Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern

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Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern
pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 417–436
Thomas K lein

Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse
im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern

I. Ländlicher Raum und Bildung für nachhaltige Entwicklung. Aktuell konkurrieren zwei
dominante Narrative des ländlichen Raums. Für die sinnstiftende Erzählung vom guten
Leben auf dem Land ist der Begriff ‚Landlust‘ exemplarisch. Das gleichnamige Magazin
erzählt vom Land als einem Sehnsuchtsort, einer Art utopischer Insel der Zivilisation, wo
es sich – im Vergleich zur Stadt – ursprünglicher und nahe der Natur leben lässt. Kom-
plementär dazu steht das Narrativ vom Land als einem Ort, der keine Zukunft bietet.
Hierfür hat sich der Begriff ‚Landfrust‘ etabliert.
   ‚Landflucht‘ wiederum beschreibt die Reaktion von Menschen auf die Perspektivlosigkeit
des Landlebens: Sie emigrieren in die Städte. Menschen aus dem globalen Süden wie auch
Menschen aus strukturschwachen ländlichen Räumen des globalen Nordens wandern in
die Metropolen des globalen Nordens ab. Die Gründe für Landflucht hierzulande sind be-
kannt: Der öffentliche Personennahverkehr ist stark eingeschränkt, die ärztliche Versorgung
ist vielerorts nicht mehr gewährleistet, und wer ins Internet will, scheitert am fehlenden
Breitbandausbau. Die Bekämpfung der Landflucht ist in Deutschland schon lange Teil
der politischen Agenda. Besonders betroffen von Landflucht sind die neuen Bundesländer
– und durch die massive Abwanderung entstehen hier weitere Engpässe, etwa im kulturellen
und künstlerischen Bereich.1
   Inzwischen spielt auch der Klimawandel in der Diskussion um gutes Leben auf dem
Land eine Rolle, da z. B. die Resilienz solcher Räume gegen Klimakatastrophen deutlich
schwächer ausgeprägt ist als in Städten. Außerdem wird die Verbesserung der Bildungs-
landschaft direkt an Bildung für nachhaltige Entwicklung gekoppelt, die anstrebt, dass die
Menschen (nicht nur in Schule und Hochschule, sondern auch in non-formalen und in-
formellen Lernsettings) dazu befähigt werden, „zukunftsfähig zu denken und zu handeln“.2

1   Daher hat etwa die 2002 gegründete Kulturstiftung des Bundes im gleichen Jahr den „Fonds zur Stärkung
    des bürgerschaftlichen Engagements für die Kultur in den neuen Bundesländern“ (kurz: Fonds neue Länder)
    eingerichtet. Hier geht es zwar auch um urbane Räume, der ländliche Raum mit Kleinstädten und Dörfern
    steht allerdings im Zentrum. Wesentlich aktueller erfolgte Anfang des Jahres 2019 ein Koalitionsantrag der
    Fraktionen von CDU/CSU und SPD „Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken – Gutes Leben und Arbeiten
    auf dem Land gewährleisten“, wo die Aufwertung ländlicher Räume vor allem ökonomisch begründet wird:
    „Ländliche Räume sind […] ein unverzichtbarer Bestandteil der erfolgreichen deutschen Volkswirtschaft“,
    , zuletzt: 17.9.2019.
2   Des Weiteren heißt es auf der deutschen Webseite des Weltaktionsprogramms Bildung für nachhaltige Ent-
    wicklung der UNESCO: „Dabei stehen verschiedene Fragen im Vordergrund. Etwa: Wie beeinflussen meine
    Entscheidungen Menschen nachfolgender Generationen in meiner Kommune oder in anderen Erdteilen? Welche
    Auswirkungen hat es beispielsweise, wie ich konsumiere, welche Fortbewegungsmittel ich nutze oder welche und
    wie viel Energie ich verbrauche? Welche globalen Mechanismen führen zu Konflikten, Terror und Flucht? Oder
    was können wir gegen Armut tun?” , zuletzt: 30.9.2019.

© 2020 Thomas Klein - http://doi.org/10.3726/92166_417 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern
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In Mecklenburg-Vorpommern ist die gemeinnützige Stiftung Akademie für nachhaltige
Entwicklung M-V (ANE) für den ländlichen Raum aktiv. Tätigkeitsfeld ist die „Förderung
der Nachhaltigen Entwicklung in Balance von Ökonomie, Ökologie und Sozialem durch
kulturellen Wandel“.3 „Garten der Metropolen“ ist das Leitbild der Initiative. Neben Berlin
gehören auch Schwerin und Rostock zu diesen Metropolen. Berlin als städtisches System
wird von den nahegelegenen ländlichen Regionen mit Nahrungsmitteln versorgt; zudem
bieten diese den Großstädtern Orte der Erholung. Entsprechend ist es notwendig, auch das
Land als System aufzufassen, das wesentliche gesellschaftliche Funktionen erfüllt.
   Als leitende Kategorie dient zudem das Konzept der nachhaltigen Entwicklung. Es ist
normativ zu verstehen und zielt

        auf eine Umsteuerung, die die Lebenssituation der heutigen Generationen verbessert (Entwick-
        lung) und gleichzeitig die Lebenschancen künftiger Generationen zumindest nicht gefährdet im
        Sinne des Erhalts der sozialen, wirtschaftlichen und natürlichen Grundlagen der Gesellschaft.4

Eine solche „Umsteuerung“ wird auch als Transformation oder „große Transformation“
bezeichnet.5
   Eine Kombination aus Kultur, Kunst, Bildung für nachhaltige Entwicklung und
Reflexion des Klimawandels im Austausch von globaler und lokaler Perspektive bietet
die Internationale Sommeruniversität Transmedia Storytelling | Kultur des Klimawandels
– Kommunizieren für die Zukunft des Climate Culture Communications Lab (CCCLab).6
Das CCCLab ist ein vom Kolleg für Management und Gestaltung nachhaltiger Entwicklung
gGmbH in Berlin initiiertes Netzwerk, das sich als „Kommunikationsschule“ und „inter-
nationales Netzwerk zur Alphabetisierung in der Großen Transformation“ (so das Faltblatt
zur Veranstaltung) versteht.
   In ihrem Buch Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Kli-
mawandel schreibt Birgit Schneider, dass viele Akteur*innen auf der „Suche nach neuen
Formaten für die Klimawandelkommunikation“ seien.7 Bei der Sommeruniversität wird
unter der Leitung von Künstlern und Medienprofis partizipativ mit den Teilnehmenden
an Formaten gearbeitet, im Zuge derer künstlerische und mediale Artefakte entstehen,
die auf den Klimawandel und auf weitere der siebzehn Nachhaltigkeitsziele (Sustainable
Development Goals) rekurrieren, die von den Vereinten Nationen (UN) als politische Ziel-
setzungen erarbeitet wurden und 2016 in Kraft getreten sind. Die produzierten Artefakte

3 , zuletzt: 7.8.2019.
4 Grunwald, Kopfmüller (2012, 11).
5 So etwa im Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen
  (WBGU) „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, , zuletzt: 17.9.2019.
6 Der Titel der Sommeruniversität wird an einigen Stellen auch mit Transmediales Storytelling – Transformation
  nachhaltiger Entwicklung angegeben.
7 Schneider (2018, 384). Auf die Arbeit des CCCLab kommt sie dabei kurz zu sprechen (vgl. ebenda, 383). Nach
  neuen Formaten wird auch in den ‚klassischen‘ Medien gesucht, etwa Fernsehen und Film. Für das Fernsehen
  ließe sich plan B nennen, das gemeinsam mit der Zukunftsstiftung Futur Zwei entwickelt wurde. Im Kino sind
  es insbesondere Dokumentarfilme, die sich vielfältig mit Nachhaltigkeitsthemen auseinandersetzen und nicht
  selten aktivistischen Charakter aufweisen (vgl. K lein [2017]).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                                 Peter Lang
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sind sowohl fiktional als auch dokumentarisch, kombinieren zuweilen beide Modi und
zielen in der Regel auf die Aktivierung von Akzeptanz für Veränderung und Umsteuerung.
Hierfür bieten sie auch Lösungen an und operieren bevorzugt mit Botschaften und Nar-
rativen. Die Sommeruniversität bezieht die Region der Mecklenburgischen Schweiz um
den Kummerower See in der Regel mit ein, erweitert aber den Bezugsrahmen durch die
Internationalität, die sich aus weiteren mit der Sommeruniversität gekoppelten Förderpro-
grammen ergibt. Teilnehmende kamen regelmäßig auch aus lateinamerikanischen Ländern
wie Chile, Ecuador und Mexiko.
    In einem dieser Workshops entstand das Projekt, das im vorliegenden Artikel im Mittel-
punkt stehen soll. 2014 ging aus der Werkstatt Doku-Arts das dokumentarische Kunstprojekt
Erben des Fortschritts hervor, das in den beiden Jahren danach fortgesetzt wurde. Hierbei
handelt es sich um Fotografien von Landschaften, Räumen und Personenporträts der
Menschen aus der Region, die mit Textporträts und weiteren in die Fotografien integrierten
Textbausteinen versehen sind. Die Ergebnisse wurden im Rahmen der Abschlusspräsenta-
tion der Sommeruniversität in der Kirche in Neukalen und danach an mehreren Orten der
Region ausgestellt und mündeten außerdem in einem Ausstellungskatalog sowie in einer
Präsentation im Internet.8
    Der vorliegende Artikel untersucht dieses Projekt einerseits hinsichtlich der medienästhe-
tischen Form, die sich aus dem spezifischen Verhältnis von Bild (Fotografie) und Text ergibt.
Es geht darum, herauszufinden, wie mittels Doku-Art die Zielsetzung der Produzenten ein-
gelöst wird, nämlich „Geschichten von Klima und Wandel in Mecklenburg-Vorpommern“
(so die Titelseite des Katalogs) zu erzählen. Zugleich ist auch die spezifische dokumentari-
sche Arbeitsweise des Workshops Doku-Art Gegenstand der Analyse. Erben des Fortschritts
ist in einem spezifischen institutionellen und situativen Rahmen entstanden, den es für die
Beschäftigung mit neuen Formen der Kunst- und Medienproduktion zu berücksichtigen
gilt. Für meine Analyse greife ich infolgedessen auf neuere medienwissenschaftliche For-
schungsansätze zurück, die im Folgenden kurz dargelegt werden sollen.

II. Mediale Milieus und Medienökologie. Um die besondere Form des Zusammenspiels
von Akteuren im Projekt Doku-Art zu erfassen, orientiere ich mich an Thomas Webers
Ansatz zu medialen Milieus. Weber definiert als mediales Milieu „das Zusammenspiel
aller Akteure in einem medialen Feld, wobei unter Akteuren im Sinne von Bruno Latour
Technologien ebenso zu verstehen sind wie Programme, Konventionen, Institutionen oder
konkrete menschliche Individuen“.9 Weber bezieht sich insbesondere auf Regis Debrays
Verwendung des Begriffs im mediologischen Kontext und stellt eine Verbindung zu Ho-
ward S. Beckers Begriff der „Art Worlds“ her. Milieu begreift Weber als medienökologi-
sche und prozessorientierte Kategorie – das mediale Milieu soll

       als Teil eines medienökologischen Systems verstanden werden, das sich aus dem sich selbst stabilisie-
       renden Spiel der einzelnen Akteure ergibt. Dabei geht es nicht einfach nur um ein heterotypisches

8   Vgl. , zuletzt: 17.9.2019.
9   Weber (2017, 13).

Peter Lang                                                               Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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        Ensemble, sondern in Spiel der Akteure muss sich eine klar identifizierbare Praxis herausbilden,
        die gegen andere Praktiken abgrenzbar ist.10

Dieser Ansatz wird hier in einem erweiterten Sinne eingesetzt. Denn die Besonderheit
des Projekts Erben des Fortschritts und der Sommeruniversität besteht darin, dass mehrere
Milieus zusammentreffen. Die Verbindung von Medienarbeit, Klimakommunikation und
Weiterbildung (im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung) schafft ein Milieu, das
sich in einem ersten Schritt als medienökologisches Milieu beschreiben ließe. Anstelle einer
kategorischen Trennung zwischen Dozierenden und Teilnehmenden ist die Vorgehensweise
stark partizipativ. Die Veranstalter geben auf ihrer Webseite an:

        Das didaktische Design verknüpft Gestaltung (aus konstruktivistischer Sicht) und konnektivisti-
        sches Lernen und bezieht didaktische Ansätze der Bauhauspädagogik und der ästhetischen Bildung,
        der Heuristik und Community Art sowie der ökologischen Kommunikation ein.11

Die Ergebnisse bzw. medialen Artefakte, die entstehen, sollen in der Regel von professioneller
Qualität sein und sind es in vielen Fällen auch. So werden die in einer anderen Werkstatt
gedrehten Film-Spots z. B. bei einschlägigen Festivals eingereicht.12
   Eine medienökologische Perspektive (in der Literaturwissenschaft wird von Ecocriticism
gesprochen13) ist für die Analyse des hier im Fokus stehenden Projekts auch deshalb sinn-
voll, weil es sich explizit mit dem Klimawandel auseinandersetzt – Medienökologie wird,
wie Löffler und Sprenger schreiben, durch „aktuelle Debatten um Klimawandel und Er-
derwärmung“ angefeuert.14 Wenn Katja Rothe die These äußert, dass „Medienökologie ein
genuin ethischer Begriff ist, der auf das gemeinsame Gestalten medialer Umwelten zielt“
und im „Feld verantwortungsbewussten Handelns“ verortet werden kann,15 beschreibt
sie den Ansatz der Sommeruniversität – erweitert um den Kontext des Klimawandels.
Die Sommeruniversität versteht sich als Lernort im Bereich informellen Lernens, der im
Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung des BMBF und der deutschen
UNESCO-Kommission eingebettet ist.
   Für den vorliegenden Artikel wurde mit der Leiterin des Doku-Art-Workshops, Sarah
Sandring, die als Dokumentarfilmerin, Kamerafrau und Fotografin arbeitet und langjährige
Dozentin der Sommeruniversität ist,16 ein Interview geführt. Ich selbst habe mehrere Jahre
(2016–2018) als Dozent die Werkstatt Transmedia Storytelling der Sommeruniversität geleitet

10 Weber (2017, 32). Medienökologie wird im Kontext der Medienpädagogik und Kommunikationswissenschaft
   „als Konzept des nachhaltigen Mediengebrauchs verstanden“ (Rothe [2016, 46]) und in einer kulturwissen-
   schaftlich ausgerichteten Medienwissenschaft als Forschungsfeld betrachtet, das im Anschluss an Arbeiten von
   Marshall McLuhan und Neil Postman sowohl die ‚Medien der Ökologie‘ als auch die ‚Ökologie der Medien‘
   [umfasst]“ (L öffler, Sprenger [2016, 10]). Welche Forschungsrichtungen und Fragestellungen sich aus den
   beiden Perspektiven ergeben, wird mithin zum Gegenstand der Forschung gemacht (vgl. ebenda, 13 f.).
11 Vgl. , zuletzt: 17.9.2019.
12 Zu diesen Festivals zählen etwa das GreenMotion-Festival in Freiburg oder das Foresight-Filmfestival in Berlin.
13 Vgl. Bühler 2016.
14 Vgl. Hissnauer (2017, 205).
15 Rothe (2016, 47).
16 Vgl. , zuletzt: 17.9.19. Das Interview wurde am 28.6.2019
   in Berlin geführt und aufgezeichnet. Ich danke Sarah Topfstädt für die Transkription des Interviews.

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und war 2014, zum Beginn der Reihe Erben des Fortschritts, als Teilnehmer der Werkstatt
Transmedia Storytelling vor Ort. Der vorliegende Artikel stellt insofern auch eine Reflexion
der eigenen medienpraktischen Tätigkeit der vergangenen Jahre dar.
  In einem ersten Schritt sollen die dokumentaristischen und künstlerischen Kontexte
vorgestellt werden, innerhalb derer sich die Arbeitsweise im Workshop Doku-Art bewegte.

III.1. Doku-Art. Die Frage, ob und inwiefern es sich beim Dokumentarfilm um Kunst
handelt, setzt schon früh in Dokumentarfilmdiskussionen ein. Wie auch im Spielfilm
kann die Perspektive auf Filme als Kunstwerke in der Regel mit der Frage nach der Au-
torschaft in Verbindung gebracht werden.17 Film wäre demnach Kunst, wenn es einen
individuellen Künstler gibt, dessen Stil im Film zum Ausdruck kommt. Mit Bezug auf
Roger Odins semiopragmatischen Ansatz, der auch Rezeptionspraxis und institutionelle
Kontexte für das Verständnis von Filmen berücksichtigt,18 legt Christian Hißnauer dar,
inwiefern der Kunst-Modus für den Fernsehdokumentarfilm im Unterschied zu anderen
Formen des Fernsehdokumentarismus konstitutiv ist:

       Die Vorstellung, dass Dokumentarfilm Kunst sei, verleitet dazu, Filme, die als Dokumentarfilme
       bezeichnet werden, als Kunst zu verstehen – und damit als Autorenfilme wahrzunehmen. Das
       heißt: Weil Dokumentarfilm Kunst ‚ist‘, werden Dokumentarfilme als Autorenfilm konstruiert.
       Die Umkehrung – Dokumentarfilme sind Kunst, weil sie Autorenfilme sind – ist aus Sicht der
       Semio-Pragmatik falsch.19

Trotzdem werden dokumentarische Werke immer wieder in einen Kunst-Kontext gestellt.
Hißnauer spricht dann vom Indizieren von Filmen als Kunst, so dass beim Betrachter eine
Kunst-Lektüre ausgelöst wird. Solche Indizierungen entstehen etwa durch den Vorspann
oder durch Paratexte in der Programmierung im Fernsehen.20
   Übertragen wir dies auf das mediale Milieu der Sommeruniversität, lässt sich die Hypo-
these formulieren, dass die intensive Form der Kooperation, die mehrere pädagogische
Methoden impliziert, zu einer Problematisierung von Autorschaft führen kann: Professionell
arbeitende Künstler und Menschen, die im Gegensatz zu diesen als Amateure bezeichnet
werden können, besitzen unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Arbeitsprozesse
und die entstehenden Werke zu verstehen sind. Sind die Rollen in einer Medienproduktion
ohnehin bereits stark ausdifferenziert und entsprechend verteilt, so gilt dies umso mehr für
eine Gruppe, die sich aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusammensetzt.
   Zunächst aber ist in Betracht zu ziehen, dass der hier zu analysierende Doku-Art-Work-
shop nicht Bewegtbilder, sondern fotografische und somit statische Bilder zum Einsatz
brachte.

III.2. Dokumentarfotografie. Die Dokumentarfotografie setzte zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts mit den Fotos von Walker Evans, Dorothea Lange, Arthur Rothstein u. a. ein,

17   L öffler, Sprenger (2016, 10).
18   Vgl. Odin 2019.
19   Hissnauer (2011, 199 f.).
20   Vgl. Hissnauer (2011, 195).

Peter Lang                                                      Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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die 1935 für die Farm Security Administration (F.S.A.), die Armut ländlicher Regionen
und die damit einhergehende Landflucht in den USA abbildet, um eine visuelle Grund-
lage für die New Deal-Politik zu bieten.21
   Soziale Verhältnisse sollten fotografisch festgehalten und die Geschichten hinter den
abgebildeten Menschen sichtbar gemacht werden. Doch sollten die Fotografien nüchtern
die Wirklichkeit abbilden, um den Betrachter selbst urteilen zu lassen und ihn nicht zu ma-
nipulieren, oder sollten die Fotografien emotionalisieren, um z. B. Mitgefühl im Betrachter
zu aktivieren? Die unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich der intendierten Wirkung
verweisen auf ein grundsätzliches Dilemma emotionalisierender Dokumentarfotografie:

        Der Wunsch des Fotografen, Pathos und Mitgefühl in das Bild zu legen, das Sujet mit einer em-
        blematischen oder archetypischen Bedeutung auszustatten, Arbeit und Armut visuell mit Würde
        auszustatten, ist insofern ein Problem, als solche Strategien das Politische, dessen Determinan-
        ten, Handlungen und Instrumentalisierungen selbst nicht-visueller Natur sind, ausblenden oder
        verschleiern.22

Weiterhin weist Solomon-Godeau darauf hin, dass

        einzelne dokumentarische Projekte, die selbst Produkte ganz bestimmter historischer Umstände
        und Milieus sind, gleichermaßen von offenen wie von versteckten, von persönlichen wie von ins-
        titutionellen Programmen sprechen, die sich in ihre Inhalte einschreiben und – mehr oder weniger
        – unsere Lektüre von ihnen vermitteln.23

Dies ist ein geeigneter Ausgangspunkt für die Analyse des Projekts Erben des Fortschritts, das
zum einen in einem medienökologischen Milieu verortet werden kann und zum anderen im
Rahmen einer Gesamtveranstaltung stattfindet, die den Klimawandel ins Zentrum stellt
und von entsprechenden Förderprogrammen einschlägiger Institutionen mitfinanziert wird.
Diese Gemengelage bietet die besten Voraussetzungen dafür, dass Inhalte von institutionel-
len Rahmenbedingungen geprägt werden und Kompromisse durch Aushandlungsprozesse
zwischen den beteiligten Akteuren erfolgen müssen.

III.3. Community Art. Die Internationale Sommeruniversität nutzt mehrere didaktische
Ansätze, unter denen ‚Community Art‘ ein wichtiger Stellenwert zukommt. Diese Form
künstlerischer Kooperation verbreitete sich in den 1960er Jahren. Dabei variierte aller-
dings das Verständnis davon, was man tut:

        Exactly what community arts was, however, tended to be left a little vague, in part because brea­
        king down the boundaries between different art forms and between art and nonart was often

21 Vgl. Solomon-Godeau (2003, 64 ff.), von Brauchitsch (2002, 134).
22 Solomon-Godeau (2003, 67 f.). Es verwundert daher nicht, dass in diesem Zusammenhang die Opferfoto-
   grafie eine wesentliche Rolle spielte. Sie resultiert daraus, dass bereits in den ersten Jahren der Anfang des
   20. Jahrhunderts beginnenden Dokumentarfotografie die Inszenierung des Dargestellten und der Darstellung
   mit dezidierten Wirkungsabsichten einherging: „Die Dargestellten werden einem skopischen Regime unter-
   worfen, das ihre Opferposition in dem Maße verdoppelt, indem es die dominante Position des Betrachters
   verstärkt“ (Holschbach [2003, 11]).
23 Solomon-Godeau (2003, 72).

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       the goal of its practitioners. In practice, what defined community arts was more of a shared ethos
       than any specific aesthetic practices.24

Auch wenn mit Community Art keine spezifische ästhetische Praxis verbunden wurde,
bestand doch Einigkeit im Verständnis des Kunstschaffens, das den einzelnen Künstler
nicht mehr ins Zentrum stellte. Um die Grenzen zwischen den Künsten und tradierte Vor-
stellungen künstlerischen Arbeitens aufzubrechen, setzte Community Art eine Arbeitsweise
ein, die kollektiv ist und alle integriert: den Workshop.25 Bei dieser Methode kommt es
nicht mehr nur auf das Ergebnis an, sondern auch auf den Weg dorthin:

       Community art is both a process and a product. During the aesthetic experience of community art,
       a very intentional focus must be placed on the art, making process to ensure an end result that is an
       authentic cultural production imbued with meaning for the community creating and hosting it.26

Obwohl es sich um einen Prozess handelt, in dem alle Beteiligten künstlerisch arbeiten,
gibt es einen professionellen Künstler, der die Arbeit begleitet: „The art practitioner is able
to be the catalyst for a successful community-art process because he or she uniquely brings
the skills, knowledge, and experience required for collaborative art making.“27 Es ist da-
von auszugehen, dass solche Konstellationen nicht konfliktfrei verlaufen. Die spezifische
Kunst-Community-Welt oder besser der Kunst-Community-Raum, der hier geschaffen
wird, erzeugt eine spezifische Form von Kooperation, die impliziert, dass es jemanden
geben muss, der Entscheidungen trifft.28 Diese leitende Funktion haben offensichtlich die
Künstler*innen inne: „Our research shows that community art must be artist led because,
while art has transformative capabilities, it alone is not sufficient to cause transformation
among individuals working in a community-based setting as a collective“.29 Es stellt sich
die Frage, inwiefern die Kunstschaffenden zu Moderatoren oder Mentoren werden können,
die zwar etwas in Gang bringen, aber nicht bestimmen, in welche Richtung der Weg geht
und wie das Endprodukt auszusehen hat.
   Für Community Art ist die Arbeit mit Fotografie in besonderer Weise geeignet, da die
Handhabung von Kleinbildkameras oder Smartphones keine professionellen technischen
Kenntnisse erfordert. Dies gilt umso mehr für Polaroid-Kameras, die im Doku-Art-Work-
shop eingesetzt wurden. Seit der Entwicklung der Kleinbildkamera Ende des 19. Jahrhun-
derts (Kodak) und der Entstehung der Amateurfotografie wurde die Fotografie für alle
Interessierten unbeschränkt zugänglich und avancierte zu einem partizipativen Massen-
medium.30 Der Einsatz der Fotografie als künstlerisches und als partizipatives Medium ist
maßgeblich für den Doku-Art-Workshop der Sommeruniversität.

24   Crehan (2011, 80).
25   Vgl. Crehan (2011, 81).
26   K rensky, Steffen (2009, 19).
27   K rensky, Steffen (2009, 20).
28   Zu Entscheidungen in Kunstwelten vgl. Becker (2017, 197–200).
29   K rensky, Steffen (2009, 20).
30   Vgl. L öffler (2004, 104–106).

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IV. Das Milieu der Sommeruniversität. Die Internationale Sommeruniversität ist eine Wei-
terbildungsveranstaltung, die als Blended Learning angelegt ist. Sie untergliedert sich in
zwei E-Learning-Phasen, die durch eine Präsenzphase auf dem Projekthof Karnitz unter-
brochen werden. Der Projekthof befindet sich im gleichnamigen Dorf (Ortsteil der Land-
stadt Neukalen) in der Mecklenburgischen Schweiz. Als eingetragener Verein bietet er
„Workshops und Seminare zu relevanten Themen für den ländlichen Raum an“.31 Durch
die Verbindung von CCCLab und Projekthof wird das Globale mit dem Lokalen verbun-
den – Parameter, die in den Diskursen um Klimawandel und nachhaltige Entwicklung
von wesentlicher Bedeutung sind.
   Die Workshop-Gruppen formieren sich erst am Ende der ersten Präsenzwoche (die
hauptsächlich aus Vorträgen und szenarischem Arbeiten besteht). Die Dozierenden stellen
sich vor, und im Anschluss können die Teilnehmenden selbst entscheiden, welchen Workshop
sie besuchen wollen. Dabei wird, soweit möglich, auf eine angemessene Verteilung geachtet.
   Die Teilnehmenden interessieren sich für Nachhaltigkeit und sind meist in einem ent-
sprechenden Bereich tätig oder studieren ein Fach, das mit Nachhaltigkeit bzw. mit Medien
zu tun hat. Neben Doku-Art werden im Projekt vor allem Film, Radio, Malerei und Ani-
mation eingesetzt. Der transmediale Aspekt ergibt sich aus der Verbindung der einzelnen
entstehenden Artefakte in Form einer abschließenden Ausstellung bzw. Präsentation (etwa
in einer Kirche oder auf dem Gelände des Projekthofs) und der danach erfolgenden digitalen
Weiterverarbeitung und Verbreitung der entstandenen Artefakte.32
   Die Teilnehmenden sind meist Amateure, d. h., sie sind im Sinne von Howard S. Becker
nicht als „integrierte Profis“ auf dem Feld der Fotografie (versteht man diese als Kunst / als
Fotokunst) tätig.33 Ihre Funktion bei den Produktionen wird z. B. im Abspann von Filmen
und in den Credits auf YouTube gelistet – im Fall des Projekts Erben des Fortschritts sind
sie im Katalog entsprechend aufgeführt.
   Ausschlaggebend für die Bestimmung des medialen Milieus der Sommeruniversität und
des Workshops Doku-Art sind drei Faktoren: zum einen die Situierung in einem konkreten
ländlichen Raum und die Bezugnahme auf die dort lebenden Menschen. Dies ist im Kon-
text der hier zu leistenden Analyse, wie ländliches Leben mit den Mitteln des Workshops
erzählt wird, von wesentlicher Bedeutung. Zum anderen ist der institutionelle Rahmen
wichtig, der die gesamte Veranstaltung im Bereich Erwachsenenbildung als Ort des infor-
mellen Lernens definiert. Der dritte Faktor ist ein professionell-medienkünstlerischer, denn
Workshop-Verantwortliche agieren aus ihren künstlerischen, medialen und institutionellen
Kontexten heraus. Hieraus resultiert eine Gemengelage: Mit den Sommeruniversitäts-
sowie Workshopteilnehmenden und den Menschen im ländlichen Raum werden zwei
verschiedene Zielgruppen adressiert, wodurch die Frage entsteht, für wen aus welchem
Grund und welchen Motivationen heraus Lernprozesse stattfinden sollen. Die Gruppe
der Teilnehmenden geht mit dem Ziel, etwas zu lernen und zugleich mit der Motivation,
ein Artefakt zu produzieren, in die Workshops. Die Dozenten wiederum stehen vor der
Herausforderung, ausstellbare Artefakte zu produzieren und zugleich die Teilnehmenden

31 Vgl. , zuletzt: 17.9.2019.
32 Zum transmedialen Konzept vgl. K lein (2018).
33 Becker (2017, 229–234).

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an der Konzeption und Produktion so teilhaben zu lassen, dass aus deren Perspektive ein
Lernprozess wahrgenommen wird.

V.1. Das Doku-Art-Konzept von „Erben des Fortschritts“. Das Projekt wurde 2014 während
der Sommeruniversität begonnen und 2016 abgeschlossen. Den Schwerpunkten der je-
weiligen Sommerakademie entsprechend trägt das erste Jahr des Projekts den Titel Erben
des Fortschritts, das zweite Jahr fokusland und das dritte Remplin. Die Projekte sind jeweils
in Personenporträts sowie Landschaften und Räume gegliedert.
   Im Katalog Erben des Fortschritts. Geschichten von Klima und Wandel in Mecklenburg-
Vorpommern (2017) wird das Projekt folgendermaßen vorgestellt:

       Die Werkstatt Doku-Art ist ein dokumentarisches Kunstprojekt, in dem Bürger*innen in Meck-
       lenburg-Vorpommern von sich erzählen, ein Kunstprojekt, das Identität (an)stiftet. Sie erprobt
       eine neue Dimension sozioökologischer, -ökonomischer und -kultureller Auseinandersetzung,
       die die Bevölkerung als Träger von Gegenwart und Zukunft integriert und das Leben in seiner
       Vielschichtigkeit widerspiegelt – direkt, humorvoll, unverblümt. Es geht darum, Geschichten
       und Menschen an Orten spürbar zu machen, die gemeinhin den Stempel kulturellen Aderlasses
       tragen: Das Wegbrechen gesellschaftlicher Strukturen, der Wandel der Wirtschaft und Land-
       wirtschaft, die Klimafolgen konfrontieren die Bewohner*innen mit Umbrüchen. Signalisieren
       sie nur Zerfall oder steckt in ihnen auch das Potential, neue Wege zu erkunden? Die Werkstatt
       Doku-Art setzt auf die Kraft des Erinnerns und des Teilens von Erlebnissen beim Geschichte-
       nerzählen, um daraus gemeinsam Zukunft zu gestalten.
       In den vorliegenden Portraitreihen erzählen Menschen über ihr Leben, ließen sich fotografieren
       und ihre Geschichten ans Licht holen. In Interviews, Texten und Polaroidfotografien dokumen­
       tiert die Reihe Lebensgeschichten und Landschaften im Dreieck von Malchin und Waren
       (Müritz) bis Dreveskrichen.
       Nun wollen wir den Geschichten ein Publikum geben und zeigen, wie Kunst den öffentlichen
       Raum mitgestalten kann. Begleitet wird der Katalog von großformatigen Ausstellungen, die seit
       2016 durch Mecklenburg-Vorpommern wandern.34

Die Menschen im ländlichen Raum stehen demnach im Zentrum des Kunstprojekts. Es
wird einerseits mit dem Narrativ eines Wandels operiert, der den ländlichen Raum zu einem
prekären Raum macht, in dem Entwicklung erschwert wird. Zugleich wird in den Menschen
aber „Potential“ vermutet, die Umbruchssituation zu bestehen und zukunftsorientiert zu
nutzen. Die „Kraft des Erinnerns“ ist möglicherweise an das Medium der Fotografie gekop-
pelt, handelt es sich doch bei der Fotografie um ein Medium, das – vor allem in der Alltags-
praxis – viel mit Erinnern zu tun hat. Das fotografische Bild ist als „Träger des kulturellen
Gedächtnisses“ dazu in besonderer Weise geeignet.35 Was wir auf einer Fotografie sehen
(gerade, wenn wir sie selbst verantworten, so dass wir wissen, dass nicht manipuliert wurde),
können wir als etwas identifizieren, das im Moment der Aufnahme genau so stattgefunden
hat.36 Für Sarah Sandring, die Leiterin des Workshops, gestaltet sich Doku-Kunst so:

34 Zienert, Borner (2017 [o. S.]).
35 L öffler (2004, 120).
36 Vgl. in diesem Zusammenhang auch, wie oft das fotografische Bild in Filmen als Zeichen der Erinnerung und
   als Zeichen der Fähigkeit zum Erinnern eingesetzt wird, wie z. B. in Ridley Scotts Blade Runner (USA 1982).

Peter Lang                                                          Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
426 | Thomas Klein: Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse

        Dokumentation fußt in einer Erwartungshaltung. Eher in einer von etwas Realem. Und die Kunst
        hat irgendwie ganz andere Freiräume in der Interpretation. Und das wollte ich halt offiziell mit-
        einander mischen und uns sagen: Okay wir machen hier Kunst, die aber ganz klar fußt in der
        Realität, in dem Raum oder bei den Menschen, die wir porträtieren, die Bestandteile sind. Wir
        möchten den Raum Mecklenburg-Vorpommern porträtieren. Dazu gehören Landschaften, dazu
        gehören vielleicht auch Tiere, dazu gehören Menschen. Die teilen diesen Raum miteinander und
        gleichzeitig öffnen wir aber die Art, wie wir das interpretieren.37

Die Erwartungshaltung, von der Sarah Sandring spricht, kann mit dem dokumentarisie-
renden Modus und der dokumentarisierenden Lektüre in Verbindung gebracht werden,
von der bereits die Rede war. Dieser Modus vermischt sich mit einem der Partizipation,
der aus dem didaktischen Konzept der Community Art hervorgeht, das während der
Sommeruniversität eingesetzt wird:

        Das kann eine Kindergartengruppe sein, die eine Gemeinschaft ist oder es kann eine Dorfge-
        meinschaft sein. Oder Leute aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, wie ich sie öfter habe
        in meiner Arbeit. Und darunter verstehe ich tatsächlich, dass man mit Leuten vor Ort zu ihren
        eigenen Geschichten arbeitet. Am Schluss entsteht aus den persönlichen Geschichten wiederum
        ein Porträt von der gesamten Community.38

Tatsächlich war es aber so, dass nicht nur mit den Menschen vor Ort zu deren Geschichten
gearbeitet wurde. Es wurde ebenso mit den Teilnehmenden des Workshops gearbeitet,
mit dem Ziel, Methoden der Community Art zu vermitteln sowie gemeinsam konzipierte
und erarbeitete Artefakte zu produzieren. Die Teilnehmenden führten Interviews mit den
Menschen vor Ort und bedienten sich des dabei entstehenden Materials für die eigene
künstlerische Arbeit, die mit Sarah Sandring als „künstlerische Interpretation“ des Inter-
view-Geschehens bezeichnet werden kann. Demnach geht es darum,

        eine Form zu finden. Auch in einer Schrift, die eine emotionale Begegnung mit den Leuten möglich
        macht. Deswegen habe ich mich entschieden, aus dem Interview rauszugehen und, als wenn ich
        die Personen reden höre, so einen Stil oder so eine Form des Selbstporträts der Protagonisten zu
        finden.39

Wie sich in den folgenden Analysen ausgesuchter Fotos und Texte sowie ihrer Entstehung
zeigen wird, reicht die „künstlerische Interpretation“ weiter und spielt in das Kooperations-
verhältnis zwischen Künstlerin, Teilnehmenden und Protagonisten hinein.

V.2. Die Fotos im Projekt „Erben des Fortschritts“. Sowohl die Porträtfotografien als auch
die Fotografien von Landschaften und Räumen sind in der Ästhetik des Triptychons
komponiert, inszeniert und gestaltet.40 Die Personen sind eigens für die Aufnahme vor
die Kamera getreten und wurden in einer Porträtaufnahme von der Brust aufwärts von

37   Sandring (2019).
38   Sandring (2019).
39   Sandring (2019).
40   Eingesetzt wurden in geringerer Zahl auch Diptychons und Quadrichons.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                             Peter Lang
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vorn und/oder von hinten fotografiert, so dass nur der Hinterkopf zu sehen ist. Die Porträ­
tierten sehen also einmal uns, die Betrachter, an, und einmal blicken wir mit den Porträ­
tierten auf einen Ort, der für ihr Leben von Bedeutung ist, auf ein Objekt, zu dem sie eine
Beziehung haben, vielleicht auch nur auf eine Fläche, die für eine Perspektive stehen mag
oder für einen Raum, der noch nicht geöffnet ist.41 Links und rechts werden sie meist von
der Landschaft eingerahmt, in der sie leben. Die Landschaften und Räume ohne Personen
bestehen aus bis zu vier nebeneinander positionierten einzelnen Bildern, die in der Hori-
zontalen ein Gesamtbild ergeben. Jedes einzelne Bild rahmt einen Ausschnitt im Gesamt-
bild, so dass der Eindruck eines Panoramafotos erzeugt wird. Die Bilder schließen nicht
immer direkt aneinander an und sind durch weiße Zwischenräume voneinander getrennt.
Zu den Protagonisten zählen unterschiedliche Menschen der Region.42 Die Landschaften
und Räume sind in der ersten Serie Landwirtschaftsmaschinen, eine Kirche, Gebäude in
Malchin (der größten Stadt der Region), Moorgebiete und landwirtschaftlich genutzte
Flächen. In der zweiten Serie kommen insbesondere Gebäude landwirtschaftlicher Be-
triebe und weitere Ansichten der Stadt Malchin (z. B. Wohngebäude) hinzu, während es
in der dritten Serie Motive aus dem Ort Remplin und Umgebung sind.
   Die Wirkung der Porträtaufnahmen ergibt sich hierbei in erster Linie aus dem, was das
Gesicht an sich erzählt bzw. welche Geschichte wir aus dem Gesicht herauslesen. Dies ver-
bindet sich mit dem Text, auf den noch eingegangen werden soll. Die Porträtierten sind
nicht in Posen fotografiert, werden weder als Opfer noch als Helden inszeniert, sondern als
Bewohner und als jeweils spezifische Akteure in ihrem ruralen Umfeld. Sie sind die ‚Erben
des Fortschritts‘, der sich auf unterschiedliche Art und Weise ausdrückt. Zur Verwendung
des Polaroid-Formats sagt Sandring:

       Polaroid-Bilder sind bildlich einfach spannend. Sie brechen so ein bisschen mit dem, was wir
       normalerweise sehen. Sie haben eine gewisse Unschärfe. Sie haben eine bestimmte Farbigkeit,
       die spannend ist. Einfach so als bildliches Medium. Und dann ist es wunderbar, weil man als
       Fotograf die Bilder sofort sehen kann. Und wir haben ja mit Triptychons gearbeitet. Das heißt,
       du stehst an einem Punkt und fotografierst dreimal von links nach rechts und dann kannst du
       die Bilder sofort nebeneinanderlegen. Du brauchst nicht am Computer in Photoshop zu gucken:
       funktioniert das, sondern du kannst ja sofort nebeneinanderlegen und rumschieben oder wie
       auch immer. Es ist wie Puzzeln, wenn man anfängt, die Bilder miteinander zu kombinieren.
       Dass man die wirklich physisch schieben kann und so weiter. Und das sind jeweils Originale.
       Du kannst sie so nicht noch einmal machen. Das bringt so einen rituellen Charakter in die
       ganze Arbeit, der unheimlich schön ist für die Leute, die damit fotografieren. Das ist etwas
       ganz Besonderes. Das hat so etwas Magisches fast. Und die Fotografierten können auch sofort
       die Fotos sehen.43

41 So Barthes (1985, 22) zur Porträtfotografie: „DAS PHOTOGRAPHISCHE PORTRÄT ist ein geschlossenes
   Kräftefeld. Vier imaginäre Größen überschneiden sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Ob-
   jektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der
   Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen“.
42 In der ersten Fotoserie Erben des Fortschritts sind dies: der Bürgermeister eines Dorfes, ein Ladenbesitzer/
   Dorfaktivist, eine Ladenbesitzerin/Agrarwissenschaftlerin, ein Schweinehirt/Triathlet, eine Bildhauerin, eine
   Schülerin, ein Mann, der den Bundesfreiwilligendienst absolviert, und ein Landwirt.
43 Sandring (2019).

Peter Lang                                                            Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
428 | Thomas Klein: Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse

Die Arbeit mit Polaroidfotos44 steht somit in einem engen Zusammenhang mit dem
analogen künstlerischen und medialen Arbeiten, in dem eher nicht die technische
Reproduzierbarkeit der Fotografie und noch weniger die Möglichkeit der digitalen
Bearbeitung einer digital entstandenen Fotografie Grundlage der Arbeit ist, sondern
vielmehr die Materialität des analogen Sofortbildes. Hinzu kommt, dass beim Polaroid
„partizipatorische und kommunikative Faktoren eine wichtige Rolle [spielen], bei denen
Gemeinschaft als ‚Bild‘ bestätigt werden soll“.45 Dies schlägt sich im Projekt Erben des
Fortschritts entsprechend nieder: Die Fotos wurden im Prozess des kollaborativen Arbei-
tens je nach Interesse von unterschiedlichen Teilnehmenden oder von Sarah Sandring
aufgenommen. Mal zeichnete eine Teilnehmerin für alle Bereiche (Fotos, Porträt und
Illustration) verantwortlich, mal wurde nur mit Fotos von Sarah Sandring gearbeitet,
mal wurden die Bereiche auf mehrere Personen aufgeteilt. In der zweiten Bilderserie
Fokusland 2015 wurden die meisten Texte von der Illustratorin Kristin Meyer, die
parallel den Workshop Animation leitete, auf die Fotos aufgetragen, während die Per-
sonenporträts in der dritten Bilderfolge Remplin 2016 von den Landschaftsaufnahmen
getrennt sind. Für die Aufnahmen zeichnen hier sowohl Teilnehmende als auch Sarah
Sandring verantwortlich.
   Die Urheberschaft schlägt sich im Katalog und auf der Webseite46 dadurch nieder, dass
bei jeder Fotoserie die Namen der Fotografen, Texter und Illustratoren aufgeführt werden.
Für den Katalog und die Webseite mussten die Fotos zwar digitalisiert und digital optimiert
werden. Doch betrifft dies den Distributions- und nicht mehr den Produktionsprozess. An
der Distribution waren die Teilnehmenden ohnehin nur bedingt konzeptionell beteiligt.
Sie lag weitestgehend in der Verantwortung der Veranstalter.

V.3. Die Texte im Projekt „Erben des Fortschritts“. Text wird auf zweierlei Weise eingesetzt:
in Form der Porträts und in Form von Texten und Textfragmenten, die auf die Fotogra-
fien aufgetragen wurden. Für Sarah Sandring und ihre Workshop-Gruppe war der un-
mittelbare Eingriff in die Materialität der Fotos ein schwieriges Unterfangen:

        Das haben die zuerst mit Folien gemacht. Sie haben auf durchsichtige Folien geschrieben.
        Dann ging es darum, wo der Text im Bild platziert wird. Erst dann wurde tatsächlich ins Bild
        reingegangen. Weil das ja schon eine finale Entscheidung ist, die du dann triffst. Das lässt
        sich nicht mehr rückgängig machen, wenn du einmal ins Bild reinschreibst. Das ist eigentlich
        ein Tabubruch. Normalerweise sind Bilder heilig für uns. Also anzufangen in Bilder zu malen
        oder zu schreiben oder womöglich zu ritzen. Da haben wir sehr große Hemmungen. Einige
        Teilnehmer haben sich sehr unwohl gefühlt oder haben sich grundsätzlich geweigert, das zu
        machen.47

44 Die erste Polaroid Land Camera kam 1948 auf den Markt. „Die Verdichtung von Realität und Fiktion, die
   unmittelbare Konfrontation von ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘, machte die Popularität des Sofortbildes aus“ (von
   Brauchitsch [2002, 221]).
45 K röncke, Nohr (2005, 7).
46 Vgl. , zuletzt: 17.9.2019.
47 Sandring (2019).

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Wenn Sandring von ‚wir‘ und ‚uns‘ spricht, rekurriert sie auf ihre Kunstwelt und weniger
auf den Alltagsgebrauch von Fotografien. Zumal in Zeiten des digitalen Bildes ist es üblich
geworden, Fotos mit dem Ziel ihrer Veränderung anzufertigen. Die Arbeit war also zugleich
rituell, magisch (s. o.), aber auch belastend, weil durch die Bearbeitung eine spezifische
Qualität des Mediums Fotografie auf dem Spiel stand.
   Trotz des Problems, die Fotografie nachhaltig zu verändern, bieten sich für Sarah Sand-
ring kreative neue Möglichkeiten der Relation von Bild und Text:

       Der Text bringt andere Möglichkeiten als das Bild und erweitert das Bild dadurch um einiges. Du
       lädst es ja auf, indem du reinschreibst. Es handelt sich um ein grafisches Element, was Spannung
       erzeugen kann. Obwohl diese Triptychons schon so eine bildliche Spannung haben dadurch, dass
       immer ein leichter Versatz ist zwischen den Bildelementen und dass du eine Bedeutungsebene
       hinzufügst durch den Text. Und das sind manchmal eigene Worte, die ich mir ausgedacht habe
       oder die sich die Teilnehmenden ausgedacht haben. Schlagworte, Assoziationen, teilweise aber auch
       Zitate von den Leuten, die porträtiert wurden. Dadurch ist es auch nochmal eine Möglichkeit,
       die Menschen mit dem Raum zu vermischen.48

Der indexikalische Gehalt der Fotos wird demzufolge mit der auf das Foto aufgetragenen
Textur um symbolische und ikonische Bedeutungen gezielt erweitert. Schon Walter Ben-
jamin hat in seinem 1931 erschienenen Aufsatz Kleine Geschichte der Fotografie von der
Bedeutung der Beschriftung der Fotografie gesprochen, „ohne die alle photographische
Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muss“,49 was vermutlich auf Paratexte zur
Fotografie zielt. Auf den Fotografien des Projekts Die Erben des Fortschritts werden die
Beschriftungen hingegen zum integralen Bestandteil der Fotos – Text und Bild sind nicht
mehr voneinander zu trennen, sondern bilden ein Amalgam.
   Wenden wir uns einigen Beispielen zu. Auf dem Umschlag-Triptychon, deren Fotos
aus einer Perspektive direkt über dem Boden gemacht wurden, ist ins Gras der Schriftzug
„Wir sind die / Erben allen / Fortschritts“ geschrieben (Abb. 1). Das ‚Wir‘ ließe sich auf
die großen Landwirtschaftsfahrzeuge beziehen, die auf allen drei Fotos immer im An-
schnitt zu sehen sind. Durch die Anordnung als Triptychon werden „Wir“, „Erben“ und
„Fortschritt“ zugleich getrennt und verbunden. Das Dilemma der Geschichte, Gegen-
wart und Zukunft der Maschinen im ländlichen Raum wird dadurch visualisiert. Da es
sich um das Eröffnungs-Triptychon handelt, ließe sich das Lektüreangebot gleichzeitig
auf den gesamten Band beziehen. Die ‚Erben des Fortschritts‘ wären dann vor allem die
porträtierten Menschen. Doch auch diese Lesart ließe sich erweitern, indem die Land-
schaften und Objekte, die gleichwertig in den Fotoserien angeordnet werden, ebenfalls
als ‚Erben des Fortschritts‘ begriffen werden. Sie alle, sogar die Landwirtschaftsfahrzeuge,
bekommen damit eine Stimme; sie werden zu Akteuren, die den ländlichen Raum mit
strukturieren.

48 Sandring (2019).
49 Benjamin (1963, 64).

Peter Lang                                                      Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
430 | Thomas Klein: Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse

                       Abb. 1: Umschlag-Triptychon Wir sind die Erben allen Fortschritts.

                            Abb. 2: Triptychon-Porträt des Schweinewirt Helmut Solf.

Die erste Stimme im Katalog ist die von Bertold Meyer, dem „Bürgermeister“ der Ortschaft
Bollewick. Wir sehen seinen Hinterkopf, sein Blick ist auf Sträucher gerichtet, am unteren
Rand steht „WIRKEN“, am rechten oberen Rand „LOKAL“. Auf dem Foto links von ihm
ist eine weitläufige landwirtschaftliche Fläche zu sehen, die auf zwei Fotos rechts von ihm
(es handelt sich hier also nicht um ein Triptychon) fortgesetzt wird. Auf Meyer folgt der
„Dorfaktivist“ und „Ladenbesitzer“ Bernd Kleist aus Gessin. Er blickt uns vom rechten Foto
des Triptychons aus an; die beiden Fotos links von ihm zeigen einen gepflegt aussehenden

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                         Peter Lang
Thomas Klein: Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse | 431

Bolzplatz aus Gessin. Auf dem Foto links liest man „Selbst Gäste und Urlauber“, was auf
dem nächsten Foto mit „sind Nachbarn auf Zeit!“ abgeschlossen wird. Die nächste Stimme
gehört Gerda Lichtenau, „Agrarwissenschaftlerin“ und „Ladenbesitzerin“ aus der Ortschaft
Zepkow. Sie ist in Rückenansicht in der Mitte des Triptychons platziert, den Blick auf eine
Steinmauer mit Efeuranken gerichtet. Die beiden Bilder rechts und links von ihr zeigen
eine Wiese mit Heu-Rundballen. Auf dem linken Foto ist oben über den Himmel gelegt
„viele setzen sich gar nicht damit auseinander“, was auf dem gleichen Foto unten rechts
auf der sattgrünen Wiese mit „was sie essen“ fortgesetzt wird. Über dem Kopf von Gerda
Lichtenau steht nur ein auf die Fotografie der Mauer gesetztes „und“. Im rechten Bild wird
der Satz mit „wo was herkommt“ beendet.
    Diese ersten drei Beispiele machen bereits deutlich, dass Bewohner der Region ausgewählt
wurden, die eine nachhaltige Haltung zum Leben auf dem Land aufweisen. Tatsächlich wur-
den von der Leitung der Sommeruniversität, die auch den Projekthof betreibt, Vorschläge
gemacht, welche Personen porträtiert werden könnten. Weitere Protagonisten wurden von
der Workshop-Gruppe ausfindig gemacht.50 Auch die Reihenfolge ist für den Katalog gezielt
gewählt, zumal der Slider der Porträts auf der Webseite des Projekthofs Karnitz eine andere
Reihenfolge aufweist und der User der Website die Reihenfolge ohnehin selber wählen kann.
    Ich möchte einen genaueren Blick auf zwei weitere Porträtierte werfen. Der eine ist in der
Landwirtschaft und damit einem für die ländliche Region wichtigen Wirtschaftsbereich
tätig; die zweite gehört als Schülerin der Zielgruppe an, die wesentlichen Anteil daran hat,
ländlichen Regionen eine Zukunft zu gewährleisten.
    Der „Schweinewirt und Triathlet“ Helmut Solf ist in seiner Fotoserie in der Mitte vor
Stroh oder Heu platziert. Links und rechts von ihm sind Schweine vor einem metallenen
Gatter abgebildet. Über den Nutztieren am Himmel ist auf dem linken Foto in schwarzer
Schrift der Text „Das ist Addi, ein Eber“ eingefügt. Ein Pfeil zielt auf eines der Schweine.
Der Text wird im Personenporträt mit den über dem Kopf von Solf platzierten Worten „und
richtiger Kumpeltyp. Und“ fortgesetzt, woraufhin er im rechten Foto mit weiteren Schwei-
nen und dem Text „das sind Putin und Schröder“ zum Ende gebracht wird. Die Schrift
ist leicht geschwungen in die Bilder eingefügt. Solf ist inmitten seiner Nutztiere platziert,
und der Text stellt eine Verbindung zwischen Mensch und Tier her. „Kumpeltyp“ bezieht
sich syntaktisch zwar auf „Addi“, gemeint ist damit aber auch Helmut Solf, denn das Wort
steht über seinem Kopf. Seinen Schweinen hat er Namen von Politikern gegeben, was als
ironischer Kommentar gelesen werden kann, waren Putin und Schröder in Deutschland
doch fünf Jahre lang zugleich an der Macht und haben das Verhältnis von Ost und West
zu Beginn des neuen Jahrtausends wesentlich geprägt (darüber, wer mit „Addi“ gemeint
ist, liegen keine Informationen vor).
    Auch die Schülerin Mei Ling Chen51 ist in der Mitte platziert, in Rückansicht. Sie blickt
vom Betrachter abgewandt auf eine blau-weiß schraffierte Fläche und trägt ein schwarzes
Shirt mit einer roten Aufschrift. Auf den Fotos links und rechts von ihr sind Häuser aus der
Altstadt in der Nähe des Steintors in Malchin zu sehen. Darunter befindet sich das Haus, in

50 Vgl. Sandring (2019).
51 Mei Ling ist eine der Porträtierten, die den Projekthof Karnitz kennen und 2014 auch bei der Sommeruniversität
   dabei waren.

Peter Lang                                                            Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
432 | Thomas Klein: Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse

dem sie wohnt(e). Hier sind die Texte mit fetten schwarzen Strichen beschriftet und zielen
nachdrücklich darauf ab, die Perspektive der Porträtierten wiederzugeben. Lautstark äußert
sie ihren Standpunkt. „IST ZWAR TOTAL KAFF HIER“ steht links, „MAG ES.“ rechts.
Diese beiden Satzteile werden durch zwei Worte in der Mitte verbunden, die in diesem Fall
aber die Kombination eines eingefügten und auf ein T-Shirt gedruckten Textes darstellen:
„ABER ICH“. Das „ABER“ ist in weißer Schrift eingefügt, „ICH“ steht in roter Schrift auf
der Rückenseite des T-Shirts, das die Schülerin trägt. Hinzu kommt ein eingesetzter weißer
Pfeil, der auf das mehrfach weiß eingekringelte „ICH“ gerichtet ist. Die Schrift gibt die
Sprache der Jugendlichen wieder, die in ihrer Aussage eine konkrete Botschaft formuliert.
Obwohl es sich um ein „Kaff“ handelt, mag sie die Stadt. Doch welche Konsequenzen
zieht sie daraus? Der Text macht ein grundlegendes Dilemma transparent: Das „Kaff“ ist
immerhin Heimat, der Ort des Aufwachsens und der Schaffung von Identität. Vielleicht
mag sie den Ort deshalb. Den Ort zu mögen, muss aber nicht notwendigerweise bedeuten,
auch dort zu bleiben. Aufschluss könnte der Porträttext liefern.
   Die Porträttexte beginnen mit wesentlichen Daten: Name, Alter, Beruf, Wohnort. Es
folgt ein Zitat der Person. Der Bürgermeister der Ortschaft Bollewick wird zitiert mit den
Worten: „Großstädte und ländliche Regionen sind verbunden. Ihre Entwicklung muss
gemeinsam betrachtet werden“. Bei Bernd Kleist steht: „In Gessin leben wir Solidarität.
Für Besucher gibt es freie Stellplätze für Wohnmobile. Wir bieten den Leuten auch an, die
Toiletten und Waschgelegenheiten im Mittelhof zu nutzen. Das spüren die Touristen. So
werden Gäste und Urlauber zu Nachbarn auf Zeit.“ Das Porträt von Gerda Lichtenau wird
eingeleitet mit den Worten „Hofläden gibt es wenige in der Mecklenburgischen Schweiz.
Bio war hier früher nicht zu kaufen. Das Fleisch aus dieser Region wurde direkt nach
Berlin vermarktet.“
   Dem Porträt von Helmut Solf ist das Zitat vorangestellt: „Mecklenburg-Vorpommern ist
Landwirtschaftsland. Wo wir hier sind, ist eine Perle. Wo wir hier sind, ist so schön“ (vgl.
Abb. 2). In dem folgenden Text wird erzählt, wann Solf nach Mecklenburg-Vorpommern
gekommen ist, wie sein Betrieb funktioniert („Freiland-Sauenhaltung kombiniert mit der
Bestellung von Felder und Wiesen“), wie er seine Landwirtschaft 2010 auf „Bio-Landwirt-
schaft“ umgestellt hat, was er für die Umstellung tun musste und was seine Motivation
für diese Umstellung ist, worunter auch der „persönliche Beitrag gegen den Klimawandel“
auftaucht. Die Erzählung verbindet Solfs landwirtschaftlichen Beruf mit einer Spezifik des
ländlichen Raums. Wenn Mecklenburg-Vorpommern als „Landwirtschaftsland“ bezeichnet
wird, so erinnert dies an die erwähnte Funktion dieses Raums als „Garten der Metropolen“,
dessen Erträge die Großstädter ernähren sollen. Diese Qualität des Landes, das es zu einer
„Perle“ macht, wird mit einer nachhaltigen Perspektive verbunden, indem es sich um Bio-
Landwirtschaft handelt und „Gewinnmaximierung“ abgelehnt wird.
   In Mei Ling Chens Zitat wird auf den Migrationshintergrund und die damit einher-
gehenden Integrationsprobleme eingegangen: „Das Problem als Asiate ist hier, es gibt viele
Rassisten. Dann wird man immer gleich angestarrt: ‚Öh, guck mal ein Asiate!‘. Ich bin
subkulturmäßig unterwegs – schwarze Szene und so – da hab ich sowieso das Extreme
gewählt. Jetzt starren mich die Leute an für etwas, das ich will und nicht für etwas, für

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                 Peter Lang
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