Landmarken: Das Konzept des Bioregionalismus bei Gary Snyder und Helmut Salzinger
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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 363–380 Peter Braun, C aroline Rosenthal Landmarken: Das Konzept des Bioregionalismus bei Gary Snyder und Helmut Salzinger I. Bioregionalismus. Der Bioregionalismus entstand in den 1970er Jahren an der Nord westküste Kanadas und der USA als Teil der größeren internationalen Umweltschutzbe wegung, verstand sich aber von Beginn an als dezidiert lokale und basisdemokratische Bewegung. Seine Vertreter sahen die Antwort auf die Zerstörung der Natur nicht in glo balem Aktivismus, sondern in der Etablierung lokaler Gemeinschaften, die bewusst und nachhaltig an einem Ort leben wollten. Dazu war eine grundlegende Änderung des Be wusstseins hin zu einem post-anthropozentrischen und tiefenökologischen Verständnis der Natur nötig. Ökologische Ideen, wie etwa die Notwendigkeit des Erhalts von Biodiversität oder der verantwortungsvolle Umgang mit Boden- und Wasserressourcen, mischten sich mit politischen Ideen, die zentralisierte governance zugunsten lokaler Selbstverwaltung in Frage stellten.1 Bioregionalismus zeichnet sich vor allem durch die (Wieder-)Aneignung konkreter Praktiken aus, durch die das Subjekt sich in einer biotischen Gemeinschaft auf dem Land verortet. Eine Bioregion definiert sich dabei nicht über politische Grenzen oder kulturelle Landmarken, sondern über natürliche Faktoren wie Wasserscheiden, Bergzüge, Klima und zusammenhängende Ökosysteme. Dabei trennt der Bioregionalismus bewusst nicht zwi schen Natur und Kultur, sondern sieht den Menschen als Teil dieser Luft, Wasser, Boden sowie Flora und Fauna umfassenden Gemeinschaft. Eine Bioregion definiert sich daher auch über die Vielzahl kultureller Praktiken, die Menschen an einem spezifischen Ort auf und im engen Zusammenspiel mit dem Land entwickelt haben. Die natürlichen Grenzen von Bioregionen gehen oft über die politisch-regionalen oder nationalen hinaus und sind im Gegensatz zu diesen nicht starr, sondern fließend und wandelbar. Die Lebensräume des Menschen sind nicht nur klar begrenzte Städte, Dörfer oder Länder, sondern auch distinkte Ökosysteme und Ökoregionen, für die der Bioregionalismus ein neues Gewahr sein schaffen möchte. Eine Grundvoraussetzung für ein solches Gewahrsein ist, was der Umweltschützer Peter Berg und der Ökologie Professor und Naturschutzbiologe Raymond Dasmann 1977 in ihrem einflussreichen kurzen Artikel Reinhabiting California im Magazin The Ecologist „living-in-place“ nannten.2 Sie verstanden darunter einen Lebensstil und Lebenspraktiken, die entstehen, wenn Menschen sich nachhaltig und langfristig an einem bestimmten Ort niederlassen und ihr Sein und Tun aus den natürlichen Gegebenheiten und Zyklen dieses 1 Taylor (2000, 50–52). 2 Berg, Dasmann (2014, 35). © 2020 Peter Braun, Caroline Rosenthal - http://doi.org/10.3726/92166_363 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
364 | Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger Ortes erwachsen lassen. Während Kalifornien einst von Menschen besiedelt war, die das Land behutsam nutzten,3 trieben die Siedler mit ihrer „‚endless frontier‘ delusion and invader mentality“4 die Zerstörung der Natur sowie die Ausrottung von Biodiversität und Spezies ebenso voran wie die Verdrängung indigener Völker. Um wirklich erneut mit dem Land zu leben, bedarf es nach Berg und Dasmann daher einer reinhabitation des Landes, ein Ter minus, den der amerikanische Essayist, Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder noch im selben Jahr in seinem gleichnamigen Essay aufgreifen wird. Wiederbesiedelung des Landes bedeutet „becoming native to a place through becoming aware of the particular ecological relationships that operate within and around it”.5 Neben einem ökologischen Bewusstsein gehört dazu ein politisches, denn die Bioregion steht Staat und staatlicher Kontrolle kritisch gegenüber und will die Hoheit über Ressourcen und Energien in die Verantwortung lokaler Gemeinschaften zurückverlegen. Zudem braucht der Mensch Geschichten, Imagination und alternatives Wissen, um sich nach bioregionalistischem Verständnis wieder an einem Ort nieder zu lassen. Diese Idee entwickelt Gary Snyder in seinem essayistischen und lyri schen Werk (II.). Rezipiert wird das Konzept des Bioregionalismus in der bundesdeutschen Alternativkultur (III.), etwa im literarischen Werk Helmut Salzingers (IV. ff.). II. Gary Snyders „Turtle Island“: Lyrik als Wiederaneignung einer verlorenen Welt. Bioregio nalismus bedeutet für Snyder, „a sense of place“ zu entwickeln, also ein Bewusstsein für und eine Vorstellung von einem bestimmten Ort. Zum umfassenden Verständnis eines Lebensortes gehört zum einen die genaue Kenntnis seiner Topographie und biotischen Lebensformen, zum anderen ein tieferes Verstehen, das weit über das rationale Benennen hinausgeht und die spirituellen Dimensionen und sensuellen Auswirkungen eines Ortes miteinbezieht. Altes, indigenes und oft verlorenen gegangenes Wissen über das spezifi sche Land, seine physischen Beschaffenheiten und Lebensformen soll mit neuem Wissen und Praktiken, die am Land geschult sind und aus diesem erwachsen, verbunden werden. Wissen zeigt sich für Snyder nicht nur in analytischer Intelligenz, sondern in den uralten Praktiken des Kanu-Baus, der frühen Töpferei oder Höhlenmalerei ebenso wie in dem, was er „grandmother wisdom“6 nennt: überlieferte Regeln und Praktiken, die sich in der Interaktion mit einem spezifischen Ort ergeben. Die amerikanische Siedler-Gesellschaft hat nach Snyder den Irrtum hervorgebracht, […] that we exist as rootless intelligences without layers of localized contexts. Just a ‚self‘ and the ‚world‘. In this there is no real recognition that grandparents, place, grammar, pets, friends, lovers, children, tools, the poems and songs we remember are what we think with.7 Es ist nicht nur das prähistorische Wissen, dass Snyder wieder erlernen möchte, sondern auch das der Natur und ihren Lebewesen inhärente Wissen: „Some historians would say 3 Vgl. Berg, Dasmann (2014, 36). 4 Berg, Dasmann (2014, 36). 5 Berg, Dasmann (2014, 36). 6 Snyder (1990, 61). 7 Snyder (1990, 65). Hervorhebung i. O. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger | 365 that ‚thinkers‘ are behind the ideas and mythologies that people live by. I think it also goes back to maize, reindeer, squash, sweet potatoes, and rice. And their songs“.8 Im Bioregiona lismus kommen Landschaft und Sprache, der Ort, seine Geschichten und Bewohner sowie topographischen Beschaffenheiten zusammen. Für Snyder, der lange in Japan gelebt und alte buddhistische Schriften aus Japan und China studiert hat, stellen fernöstliche Lehren ein wichtiges Instrumentarium bereit, um die „Buddha-nature“ aller Wesen und deren wechselseitige Beziehung zu begreifen.9 Für sein Verständnis des Bioregionalismus sind aber vor allem die Kulturen der indigenen Einwohner der pazifischen Nordwestküste essentiell. Ihre Kulturen, so Snyder, haben Geschichten, Mythen, Sprichwörter und Lieder über das Land und die Tiere hervorgebracht, die wertvolle Lehren für das An-diesem-Ort-Sein der heutigen Einwohner enthalten. In Snyders gesamtem Werk geht es um Prozesse der Neuverortung, um das, was er im Nachgang zu Berg und Dasmann „Reinhabitation“ genannt hat. Während die indigenen Einwohner noch eine Verbindung zum Land hatten, die es ihnen erlaubte, die subtile Komplexität10 der Wälder der pazifischen Nordweste Küste, an der Snyder aufwuchs, zu begreifen, sind die späteren Siedler zwar im Stande, Pflanzen zu benennen, aber nicht mehr, deren tieferes Wesen zu erfassen. Weiße koloniale Siedler konnten den Pflanzen Namen geben, aber anders als die ursprünglichen Einwohner des Landes konnten sie nicht mehr erkennen, „what particular kinds of plants the ground would ‚say‘ at that spot“.11 Diesen Verlust eines unmittelbaren Bezugs zur natürlichen Welt versucht Snyder umzukehren, indem er in seinen Schriften und Praktiken erneut nach einem tieferen Zugang zur Welt und ihren distinktiven Orten sucht. Es geht ihm um das Heilige, den natürlichen Dingen Innewohnende, das es dem Subjekt ermöglicht, das eigene Selbst zu transzendieren: „Sacred refers to that which helps take us (not only human beings) out of our little selves into the whole mountains-and rivers-mandala universe“.12 Für Snyder ist eine Grundvoraussetzung der menschlichen Identität, nicht nur zu ergründen, wer man ist, sondern auch, wo sich dieses Ich konkret in seiner spezifischen Mitwelt verortet. Es geht Snyder und den Bio regionalisten dabei nicht um ein idyllisch-romantisierendes Natur- oder Weltbild, sondern darum, sich tatsächlich als Teil eines Ökosystems zu begreifen und als Teil uns alle bestim mender Zyklen. Reinhabitation bezeichnet also eine imaginative, spirituelle wie praktische Wiederaneignung bestimmten Wissens um und an einem Ort. Neben genauen naturkundlichen Kenntnissen, der Einbeziehung alten Wissens und am Land erprobten Praktiken, ist es für eine Neu- und Wiederverortung essentiell, eine imaginative Vorstellung von diesem bestimmten Ort zu entwickeln. Gary Snyder ist dabei der Vorreiter einer Literatur, die es ermöglicht, eine Vorstellung dafür zu entwickeln, wie Menschen konkret an einem Ort leben und diesen in allen seinen Facetten an Geschichte und Geschichten erfassen können. Es ist also die Literatur, die einen Vorstellungsraum schafft, und hier insbesondere die Lyrik, da sie auch emotionale, sensitive, performative 8 Snyder (1990, 66). 9 Yamazoto (1991, 234). Sowie insgesamt für eine Erläuterung der buddhistischen Elemente in Turtle Island. 10 Vgl. Snyder (1995, 184). 11 Snyder (1995, 183–185). 12 Snyder (1990, 101). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
366 | Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger und rituelle Aspekte des Erfassens eines Ortes mit zu reflektieren und erfahrbar zu machen vermag. Seine 1974 erschienene und ein Jahr später mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Gedichtsammlung Turtle Island bezeichnet Snyder in einem Interview als „the first literary surfacing of the bioregional concept“.13 Der Band ist somit als konkrete poetische Praktik zu lesen, die eine Neubesiedelung des amerikanischen Kontinents unter veränderten Be wusstseinsbedingungen ermöglichen soll. Schon 20 Jahre vor Turtle Island entwickelte Gary Snyder in seiner Lyrik eine performative Kraft, die sich den Kontinent Amerika jenseits kolonialistischer Einflüssen wiederaneignet. Im Oktober 1955 liest er sein Gedicht A Berry Feast in der Six Gallery in San Francisco, in derselben Nacht, in der Allan Ginsberg Howl vorträgt. Snyders Langgedicht feiert in der Trickster-Figur Coyote, die in vielen indigenen Mythen der Nordwestküste eine zentrale Rolle spielt, den in der Natur beständig währenden Wandel des Werdens und Vergehens sowie die Verwischung der Grenzen zwischen Mensch, Tier und der sie umgebenden Natur. A Berry Feast läutete mit seinem holistischen, jeden Anthropozentrismus ablehnenden Welt bild eine Zeitenwende ein, die erst viele Jahre später mit der Umweltschutzbewegung und dem Ecocriticism breitenwirksam wurde. Auch ganz praktisch setzte Snyder den Bioregionalismus früh in die Tat um. Er wuchs an der pazifischen Nordwestküste auf, einer Gegend, die ihn mit ihren klimatischen und topographischen Charakteristika wie auch ihren indigenen Mythen zeit seines Lebens fesseln sollte. Aus Japan in die USA zurückgekehrt, bebaute er 1970 mit seiner zweiten Frau Masa Uehara und den zwei Söhnen Kai und Gen an den Gebirgsausläufern der Sierra Nevada und an der Wasserscheide des Yuba Flusses Land, das er in den 1960er Jahren mit Allen Ginsberg und anderen gemeinschaftlich erworben hatte. Den Ort nannte er nach einer lokalen Pflanze Kitkitdizze. Das Haus entsteht unter der Mithilfe vieler Freiwilliger, von denen einige sich später auch an dem Ort niederlassen, aus lokalen Materialien: Sandstein aus den Bergen Kaliforniens und Holz von Ponderosa-Kiefern der unmittelbaren Um gebung. Kitkitdizze wird zum Prototyp eines angewandten Bioregionalismus, in dem die Gemeinschaft Ressourcen gemeinsam verwaltet, und einer „reinhabitory culture“,14 durch die der Mensch sich mit den Ursprüngen des Ortes verbindet. Die Gedichte in Turtle Island stammen aus dieser Zeit und sind als Versuch zu verstehen, Amerika ein neues Narrativ zu geben. Der Gedichtband ist ein klarer Gegenentwurf zum Mythos der Frontier als na tionskonstituierendem Meisternarrativ der USA. Während die Grenze sowie die Idee des Sendungsbewusstseins der Epistemologie des Siedler-Kolonialismus entspringen, der die mit dem Fortschreiten der Grenze einhergehende Zerstörung der Natur sowie die gewalt same Unterwerfung der indigenen Völker im Dienste eines höheren Interesses rechtfertigt, will sich Snyder den Ort durch prähistorische Zugänge und Praktiken wiederaneignen. Snyders Gedichtband greift die Bezeichnung der indigenen Völker für den ameri kanischen Kontinent, Turtle Island, auf, damit Leser des 20. Jahrhunderts lernen, sich wieder als Bewohner eines Kontinents von Wasserscheiden, Habitaten und Kulturzonen wahrzunehmen statt als Einwohner einer politisch arbiträren Einheit. Die Gedichte des 13 O’Connell (1987, 318). 14 Goodyear (2008, 17). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger | 367 Bandes, so Snyder in seiner Introductory Note, „speak of place, and the energy pathways that sustain life“ und evozierten eine uralte Solidarität15 zwischen dem Land und seinen Bewohnern, die vor der Entstehung der USA liege. In der kurzen Einleitung zu seinem Gedichtband verfolgt Snyder also durchaus eine didaktische Absicht und versucht dann mittels der Lyrik, die Leser in eine prähistorische Zeit zurückzuversetzen. Snyders Lyrik ist performativ-rituell und will durch ein ‚chanting back‘ die Schichten der Geschichte durchdringen, um zu prähistorischem Wissen um den Kontinent durchzudringen. Dieses Wissen entzieht sich westlichen Epistemologien ebenso wie westlichen Kodierungssystemen und soll in und durch Lyrik erfahrbar gemacht werden. So beginnt das erste Gedicht wie ein Gesang und eine Invokation: „Anasazi/Anasazi“.16 Snyder ruft hier, stellvertretend für alle Ahnen und Vorfahren auf dem amerikanischen Kontinent vor der Besiedlung durch Europäer, mit Anasazi prähistorische indianische Kulturen der USA auf, die bis heute in den Traditionen der Pueblo-Indianer weiterbestehen. Typographisch ahmt das Gedicht die charakteristischen in Klippen gebauten Höhlen der Anasazi nach und zielt in den sensua listischen, archetypischen und viszeralen Bildern auf ein vorsprachliches und jenseits des Rationalen liegendes Erfahren. Das Eröffnungsgedicht ist programmatisch für den Band, in dem Snyder reinhabitation ebenso aus den physischen Gegebenheiten wie den Mythen des Ortes entwickeln will. Turtle Island gliedert sich in drei aus Gedichten bestehende Teile – Manzanita, Magpie’s Song und For the Children – sowie einen essayistischen vierten Teil, den Snyder mit Plain Talk, also mit Tacheles oder Klartext übertitelt. Der Essayteil geht programmatisch und pragmatisch auf Snyders Vorstellungen zu Umweltethik, Umweltschutz und Umwelt politik ein und will praxisbezogene Alternativen zum modernen industrialisierten Leben und seinen Problemen der Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Konsumgesellschaft und Zentralverwaltung des Landes bieten. Snyder wirbt darin für eine fundamentale ökologische Wende im Denken und Tun und für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Land, auf dem wir leben. Eine solche Wende kann nur eingeläutet werden, wenn die Menschen sich und ihr Verhältnis zum Land re-imaginieren. Dieser Prozess soll durch die im Band versammelten Gedichte erfahrbar gemacht werden. Lyrik ist für Snyder transformativ in einem performativen Sinne – sie beschreibt nicht nur, sondern macht erfahrbar – und in einem politischen Sinne – sie leitet einen transformativen Pro zess im Denken und Tun ein, der ein bioregionales Verständnis und eine reinhabitation überhaupt erst möglich machen. Während der dominante Grenzmythos der USA auf beständigem Fortschritt und dem ständigen Fortschreiten der Grenze beruht, will Snyder dezidiert zurück und hinabschreiten in eine Zeit vor der Besiedelung. Folsom hat Snyders Lyrik in Turtle Island treffend als „poetics of archeology“17 bezeichnet, durch die Snyder sich und seine Leser zurückträumt in eine Zeit, die Wissen birgt, welches die Übel der Gegenwart vielleicht zu heilen vermag. Die Gedichte im Band sind als Prozess eines Frei legens von verlorengegangenem Wissen zu verstehen: „The Process. Go back, get under, 15 Vgl. Snyder (1974, i). 16 Snyder (1974, 3). 17 Folsom (1980, 103). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
368 | Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger dig, descend: through the palimpsest of this continent with its accreted layers of varied culture, beneath the artificial, superficial, forcefully imposed top layer”.18 Gemessen in geologischer deep time, welche die Rolle der Menschheit als marginal kennzeichnet, ist die Staatsform der USA eine dünne Schicht, die der des reichhaltigeren prähistorischen Wissens nur aufliegt. Snyders Reise The Way West, Underground, wie das zweite Gedicht des Bandes übertitelt ist, führt ihn in und durch das mythische Wissen zahlreicher sogenannter primitiver Völker. So evoziert Snyder in einer Zeile des Gedichts verschiedene Namen für Bär: „Karhu – Bjorn – Braun – Bear“, um auf archetypische, in allen alten Kultur traditionen existente Denkmuster zu verweisen, in denen der Bär als Verwandter des Menschen erscheint. Snyder taucht wie die den Gedichttitel bestimmende Schildkröte hinab in ein Wissensreservoir vor der Besiedlung Amerikas, aber er taucht auch immer wieder auf und beschreibt in Gedichten wie I Went into the Maverick Bar oder Steak die zeitgenössische amerikanische Kultur als konsumorientiert, paternalistisch und von der Natur getrennt. Andere Gedichte des ersten Teils, wie etwa The Dead by the Side of the Road oder Front Lines führen uns Umweltzerstörung und Verschwendung von Ressourcen vor Augen, während weitere, wie etwa Controll Burn oder The Call of the Wild, vorzeitliches Wissen aufrufen. Das dem ersten Teil den Titel gebende Gedicht Manzanita verweist auf einen Busch, die Bärentraube, welcher charakteristisch für die amerikanische Westküste ist und mit wenig Wasser sowie nährstoffarmem Boden aus kommt und kleinen Äpfeln verwandte Beeren ausbildet. Die First Nations benutzten den Strauch u. a. zu medizinischen Zwecken. In Controll Burn klärt Snyder die Leser darüber auf, dass die Samen des Manzanita Buschs sich nur öffnen, nachdem ein Bär sie zuerst verdaut hat oder ein Feuer über sie hinweggefegt ist. Metaphorisch wird hier der alte indianische Brauch des kontrollierten Abbrennens von Gestrüpp (der dazu dienen soll, neues Leben zu ermöglichen) auf die Wiederbesiedlung Amerikas unter neuen Vorzeichen angewendet: […] Fire is an old story. I would like, with a sense of helpful order, with respect for laws of nature to help my land with a burn. a hot clean burn. (manzanita seeds will only open after a fire passes over or once passed through a bear) […]19 18 Folsom (1980, 114). 19 Snyder (1974, 69). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger | 369 Das kontrollierte Verbrennen bezieht sich hier auf das ‚unlearning‘ von Wissen, um Fron tier-Mythos und Ideen wie Manifest Destiny oder American Exceptionalism rückgängig zu machen, damit danach die Samen eines alten Wissens wieder aufgehen und gedeihen können. Lyrik ist hierbei elementar, weil sie als Speicher dieses Wissens dient. Zugleich ist Snyders Lyrik immer Teil des Ökosystems, das er beschreibt. Sie speist sich aus den Trümmern und Überresten des Vergangenen, geht auf in einer neuen Zukunfts vision und ist somit Teil des Zyklus aus Werden, Vergehen und neuem Werden, der die Natur und das menschliche Dasein als Teil dieser Natur bestimmt. Wie Snyder in einem Interview sagt: „Poets are more like mushrooms, or fungus – they can digest the symbol- detritus“.20 Dem Dichter kommt damit die gesellschaftliche Rolle zu, überkommene, nicht mehr tragfähige, verwesende Symbole einer Kultur – wie etwa den gewaltsamen Frontier- Mythos der USA – symbolisch zu verstoffwechseln und in etwas fruchtbares, gedeihliches Neues zu übersetzen. Der zweite, längste Teil von Turtle Island, übertitelt Magpie’s Song, beginnt mit einer prosaischen Auflistung der Verschwendung und Missachtung natürlicher Ressourcen in Industrienationen, allen voran den USA, und endet mit dem der Sektion den Titel gebenden Gedicht. Magpie, die Elster, ist in der ihr zugeschriebenen Geschwätzigkeit in vielen indi genen Mythen eine Trickster-Figur und damit ein wichtiges Bindeglied zwischen Mensch und Natur. In Snyders Gedicht adressiert der Vogel das lyrische Ich: […] No need to fear What’s ahead Snow up on the hills west Will be there every year Be at rest. […]21 Die Elster erinnert das lyrische Ich mit dem Verweis auf die wiederkehrenden Zyklen der Natur an die wirklich elementaren Dinge des Daseins, an das, was Snyder in einem Ge dicht des dritten Teils The Real Work nennt, womit er das unspektakuläre In-der-Welt-Sein meint, das den zivilisierten Menschen zunehmend schwerfällt. Das Gedicht beschreibt eine Rudertour mit zwei Freunden und endet: „the real work./washing and sighing/sliding by“.22 The Real Work, wie Snyder es in einem gleichnamigen zentralen Interview beschreibt, meint: die Welt wirklich und ganzheitlich erleben.23 Während der erste Teil von Turtle Island die Notwendigkeit für einen transformativen Prozess formuliert, widmet sich der zweite den Gegenmitteln, welche Mythen, Lieder und Lyrik bieten, um sich einer degenerierten, an Wachstum und Profit orientierten Industriegesellschaft zu entziehen. In Turtle Island ver weist Snyder wiederholt auf die gewaltsame Zerstörung der Natur, die er in Front Lines als 20 Snyder (1980, 71). 21 Snyder (1974, 69). Kursivierung i. O. 22 Snyder (1974, 32). 23 Snyder im Interview mit Geneson (1980, 55–82). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
370 | Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger Vergewaltigung darstellt und in vielen anderen Gedichten als ‚Krebsgeschwür‘ markiert. Dieser Zerstörungsgewalt setzt Snyder eine poetische Heilungskraft entgegen, denn in sei nem Verständnis sind Gedichte auch immer ein Reservoir an Energien, die wirksam werden können, ähnlich wie die Samen des Manzanita-Busches aufgehen, wenn die Zeit reif ist. Lyrik hat für Snyder die Kraft, uns eine neue Perspektive auf die Welt zu schenken, auszubrechen aus Denk-, Verhaltens- und Handlungsmustern, durch die wir die Welt und unseren Bezug zu ihr zu sehen gelernt haben. Dem Dichter kommt dabei die Rolle eines Schamanen zu, der uns, in der Stimme der Elster, in Verbindung bringt mit einem Bewusst sein jenseits des menschlichen Bewusstseins.24 Lyrik eröffnet einen Raum, um in Kontakt zu treten mit diesem anderen Bewusstsein, das natürlich immer noch vom Menschen imaginiert ist. Dies setzt allerdings eine Denkweise voraus, die sich von einem hierarchi schen anthropozentrischen Weltbild löst und der Mitwelt des Menschen auf Augenhöhe begegnet. Es geht hierbei nicht um eine idealisierende oder gar anthropomorphisierende Natur- und Weltsicht – denn, wie Snyder so treffend bemerkt, „[t]he ethics or morality of this is far more subtle than merely being nice to squirrels“ –, sondern um die radikale Veränderung unserer Weltsicht und unseres In-der-Welt-Seins. Im westlichen cartesischen Denkmuster des cogito ergo sum kann das Subjekt dem Baum-Bewusstsein nicht begegnen und auch nichts von ihm lernen, denn der Baum ist kein denkendes Wesen. Was soll ein sich rein über das rationale Begreifen definierendes Wesen lernen von einer Elster oder einem Manzanita-Busch? Und wie vermag eine solche Annäherung überhaupt zu gelingen, wenn uns eben nur die Rationalität als Mittel der Erkenntnis zur Verfügung steht? Diese Fragen versucht Snyder in seiner Lyrik aufzulösen, indem er Zwischenräume aufruft, wie sie in Ritualen und in schamanistischer Performanz entstehen – Zwischenräume, die sich westlichen Epistemologien entziehen und einen temporären, flüchtigen Raum eröffnen, in dem die Begegnung mit dem Anderen, nicht Menschlichen vorstellbar und erfahrbar wird und daraus Respekt erwächst. Der dritte, kürzeste Teil, For the Children, weist in die Zukunft und formuliert die Hoffnung, dass nachfolgende Generationen in einem bioregionalistischen Sinne wieder einen holistischen Zugang zum Land, auf und mit dem sie leben, finden. In Tomorrow’s Song imaginiert Snyder eine basisdemokratische Verwaltung des Landes, in der auch Berge, Flüsse, Bäume und Tiere eine Stimme und ein Mitbestimmungsrecht haben und so Turtle Island in seiner ursprünglichen Form zurückkehren kann. Das vorletzte Gedicht des Bandes, das dem dritten Teil den Titel gibt, endet mit der Mahnung: stay together learn the flowers go light25 Diese Botschaft an die Kinder kann als Essenz von Snyders Verständnis des Bioregionalismus gelesen werden: eine Gemeinschaft miteinander und der Natur zu bilden, das Land und seine Bewohner genau kennenzulernen und möglichst wenig zerstörerische Spuren zu hinterlassen. 24 C astro (1991, 138). 25 Snyder (1980, 86). Hervorhebung i. O. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger | 371 Der Band endet aber nicht mit dem Gedicht For the Children, sondern mit dem wie einen programmatischen Nachsatz zu lesenden As for Poets. Snyder ruft darin die Dichter der Erde, der Luft, des Feuers, des Wassers, der Sonne und des Mondes sowie des Geistes auf und ver bindet Lyrik so noch einmal mit den elementaren Aspekten des Da-Seins im Sinne Heideg gers. Für Snyder vergeht Lyrik wie jegliche menschliche Kreativität, wenn das Subjekt nicht im Einklang ist mit seiner Mitwelt und sich zu weit entfernt von einem bioregionalistischen Lebensstil.26 Lyrik ist für Snyder in der Lage, durch sprachliche Evokation das Vergangene, Archetypische in die Gegenwart zu holen oder besser zu singen. Gleichzeitig haben Dichter eine seherische Funktion. Mit Pound bezeichnet Snyder Dichter als „the antennae of their race“ und fährt fort: „So they are like an early warning system that hears the trees and the air and the clouds and the watersheds beginning to groan and complain a little bit“.27 Dichtung ist also ein Seismograph der Gesellschaft, wenn es um Umweltbewusstsein geht. Zudem be greift Snyder Lyrik tatsächlich als erneuerbare Energie, die noch zur Verfügung stehen wird, wenn Kohle und Öl längst versiegt sind. Und so endet Turtle Island mit dem Satz: „Poetry is for all men and women. The power within – the more you give, the more you have to give – will be our source when coal and oil are long gone, and atoms are left to spin in peace“.28 III. Die bundesrepublikanische Alternativkultur und die Zeitschrift „Falk“. Obwohl der bio- regionalism eine spezifisch nordamerikanische Bewegung war, die sich an der Westküste zentrierte, und Gary Snyder seine Lyrik konsequent in diesem geographischen Raum ver ortet, wurde beides auch in Deutschland wahrgenommen. Die Rezeption erfolgte vor al lem in der bundesrepublikanischen Alternativkultur der 1970er und frühen 1980er Jahre. Zu ihr gehörte ein produktiver literarischer underground. Mit einfachsten Mitteln und geringem Budget entstand damals eine beachtliche Zahl an Zeitschriften, Broschüren und Buchprojekten – unabhängig von den kommerziellen Zwängen der etablierten Ver lage. Ihre Geburtsorte lagen oft in der Provinz und waren gut miteinander vernetzt. Das Leben war ein Experiment: In neuen gemeinschaftlichen Lebensformen wurden Auswege aus dem zerstörerischen Kapitalismus gesucht – und das schloss auch alternative Produk tionsstätten, Materialien und Vertriebswege ein. In dieser Alternativszene genossen die amerikanischen Beat Poets, vor allem aber Gary Snyder, geradezu Kultstatus. Denn er verkörperte – anders als Alan Ginsberg oder William S. Burroughs – den Typus des ökologisch orientierten und zugleich spirituellen Suchers, der früh vor dem Raubbau des Planeten warnte und an das Wissen der indigenen Kulturen anknüpfte. Deshalb bot er für die stark von der Antiatomkraftbewegung geprägten Akti visten, die sich nicht mehr an der politischen Theorie, sondern an vormodernen Kulturen orientierten, eine ideale Identifikationsfigur. Viele waren ihm das erste Mal in der Figur des Japhy Ryder begegnet, jenem intellektuell versierten und naturkundigen Buddhisten und Bergsteiger, den Jack Kerouac, der Chronist der Beat-Generation, in den Mittelpunkt seines Romans The Dharma Bums gestellt und nach Gary Snyder modelliert hatte. Das Buch erschien 1963 in deutscher Übersetzung unter dem Titel 26 Snyder (1980, 55). 27 Snyder (1980, 71). 28 Snyder (1974, 114). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
372 | Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger Gammler, Zen und hohe Berge und erlebte 1971 seine erste Taschenbuchauflage. Ein Jahr später, 1972, eröffnete sich dann die Möglichkeit, eine erste Probe von Snyders Lyrik auf Deutsch zu lesen. Unter dem Titel Maya gab Alexander Schmitz in einem schmalen gelben Taschenbuch der Reihe Hanser eine Auswahl von Gedichten heraus und kündigte sie im Klappentext mit dem Satz an: „In einer wenig aufwendigen, oft tagebuchhaften Sprache berichten die Gedichte von der kritischen Auseinandersetzung mit der Zivilisation, von Magie, Tanz und Trance.“29 Dazu sah man den Autor auf dem Cover im Lotussitz meditieren. Das traf den Nerv der Zeit. Auch Thomas Kaiser, der später zusammen mit Helmut Salzinger die Zeitschrift Falk herausgab, wurde davon in den frühen 1970er Jahren in der Schweiz erfasst. Er erinnert sich: „Ich war sechszehn oder siebzehn, als mir in einer Schaffhauser Buchhandlung ganz zufällig gleichzeitig zwei Bücher in die Hände fielen, die fortan alles ändern sollten: Ke rouacs Gammler, Zen und hohe Berge und Snyders Maya/Gedichte. Von Kerouacs Buch las ich zwei Exemplare zu Fetzen, es war meine Bibel“.30 Die Lektüre legte den Grund für sein Interesse an der Ethnopoesie, und so gab Kaiser in den folgenden Jahren zunächst den Rundbrief Indianer Heute und dann die ethnopoetische Zeitschrift Narachan – Lieder, Texte, Notierungen heraus. Durch sie wurde Helmut Salzinger auf ihn aufmerksam. Helmut Salzinger selbst und seine Frau, die Künstlerin MO Salzinger, waren bereits Anfang der 1970er Jahre von Hamburg aufs Land gezogen, in ein Dorf zwischen Weser- und Elbmündung. In den 1960er Jahren hatte Salzinger eine vielversprechende Karriere als Literatur- und Musikkritiker begonnen und bald für die großen Zeitungen und Rund funkanstalten geschrieben. Sein Spezialgebiet waren dabei die Autoren der amerikanischen counter culture. Auch Salzingers erste Bücher Rock Power und Swinging Benjamin, in denen er die widerständige Popkultur der 1960er Jahre als Intellektueller begleitete und kritisch reflektierte, erzielten beträchtliche Erfolge. Doch die Engführung auf die Kritik hatte ihn nach eigener Aussage „buchstäblich krank“ gemacht,31 und so stieg er, begünstigt durch eine Erbschaft, aus dem Kulturbetrieb aus. Es dauerte allerdings noch einige Jahre, bis Salzinger auch in seinem Denken und Schreiben einen Bruch vollzog und noch einmal neu ansetzte – mit der Erkundung des unmittelbaren Landes und der Natur um ihn herum und mit einem kleinen eigenen Verlag, den er nach seinem Haus benannte: Head Farm Odisheim. Im Jahr 1981 nahm Helmut Salzinger schließlich den Kontakt zu Thomas Kaiser auf – so, wie er überhaupt unzählige Briefe schrieb, um das Netz der kleinen Literaturzeitungen und Verlage noch enger zu knüpfen. „Wir bemerkten“, erinnert sich Thomas Kaiser weiter, unser gemeinsames Interesse für Snyder und die Naturburschenfraktion der amerikanischen Beats, für Ethnopoesie und für Indianer (Helmut war sehr angetan von den Büchern Castanedas). […] [W]ir korrespondierten und heckten brieflich ein nie realisiertes Buchprojekt aus mit dem Arbeitstitel Die Poesie der Erde. […] [D]ann kam der Falk.32 29 Snyder (1972, 1). 30 K aiser (2007, 36). 31 Grober, Köppen (1996, 14). 32 K aiser (2007, 37). Heute arbeitet Thomas Kaiser seit vielen Jahren am Ethnologischen Museum in Zürich und hat dort bereits mehrere Forschungen und Ausstellungsprojekte zu seinem Lebensthema, die Poesie der Erde, realisiert, jüngst zum „Vessantara Epos in Rollbildern und Dorffesten“ in Thailand. , zuletzt: 26.8.2019. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger | 373 Die Zeitschrift erschien zwischen 1984 und 1986, monatlich ein Heft in einer Auflage von 300 Stück. Dazu gab es bis 1988 noch einige Sondernummern, die teils unter dem Titel Krähenblätter, teils unter Falk Sonderkopien oder Falk/Neue Folge firmierten. Neben Helmut Salzinger und Thomas Kaiser wirkten noch MO Salzinger und, im Hintergrund, der Hamburger Kleinverleger Michael Kellner im Herausgeberteam mit. Die Grundlage für ihre Arbeit bildeten eine Schreibmaschine und zwei Fotokopierer, die auf der Head Farm in Odisheim standen – und jede Menge Idealismus und Disziplin. Falk verstand sich als literarische Zeitung mit einem weiten Spektrum. Es reichte von ethnopoetischen Arbeiten über die klassische chinesische und japanische Dichtung bis hin zu Werken der bekannten und weniger bekannten Beat Poets. Natürlich wurden auch viele Autorinnen und Autoren aus dem eigenen Umfeld berücksichtigt. Eine wichtige Rolle nahm ferner Rainer Maria Gerhardt ein, in dem Salzinger einen Vorläufer und wohl auch ein Vorbild erblickte – mit seinem lyrischen Werk, seinem der internationalen Avantgarde gewidmeten Verlag und seiner Anfang der 1950er Jahren herausgegebenen Zeitschrift frag- mente. Hin und wieder griff der Falk aber auch Themen der Zeit auf. So war die Nummer 7 ganz dem Thema des Zen-Buddhismus vorbehalten (mit 80 Seiten das umfangreichste Heft) und die Nummer 18 dem Thema Bioregionalismus. Sie erschien im Juli 1985. Zwei Jahre zuvor war Salzingers Lyrikband Irdische Heimat herausgekommen, dem er eine eng lische Widmung vorangestellt hat: „To Gary Snyder, native of Turtle Island“.33 IV. Die Rezeption des Bioregionalismus. Die Redaktion der Ausgabe 18 des Falk lag haupt verantwortlich bei Thomas Kaiser. Gary Snyder gab für diese Ausgabe allerdings nur den Grundton an:34 Das 38 Seiten umfassende Heft wird mit einem Zitat von ihm eröffnet, in dem wichtige Aspekte des Bioregionalismus anklingen, obwohl Snyder darin noch von bio-geography spricht.35 Der elfseitige Leitartikel indes, der aus der Zeitschrift CoEvolution Quaterly36 mit dem Schwerpunkthema Bioregions übernommen ist, stammt von dem ame rikanischen Autor Jim Dodge. In der deutschen Übersetzung lautet der Titel des Beitrags Lebendigsein durch Leben. Ein Stück bioregionaler Theorie und Praxis. Der Text ist insofern gut gewählt, als Dodge darin das Ziel verfolgt, einen Überblick über die amerikanische Diskussion um den Bioregionalismus zu geben. Er sammelt die verschiedenen Elemen te, geographische, empirische, politische und spirituelle, ohne sie in ein starres Konzept 33 Salzinger (1983, 3). Bereits 1980 war Gary Snyders Turtle Island, übersetzt von Ronald Steckel, in einem Berliner Kleinverlag erschienen – auch das ein Produkt der Alternativkultur. 2006 kam es, wiederum mit dem Titel Schildkröteninsel, zu einer überarbeiteten und dieses Mal zweisprachigen Neuauflage in der Stadtlichter Presse, Berlin, erneut verantwortet von Ronald Steckel. 34 Gary Snyder war den Leserinnen und Lesern des Falk bereits als Lyriker aus Nr. 4 als auch als Essayist aus Nr. 7 bekannt. Letzteres, in dem Snyders Text Das Zen der Menschheit erschien, war dem Thema Zen gewidmet. Zudem steuerte er für die im September 1985 erschienene Sonderausgabe der Krähenblätter, die den indianischen Autor Peter Blue Cloud vorstellte, das Vorwort bei. Vgl. H artge, Zühlke (2007, 61, 64, 101). 35 Das Zitat ist dem 1984 auf Deutsch erschienenen Buch Landschaften des Bewusstseins – Gespräche und Reden entnommen, das wiederum eine Übersetzung des 1980 in den USA herausgekommenen Buchs The Real Work. Interviews and Talks 1964-1979 ist. Das Zitat findet sich in der deutschen Ausgabe auf S. 21 und ist einem Interview aus dem Jahr 1971 entnommen. 36 CoEvolution Quaterly (Winter 1981), Nr. 32. Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
374 | Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger zwängen zu wollen. Als Voraussetzung sieht er eine Haltung an, die er „biologischen Rea lismus“37 nennt und die allein auf einer genauen und über einen längeren Zeitraum hin weg gewonnenen Erfahrung beruht. Damit grenzt er den Bioregionalismus klar von jedem sentimentalen Verhältnis zur Natur ab. Gleichwohl beharrt Dodge auch auf einer spirituellen Dimension. So führt er als Fak toren, die eine Bioregion bestimmen, neben der geographischen Formation und der darin lebenden Pflanzen und Tiere auch „Kraftplätze oder bewusstseinsbestimmende Verkörpe rungen von Power“ an.38 Um diese zu erfahren, braucht es wiederum Dauer; sie sind nicht vorschnell zu erspüren. Zudem, so führt er aus, werde „eine tiefgehende Achtung vor dem Leben, vor allem Leben“ von den allermeisten Bioregionalisten geteilt. Daraus erwachse, ebenfalls aus langer Erfahrung, eine neue Verbundenheit, wenn nicht sogar Einheit „zwi schen der natürlichen Welt und dem menschlichen Geist“ oder, wie er sich auch ausdrückt, „zwischen Existenz und Leben“.39 Bioregionalismus ist für Dodge kein festes und klar definiertes Konzept und deshalb auch keine politische Doktrin. Eher sei es „ein Gefühl für Richtung (den Berg hoch, wie’s aussieht), als die übliche linke Autobahn nach Utopien oder Ökotopien“.40 Denn Bioregio nalismus zeige sich, und darauf legt der Autor großen Wert, vor allem in der Praxis und „Praxis ist“, wie er in einer buddhistisch inspirierten Formulierung hinzufügt, „was das Herz hinter die Arbeit setzt“.41 Die weiteren Texte in Falk 18 bestehen aus Briefen an den Herausgeber, in denen ver schiedene Autorinnen und Autoren aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland auf den Leitartikel reagieren. Es handelt sich dabei eher um spontane Briefe, die diverse Gedanken aufnehmen und auf die eigene Lebenswelt übertragen, u. a. auf die Politik grüner Parteien in verschiedenen Ländern Europas. Auch Helmut Salzinger ist mit einem kurzen Brief vertreten. Darin gesteht er ein, dass ihm das Konzept des Bioregionalismus nach der Lektüre des Beitrags von Jim Dodge sehr viel klarer geworden sei. Vor allem jedoch fühle er sich durch die Ausführungen in seinem eigenen Entwurf der „irdischen Heimat“ bestätigt und erkenne jetzt, das darin bereits viele bioregionalistische Gedanken vorweg genommen seien.42 Tatsächlich liest sich Salzingers Nachwort zu seinem Gedichtband wie ein Text zum Bioregionalismus. Es hebt als furioses Pamphlet mit einer Absage an jede offizielle Politik an und endet in fast lyrischen Passagen, die für eine ganz andere Form von Politik ein treten. So heißt es dort: „Wir müssen wieder lernen, daß wir an einen Ort gehören.“ Es ist, fährt er fort, der Ort, wo wir Wurzeln schlagen können. Und wir haben zu lernen, daß der Ort, an dem dies möglich ist, nicht uns gehört, sondern wir ihm gehören. Und dann habe wir zu lernen, daß dieser Ort die Erde ist: der ganze Planet und zugleich der winzige Bereich auf ihm, mit dem wir vertraut 37 Dodge (1985, 4). 38 Dodge (1985, 6). 39 Dodge (1985, 8). 40 Dodge (1985, 8). 41 Dodge (1985, 9). 42 Salzinger (1985, 21). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger | 375 werden. […] Und schließlich lernen wir auch, daß wir da nicht allein sind. […] Irgendwann habe ich begriffen, daß die Erde meine Mutter ist, daß ich von ihr bin, von Erde, und daß es keinen Unterschied gibt zwischen mir und Menschen und Tieren und Pflanzen. Wir sind alle gleich.43 V. Salzingers literarische Umsetzung des Bioregionalismus. Doch wie ist Helmut Salzinger zu seinem Konzept der ‚irdischen Heimat‘ gekommen, hinter dem ebenfalls ein ‚biologi scher Realismus‘ steckt, obwohl es den damals mutigen und immer noch stark belasteten Begriff der Heimat im Titel führt? Und welche literarischen Ausdrucksformen hat er dafür gefunden? Am Beginn seines Neuanfangs im Schreiben stand die Lyrik. Gedichte halfen ihm, wie Helmut Salzinger selbst erzählt, nicht nur das Land, das er als neuen Lebensort gewählt hatte, zu erkunden, sondern nach dem existentiellen Bruch, der zu einer Schreib blockade geführt hatte, auch eine neue Sprache, neue Wörter zu gewinnen: „Ich fing an zu sehen, wo ich überhaupt bin. WAS DA IST. Dafür hatte ich keine Technik. Ich hatte kaum Wörter dafür. Es war wirklich ein Wiederentdecken der Sprache, Wort für Wort“.44 Salzinger erkundete das vor allem durch Moore geprägte Sietland auf der Basis des Bio regionalismus: eine Landschaft sinnlich, körperlich zu erfahren über einen längeren Zeit raum und sie so wieder zu bewohnen. Der Titel des ersten, im Eigenverlag erschienenen Gedichtbands aus dem Jahr 1979 steht dafür als Programm: Gehen, Schritte. Der Band vereinigt Gedichte und Fotografien, die vor allem Bäume zeigen, oftmals vom Wind ge brochen, weil sie in den feuchten Wiesen nicht fest genug verwurzelt sind. In dem Gedicht Von Reisen weit her, von Jahren heißt es am Ende programmatisch: […], weite Wanderungen nach innen (diesen Wegen folgen, schreibend) unternehmen, über Land Bäume zu finden, außen – der Weg, der das Ziel ist – vielleicht zu Fuß45 Die Verse folgen zunächst dem romantischen Diktum Novalis’ aus den Blüthenstaub-Fragmen ten: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“.46 Doch dann kippt diese Bewegung, wobei die Worte „über Land“ den Kipppunkt darstellen, um dann nach „außen“ umzuschlagen. Das Innen kommt – anders als in der durch die Romantik geprägten deutschen Naturlyrik – mit dem Außen zur Deckung. Die beschriebene Natur ist nicht Ausdruck der Empfindung eines lyri schen Ichs; das lyrische Ich und die Natur fallen vielmehr zusammen und gehen ineinander auf. Die lyrische Evokation der ihn umgebenden Landschaft und Natur, die immer wieder in Identifikation umschlägt, hat Helmut Salziger kontinuierlich fortgesetzt. Bis zu seinem 43 Salzinger (1983, 90). 44 Grober, Köppen (1996, 16). 45 Salzinger (1979, 42). 46 Zit. nach: Novalis (1981, 431). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
376 | Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger Tod im Dezember 1993 sind fünf weitere Gedichtbände erschienen, ein sechster posthum – alle im Eigenverlag oder in anderen Kleinverlagen.47 Bewahren sich diese Gedichte eine große Nähe zur Poetik Gary Snyders, entwickelte Salzinger daneben eine eigenständige Form des essayistischen Schreibens. Im Vergleich zu Snyders Essays, die sich an einer breiteren Diskussion um Bioregionalismus, Umweltschutz und Umweltethik beteiligen und von daher politisch und programmatisch ausgerichtet sind, will Salzinger von seinen Erfahrungen mit der Natur erzählen. So finden seine Essays ihre Grundlage im autobio graphischen Erfahrungsbericht und verbinden ihn – in unterschiedlicher Dosierung – mit reflexiven Passagen. In dieser Weise setzen sie den Titel seines ersten Gedichtbandes Gehen, Schritte in Prosaform fort. VI. Die Trilogie: „Ohne Menschen“, „Der Gärtner im Dschungel“, „Moor“. Drei Bücher umfassen Salzingers Essays, die sich zu einer Trilogie zusammenschließen, aber noch eher dem Begriff des Triptychons entsprechen. Denn Der Gärtner im Dschungel (1992) stellt das gewichtige Mittelstück dar, zu dem sich die dünneren Bände Ohne Menschen (1988) und Moor (1996, posthum) wie die beiden Seitenflügel verhalten. Ohne Menschen ist in einem weiteren, in der Alternativkultur bekannten Kleinverlag Der grüne Zweig heraus gekommen und trägt den Untertitel Erzählungen einer Landschaft. Der Band versam melt frühe Prosaarbeiten. Kurze Texte wie die Beschreibung eines Platzes zeugen von einer Annäherung an die Landschaft, die dem Erzähler langsam vertraut werden. Der Text hebt an mit dem Zwielicht der Dämmerung. Der Übergang zwischen Tag und Nacht verändert die Wahrnehmung. Das Vertraute erlischt, das Unvertraute tritt hervor. Der Ich-Erzähler benennt dieses Phänomen mit dem Ausspruch einer anderen Figur, die schlicht „der Indianer“ heißt: „Das Zwielicht ist die Trennung der Welten“.48 Salzinger spielt hier auf seine intensive Auseinandersetzung mit den Büchern von Carlos Castaneda an. Sie inspirieren ihn dazu, die Landschaft nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht zu erkunden, um die Welt anders und neu zu sehen, wie Don Juan es lehrt, Yaqui Indianer und die Hauptfigur in Castanedas Büchern.49 Als es dunkel ist, bricht der Ich-Erzähler schließlich mit seinen Hunden auf: „Die Nacht eröffnet nicht bloß den Blick, sondern auch den Weg ins Unvertraute“, heißt es dazu im Text.50 Doch der Ich-Erzähler hält zunächst an seiner gewohnten Wahrnehmungsweise über den Sehsinn fest, klammert sich an den Horizont und das, was er gerade noch erkennen kann. Erst ganz langsam stellt sich die Wahrnehmung um, verlagert sich auf den Hörsinn. 47 Die Freundlichkeit der Kraft (Head Farm Odisheim, 1980), Irdische Heimat (Kellner Verlag, 1983), Mein letzter Sommer (Verlag Altaquito, 1984), Stille Wasser (Head Farm Odisheim, 1987), Die beiden Hände des Sperbers (Verlag Peter Engstler, 1993) und Vogelschau (Verlag Peter Engstler, 1995). 48 Salzinger (1988, 38). 49 Seit 1972 erschienen die Bücher von Carlos Castaneda in deutscher Übersetzung, beginnend mit Die Lehren des Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens. Die Bücher erzielten enorme Auflagenzahlen, obwohl der Autor, der vor seinem Ethnologiestudium Kurse in Creative Writing belegt hatte, 1974 eines fakes überführt und seine Figur des Don Juan als Ethnofiktion entlarvt wurde. Daraufhin verlor Castaneda jeglichen akademischen Rückhalt, was seine Fangemeinde aber nicht irritierte. Das Sehen spielt vor allem im zweiten der acht Bände, in Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan aus dem Jahr 1975, eine herausgehobene Rolle. 50 Salzinger (1988, 38). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger | 377 Er wird sich nun „des leisen Klangschleiers bewußt, der diesen Raum weniger erfüllt als durchweht“.51 Je intensiver er nun darauf achtet, desto stärker wird die Empfindung, „als trüge ich diesen Raum mit mir herum, als hätte ich ihn ebenso in mir als ich in ihm bin, immerzu“.52 Der Text ist zwar in vier nur lose miteinander verknüpfte Teile untergliedert, dennoch folgt er noch einem dramatischen Aufbau – ein Merkmal der frühen Naturessays. So steigert der vierte Teil die durch die Nacht geschulte erweiterte Wahrnehmung zu einer intuitiven Identifiktion mit den Tieren der Landschaft. Auf einer anderen Wanderung, wieder im Zwielicht, entdeckt der Ich-Erzähler einen besonderen Ort: drei Eschen, die sich auf den Resten eines alten Deiches erheben. Doch er spürt, dass es sich nicht um einen ehemals heiligen Platz handelt, sondern assoziiert ihn mit einem „Galgenhügel“.53 Plötzlich entdeckt er zwei Kanzeln für Jäger, die von dort aus eine freie Sicht auf den Platz haben und ein erst vor kurzem angelegtes Kiefern- und Birkengehölz, das Rehe anlocken soll, indem es ihnen Schutz verspricht. Augenblicklich fühlt sich der Ich-Erzähler von zwei Gewehren bedroht und springt in Deckung. Mit rasendem Herzen erkennt er: „Dieser Platz, was immer er ursprünglich gewesen sein mag, dient heute als Jagdplatz. Er ist zu einem Ort gemacht worden, wo Tiere abgeschossen werden […]. Tiere wie ich, hierher gelockt, eine Falle von Menschenhand“.54 Ausdrücklich also zählt sich der Ich-Erzähler zu den Tieren und be hauptet eine Einheit mit ihnen, die ihn von den Jägern existentiell trennt. Weisen die Texte in Ohne Menschen nur einen geringen Umfang von wenigen Seiten auf, liegt in Der Gärtner im Dschungel das weit gespannte und essayistische Mittelstück des Triptychons vor. Salzinger verwebt darin seine persönliche Geschichte in Odisheim und die Entwicklung seines dort angelegten Gartens mit kulturgeschichtlichen Ausführungen, die bis zu den mittelalterlichen Lehrgedichten eines Walahfried Strabo und weiter in die Antike zurückreichen, und diese wiederum mit radikalen Reflexionen zu einem grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Werte und einem wahrhaft ökologischen Weltbild. Die eigenen Erfahrungen, die auf einem genauen Beobachten und Beschreiben beruhen, bilden dabei stets den Ausgangspunkt. Von dort werden sie in den reflektierenden Passagen auf eine allgemeinere Ebene gehoben, was erlaubt, notwendige Konsequenzen daraus abzuleiten. Der Garten, der das Zentrum des Buches bildet, steht insofern quer zur Kulturgeschich te der Gartenkunst, als er deren grundlegendes Prinzip umkehrt. Zwar beginnt auch der Ich-Erzähler damit, ein Stück Land hinter seinem Haus urbar zu machen und als Garten anzulegen. Doch nach einiger Zeit erkennt er darin einen Irrweg. Statt in den Garten weiter einzugreifen beschließt er, ihn in Selbstregulation verwildern zu lassen: In einem Land, in dem jedes Fleckchen Erde bereits kultiviert ist, muss es Orte geben, an denen wieder Wildnis entstehen kann. Die Natur muss also vor ihrer agrikulturellen Zurichtung 51 Salzinger (1988, 40). 52 Salzinger (1988, 42). 53 Salzinger (1988, 45). 54 Salzinger (1988, 46). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
378 | Peter Braun, Caroline Rosenthal: Das Konzept des Bioregionalismus bei Snyder u. Salzinger geschont werden. So entsteht im Loslassen menschlicher Kontrolle eine „Ökozelle“55 – ein „Wildgarten, in dem wachsen kann, was wachsen will“.56 Für den Ich-Erzähler wird dieser Garten darüber zunehmend zu einem Modell und zu einem Meditationsraum. „Das setzt“, wie er selbst reflektiert, zweierlei voraus. Daß ich ihn sich selbst überlasse und mich selbst ihm überlasse. So entfaltet sich der Garten fortschreitend als belebter Innenraum, auch für mich, und dieses Fortschreiten gibt sich als ein Entwicklungsprozeß des Lebendigen selber zu erkennen. Im Garten wird mein Stück Land als Lebensraum, als ein Bio-top, lebendig.57 Auch dies folgt – im Kleinen – einer Politik der reinhabitation, ja treibt sie sogar noch weiter. Denn der Ich-Erzähler leitet daraus ab, was er programmatisch „die Gewinnung des sakralen Raums“ nennt. Damit bezeichnet er einen grundlegenden und weltweiten Wandel, ganz in dem Sinne, wie er auch in der Diskussion um den Bioregionalismus gefordert worden ist: Als Sakraler Raum bleibt der Menschheit die Erde noch zu entdecken, wenn sie überleben will, nämlich als ein Ort der Einbindung aller Lebewesen in eine vorgefundene, übergreifende Ordnung des Lebendigen, deren Bestand die Voraussetzung für den Bestand des (menschlichen und alles sonstigen) Lebens ist.58 Doch fallen selbst solche Passagen niemals in eine ‚Ökoseligkeit‘, sondern bewahren sich einen ‚biologischen Realismus‘ im Sinne von Jim Dodge, zu dem auch eine tiefe Skepsis gegenüber dem als notwendig Erkannten gehört. Sein letztes, unvollendetes Buchprojekt hat Helmut Salzinger einer Faszination gewidmet: den Mooren seiner Bioregion. Dabei gibt er sich erneut keiner Illusion hin. Die einstigen Moore sind entwässert und bis auf winzige Reste abgetorft; sie existieren nicht mehr. Umso bitterer trifft seine Ironie die zunehmenden Bestrebungen, diese Moore unter Naturschutz zu stellen und zu renaturieren. Wie kann man schützen, was nicht mehr da ist? Salzinger hat die seit 1986 entstandenen Texte noch persönlich zu einem Konvolut zu sammengestellt und ihm den Titel Moor. Ein Versuch, nichts zu erzählen gegeben. Tatsächlich setzt er dieses Vorhaben um und entnarrativiert seine Texte soweit, dass sie lediglich seine Wanderungen durch die Moore und die Beobachtungen, die er dabei macht, festhalten – dies allerdings mit größter Präzision. Salzingers späte Texte protokollieren Schritte und setzen das Programm Gehen, Schritte in Prosaform ohne dramatische Reste um. In einem Stück mit dem Titel Landschaften meiner Seele gibt Salzinger einige Reaktionen der Aktiven um die Zeitschrift Falk auf sein Projekt wieder. Es handelt sich um eine der ganz wenigen Stellen im Werk, die einen selbstreflexiven Charakter tragen. Manche der Head Farmer können sich unter dem Projekt nichts vorstellen, ein Redaktionsmitglied fühlt sich an Charles Olson und sein Langedicht Maximus erinnert, ein anderes interessiert sich dafür, was an den Moorbeschreibungen die Darstellung seiner Seelenlandschaft sei. Alle 55 Salzinger (1992, 59). 56 Salzinger (1992, 60). 57 Salzinger (1992, 63). 58 Salzinger (1992, 99). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang
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