Landmarken: Das Konzept des Bioregionalismus bei Gary Snyder und Helmut Salzinger

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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 363–380
Peter Braun, C aroline Rosenthal

Landmarken: Das Konzept des Bioregionalismus
bei Gary Snyder und Helmut Salzinger

I. Bioregionalismus. Der Bioregionalismus entstand in den 1970er Jahren an der Nord­
westküste Kanadas und der USA als Teil der größeren internationalen Umweltschutzbe­
wegung, verstand sich aber von Beginn an als dezidiert lokale und basisdemokratische
Bewegung. Seine Vertreter sahen die Antwort auf die Zerstörung der Natur nicht in glo­
balem Aktivismus, sondern in der Etablierung lokaler Gemeinschaften, die bewusst und
nachhaltig an einem Ort leben wollten. Dazu war eine grundlegende Änderung des Be­
wusstseins hin zu einem post-anthropozentrischen und tiefenökologischen Verständnis der
Natur nötig. Ökologische Ideen, wie etwa die Notwendigkeit des Erhalts von Biodiversität
oder der verantwortungsvolle Umgang mit Boden- und Wasserressourcen, mischten sich
mit politischen Ideen, die zentralisierte governance zugunsten lokaler Selbstverwaltung in
Frage stellten.1
   Bioregionalismus zeichnet sich vor allem durch die (Wieder-)Aneignung konkreter
Praktiken aus, durch die das Subjekt sich in einer biotischen Gemeinschaft auf dem Land
verortet. Eine Bioregion definiert sich dabei nicht über politische Grenzen oder kulturelle
Landmarken, sondern über natürliche Faktoren wie Wasserscheiden, Bergzüge, Klima und
zusammenhängende Ökosysteme. Dabei trennt der Bioregionalismus bewusst nicht zwi­
schen Natur und Kultur, sondern sieht den Menschen als Teil dieser Luft, Wasser, Boden
sowie Flora und Fauna umfassenden Gemeinschaft. Eine Bioregion definiert sich daher
auch über die Vielzahl kultureller Praktiken, die Menschen an einem spezifischen Ort auf
und im engen Zusammenspiel mit dem Land entwickelt haben. Die natürlichen Grenzen
von Bioregionen gehen oft über die politisch-regionalen oder nationalen hinaus und sind
im Gegensatz zu diesen nicht starr, sondern fließend und wandelbar. Die Lebensräume
des Menschen sind nicht nur klar begrenzte Städte, Dörfer oder Länder, sondern auch
distinkte Ökosysteme und Ökoregionen, für die der Bioregionalismus ein neues Gewahr­
sein schaffen möchte.
   Eine Grundvoraussetzung für ein solches Gewahrsein ist, was der Umweltschützer Peter
Berg und der Ökologie Professor und Naturschutzbiologe Raymond Dasmann 1977 in
ihrem einflussreichen kurzen Artikel Reinhabiting California im Magazin The Ecologist
„living-in-place“ nannten.2 Sie verstanden darunter einen Lebensstil und Lebenspraktiken,
die entstehen, wenn Menschen sich nachhaltig und langfristig an einem bestimmten Ort
niederlassen und ihr Sein und Tun aus den natürlichen Gegebenheiten und Zyklen dieses

1   Taylor (2000, 50–52).
2   Berg, Dasmann (2014, 35).

© 2020 Peter Braun, Caroline Rosenthal - http://doi.org/10.3726/92166_363 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons
Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz               Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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Ortes erwachsen lassen. Während Kalifornien einst von Menschen besiedelt war, die das
Land behutsam nutzten,3 trieben die Siedler mit ihrer „‚endless frontier‘ delusion and invader
mentality“4 die Zerstörung der Natur sowie die Ausrottung von Biodiversität und Spezies
ebenso voran wie die Verdrängung indigener Völker. Um wirklich erneut mit dem Land zu
leben, bedarf es nach Berg und Dasmann daher einer reinhabitation des Landes, ein Ter­
minus, den der amerikanische Essayist, Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder noch im
selben Jahr in seinem gleichnamigen Essay aufgreifen wird. Wiederbesiedelung des Landes
bedeutet „becoming native to a place through becoming aware of the particular ecological
relationships that operate within and around it”.5 Neben einem ökologischen Bewusstsein
gehört dazu ein politisches, denn die Bioregion steht Staat und staatlicher Kontrolle kritisch
gegenüber und will die Hoheit über Ressourcen und Energien in die Verantwortung lokaler
Gemeinschaften zurückverlegen. Zudem braucht der Mensch Geschichten, Imagination
und alternatives Wissen, um sich nach bioregionalistischem Verständnis wieder an einem
Ort nieder zu lassen. Diese Idee entwickelt Gary Snyder in seinem essayistischen und lyri­
schen Werk (II.). Rezipiert wird das Konzept des Bioregionalismus in der bundesdeutschen
Alternativkultur (III.), etwa im literarischen Werk Helmut Salzingers (IV. ff.).

II. Gary Snyders „Turtle Island“: Lyrik als Wiederaneignung einer verlorenen Welt. Bioregio­
nalismus bedeutet für Snyder, „a sense of place“ zu entwickeln, also ein Bewusstsein für
und eine Vorstellung von einem bestimmten Ort. Zum umfassenden Verständnis eines
Lebensortes gehört zum einen die genaue Kenntnis seiner Topographie und biotischen
Lebensformen, zum anderen ein tieferes Verstehen, das weit über das rationale Benennen
hinausgeht und die spirituellen Dimensionen und sensuellen Auswirkungen eines Ortes
miteinbezieht. Altes, indigenes und oft verlorenen gegangenes Wissen über das spezifi­
sche Land, seine physischen Beschaffenheiten und Lebensformen soll mit neuem Wissen
und Praktiken, die am Land geschult sind und aus diesem erwachsen, verbunden werden.
Wissen zeigt sich für Snyder nicht nur in analytischer Intelligenz, sondern in den uralten
Praktiken des Kanu-Baus, der frühen Töpferei oder Höhlenmalerei ebenso wie in dem,
was er „grandmother wisdom“6 nennt: überlieferte Regeln und Praktiken, die sich in der
Interaktion mit einem spezifischen Ort ergeben. Die amerikanische Siedler-Gesellschaft
hat nach Snyder den Irrtum hervorgebracht,

        […] that we exist as rootless intelligences without layers of localized contexts. Just a ‚self‘ and the
        ‚world‘. In this there is no real recognition that grandparents, place, grammar, pets, friends, lovers,
        children, tools, the poems and songs we remember are what we think with.7

Es ist nicht nur das prähistorische Wissen, dass Snyder wieder erlernen möchte, sondern
auch das der Natur und ihren Lebewesen inhärente Wissen: „Some historians would say

3   Vgl. Berg, Dasmann (2014, 36).
4   Berg, Dasmann (2014, 36).
5   Berg, Dasmann (2014, 36).
6   Snyder (1990, 61).
7   Snyder (1990, 65). Hervorhebung i. O.

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that ‚thinkers‘ are behind the ideas and mythologies that people live by. I think it also goes
back to maize, reindeer, squash, sweet potatoes, and rice. And their songs“.8 Im Bioregiona­
lismus kommen Landschaft und Sprache, der Ort, seine Geschichten und Bewohner sowie
topographischen Beschaffenheiten zusammen. Für Snyder, der lange in Japan gelebt und
alte buddhistische Schriften aus Japan und China studiert hat, stellen fernöstliche Lehren
ein wichtiges Instrumentarium bereit, um die „Buddha-nature“ aller Wesen und deren
wechselseitige Beziehung zu begreifen.9 Für sein Verständnis des Bioregionalismus sind aber
vor allem die Kulturen der indigenen Einwohner der pazifischen Nordwestküste essentiell.
Ihre Kulturen, so Snyder, haben Geschichten, Mythen, Sprichwörter und Lieder über das
Land und die Tiere hervorgebracht, die wertvolle Lehren für das An-diesem-Ort-Sein der
heutigen Einwohner enthalten.
   In Snyders gesamtem Werk geht es um Prozesse der Neuverortung, um das, was er im
Nachgang zu Berg und Dasmann „Reinhabitation“ genannt hat. Während die indigenen
Einwohner noch eine Verbindung zum Land hatten, die es ihnen erlaubte, die subtile
Komplexität10 der Wälder der pazifischen Nordweste Küste, an der Snyder aufwuchs, zu
begreifen, sind die späteren Siedler zwar im Stande, Pflanzen zu benennen, aber nicht mehr,
deren tieferes Wesen zu erfassen. Weiße koloniale Siedler konnten den Pflanzen Namen
geben, aber anders als die ursprünglichen Einwohner des Landes konnten sie nicht mehr
erkennen, „what particular kinds of plants the ground would ‚say‘ at that spot“.11 Diesen
Verlust eines unmittelbaren Bezugs zur natürlichen Welt versucht Snyder umzukehren,
indem er in seinen Schriften und Praktiken erneut nach einem tieferen Zugang zur Welt
und ihren distinktiven Orten sucht. Es geht ihm um das Heilige, den natürlichen Dingen
Innewohnende, das es dem Subjekt ermöglicht, das eigene Selbst zu transzendieren: „Sacred
refers to that which helps take us (not only human beings) out of our little selves into the
whole mountains-and rivers-mandala universe“.12 Für Snyder ist eine Grundvoraussetzung
der menschlichen Identität, nicht nur zu ergründen, wer man ist, sondern auch, wo sich
dieses Ich konkret in seiner spezifischen Mitwelt verortet. Es geht Snyder und den Bio­
regionalisten dabei nicht um ein idyllisch-romantisierendes Natur- oder Weltbild, sondern
darum, sich tatsächlich als Teil eines Ökosystems zu begreifen und als Teil uns alle bestim­
mender Zyklen. Reinhabitation bezeichnet also eine imaginative, spirituelle wie praktische
Wiederaneignung bestimmten Wissens um und an einem Ort.
   Neben genauen naturkundlichen Kenntnissen, der Einbeziehung alten Wissens und
am Land erprobten Praktiken, ist es für eine Neu- und Wiederverortung essentiell, eine
imaginative Vorstellung von diesem bestimmten Ort zu entwickeln. Gary Snyder ist dabei
der Vorreiter einer Literatur, die es ermöglicht, eine Vorstellung dafür zu entwickeln, wie
Menschen konkret an einem Ort leben und diesen in allen seinen Facetten an Geschichte
und Geschichten erfassen können. Es ist also die Literatur, die einen Vorstellungsraum
schafft, und hier insbesondere die Lyrik, da sie auch emotionale, sensitive, performative

 8   Snyder (1990, 66).
 9   Yamazoto (1991, 234). Sowie insgesamt für eine Erläuterung der buddhistischen Elemente in Turtle Island.
10   Vgl. Snyder (1995, 184).
11   Snyder (1995, 183–185).
12   Snyder (1990, 101).

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und rituelle Aspekte des Erfassens eines Ortes mit zu reflektieren und erfahrbar zu machen
vermag. Seine 1974 erschienene und ein Jahr später mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete
Gedichtsammlung Turtle Island bezeichnet Snyder in einem Interview als „the first literary
surfacing of the bioregional concept“.13 Der Band ist somit als konkrete poetische Praktik
zu lesen, die eine Neubesiedelung des amerikanischen Kontinents unter veränderten Be­
wusstseinsbedingungen ermöglichen soll.
   Schon 20 Jahre vor Turtle Island entwickelte Gary Snyder in seiner Lyrik eine performative
Kraft, die sich den Kontinent Amerika jenseits kolonialistischer Einflüssen wiederaneignet.
Im Oktober 1955 liest er sein Gedicht A Berry Feast in der Six Gallery in San Francisco, in
derselben Nacht, in der Allan Ginsberg Howl vorträgt. Snyders Langgedicht feiert in der
Trickster-Figur Coyote, die in vielen indigenen Mythen der Nordwestküste eine zentrale
Rolle spielt, den in der Natur beständig währenden Wandel des Werdens und Vergehens
sowie die Verwischung der Grenzen zwischen Mensch, Tier und der sie umgebenden Natur.
A Berry Feast läutete mit seinem holistischen, jeden Anthropozentrismus ablehnenden Welt­
bild eine Zeitenwende ein, die erst viele Jahre später mit der Umweltschutzbewegung und
dem Ecocriticism breitenwirksam wurde.
   Auch ganz praktisch setzte Snyder den Bioregionalismus früh in die Tat um. Er wuchs
an der pazifischen Nordwestküste auf, einer Gegend, die ihn mit ihren klimatischen und
topographischen Charakteristika wie auch ihren indigenen Mythen zeit seines Lebens fesseln
sollte. Aus Japan in die USA zurückgekehrt, bebaute er 1970 mit seiner zweiten Frau Masa
Uehara und den zwei Söhnen Kai und Gen an den Gebirgsausläufern der Sierra Nevada
und an der Wasserscheide des Yuba Flusses Land, das er in den 1960er Jahren mit Allen
Ginsberg und anderen gemeinschaftlich erworben hatte. Den Ort nannte er nach einer
lokalen Pflanze Kitkitdizze. Das Haus entsteht unter der Mithilfe vieler Freiwilliger, von
denen einige sich später auch an dem Ort niederlassen, aus lokalen Materialien: Sandstein
aus den Bergen Kaliforniens und Holz von Ponderosa-Kiefern der unmittelbaren Um­
gebung. Kitkitdizze wird zum Prototyp eines angewandten Bioregionalismus, in dem die
Gemeinschaft Ressourcen gemeinsam verwaltet, und einer „reinhabitory culture“,14 durch
die der Mensch sich mit den Ursprüngen des Ortes verbindet. Die Gedichte in Turtle Island
stammen aus dieser Zeit und sind als Versuch zu verstehen, Amerika ein neues Narrativ
zu geben. Der Gedichtband ist ein klarer Gegenentwurf zum Mythos der Frontier als na­
tionskonstituierendem Meisternarrativ der USA. Während die Grenze sowie die Idee des
Sendungsbewusstseins der Epistemologie des Siedler-Kolonialismus entspringen, der die
mit dem Fortschreiten der Grenze einhergehende Zerstörung der Natur sowie die gewalt­
same Unterwerfung der indigenen Völker im Dienste eines höheren Interesses rechtfertigt,
will sich Snyder den Ort durch prähistorische Zugänge und Praktiken wiederaneignen.
   Snyders Gedichtband greift die Bezeichnung der indigenen Völker für den ameri­
kanischen Kontinent, Turtle Island, auf, damit Leser des 20. Jahrhunderts lernen, sich
wieder als Bewohner eines Kontinents von Wasserscheiden, Habitaten und Kulturzonen
wahrzunehmen statt als Einwohner einer politisch arbiträren Einheit. Die Gedichte des

13 O’Connell (1987, 318).
14 Goodyear (2008, 17).

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Bandes, so Snyder in seiner Introductory Note, „speak of place, and the energy pathways
that sustain life“ und evozierten eine uralte Solidarität15 zwischen dem Land und seinen
Bewohnern, die vor der Entstehung der USA liege. In der kurzen Einleitung zu seinem
Gedichtband verfolgt Snyder also durchaus eine didaktische Absicht und versucht dann
mittels der Lyrik, die Leser in eine prähistorische Zeit zurückzuversetzen. Snyders Lyrik
ist performativ-rituell und will durch ein ‚chanting back‘ die Schichten der Geschichte
durchdringen, um zu prähistorischem Wissen um den Kontinent durchzudringen. Dieses
Wissen entzieht sich westlichen Epistemologien ebenso wie westlichen Kodierungssystemen
und soll in und durch Lyrik erfahrbar gemacht werden. So beginnt das erste Gedicht wie
ein Gesang und eine Invokation: „Anasazi/Anasazi“.16 Snyder ruft hier, stellvertretend für
alle Ahnen und Vorfahren auf dem amerikanischen Kontinent vor der Besiedlung durch
Europäer, mit Anasazi prähistorische indianische Kulturen der USA auf, die bis heute in
den Traditionen der Pueblo-Indianer weiterbestehen. Typographisch ahmt das Gedicht die
charakteristischen in Klippen gebauten Höhlen der Anasazi nach und zielt in den sensua­
listischen, archetypischen und viszeralen Bildern auf ein vorsprachliches und jenseits des
Rationalen liegendes Erfahren. Das Eröffnungsgedicht ist programmatisch für den Band,
in dem Snyder reinhabitation ebenso aus den physischen Gegebenheiten wie den Mythen
des Ortes entwickeln will.
    Turtle Island gliedert sich in drei aus Gedichten bestehende Teile – Manzanita, Magpie’s
Song und For the Children – sowie einen essayistischen vierten Teil, den Snyder mit Plain
Talk, also mit Tacheles oder Klartext übertitelt. Der Essayteil geht programmatisch und
pragmatisch auf Snyders Vorstellungen zu Umweltethik, Umweltschutz und Umwelt­
politik ein und will praxisbezogene Alternativen zum modernen industrialisierten Leben
und seinen Problemen der Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Konsumgesellschaft
und Zentralverwaltung des Landes bieten. Snyder wirbt darin für eine fundamentale
ökologische Wende im Denken und Tun und für einen verantwortungsvollen Umgang
mit dem Land, auf dem wir leben. Eine solche Wende kann nur eingeläutet werden,
wenn die Menschen sich und ihr Verhältnis zum Land re-imaginieren. Dieser Prozess
soll durch die im Band versammelten Gedichte erfahrbar gemacht werden. Lyrik ist für
Snyder transformativ in einem performativen Sinne – sie beschreibt nicht nur, sondern
macht erfahrbar – und in einem politischen Sinne – sie leitet einen transformativen Pro­
zess im Denken und Tun ein, der ein bioregionales Verständnis und eine reinhabitation
überhaupt erst möglich machen. Während der dominante Grenzmythos der USA auf
beständigem Fortschritt und dem ständigen Fortschreiten der Grenze beruht, will Snyder
dezidiert zurück und hinabschreiten in eine Zeit vor der Besiedelung. Folsom hat Snyders
Lyrik in Turtle Island treffend als „poetics of archeology“17 bezeichnet, durch die Snyder
sich und seine Leser zurückträumt in eine Zeit, die Wissen birgt, welches die Übel der
Gegenwart vielleicht zu heilen vermag. Die Gedichte im Band sind als Prozess eines Frei­
legens von verlorengegangenem Wissen zu verstehen: „The Process. Go back, get under,

15 Vgl. Snyder (1974, i).
16 Snyder (1974, 3).
17 Folsom (1980, 103).

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dig, descend: through the palimpsest of this continent with its accreted layers of varied
culture, beneath the artificial, superficial, forcefully imposed top layer”.18 Gemessen in
geologischer deep time, welche die Rolle der Menschheit als marginal kennzeichnet, ist
die Staatsform der USA eine dünne Schicht, die der des reichhaltigeren prähistorischen
Wissens nur aufliegt.
   Snyders Reise The Way West, Underground, wie das zweite Gedicht des Bandes
übertitelt ist, führt ihn in und durch das mythische Wissen zahlreicher sogenannter
primitiver Völker. So evoziert Snyder in einer Zeile des Gedichts verschiedene Namen
für Bär: „Karhu – Bjorn – Braun – Bear“, um auf archetypische, in allen alten Kultur­
traditionen existente Denkmuster zu verweisen, in denen der Bär als Verwandter des
Menschen erscheint. Snyder taucht wie die den Gedichttitel bestimmende Schildkröte
hinab in ein Wissensreservoir vor der Besiedlung Amerikas, aber er taucht auch immer
wieder auf und beschreibt in Gedichten wie I Went into the Maverick Bar oder Steak
die zeitgenössische amerikanische Kultur als konsumorientiert, paternalistisch und von
der Natur getrennt. Andere Gedichte des ersten Teils, wie etwa The Dead by the Side
of the Road oder Front Lines führen uns Umweltzerstörung und Verschwendung von
Ressourcen vor Augen, während weitere, wie etwa Controll Burn oder The Call of the
Wild, vorzeitliches Wissen aufrufen. Das dem ersten Teil den Titel gebende Gedicht
Manzanita verweist auf einen Busch, die Bärentraube, welcher charakteristisch für die
amerikanische Westküste ist und mit wenig Wasser sowie nährstoffarmem Boden aus­
kommt und kleinen Äpfeln verwandte Beeren ausbildet. Die First Nations benutzten
den Strauch u. a. zu medizinischen Zwecken. In Controll Burn klärt Snyder die Leser
darüber auf, dass die Samen des Manzanita Buschs sich nur öffnen, nachdem ein Bär
sie zuerst verdaut hat oder ein Feuer über sie hinweggefegt ist. Metaphorisch wird hier
der alte indianische Brauch des kontrollierten Abbrennens von Gestrüpp (der dazu
dienen soll, neues Leben zu ermöglichen) auf die Wiederbesiedlung Amerikas unter
neuen Vorzeichen angewendet:

        […]
        Fire is an old story.
        I would like,
        with a sense of helpful order,
        with respect for laws
        of nature
        to help my land
        with a burn. a hot clean
        burn.
                         (manzanita seeds will only open
                         after a fire passes over
                         or once passed through a bear)
        […]19

18 Folsom (1980, 114).
19 Snyder (1974, 69).

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Das kontrollierte Verbrennen bezieht sich hier auf das ‚unlearning‘ von Wissen, um Fron­
tier-Mythos und Ideen wie Manifest Destiny oder American Exceptionalism rückgängig
zu machen, damit danach die Samen eines alten Wissens wieder aufgehen und gedeihen
können. Lyrik ist hierbei elementar, weil sie als Speicher dieses Wissens dient.
   Zugleich ist Snyders Lyrik immer Teil des Ökosystems, das er beschreibt. Sie speist sich
aus den Trümmern und Überresten des Vergangenen, geht auf in einer neuen Zukunfts­
vision und ist somit Teil des Zyklus aus Werden, Vergehen und neuem Werden, der die
Natur und das menschliche Dasein als Teil dieser Natur bestimmt. Wie Snyder in einem
Interview sagt: „Poets are more like mushrooms, or fungus – they can digest the symbol-
detritus“.20 Dem Dichter kommt damit die gesellschaftliche Rolle zu, überkommene, nicht
mehr tragfähige, verwesende Symbole einer Kultur – wie etwa den gewaltsamen Frontier-
Mythos der USA – symbolisch zu verstoffwechseln und in etwas fruchtbares, gedeihliches
Neues zu übersetzen.
   Der zweite, längste Teil von Turtle Island, übertitelt Magpie’s Song, beginnt mit einer
prosaischen Auflistung der Verschwendung und Missachtung natürlicher Ressourcen in
Industrienationen, allen voran den USA, und endet mit dem der Sektion den Titel gebenden
Gedicht. Magpie, die Elster, ist in der ihr zugeschriebenen Geschwätzigkeit in vielen indi­
genen Mythen eine Trickster-Figur und damit ein wichtiges Bindeglied zwischen Mensch
und Natur. In Snyders Gedicht adressiert der Vogel das lyrische Ich:

       […]
       No need to fear
       What’s ahead
       Snow up on the hills west
       Will be there every year
       Be at rest.
       […]21

Die Elster erinnert das lyrische Ich mit dem Verweis auf die wiederkehrenden Zyklen der
Natur an die wirklich elementaren Dinge des Daseins, an das, was Snyder in einem Ge­
dicht des dritten Teils The Real Work nennt, womit er das unspektakuläre In-der-Welt-Sein
meint, das den zivilisierten Menschen zunehmend schwerfällt. Das Gedicht beschreibt eine
Rudertour mit zwei Freunden und endet: „the real work./washing and sighing/sliding by“.22
The Real Work, wie Snyder es in einem gleichnamigen zentralen Interview beschreibt, meint:
die Welt wirklich und ganzheitlich erleben.23 Während der erste Teil von Turtle Island die
Notwendigkeit für einen transformativen Prozess formuliert, widmet sich der zweite den
Gegenmitteln, welche Mythen, Lieder und Lyrik bieten, um sich einer degenerierten, an
Wachstum und Profit orientierten Industriegesellschaft zu entziehen. In Turtle Island ver­
weist Snyder wiederholt auf die gewaltsame Zerstörung der Natur, die er in Front Lines als

20   Snyder (1980, 71).
21   Snyder (1974, 69). Kursivierung i. O.
22   Snyder (1974, 32).
23   Snyder im Interview mit Geneson (1980, 55–82).

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Vergewaltigung darstellt und in vielen anderen Gedichten als ‚Krebsgeschwür‘ markiert.
Dieser Zerstörungsgewalt setzt Snyder eine poetische Heilungskraft entgegen, denn in sei­
nem Verständnis sind Gedichte auch immer ein Reservoir an Energien, die wirksam werden
können, ähnlich wie die Samen des Manzanita-Busches aufgehen, wenn die Zeit reif ist.
   Lyrik hat für Snyder die Kraft, uns eine neue Perspektive auf die Welt zu schenken,
auszubrechen aus Denk-, Verhaltens- und Handlungsmustern, durch die wir die Welt und
unseren Bezug zu ihr zu sehen gelernt haben. Dem Dichter kommt dabei die Rolle eines
Schamanen zu, der uns, in der Stimme der Elster, in Verbindung bringt mit einem Bewusst­
sein jenseits des menschlichen Bewusstseins.24 Lyrik eröffnet einen Raum, um in Kontakt
zu treten mit diesem anderen Bewusstsein, das natürlich immer noch vom Menschen
imaginiert ist. Dies setzt allerdings eine Denkweise voraus, die sich von einem hierarchi­
schen anthropozentrischen Weltbild löst und der Mitwelt des Menschen auf Augenhöhe
begegnet. Es geht hierbei nicht um eine idealisierende oder gar anthropomorphisierende
Natur- und Weltsicht – denn, wie Snyder so treffend bemerkt, „[t]he ethics or morality
of this is far more subtle than merely being nice to squirrels“ –, sondern um die radikale
Veränderung unserer Weltsicht und unseres In-der-Welt-Seins. Im westlichen cartesischen
Denkmuster des cogito ergo sum kann das Subjekt dem Baum-Bewusstsein nicht begegnen
und auch nichts von ihm lernen, denn der Baum ist kein denkendes Wesen. Was soll ein
sich rein über das rationale Begreifen definierendes Wesen lernen von einer Elster oder
einem Manzanita-Busch? Und wie vermag eine solche Annäherung überhaupt zu gelingen,
wenn uns eben nur die Rationalität als Mittel der Erkenntnis zur Verfügung steht? Diese
Fragen versucht Snyder in seiner Lyrik aufzulösen, indem er Zwischenräume aufruft, wie
sie in Ritualen und in schamanistischer Performanz entstehen – Zwischenräume, die sich
westlichen Epistemologien entziehen und einen temporären, flüchtigen Raum eröffnen,
in dem die Begegnung mit dem Anderen, nicht Menschlichen vorstellbar und erfahrbar
wird und daraus Respekt erwächst.
   Der dritte, kürzeste Teil, For the Children, weist in die Zukunft und formuliert die
Hoffnung, dass nachfolgende Generationen in einem bioregionalistischen Sinne wieder
einen holistischen Zugang zum Land, auf und mit dem sie leben, finden. In Tomorrow’s
Song imaginiert Snyder eine basisdemokratische Verwaltung des Landes, in der auch Berge,
Flüsse, Bäume und Tiere eine Stimme und ein Mitbestimmungsrecht haben und so Turtle
Island in seiner ursprünglichen Form zurückkehren kann. Das vorletzte Gedicht des Bandes,
das dem dritten Teil den Titel gibt, endet mit der Mahnung:

        stay together
        learn the flowers
        go light25

Diese Botschaft an die Kinder kann als Essenz von Snyders Verständnis des Bioregionalismus
gelesen werden: eine Gemeinschaft miteinander und der Natur zu bilden, das Land und seine
Bewohner genau kennenzulernen und möglichst wenig zerstörerische Spuren zu hinterlassen.

24 C astro (1991, 138).
25 Snyder (1980, 86). Hervorhebung i. O.

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Der Band endet aber nicht mit dem Gedicht For the Children, sondern mit dem wie einen
programmatischen Nachsatz zu lesenden As for Poets. Snyder ruft darin die Dichter der Erde,
der Luft, des Feuers, des Wassers, der Sonne und des Mondes sowie des Geistes auf und ver­
bindet Lyrik so noch einmal mit den elementaren Aspekten des Da-Seins im Sinne Heideg­
gers. Für Snyder vergeht Lyrik wie jegliche menschliche Kreativität, wenn das Subjekt nicht
im Einklang ist mit seiner Mitwelt und sich zu weit entfernt von einem bioregionalistischen
Lebensstil.26 Lyrik ist für Snyder in der Lage, durch sprachliche Evokation das Vergangene,
Archetypische in die Gegenwart zu holen oder besser zu singen. Gleichzeitig haben Dichter
eine seherische Funktion. Mit Pound bezeichnet Snyder Dichter als „the antennae of their
race“ und fährt fort: „So they are like an early warning system that hears the trees and the air
and the clouds and the watersheds beginning to groan and complain a little bit“.27 Dichtung
ist also ein Seismograph der Gesellschaft, wenn es um Umweltbewusstsein geht. Zudem be­
greift Snyder Lyrik tatsächlich als erneuerbare Energie, die noch zur Verfügung stehen wird,
wenn Kohle und Öl längst versiegt sind. Und so endet Turtle Island mit dem Satz: „Poetry
is for all men and women. The power within – the more you give, the more you have to give
– will be our source when coal and oil are long gone, and atoms are left to spin in peace“.28

III. Die bundesrepublikanische Alternativkultur und die Zeitschrift „Falk“. Obwohl der bio-
regionalism eine spezifisch nordamerikanische Bewegung war, die sich an der Westküste
zentrierte, und Gary Snyder seine Lyrik konsequent in diesem geographischen Raum ver­
ortet, wurde beides auch in Deutschland wahrgenommen. Die Rezeption erfolgte vor al­
lem in der bundesrepublikanischen Alternativkultur der 1970er und frühen 1980er Jahre.
Zu ihr gehörte ein produktiver literarischer underground. Mit einfachsten Mitteln und
geringem Budget entstand damals eine beachtliche Zahl an Zeitschriften, Broschüren
und Buchprojekten – unabhängig von den kommerziellen Zwängen der etablierten Ver­
lage. Ihre Geburtsorte lagen oft in der Provinz und waren gut miteinander vernetzt. Das
Leben war ein Experiment: In neuen gemeinschaftlichen Lebensformen wurden Auswege
aus dem zerstörerischen Kapitalismus gesucht – und das schloss auch alternative Produk­
tionsstätten, Materialien und Vertriebswege ein.
   In dieser Alternativszene genossen die amerikanischen Beat Poets, vor allem aber Gary
Snyder, geradezu Kultstatus. Denn er verkörperte – anders als Alan Ginsberg oder William
S. Burroughs – den Typus des ökologisch orientierten und zugleich spirituellen Suchers, der
früh vor dem Raubbau des Planeten warnte und an das Wissen der indigenen Kulturen
anknüpfte. Deshalb bot er für die stark von der Antiatomkraftbewegung geprägten Akti­
visten, die sich nicht mehr an der politischen Theorie, sondern an vormodernen Kulturen
orientierten, eine ideale Identifikationsfigur.
   Viele waren ihm das erste Mal in der Figur des Japhy Ryder begegnet, jenem intellektuell
versierten und naturkundigen Buddhisten und Bergsteiger, den Jack Kerouac, der Chronist der
Beat-Generation, in den Mittelpunkt seines Romans The Dharma Bums gestellt und nach Gary
Snyder modelliert hatte. Das Buch erschien 1963 in deutscher Übersetzung unter dem Titel

26 Snyder (1980, 55).
27 Snyder (1980, 71).
28 Snyder (1974, 114).

Peter Lang                                                   Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
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Gammler, Zen und hohe Berge und erlebte 1971 seine erste Taschenbuchauflage. Ein Jahr später,
1972, eröffnete sich dann die Möglichkeit, eine erste Probe von Snyders Lyrik auf Deutsch zu
lesen. Unter dem Titel Maya gab Alexander Schmitz in einem schmalen gelben Taschenbuch
der Reihe Hanser eine Auswahl von Gedichten heraus und kündigte sie im Klappentext mit
dem Satz an: „In einer wenig aufwendigen, oft tagebuchhaften Sprache berichten die Gedichte
von der kritischen Auseinandersetzung mit der Zivilisation, von Magie, Tanz und Trance.“29
Dazu sah man den Autor auf dem Cover im Lotussitz meditieren. Das traf den Nerv der Zeit.
   Auch Thomas Kaiser, der später zusammen mit Helmut Salzinger die Zeitschrift Falk
herausgab, wurde davon in den frühen 1970er Jahren in der Schweiz erfasst. Er erinnert
sich: „Ich war sechszehn oder siebzehn, als mir in einer Schaffhauser Buchhandlung ganz
zufällig gleichzeitig zwei Bücher in die Hände fielen, die fortan alles ändern sollten: Ke­
rouacs Gammler, Zen und hohe Berge und Snyders Maya/Gedichte. Von Kerouacs Buch las
ich zwei Exemplare zu Fetzen, es war meine Bibel“.30 Die Lektüre legte den Grund für
sein Interesse an der Ethnopoesie, und so gab Kaiser in den folgenden Jahren zunächst den
Rundbrief Indianer Heute und dann die ethnopoetische Zeitschrift Narachan – Lieder, Texte,
Notierungen heraus. Durch sie wurde Helmut Salzinger auf ihn aufmerksam.
   Helmut Salzinger selbst und seine Frau, die Künstlerin MO Salzinger, waren bereits
Anfang der 1970er Jahre von Hamburg aufs Land gezogen, in ein Dorf zwischen Weser-
und Elbmündung. In den 1960er Jahren hatte Salzinger eine vielversprechende Karriere
als Literatur- und Musikkritiker begonnen und bald für die großen Zeitungen und Rund­
funkanstalten geschrieben. Sein Spezialgebiet waren dabei die Autoren der amerikanischen
counter culture. Auch Salzingers erste Bücher Rock Power und Swinging Benjamin, in denen
er die widerständige Popkultur der 1960er Jahre als Intellektueller begleitete und kritisch
reflektierte, erzielten beträchtliche Erfolge. Doch die Engführung auf die Kritik hatte ihn
nach eigener Aussage „buchstäblich krank“ gemacht,31 und so stieg er, begünstigt durch eine
Erbschaft, aus dem Kulturbetrieb aus. Es dauerte allerdings noch einige Jahre, bis Salzinger
auch in seinem Denken und Schreiben einen Bruch vollzog und noch einmal neu ansetzte
– mit der Erkundung des unmittelbaren Landes und der Natur um ihn herum und mit
einem kleinen eigenen Verlag, den er nach seinem Haus benannte: Head Farm Odisheim.
   Im Jahr 1981 nahm Helmut Salzinger schließlich den Kontakt zu Thomas Kaiser auf –
so, wie er überhaupt unzählige Briefe schrieb, um das Netz der kleinen Literaturzeitungen
und Verlage noch enger zu knüpfen. „Wir bemerkten“, erinnert sich Thomas Kaiser weiter,

        unser gemeinsames Interesse für Snyder und die Naturburschenfraktion der amerikanischen
        Beats, für Ethnopoesie und für Indianer (Helmut war sehr angetan von den Büchern Castanedas).
        […] [W]ir korrespondierten und heckten brieflich ein nie realisiertes Buchprojekt aus mit dem
        Arbeitstitel Die Poesie der Erde. […] [D]ann kam der Falk.32

29   Snyder (1972, 1).
30   K aiser (2007, 36).
31   Grober, Köppen (1996, 14).
32   K aiser (2007, 37). Heute arbeitet Thomas Kaiser seit vielen Jahren am Ethnologischen Museum in Zürich und
     hat dort bereits mehrere Forschungen und Ausstellungsprojekte zu seinem Lebensthema, die Poesie der Erde,
     realisiert, jüngst zum „Vessantara Epos in Rollbildern und Dorffesten“ in Thailand. , zuletzt: 26.8.2019.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                                  Peter Lang
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Die Zeitschrift erschien zwischen 1984 und 1986, monatlich ein Heft in einer Auflage
von 300 Stück. Dazu gab es bis 1988 noch einige Sondernummern, die teils unter dem
Titel Krähenblätter, teils unter Falk Sonderkopien oder Falk/Neue Folge firmierten. Neben
Helmut Salzinger und Thomas Kaiser wirkten noch MO Salzinger und, im Hintergrund,
der Hamburger Kleinverleger Michael Kellner im Herausgeberteam mit. Die Grundlage für
ihre Arbeit bildeten eine Schreibmaschine und zwei Fotokopierer, die auf der Head Farm
in Odisheim standen – und jede Menge Idealismus und Disziplin.
   Falk verstand sich als literarische Zeitung mit einem weiten Spektrum. Es reichte von
ethnopoetischen Arbeiten über die klassische chinesische und japanische Dichtung bis
hin zu Werken der bekannten und weniger bekannten Beat Poets. Natürlich wurden auch
viele Autorinnen und Autoren aus dem eigenen Umfeld berücksichtigt. Eine wichtige Rolle
nahm ferner Rainer Maria Gerhardt ein, in dem Salzinger einen Vorläufer und wohl auch
ein Vorbild erblickte – mit seinem lyrischen Werk, seinem der internationalen Avantgarde
gewidmeten Verlag und seiner Anfang der 1950er Jahren herausgegebenen Zeitschrift frag-
mente. Hin und wieder griff der Falk aber auch Themen der Zeit auf. So war die Nummer
7 ganz dem Thema des Zen-Buddhismus vorbehalten (mit 80 Seiten das umfangreichste
Heft) und die Nummer 18 dem Thema Bioregionalismus. Sie erschien im Juli 1985. Zwei
Jahre zuvor war Salzingers Lyrikband Irdische Heimat herausgekommen, dem er eine eng­
lische Widmung vorangestellt hat: „To Gary Snyder, native of Turtle Island“.33

IV. Die Rezeption des Bioregionalismus. Die Redaktion der Ausgabe 18 des Falk lag haupt­
verantwortlich bei Thomas Kaiser. Gary Snyder gab für diese Ausgabe allerdings nur den
Grundton an:34 Das 38 Seiten umfassende Heft wird mit einem Zitat von ihm eröffnet,
in dem wichtige Aspekte des Bioregionalismus anklingen, obwohl Snyder darin noch von
bio-geography spricht.35 Der elfseitige Leitartikel indes, der aus der Zeitschrift CoEvolution
Quaterly36 mit dem Schwerpunkthema Bioregions übernommen ist, stammt von dem ame­
rikanischen Autor Jim Dodge. In der deutschen Übersetzung lautet der Titel des Beitrags
Lebendigsein durch Leben. Ein Stück bioregionaler Theorie und Praxis. Der Text ist insofern
gut gewählt, als Dodge darin das Ziel verfolgt, einen Überblick über die amerikanische
Diskussion um den Bioregionalismus zu geben. Er sammelt die verschiedenen Elemen­
te, geographische, empirische, politische und spirituelle, ohne sie in ein starres Konzept

33 Salzinger (1983, 3). Bereits 1980 war Gary Snyders Turtle Island, übersetzt von Ronald Steckel, in einem
   Berliner Kleinverlag erschienen – auch das ein Produkt der Alternativkultur. 2006 kam es, wiederum mit dem
   Titel Schildkröteninsel, zu einer überarbeiteten und dieses Mal zweisprachigen Neuauflage in der Stadtlichter
   Presse, Berlin, erneut verantwortet von Ronald Steckel.
34 Gary Snyder war den Leserinnen und Lesern des Falk bereits als Lyriker aus Nr. 4 als auch als Essayist aus Nr. 7
   bekannt. Letzteres, in dem Snyders Text Das Zen der Menschheit erschien, war dem Thema Zen gewidmet.
   Zudem steuerte er für die im September 1985 erschienene Sonderausgabe der Krähenblätter, die den indianischen
   Autor Peter Blue Cloud vorstellte, das Vorwort bei. Vgl. H artge, Zühlke (2007, 61, 64, 101).
35 Das Zitat ist dem 1984 auf Deutsch erschienenen Buch Landschaften des Bewusstseins – Gespräche und Reden
   entnommen, das wiederum eine Übersetzung des 1980 in den USA herausgekommenen Buchs The Real Work.
   Interviews and Talks 1964-1979 ist. Das Zitat findet sich in der deutschen Ausgabe auf S. 21 und ist einem
   Interview aus dem Jahr 1971 entnommen.
36 CoEvolution Quaterly (Winter 1981), Nr. 32.

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zwängen zu wollen. Als Voraussetzung sieht er eine Haltung an, die er „biologischen Rea­
lismus“37 nennt und die allein auf einer genauen und über einen längeren Zeitraum hin­
weg gewonnenen Erfahrung beruht. Damit grenzt er den Bioregionalismus klar von jedem
sentimentalen Verhältnis zur Natur ab.
    Gleichwohl beharrt Dodge auch auf einer spirituellen Dimension. So führt er als Fak­
toren, die eine Bioregion bestimmen, neben der geographischen Formation und der darin
lebenden Pflanzen und Tiere auch „Kraftplätze oder bewusstseinsbestimmende Verkörpe­
rungen von Power“ an.38 Um diese zu erfahren, braucht es wiederum Dauer; sie sind nicht
vorschnell zu erspüren. Zudem, so führt er aus, werde „eine tiefgehende Achtung vor dem
Leben, vor allem Leben“ von den allermeisten Bioregionalisten geteilt. Daraus erwachse,
ebenfalls aus langer Erfahrung, eine neue Verbundenheit, wenn nicht sogar Einheit „zwi­
schen der natürlichen Welt und dem menschlichen Geist“ oder, wie er sich auch ausdrückt,
„zwischen Existenz und Leben“.39
    Bioregionalismus ist für Dodge kein festes und klar definiertes Konzept und deshalb
auch keine politische Doktrin. Eher sei es „ein Gefühl für Richtung (den Berg hoch, wie’s
aussieht), als die übliche linke Autobahn nach Utopien oder Ökotopien“.40 Denn Bioregio­
nalismus zeige sich, und darauf legt der Autor großen Wert, vor allem in der Praxis und
„Praxis ist“, wie er in einer buddhistisch inspirierten Formulierung hinzufügt, „was das
Herz hinter die Arbeit setzt“.41
    Die weiteren Texte in Falk 18 bestehen aus Briefen an den Herausgeber, in denen ver­
schiedene Autorinnen und Autoren aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland
auf den Leitartikel reagieren. Es handelt sich dabei eher um spontane Briefe, die diverse
Gedanken aufnehmen und auf die eigene Lebenswelt übertragen, u. a. auf die Politik grüner
Parteien in verschiedenen Ländern Europas. Auch Helmut Salzinger ist mit einem kurzen
Brief vertreten. Darin gesteht er ein, dass ihm das Konzept des Bioregionalismus nach
der Lektüre des Beitrags von Jim Dodge sehr viel klarer geworden sei. Vor allem jedoch
fühle er sich durch die Ausführungen in seinem eigenen Entwurf der „irdischen Heimat“
bestätigt und erkenne jetzt, das darin bereits viele bioregionalistische Gedanken vorweg
genommen seien.42
    Tatsächlich liest sich Salzingers Nachwort zu seinem Gedichtband wie ein Text zum
Bioregionalismus. Es hebt als furioses Pamphlet mit einer Absage an jede offizielle Politik
an und endet in fast lyrischen Passagen, die für eine ganz andere Form von Politik ein­
treten. So heißt es dort: „Wir müssen wieder lernen, daß wir an einen Ort gehören.“ Es
ist, fährt er fort,

        der Ort, wo wir Wurzeln schlagen können. Und wir haben zu lernen, daß der Ort, an dem dies
        möglich ist, nicht uns gehört, sondern wir ihm gehören. Und dann habe wir zu lernen, daß dieser
        Ort die Erde ist: der ganze Planet und zugleich der winzige Bereich auf ihm, mit dem wir vertraut

37   Dodge (1985, 4).
38   Dodge (1985, 6).
39   Dodge (1985, 8).
40   Dodge (1985, 8).
41   Dodge (1985, 9).
42   Salzinger (1985, 21).

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       werden. […] Und schließlich lernen wir auch, daß wir da nicht allein sind. […] Irgendwann habe
       ich begriffen, daß die Erde meine Mutter ist, daß ich von ihr bin, von Erde, und daß es keinen
       Unterschied gibt zwischen mir und Menschen und Tieren und Pflanzen. Wir sind alle gleich.43

V. Salzingers literarische Umsetzung des Bioregionalismus. Doch wie ist Helmut Salzinger
zu seinem Konzept der ‚irdischen Heimat‘ gekommen, hinter dem ebenfalls ein ‚biologi­
scher Realismus‘ steckt, obwohl es den damals mutigen und immer noch stark belasteten
Begriff der Heimat im Titel führt? Und welche literarischen Ausdrucksformen hat er dafür
gefunden? Am Beginn seines Neuanfangs im Schreiben stand die Lyrik. Gedichte halfen
ihm, wie Helmut Salzinger selbst erzählt, nicht nur das Land, das er als neuen Lebensort
gewählt hatte, zu erkunden, sondern nach dem existentiellen Bruch, der zu einer Schreib­
blockade geführt hatte, auch eine neue Sprache, neue Wörter zu gewinnen: „Ich fing an
zu sehen, wo ich überhaupt bin. WAS DA IST. Dafür hatte ich keine Technik. Ich hatte
kaum Wörter dafür. Es war wirklich ein Wiederentdecken der Sprache, Wort für Wort“.44
   Salzinger erkundete das vor allem durch Moore geprägte Sietland auf der Basis des Bio­
regionalismus: eine Landschaft sinnlich, körperlich zu erfahren über einen längeren Zeit­
raum und sie so wieder zu bewohnen. Der Titel des ersten, im Eigenverlag erschienenen
Gedichtbands aus dem Jahr 1979 steht dafür als Programm: Gehen, Schritte. Der Band
vereinigt Gedichte und Fotografien, die vor allem Bäume zeigen, oftmals vom Wind ge­
brochen, weil sie in den feuchten Wiesen nicht fest genug verwurzelt sind. In dem Gedicht
Von Reisen weit her, von Jahren heißt es am Ende programmatisch:

       […], weite
       Wanderungen

       nach innen (diesen
       Wegen folgen, schreibend)
       unternehmen, über Land

       Bäume zu finden, außen –
       der Weg, der das Ziel ist –
       vielleicht zu Fuß45

Die Verse folgen zunächst dem romantischen Diktum Novalis’ aus den Blüthenstaub-Fragmen­
ten: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“.46 Doch dann kippt diese Bewegung, wobei
die Worte „über Land“ den Kipppunkt darstellen, um dann nach „außen“ umzuschlagen. Das
Innen kommt – anders als in der durch die Romantik geprägten deutschen Naturlyrik – mit dem
Außen zur Deckung. Die beschriebene Natur ist nicht Ausdruck der Empfindung eines lyri­
schen Ichs; das lyrische Ich und die Natur fallen vielmehr zusammen und gehen ineinander auf.
   Die lyrische Evokation der ihn umgebenden Landschaft und Natur, die immer wieder
in Identifikation umschlägt, hat Helmut Salziger kontinuierlich fortgesetzt. Bis zu seinem

43   Salzinger (1983, 90).
44   Grober, Köppen (1996, 16).
45   Salzinger (1979, 42).
46   Zit. nach: Novalis (1981, 431).

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Tod im Dezember 1993 sind fünf weitere Gedichtbände erschienen, ein sechster posthum
– alle im Eigenverlag oder in anderen Kleinverlagen.47 Bewahren sich diese Gedichte eine
große Nähe zur Poetik Gary Snyders, entwickelte Salzinger daneben eine eigenständige
Form des essayistischen Schreibens. Im Vergleich zu Snyders Essays, die sich an einer
breiteren Diskussion um Bioregionalismus, Umweltschutz und Umweltethik beteiligen
und von daher politisch und programmatisch ausgerichtet sind, will Salzinger von seinen
Erfahrungen mit der Natur erzählen. So finden seine Essays ihre Grundlage im autobio­
graphischen Erfahrungsbericht und verbinden ihn – in unterschiedlicher Dosierung – mit
reflexiven Passagen. In dieser Weise setzen sie den Titel seines ersten Gedichtbandes Gehen,
Schritte in Prosaform fort.

VI. Die Trilogie: „Ohne Menschen“, „Der Gärtner im Dschungel“, „Moor“. Drei Bücher
umfassen Salzingers Essays, die sich zu einer Trilogie zusammenschließen, aber noch eher
dem Begriff des Triptychons entsprechen. Denn Der Gärtner im Dschungel (1992) stellt
das gewichtige Mittelstück dar, zu dem sich die dünneren Bände Ohne Menschen (1988)
und Moor (1996, posthum) wie die beiden Seitenflügel verhalten. Ohne Menschen ist in
einem weiteren, in der Alternativkultur bekannten Kleinverlag Der grüne Zweig heraus­
gekommen und trägt den Untertitel Erzählungen einer Landschaft. Der Band versam­
melt frühe Prosaarbeiten. Kurze Texte wie die Beschreibung eines Platzes zeugen von einer
Annäherung an die Landschaft, die dem Erzähler langsam vertraut werden.
   Der Text hebt an mit dem Zwielicht der Dämmerung. Der Übergang zwischen Tag und
Nacht verändert die Wahrnehmung. Das Vertraute erlischt, das Unvertraute tritt hervor.
Der Ich-Erzähler benennt dieses Phänomen mit dem Ausspruch einer anderen Figur, die
schlicht „der Indianer“ heißt: „Das Zwielicht ist die Trennung der Welten“.48 Salzinger
spielt hier auf seine intensive Auseinandersetzung mit den Büchern von Carlos Castaneda
an. Sie inspirieren ihn dazu, die Landschaft nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht
zu erkunden, um die Welt anders und neu zu sehen, wie Don Juan es lehrt, Yaqui Indianer
und die Hauptfigur in Castanedas Büchern.49 Als es dunkel ist, bricht der Ich-Erzähler
schließlich mit seinen Hunden auf: „Die Nacht eröffnet nicht bloß den Blick, sondern auch
den Weg ins Unvertraute“, heißt es dazu im Text.50
   Doch der Ich-Erzähler hält zunächst an seiner gewohnten Wahrnehmungsweise über
den Sehsinn fest, klammert sich an den Horizont und das, was er gerade noch erkennen
kann. Erst ganz langsam stellt sich die Wahrnehmung um, verlagert sich auf den Hörsinn.

47 Die Freundlichkeit der Kraft (Head Farm Odisheim, 1980), Irdische Heimat (Kellner Verlag, 1983), Mein letzter
   Sommer (Verlag Altaquito, 1984), Stille Wasser (Head Farm Odisheim, 1987), Die beiden Hände des Sperbers
   (Verlag Peter Engstler, 1993) und Vogelschau (Verlag Peter Engstler, 1995).
48 Salzinger (1988, 38).
49 Seit 1972 erschienen die Bücher von Carlos Castaneda in deutscher Übersetzung, beginnend mit Die Lehren des
   Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens. Die Bücher erzielten enorme Auflagenzahlen, obwohl der Autor, der vor
   seinem Ethnologiestudium Kurse in Creative Writing belegt hatte, 1974 eines fakes überführt und seine Figur
   des Don Juan als Ethnofiktion entlarvt wurde. Daraufhin verlor Castaneda jeglichen akademischen Rückhalt,
   was seine Fangemeinde aber nicht irritierte. Das Sehen spielt vor allem im zweiten der acht Bände, in Eine andere
   Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan aus dem Jahr 1975, eine herausgehobene Rolle.
50 Salzinger (1988, 38).

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Er wird sich nun „des leisen Klangschleiers bewußt, der diesen Raum weniger erfüllt als
durchweht“.51 Je intensiver er nun darauf achtet, desto stärker wird die Empfindung, „als
trüge ich diesen Raum mit mir herum, als hätte ich ihn ebenso in mir als ich in ihm bin,
immerzu“.52
   Der Text ist zwar in vier nur lose miteinander verknüpfte Teile untergliedert, dennoch
folgt er noch einem dramatischen Aufbau – ein Merkmal der frühen Naturessays. So steigert
der vierte Teil die durch die Nacht geschulte erweiterte Wahrnehmung zu einer intuitiven
Identifiktion mit den Tieren der Landschaft. Auf einer anderen Wanderung, wieder im
Zwielicht, entdeckt der Ich-Erzähler einen besonderen Ort: drei Eschen, die sich auf den
Resten eines alten Deiches erheben. Doch er spürt, dass es sich nicht um einen ehemals
heiligen Platz handelt, sondern assoziiert ihn mit einem „Galgenhügel“.53 Plötzlich entdeckt
er zwei Kanzeln für Jäger, die von dort aus eine freie Sicht auf den Platz haben und ein erst
vor kurzem angelegtes Kiefern- und Birkengehölz, das Rehe anlocken soll, indem es ihnen
Schutz verspricht. Augenblicklich fühlt sich der Ich-Erzähler von zwei Gewehren bedroht
und springt in Deckung. Mit rasendem Herzen erkennt er: „Dieser Platz, was immer er
ursprünglich gewesen sein mag, dient heute als Jagdplatz. Er ist zu einem Ort gemacht
worden, wo Tiere abgeschossen werden […]. Tiere wie ich, hierher gelockt, eine Falle von
Menschenhand“.54 Ausdrücklich also zählt sich der Ich-Erzähler zu den Tieren und be­
hauptet eine Einheit mit ihnen, die ihn von den Jägern existentiell trennt.
   Weisen die Texte in Ohne Menschen nur einen geringen Umfang von wenigen Seiten
auf, liegt in Der Gärtner im Dschungel das weit gespannte und essayistische Mittelstück des
Triptychons vor. Salzinger verwebt darin seine persönliche Geschichte in Odisheim und die
Entwicklung seines dort angelegten Gartens mit kulturgeschichtlichen Ausführungen, die
bis zu den mittelalterlichen Lehrgedichten eines Walahfried Strabo und weiter in die Antike
zurückreichen, und diese wiederum mit radikalen Reflexionen zu einem grundlegenden
Wandel der gesellschaftlichen Werte und einem wahrhaft ökologischen Weltbild. Die
eigenen Erfahrungen, die auf einem genauen Beobachten und Beschreiben beruhen, bilden
dabei stets den Ausgangspunkt. Von dort werden sie in den reflektierenden Passagen auf
eine allgemeinere Ebene gehoben, was erlaubt, notwendige Konsequenzen daraus abzuleiten.
   Der Garten, der das Zentrum des Buches bildet, steht insofern quer zur Kulturgeschich­
te der Gartenkunst, als er deren grundlegendes Prinzip umkehrt. Zwar beginnt auch der
Ich-Erzähler damit, ein Stück Land hinter seinem Haus urbar zu machen und als Garten
anzulegen. Doch nach einiger Zeit erkennt er darin einen Irrweg. Statt in den Garten
weiter einzugreifen beschließt er, ihn in Selbstregulation verwildern zu lassen: In einem
Land, in dem jedes Fleckchen Erde bereits kultiviert ist, muss es Orte geben, an denen
wieder Wildnis entstehen kann. Die Natur muss also vor ihrer agrikulturellen Zurichtung

51   Salzinger (1988, 40).
52   Salzinger (1988, 42).
53   Salzinger (1988, 45).
54   Salzinger (1988, 46).

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geschont werden. So entsteht im Loslassen menschlicher Kontrolle eine „Ökozelle“55 – ein
„Wildgarten, in dem wachsen kann, was wachsen will“.56
   Für den Ich-Erzähler wird dieser Garten darüber zunehmend zu einem Modell und zu
einem Meditationsraum. „Das setzt“, wie er selbst reflektiert,

        zweierlei voraus. Daß ich ihn sich selbst überlasse und mich selbst ihm überlasse. So entfaltet sich
        der Garten fortschreitend als belebter Innenraum, auch für mich, und dieses Fortschreiten gibt
        sich als ein Entwicklungsprozeß des Lebendigen selber zu erkennen. Im Garten wird mein Stück
        Land als Lebensraum, als ein Bio-top, lebendig.57

Auch dies folgt – im Kleinen – einer Politik der reinhabitation, ja treibt sie sogar noch weiter.
Denn der Ich-Erzähler leitet daraus ab, was er programmatisch „die Gewinnung des sakralen
Raums“ nennt. Damit bezeichnet er einen grundlegenden und weltweiten Wandel, ganz in
dem Sinne, wie er auch in der Diskussion um den Bioregionalismus gefordert worden ist:

        Als Sakraler Raum bleibt der Menschheit die Erde noch zu entdecken, wenn sie überleben will,
        nämlich als ein Ort der Einbindung aller Lebewesen in eine vorgefundene, übergreifende Ordnung
        des Lebendigen, deren Bestand die Voraussetzung für den Bestand des (menschlichen und alles
        sonstigen) Lebens ist.58

Doch fallen selbst solche Passagen niemals in eine ‚Ökoseligkeit‘, sondern bewahren sich
einen ‚biologischen Realismus‘ im Sinne von Jim Dodge, zu dem auch eine tiefe Skepsis
gegenüber dem als notwendig Erkannten gehört.
   Sein letztes, unvollendetes Buchprojekt hat Helmut Salzinger einer Faszination gewidmet:
den Mooren seiner Bioregion. Dabei gibt er sich erneut keiner Illusion hin. Die einstigen
Moore sind entwässert und bis auf winzige Reste abgetorft; sie existieren nicht mehr. Umso
bitterer trifft seine Ironie die zunehmenden Bestrebungen, diese Moore unter Naturschutz
zu stellen und zu renaturieren. Wie kann man schützen, was nicht mehr da ist?
   Salzinger hat die seit 1986 entstandenen Texte noch persönlich zu einem Konvolut zu­
sammengestellt und ihm den Titel Moor. Ein Versuch, nichts zu erzählen gegeben. Tatsächlich
setzt er dieses Vorhaben um und entnarrativiert seine Texte soweit, dass sie lediglich seine
Wanderungen durch die Moore und die Beobachtungen, die er dabei macht, festhalten
– dies allerdings mit größter Präzision. Salzingers späte Texte protokollieren Schritte und
setzen das Programm Gehen, Schritte in Prosaform ohne dramatische Reste um.
   In einem Stück mit dem Titel Landschaften meiner Seele gibt Salzinger einige Reaktionen
der Aktiven um die Zeitschrift Falk auf sein Projekt wieder. Es handelt sich um eine der
ganz wenigen Stellen im Werk, die einen selbstreflexiven Charakter tragen. Manche der
Head Farmer können sich unter dem Projekt nichts vorstellen, ein Redaktionsmitglied fühlt
sich an Charles Olson und sein Langedicht Maximus erinnert, ein anderes interessiert sich
dafür, was an den Moorbeschreibungen die Darstellung seiner Seelenlandschaft sei. Alle

55   Salzinger (1992, 59).
56   Salzinger (1992, 60).
57   Salzinger (1992, 63).
58   Salzinger (1992, 99).

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