggf. auch für ausländische Ar-
                                                    sen. Entgegen aller Beteuerungen von
beitskräfte, wenn diese für die nationale
                                                    Unternehmern, Politikern und Volkswirt-
Bilanz wachstumsdienlich sind. Damit die
                                                    schaftlern ist die globale Konkurrenz
staatlichen Grenzen ihre wachstumsbe-
                                                    nämlich weder eine harmonische Einrich-
schränkende Wirkung verlieren und der
                                                    tung der „internationalen Arbeitsteilung“
kapitalistische Erfolg ihrer Unternehmer

Exkurs zum Pazifismus von SPD, Grünen und Linkspartei
Die Parteigeschichte der deutschen Sozialdemokratie als großes Drama des 20. Jahrhun-
derts, die Geschichten der Grünen und der Linkspartei als zunehmende Farce; sie alle
geben für die o.g. Behauptung die praktische Anschauung. Sie belegen nämlich ebenso
die sozial- und friedenspolitische Ernsthaftigkeit der genannten Parteien in ihrer stürmi-
schen Gründungsphase als auch den mühevollen Weg hin zu einer realpolitischen Kraft,
die sich zur Regierungsfähigkeit des deutschen Kapitalismus vorgearbeitet hat und die
dafür nötigen Härten selbstbewusst vertritt. Das hat einen logischen Grund:
Wer sich vornimmt, den Kapitalismus im Interesse seiner Opfer zu regieren, die politi-
sche Macht in der Bundesrepublik also im Namen der Armen und Entrechteten zu er-
obern, der muss eben auch auf die ökonomische Grundlage dieser Macht und ihre welt-
weiten Verwertungsbedingungen Rücksicht nehmen. Das schließt zahlreiche innen- und
außenpolitische Rücksichtslosigkeiten gegen genau jene Adressaten der sozialen, ökolo-
gischen und pazifi stischen Machtausübung ein, die man im Ausgangspunkt zu beglük-
ken gedachte.
Die interne Begründung für solche Härten auf den entsprechenden Parteitagen verweist
ganz systemimmanent darauf, dass mit einer kriselnden Ökonomie, mit Massenarbeitslo-
sigkeit und leeren Staatskassen auch niemand gedient sei und außenpolitisch ein „robu-
stes Auftreten“ unumgänglich sei, gerade um die hohen Werte der Partei zu verteidigen.
Was der Sache nach das Eingeständnis ist, dass sich die bürgerliche Staatsgewalt entge-
gen der anfänglichen Parteiideale doch nicht einfach zu einer Hilfseinrichtung für ihre
Opfer umwidmen lässt, wollen die sozialen Demokraten natürlich genau umgekehrt ver-
standen wissen; nämlich so, dass ihre Brutalitäten letztendlich nur die realpolitische
Vervollkommnung ihrer pazifi stischen Ideale seien. Ein solcher politischer Reifungspro-
zess von der außerparlamentarischen Protest- zur parlamentarischen Oppositions- und
schließlich kriegsbereiten Regierungspartei braucht seine Zeit und geht nicht ohne Aus-
grenzung von so genannten „Spinnern“ oder „Fundamentalisten“ ab, die darauf insistie-
ren, dass der Kapitalismus „System hat“, also nicht parlamentarisch zu verbessern, son-
dern revolutionär zu überwinden ist ...
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noch eine unsichtbare, aber segensreiche             Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel
„Hand“, die zum gemeinsamen Nutzen al-               ganze regionale Instabilitäten zu verhin-
ler Teilnehmer wirkt. Die Ergebnisse der             dern, die mit Sicherheit dann auch auf
deutschen Konkurrenzanstrengungen                    unsere Chancen zurückschlagen negativ
sind vielmehr innerhalb der EU (z.B. ge-             durch Handel, Arbeitsplätze und Einkom-
genüber Griechenland) als auch global –              men. Alles das soll diskutiert werden und
z.B. im Verhältnis zur sog. Dritten Welt             ich glaube, w ir sind auf einem nicht so
zu besichtigen.                                      schlechten Weg. […] Es w ird w ieder so-
                                                     zusagen Todesfälle geben. Nicht nur bei
Weil sich das angestrebte grenzüber-
schreitende Wachstum somit gegen an-                 Soldaten, möglicherweise auch durch Un-
                                                     fall mal bei zivilen Aufbauhelfern. […]
dere Staaten und deren Kapitalwachstum
                                                     Man muss auch um diesen Preis sozusa-
richtet, bedarf es der diplomatischen,
                                                     gen seine am Ende Interessen wahren.
politischen und notfalls militärischen
                                                     […]“ (Horst Köhler am 22. Mai 2010 in ei-
Durchsetzung durch die Staaten mit er-
                                                     nem Interview mit dem Deutschlandra-
folgreicher Kapitalakkumulation. Es ist
insofern kein Zufall, dass die kapitali-             dio)
stisch erfolgreichen Staaten zugleich                Und das weiß auch der aktuelle Bundes-
auch die politischen Hauptakteure auf                präsident Gauck, wenn er von einer grö-
der Welt sind. Denn je größer und erfolg-            ßeren „Verantwortung“ Deutschlands in
reicher das akkumulierte Kapital bereits             der Welt spricht.
ist, desto größer wird das Bedürfnis nach
                                                     Die nationalstaatlich verfasste Marktwirt-
globaler Expansion. Zugleich liefern die
                                                     schaft ist also der zwingende politökono-
weit entwickelten kapitalistischen Unter-
                                                     mische Grund für jene Maßnahmen, die
nehmen ihren Staaten die finanziellen
                                                     oben in groben Zügen dargelegt wurden.
Mittel und die technisch-militärische Aus-
                                                     Es sind also gerade nicht die Einstellun-
rüstung, um das imperialistische Bedürf-
                                                     gen oder Denkweisen der Regierenden
nis erfolgreich durchzusetzen. Der kapi-
                                                     wie Chauvinismus, Eurozentrismus, Pa-
talistische Erfolg auf dem Weltmarkt und
                                                     ternalismus (deren Existenz in Teilen der
die Durchsetzung als nationalstaatliche
                                                     Elite deshalb überhaupt nicht bestritten
Weltmacht bedingen sich also wechselsei-
                                                     werden muss). Imperialismus ist auch
tig.
                                                     keine Frage der friedenspolitischen
Das war es also, was der ehemalige Bun-              Ernsthaftigkeit der politischen Parteien.
despräsident Horst Köhler – vielleicht               Der aggressive und zerstörerische Cha-
etwas ungeschickt – bei einem Interview              rakter des außenpolitischen Engage-
für das Deutschlandradio am 22. Mai                  ments kapitalistischer Gewinnerstaaten
2010 im Hinblick auf künftige Kriegsein-             ist überhaupt keine Frage guter oder
sätze der Bundeswehr seinem Volk sagen               schlechter Politik, friedliebender oder
wollte:                                              aggressiver Parteiprogramme.
„Meine Einschätzung ist aber, dass insge-            Erst recht ist Imperialismus – um diesen
samt w ir auf dem Wege sind, doch auch               alten und beinahe tabuisierten Begriff
in der Breite der Gesellschaft zu verste-            noch einmal zu verwenden – kein Spezifi-
hen, dass ein Land unserer Größe mit die-            kum besonders „böser“ Nationen, die je
ser Außenhandelsorientierung und damit               nach Standpunkt wahlweise in den USA,
auch Außenhandelsabhängigkeit auch                   Großbritannien, China, Japan oder in
w issen muss, dass im Zweifel, im Notfall            Deutschland ausgemacht werden.2 Der
auch militärischer Einsatz notwendig ist,            skizzierte Imperialismus ist schlicht ein
um unsere Interessen zu wahren, zum                  politökonomisches Funktionserfordernis

2. Die Beurteilung von Kriegen im Hinblick auf deren Rechtfertigung, die so beliebte Unterschei-
   dung zwischen fremder böser und eigener guter Gewalt (bei Linken ist es manchmal auch
   anders herum), die Frage, wem auf dem imperialistischen Schlachtfeld unsere Sympathie
   gebührt – all diese Anstrengungen zeugen überhaupt nur vom parteilichen Nachvollzug der
   praktischen imperialistischen Konkurrenz.
sopos 3/2015                                  8/12

in nationalstaatlich regierten und erfolg-           Konfrontiert mit der öffentlichen Empö-
reich wachsenden Marktwirtschaften,                  rung nach dem hundertfachen Tod der
das deren Politiker machtvoll gegen an-              Flüchtlinge vor Lampedusa am 3. Okto-
dere Staaten durchsetzen und dafür die               ber 2013 betreibt Bundespräsident Gauck
eigene Bevölkerung rücksichtslos in An-              am Folgetag anlässlich der Verleihung
spruch nehmen.                                       des Bundesverdienstkreuzes zum Tag der
                                                     Deutschen Einheit im Schloss Bellevue
Teil II – Flüchtlingspolitischer                     eine gekonnte Selbstanklage, bei der er –
Diskurs                                              immerhin gelernter Pfarrer – mit der
Die steigenden Flüchtlingszahlen sind                größten Selbstverständlichkeit alle seine
also ein Resultat der außenpolitischen               Bürger – ob arm, ob reich, ob mächtig
Durchsetzung des Wachstumspro-                       oder ohnmächtig – geradezu gleichma-
gramms für den Standort Deutschland.                 cherisch mitverantwortlich macht:
Weil die Flüchtlinge und ihr massenhaf-              „Leben zu schützen und Flüchtlingen
ter Tod ebenso unerwünscht wie unver-                Gehör zu gewähren, sind wesentliche
meidlich sind, wird ihr Leid in der politi-          Grundlagen unserer Rechts- und Werte-
schen Öffentlichkeit                                 ordnung. Zuflucht Suchende sind Men-
• in „normalen“ Zeiten verharmlost                   schen – und die gestrige Tragödie zeigt
oder geleugnet und kommt höchstens als               das – besonders verletzliche Menschen.
Randnotiz in den großen Zeitungen vor;               Sie bedürfen des Schutzes. Wegzu-
                                                     schauen und sie hineinsegeln zu lassen in
• in Zeiten besonders großer Leichen-                einen vorhersehbaren Tod, das missach-
berge direkt vor der eigenen Küste wird              tet unsere europäischen Werte.“
das Elend als „Drama“ oder „Tragödie“
skandalisiert und damit gleichsam das                Damit gibt der Bundespräsident das Mu-
alltägliche Sterben als Normalität                   ster der öffentlichen Befassung vor. Ge-
affirmiert;                                          mäß der selbst formulierten Anklage lau-
                                                     tet der Vorwurf auf unterlassene Hilfelei-
• mit staatlichen Ehren und unter Trä-               stung bei der Rettung der Flüchtlinge.
nen und aufrichtiger Anteilnahme der                 Bereits durch diese Anklage ist die Bun-
EU-Prominenz bedacht, während die                    desrepublik von jeglicher ursächlichen
Grenzsicherung gleichzeitig verschärft               Verantwortung sowohl für die Not der
ausgebaut wird;                                      Flüchtlinge in ihren Heimatländern als
• und bei Bedarf derart umgedeutet,                  auch für die tödlichen Konsequenzen ih-
dass sich die Politik im Namen der                   rer Flucht frei gesprochen. Überhaupt
„Bekämpfung der Fluchtursachen vor                   bezichtigt der oberste Repräsentant der
Ort“ einen neuen Auftrag zu noch mehr                Bundesrepublik Deutschland keineswegs
wirtschaftlicher, politischer und militäri-          den Staat, dem er vorsteht, sondern groß-
scher „Verantwortung in der Welt“                    zügig seine Ehrengäste in ihrer Rolle als
erteilt.                                             Rechts- und Wertegemeinschaft. Die an-
                                                     gesprochenen Werte sind zwar nicht wei-
 Bereits diese verlogenen Diskurse von
                                                     ter erläuterungsbedürftig und ohnehin
Politik und Presse werfen ein Licht dar-
                                                     über jeden Zweifel erhaben, erleiden
auf, dass die erste und die vierte Gewalt
                                                     aber ausgerechnet am Nationalfeiertag
offenbar ein Bewusstsein davon haben,
                                                     durch den massenhaften Tod vor Lampe-
dass es für die Staatsräson der Bundesre-            dusa einen Imageschaden, so dass ein
publik keine grundlegende Alternative im
                                                     wenig Scham, Trauer und Betroffenheit
Umgang mit Flüchtlingen gibt. Anhand
                                                     dem zur moralischen Gemeinschaft ver-
von drei Beispielen, nämlich anhand der
                                                     klärten Staatswesen gar nicht schlecht zu
öffentlichen Stellungnahmen von Politik,
                                                     Gesicht steht. Das sieht auch der partei-
Presse und Pro Asyl soll dieser Diskurs
                                                     vorsitzende Sozialdemokrat Gabriel so
nun näher betrachtet werden.                         und lässt in Bild am Sonntag wissen, um
1. „Scham und Trauer“ – die Selbstin-                wen er sich Sorgen macht: „Was auf Lam-
szenierung der Macht                                 pedusa passiert, ist eine große Schande
sopos 3/2015                                  9/12

für die Europäische Union.“(zitiert nach             die nächsten Toten auch schon am Folge-
SZ vom 5. 10. 2013)                                  tag einstellen.
Nachdem die Stirn den Erfordernissen                 Ganz ähnlich melden sich die meisten Po-
entsprechend ein paar Momente in dunk-               litiker in Deutschland und der EU zu
len Sorgenfalten verharrt, kann der ein-             Wort. Ihren Streit über die Dublin II- bzw.
gangs zitierte Präsident am Ende dersel-             Dublin III-Verordnung, also über die La-
ben Rede übrigens auch schon wieder                  stenverteilung bei der Flüchtlingsab-
frohlocken: „Ich weiß schon jetzt, dass              wehr, die Internierung der Flüchtlinge in
ich mich im nächsten Jahr um diese Zeit              meist privatisierten Lagern, über Pro-
mit einem Lächeln an diesen Tag erinnern             zessdurchführung und Abschiebung in-
werde.“                                              szenieren sie unter Berufung auf die Ka-

   Mauerkreuze an der EU-Außengrenze, Aktion des Zentrums für Politische Schönheit,
   2014 (http://www.politicalbeauty.de/)

                                                     tastrophe auf einem Innenministergipfel
Ebenso realpolitisch wie hochideologisch
                                                     im Oktober 2013 in Brüssel als Lehren
greift der damalige Innenminister Friede-
                                                     aus den schrecklichen Ereignissen von
rich (CSU) den Vorwurf der unterlasse-
                                                     Lampedusa. Am Ende der Konferenz
nen Hilfeleistung auf und erteilt sich
                                                     bleibt alles beim Alten. Deutschland setzt
selbst, seinem Ministerium und seinen
                                                     sich gegen Italien, Spanien und Griechen-
Beamten den einzig systemgemäßen Auf-
                                                     land durch, die auch weiterhin als Erst-
trag für einen verbesserten Flüchtlings-
                                                     aufnahmeländer größtenteils die Flücht-
schutz: „Fest steht, dass w ir noch stärker
                                                     lingsabwehr im Interesse Deutschlands
die Netzwerke organisierter und ausbeu-
                                                     zu bewältigen haben. Ganz nebenbei ge-
terischer Schleusungskriminalität be-
                                                     lingt den versammelten Demokraten un-
kämpfen müssen.“ (SZ vom 5. 10. 2013)
                                                     ter Mithilfe der meisten Leitmedien dabei
Dies freilich, ohne deren Geschäftsgrund-
                                                     die Umdefi nition vom tödlichen Problem
lage, immerhin die eigene Flüchtlingspo-
                                                     der Flüchtlinge zum Flüchtlingsproblem
litik, auch nur in Betracht, geschweige
                                                     der EU! So weit, so brutal, so konsequent
denn in Zweifel zu ziehen, so dass sich
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...                                             Hauptinhalt dieser Politik ist.“ (Hervorh.
                                                d. Verf.)
2. „Krokodilstränen der Politik“ – die
Anklage der kritischen Presse                   Prantl beschönigt nichts und er differen-
                                                ziert. An Stelle einer pauschalisierenden
Entgegen der geheuchelten Warnung
                                                Kollektivverurteilung nach dem Motto
etwa der ehemaligen Ausländerbeauftra-
                                                „Wir alle“ nennt er das entscheidende
gen der Bundesregierung Maria Böhmer
                                                Subjekt beim Namen: Die EU-Politik und
(CDU), das Mittelmeer dürfe kein Mas-
                                                ihre karrierebewussten Vertreter! Prantl
sengrab werden, beginnt Heribert Prantl
                                                kennt die Prioritäten der Flüchtlingspoli-
in der Süddeutschen Zeitung vom 7. 10.
                                                tik und sogar ihren Zweck, wenn er fest-
2013 den Kommentar „Das Boot ist leer“
                                                hält: „In dieser Politik hat die Abwehr von
mit einer bewussten Entgegensetzung:
                                                Menschen Vorrang vor der Rettung von
„Das Mittelmeer ist (!) ein Massengrab.         Menschen. [...] Der Tod der Flüchtlinge
Die toten Flüchtlinge sind Opfer unterlas-

„Grenzen auf für alle!“ – Exkurs zur Kritik der radikalen Flüchtlingsfreunde
Wollen die wenigen ernsthaften Kritiker dieses tödlichen Programms wirklich bei der
ebenso bornierten wie unrealistischen Forderung stehen bleiben, dass die Staaten, die
dieses globale Elend samt lokaler Flüchtlingspolitik zu verantworten haben, ausgerech-
net ihre Grenzen für jene öffnen sollen, mit denen Staat und Kapital schon in ihrer Hei-
mat nichts anzufangen wissen? Wollen sie ihre Kritik nicht auf die Ursachen der Not und
deren Verursacher richten, sondern die Täter erst fälschlich zu Rettern verklären, um
diese schließlich wegen unterlassener Hilfeleistung moralisch anzuklagen?
Und wäre es – einmal davon abgesehen, dass die europäischen Regierungen solche For-
derungen aus den genannten Gründen ablehnen müssen – überhaupt sinnvoll und wün-
schenswert, alle Opfer der globalen Weltordnung die Chance zu eröffnen, mit den be-
reits ortsansässigen Armen um eine Wohnung im segensreichen Moloch deutscher, fran-
zösischer oder britischer Slums zu konkurrieren, darum zu streiten, wer dort die Klos
von McDonalds oder die Flure deutscher Ämter und Behörden putzen darf oder sich mit
iberischen Arbeitslosen darum zu schlagen, wer auf den Plantagen spanischer Agrarkon-
zerne die Chance bekommt, Pestizide zu inhalieren? Wohl eher nicht ...

sener Hilfeleistung; womöglich handelt          ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik. Er ge-
es sich auch um Tötung durch Unterlas-          hört zur Abschreckungsstrategie, die der
sen. Sie sind jedenfalls Opfer der europäi-     Hauptinhalt dieser Politik ist.“ Schließlich
schen Flüchtlingspolitik, der Politik des       ist auch die Schlussfolgerung aus seiner
Friedensnobelpreisträgers von 2012, der         Anklage am Ende des zitierten Kommen-
Europäischen Union. In dieser Politik hat       tars durchaus beachtlich: „In einem Flug-
die Abwehr von Menschen Vorrang vor             blatt der Weißen Rose hieß es einst: ‚Zer-
der Rettung von Menschen. [...] Hilfe gilt      reißt den Mantel der Gleichgültigkeit,
als Fluchtanreiz. Deshalb ist sie verboten,     den Ihr um Euer Herz gelegt.’ Diese
deshalb w ird sie bestraft, deshalb nimmt       Sätze aus furchtbarer Zeit sind keine
die EU-Politik den Tod der Flüchtlinge fa-      Sätze nur für das Museum des Widerstan-
talistisch hin. [...] Die Tränen, die nun an-   des, sie haben ihre eigene Bedeutung in
gesichts des Massentodes vor Lampedusa          jeder Zeit – auch in unserer!“
zerdrückt werden, sind Krokodilstränen;
                                                Dennoch ist sein Hauptvorwurf verkehrt.
und die Reden dieser Politiker sind Kro-
                                                Denn der Vorwurf der „unterlassenen Hil-
kodilsreden. Der Tod der Flüchtlinge ist
                                                feleistung“ der Festung Europa geht
Teil der EU-Flüchtlingspolitik. Er gehört
                                                nicht nur bei Gauck brutal an der Sache
zur Abschreckungsstrategie, die der
                                                vorbei. Die EU tut nicht zu wenig beim
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Flüchtlingsschutz. Die EU produziert die              Wunschvorstellungen entwickelt und es
Flüchtlinge. Kein Wunder und überhaupt                wird erwartet, dass der real existierende
kein Widerspruch ist es daher zu ihrem                Staat diese zu verwirklichen habe.3 Die
Auftrag, wenn sie die Opfer ihrer eigenen             gegenteilige Erfahrung in der Wirklich-
Erfolgsstrategie nicht haben will! Im Ge-             keit, nämlich die tödliche Abschottungs-
genteil: Die Öffnung der Grenzen für die              politik – Pro Asyl macht die deutsche Öf-
unendlich vielen Verzweifelten, die der               fentlichkeit darauf beharrlich und durch-
Westen von den Philippinen bis Haiti von              aus dankenswerter Weise aufmerksam –
Afghanistan bis Mali durch seinen Erfolg              wird nicht als wörtliche und durchaus er-
global erst in Not bringt, stünde tatsäch-            freuliche Ent-Täuschung über die eigenen
lich im Widerspruch zum Erfolg dieser                 Ideale genommen, sondern moralisch
Staaten und ihren realen Höchstwerten –               enttäuscht zur Kenntnis genommen, ganz
Dollar und Euro.                                      nach dem Motto: ‚Der Staat wird Aufga-
                                                      ben, die er selbst zwar gar nicht verfolgt,
3. „Scheitern der europäischen
                                                      aber an die ich, d.h. Pro Asyl, gerne
Flüchtlingspolitik“ – die Kritik von
                                                      glaube, gar nicht gerecht! Er entspricht
Pro Asyl
                                                      nicht meinen höheren Idealen über ihn.’
„PRO ASYL fordert einen völligen Neube-
                                                      Bei aller Kritik an der politischen Wirk-
ginn in der Flüchtlingspolitik Europas.
                                                      lichkeit lässt man sich den guten Glauben
Die Abschottungspolitik der beiden letz-
                                                      an die segensreichen Aufgaben der politi-
ten Dekaden ist gescheitert. Der tausend-
                                                      schen Gewalt, der man unterworfen ist,
fache Tod von Flüchtlingen an den Außen-
                                                      nicht nehmen. Heraus kommt eine Kritik,
grenzen Europas bedeutet den morali-
                                                      die als Hass-Liebe bezeichnet werden
schen Bankrott der Flüchtlings – und
                                                      kann. Bei aller Kritik an den real existie-
Menschenrechtspolitik der EU“ (Presse-
                                                      renden Politikern bleibt man unerschüt-
erklärung Pro Asyl 4. 10. 2013)
                                                      terlicher Parteigänger jenes Staates, des-
Pro Asyl spricht angesichts der Toten vor             sen Interessen die Politiker vertreten.
Lampedusa in seiner Presseerklärung
                                                   Um das an einem zweiten Beispiel zu ver-
vom Scheitern der europäischen Flücht-
                                                   deutlichen: Auch Pro Asyl wirft dem deut-
lingspolitik. Dabei ist – zumindest nüch-
                                                   schen Innenminister „Verantwortungslo-
tern betrachtet – offensichtlich nicht die
                                                   sigkeit“ vor, wenn dieser mit all seiner
Flüchtlingspolitik der EU, sondern das
                                                   Macht in der EU für Dublin II und III und
Leben der Flüchtlinge an der durchaus
                                                   eine verschärfte Flüchtlingspolitik ein-
wirkungsvollen Politik gescheitert. Wie
                                                   tritt. Wie dies? – möchte man fragen, wo
kommt es zu dieser – zunächst einmal
                                                   doch ganz offensichtlich ist, dass der Mi-
„nur“ sachlich verkehrten – Kritik?
                                                   nister bewusst und öffentlich für seine
Menschenrechts- und Hilfsorganisationen            Ziele eintritt? Offenbar will man sich die
stellen sich offenbar vor, Flüchtlingspoli-        Macht demokratischer Politiker nicht als
tik habe eigentlich (!) dem Schutz für             Macht über das Leben anderer (in diesem
Flüchtlinge und nicht dem Schutz vor               Fall der Flüchtlinge) vorstellen, sondern
Flüchtlingen zu dienen. Über Asyl- und             als Verantwortung für die Untergebenen.
Menschenrechte werden also Ideale, d.h.            Auch hier wird die gegenteilige Erfah-

3. Dabei könnte schon Art. 16 GG Absatz 1 „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ hellhörig
   machen, stellt er doch klar, dass der Gesetzgeber nicht die Not der Flüchtenden, sondern nur
   den von ihm zu defi nierenden Tatbestand der „politischen“ Verfolgung durch auswärtige, meist
   von ihm als feindlich eingestufte Souveräne zum Anlass für eine Asylrechtsgewährung nimmt.
   Vom Standpunkt des Überlebenswillens der Flüchtenden jedenfalls wäre die sachlich ohnehin
   kaum haltbare Unterscheidung zwischen politischen und wirtschaftlichen Fluchtgründen gänz-
   lich unerheblich. Dass die Inschutznahme von politisch Verfolgten weniger der Sorge um deren
   Wohlergehen als vielmehr der damit intendierten Verurteilung der Verfolgerstaaten geschuldet
   ist, ist denn auch jedermann sofort klar, wenn sich andere, möglicherweise sogar feindliche
   Staaten wie z.B. Russland im Falle Edward Snowdens dieses außenpolitischen Kampfmittels
   bedienen. (Vgl. dazu A. Krölls „Das Grundgesetz – ein Grund zum Feiern?“ Hamburg 2009)
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rung nicht zum Anlass zunächst einer                 Ein Mann, der etwas davon versteht, pre-
Selbstkritik, die eigene Idealisierung der           digt seinen Bundesschäfchen öffentlich-
Macht betreffend, genommen, sondern                  rechtlich zu Weihnachten:
im Gegenteil der Macht vorgeworfen,
                                                 „Machen w ir unser Herz nicht eng mit
dass sie einmal mehr nicht so gut war,
                                                 der Feststellung, dass w ir (!) nicht jeden
wie man an sie zu glauben bereit ist.
                                                 (!), der kommt, in unserem Land aufneh-
Bei den charakterisierten Denkmustern            men können. Ich weiß ja, dass dieser Satz
handelt es sich um Fälle eines enttäusch-        sehr, sehr (!) richtig ist. Aber zu einer
ten Staatsidealismus. Der ist und bleibt         Wahrheit (!) w ird er doch erst, wenn w ir
bei aller Enttäuschung ein Idealismus.           zuvor unser Herz gefragt haben, was es
Ein Wunschdenken, die eigene Staatsge-           uns sagt, wenn w ir die Bilder der Verletz-
walt und ihre menschenrechtlichen Prin-          ten und Verjagten gesehen haben. Tun
zipien betreffend. Die Folge ist der fol-        w ir w irklich schon alles, was w ir tun
genlose und gerade darin staatstragende          könnten?“ (Weihnachtsansprache des
Ruf nach guten Gesetzen, verantwor-              Bundespräsidenten 2013; Hervorhebung
tungsvollen Politikern, unverbrauchten           d. Verf.)
Parteien. Und genau das ist das Material,
                                                     Der betroffene Blick auf die „Verletzten
mit dem immer neue, unverbrauchte Poli-
                                                     und Verjagten“, die natürlich mit der ei-
tikergenerationen ihre Konkurrenz um
                                                     genen Politik nichts zu tun haben; die ge-
die Macht im kapitalistischen National-
                                                     konnt beklommene Frage, ob „wir“ auch
staat betreiben und bei ihren potentiellen
                                                     genug helfen – sie gehören einfach dazu.
Wählern geschickt den Idealismus der
                                                     Nämlich zur Pfl ege des Glaubens an die
Verantwortung gegen den Realismus der
                                                     höheren Werte und des guten Gewissens
Macht ausspielen ...
                                                     einer imperialistischen Nation.
Statt eines Fazits: Erbauliches zur
Weihnachtszeit!

Arian Schiffer-Nasserie, Prof. Dr., unterrichtet Politikw issenschaft an der Evangelischen
Fachhochschule R-W-L in Bochum. Schwerpunkte: Migrations- und Sozialpolitik sow ie
Rassismusforschung. schiffer-nasserie@efh-bochum.de

Zuerst erschienen in standpunkt : sozial 3/2014

Der Artikel ist im Internet abrufbar unter:
http://sopos.org/aufsaetze/55191d63348f7/1.phtml
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