Dunkle Wasser sind tief - A.D. scott - Buecher.de

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A.D. scott
Dunkle Wasser sind tief
Buch

Die schottischen Highlands nördlich des Great Glen, 1950er Jah-
re. Das ruhige Leben der typischen Kleinstadt wird erschüttert, als
in einer Kanalschleuse die Leiche des jungen Jamie gefunden wird.
Die Letzten, die ihn lebend gesehen haben, waren seine Schulka-
meradinnen Annie und Jean. Doch die Geschichten der beiden klei-
nen Mädchen ergeben keinen rechten Sinn. Eine dunkel geklei-
dete, unheimliche Gestalt kommt darin vor, die aus den traditio-
nellen Schauergeschichten der Gegend entlehnt zu sein scheint –
und der örtliche Priester, der jedoch sofort leugnet, den Jungen in den
letzten Tagen auch nur gesehen zu haben. Welches Gewicht hat das
Wort zweier kleiner Mädchen schon gegen das des katholischen Geist-
                                  lichen?
Die Polizei ist jedenfalls schnell bereit, den Tod des Jungen als Unfall
abzutun. Nicht so Joanne Ross, Reporterin bei der örtlichen Highland
Gazette. Die ist sich sicher, dass mehr hinter Jamies Tod steckt als ein
bloßes Unglück an einem Regentag. Mühsam versucht sie an Informa-
tionen heranzukommen, auch mit der Hilfe ihrer Kollegen und ihres
Chefs McAllister. Dieser ist erst kürzlich neu hinzugestoßen aus der
großen, weiten Welt südlich des Great Glen. Ein erfahrener, weltge-
wandter und auf seine ruppige Art attraktiver Mann, der Joanne eine
Chance gibt, wie sie einer verheirateten Frau, die offiziell als Sekretärin
arbeitet, eigentlich nicht zusteht. Gemeinsam versuchen sie, das Ge-
heimnis hinter Jamies Tod zu lüften – und bringen damit ein ganzes
                           Dorf in Aufruhr …

                                 Autorin

A. D. Scott wurde in den schottischen Highlands geboren, studier-
te in Glasgow an der Royal Academy und arbeitete danach in Edin-
burgh, London und Amsterdam am Theater. Später wanderte sie zu-
sammen mit ihrer Familie nach Australien aus und arbeitete für ver-
schiedene Zeitschriften und Magazine im Marketingbereich, bevor sie
ihre eigentliche Berufung erkannte und zu schreiben begann. Zunächst
als Journalistin, dann begann sie nach einem Besuch in ihrer Heimat
Schottland mit der Arbeit an ihrem ersten Roman, »Dunkle Wasser
sind tief«. Zurzeit schreibt Scott an ihrem zweiten Buch. Sie lebt im
                          Norden von Sydney
A. D. Scott
Dunkle Wasser
  sind tief
      Roman

       Deutsch
  von Sibylle Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
 »A small death in Great Glen« bei Atria Paperback,
  a division of Simon & Schuster, Inc., New York.

      Verlagsgruppe Random House fsc-deu-100
Das fsc®-zertifizierte Papier München Super für dieses Buch
       liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

                        1. Auflage
    Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2010
  Copyright © der Originalausgabe 2010 by A. D. Scott
   Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
       by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
     in der Verlagsgruppe Random House GmbH
  Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
 Umschlagmotiv: plainpicture/Millennium / Captureworx
              Redaktion: Barbara Müller
                  Th · Herstellung: Str.
   Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
  Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
                   Made in Germany
                ISBN 978-3-442-47247-5

                www.goldmann-verlag.de
Für meine Mutter und meine Schwester,
           in memoriam
Prolog

Die Leiche war noch warm, als er sie bekleidete. Es war nicht
schwer, den Jungen wieder anzuziehen. Ein kleiner dünner
Kerl, federleicht. Wog so gut wie nichts.
   Um diese Jahreszeit wurde es gegen fünf Uhr nachmittags
dunkel, und eine Stunde später würden die Leute zuhause vor
dem Kamin sitzen. Zum Glück auch kein Mondlicht. In die-
ser Zeit, im Dunkeln, musste er die Leiche loswerden; bevor
jemand zu suchen anfing.
   Wie ein Feuerwehrmann lud er sich den Jungen auf die lin-
ke Schulter, so dass die Füße am Rücken hingen, Kopf und
Arme vorne. Die Wolljacke des Jungen streifte seine Nase, und
er merkte, dass der Körper seinen Geruch verloren hatte; der
köstliche würzige Jungenduft hatte sich verflüchtigt.
   Der alte Pelerinenmantel war einst wie eine zweite Haut
für ihn gewesen. Er hatte darin geschlafen und sich geschützt
gefühlt, und nicht einmal Flammen und Funken hatten dem
dicken Wollstoff etwas anhaben können. Der war genau das
Richtige.
   Sorgfältig verhüllte er die Leiche mit dem Mantel, zupfte
ihn zurecht, achtete darauf, dass die Kapuze den Kopf verbarg
und auch Hände und Füße vollständig bedeckt waren. Dann
drehte er sich langsam vor dem Spiegel in der Diele hin und
her. Bestens. Das Ganze wirkte vollkommen unauffällig.
   Nur eine Seite der Straße war vom Licht einzelner matter
Laternen beleuchtet. Tiefhängende Äste alter Ahornbäume
machten den Fußweg zu einem dunklen Tunnel. Wie ein Spa-

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ziergänger wirkte er, ging sicheren Schrittes, trug seine Last
mühelos. Er hatte es nicht weit, und er begegnete niemandem.
Doch man hätte ihn mit seinem Bündel ohnehin nicht weiter
beachtet.
   Die letzten hundert Meter des Weges, die zum Kanal
führten, waren schon riskanter, denn die Ginster- und Holun-
dersträucher boten keine Deckung. Doch das Glück war ihm
hold. Als er die Schleuse erreicht hatte, horchte er und späh-
te in die Dunkelheit. Niemand zu sehen, kein Laut zu hören.
   Er hielt die Leiche an den Armen fest und ließ sie mit den
Füßen zuerst in den Kanal gleiten. Nur ein leises Säuseln war
zu hören, als sich das Wasser über der kleinen Seele schloss und
sanfte Wellen bildete, auf denen die Sterne tanzten.
   Der Mann faltete die Hände und murmelte ein Gebet. Er
zog den Mantel an, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Alles erledigt, zum Glück.
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McAllister spannte ein weiteres Durchschlagpapier in die
schwere alte Underwood-Schreibmaschine. Man musste so
stark wie ein Orang-Utan sein, um auf diesem Ungeheuer zu
tippen, dachte er immer wieder. In einem Papierkorb hinter
seinem Stuhl lagen bereits einige zerknüllte Textleichen. Die
Schrift war fleckig und blass; Farbbänder zu wechseln gehörte
nicht zu den Aufgaben des Chefredakteurs.
   »Die Nachrufe sind die einzige Gelegenheit, sich bei diesem
Käseblatt schöpferisch zu betätigen. Und nun will mir beim
besten Willen nichts einfallen, was am Leben dieses Mannes
interessant gewesen wäre. Oder an seinem Tod.«
   McAllister, der an dem hohen Reportertisch saß, stützte das
Kinn in beide Hände, wodurch er noch mehr einer schwarz ge-
kleideten Gottesanbeterin glich. Der Redaktionsschluss dräute.
   Rob und Joanne schenkten dem neuen Chefredakteur keine
Beachtung. Er war seit fünf Monaten bei ihnen, und sie hatten
sich allmählich an ihn gewöhnt. Sie beschäftigten sich weiter
mit ihren »Kinkerlitzchen«, wie ihr Redakteur das zu bezeich-
nen pflegte. Viehausstellungen, Gemeindemitteilungen, Schul-
konzerte, Sportveranstaltungen, Verkehrsverstöße – wie etwa
die Frage, ob Reiten unter Alkoholeinfluss als Verkehrswid-
rigkeit geahndet werden sollte: was eben im Jahre 1956 in einer
Lokalzeitung so alles zu finden war.
   Nachrichten? Das überließ man The Scotsman und der Tages-
zeitung von Aberdeen. Wie Don McLeod, Redakteur und bes-
serwisserischer Nörgler, verkündet hatte, als McAllister bei der

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Highland Gazette anfing: »Wir sind eine regionale Wochenzei-
tung und zuständig für Informationen aus der Gegend hier –
kein Skandalblatt von da unten aus dem Süden.«
   McAllister haute so nachdrücklich auf die Rückholtaste der
Schreibmaschine, als wolle er die Fehlerteufel aus den Innerei-
en des wuchtigen Geräts verscheuchen.
   »Ich meine, wie soll ich daraus einen anständigen Nachruf
machen?« Er wedelte mit seinen Notizen. »Der hat sein Leben
in Sitzungen verbracht, war hier Vorsitzender und da Schatz-
meister und hat sogar dem Komitee der Highland Games an-
gehört. Da können wir genauso gut Protokolle drucken.«
   Rob schaute auf. »Na ja, und jetzt ist er zu seiner letzten Sit-
zung berufen worden. Ich weiß nicht, welcher Engel da oben
Protokoll führt, aber der Mann ist bestimmt im Einvernehmen
mit Petrus.«
   »Seh ich auch so«, warf Joanne ein. »Der ist gut vierzig Jahre
lang zur Island Bank Church gegangen. Hat sich um die Free
Kirk verdient gemacht. Der kommt schnurstracks ins Him-
melreich.«
   »Aber ich wette, in der Schule hat er nur Zweier gehabt.«
McAllister konnte ihnen nicht mehr ganz folgen.
   Rob grinste. Er genoss seine Rolle als Stichwortgeber und
liebte es, wenn der Chefredakteur sich über Leben, Freiheit
und den Zustand des schottischen Fußballs ausließ. »Wieso
denn?«, fragte er.
   »Wenn man Einser hat, ist man überdurchschnittlich klug,
einen Zacken besser als seine Mitschüler. Aber gnade Gott
denen, die herausstechen. Konformität ist eine typisch schot-
tische Eigenschaft.«
   »Aber ich hatte auch Einsen an der Uni«, erwiderte Rob.
   »Was nur meine These beweist«, konterte McAllister.
   Die Ausgabe würde am Spätnachmittag fertig sein, genau
zur rechten Zeit, damit Redakteur, Setzer und Drucker ans

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Werk gehen konnten. McAllister fand es abscheulich, dass man
bei diesem Blatt nie in Zeitdruck geriet. Er warf einen Blick
auf seine beiden Reporter. Keiner von beiden hatte eine ent-
sprechende Ausbildung, und Joanne arbeitete nur Teilzeit. Ihr
Mann hatte sogar dagegen etwas einzuwenden und wurde von
seiner Mutter in seiner Haltung bestärkt. Frauen hatten nicht
zu arbeiten – das rückte ihre Männer in ein schlechtes Licht
und erweckte den Eindruck, als könnten sie nicht für ihre Fa-
milie sorgen.
   Don McLeod, einziger Redakteur, Experte für Pferderen-
nen und Wahrer dunkler Geheimnisse, kam herein, übersah
wie immer Rob und nickte Joanne zu. Sie machte ihn verlegen:
zu jung, zu hübsch, zu klug, zu verheiratet. Außerdem stammte
sie nicht von hier, genau wie der Chef. »Kurze Unterredung,
Chef ?« Er wies auf das Büro.
   McAllister breitete dramatisch die Arme aus. »Sagen Sie es
allen.«
   Don warf Joanne einen Blick zu, bevor er verkündete: »Ich
hab grad gehört, dass sie ‘ne Leiche aus dem Kanal gefischt ha-
ben. Kleiner Junge, seit gestern Abend vermisst, der Schleusen-
wärter hat ihn heut früh entdeckt.«
   »Oh nein, die Polizei war gestern Abend bei uns und hat
nach ihm gefragt«, rief Joanne aus. »Die armen Eltern!«
   »Und Sie haben kein Wörtchen darüber verloren?« McAl-
lister starrte sie aufgebracht an. »Wir sind hier bei einer Zei-
tung!«
   Don verzog das Gesicht. Er hatte recht. Eine Zeitung war
eben wirklich kein Ort für eine Frau.

Die Straße vom Gebäude der Highland Gazette zum Schloss
war gepflastert – unwegsam schon bei schönem Wetter, bei Re-
gen dann regelrecht mörderisch. Auf dem freien Platz vor dem
Schloss stand Flora Macdonald auf ihrem niedrigen Sockel.

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Der steinerne Highland-Terrier mit erhobenen Pfoten und
bittender Miene zu ihren Füßen schien die berühmteste Hel-
din Schottlands anzuflehen, Bonnie Prince Charlie und die ge-
scheiterte Rebellion doch endlich zu vergessen.
   »Hast recht, Bursche.« Joanne lachte in sich hinein und tät-
schelte den kalten Kopf des Hundes. »Mach dich aus dem
Staub, Flora. Kein Mann ist es wert, dass man so lang auf ihn
wartet.« Doch Flora starrte mit leerem Blick in Richtung der
Western Islands, ihrer Heimat.
   Joanne Ross war wetterfühlig. Sie spürte einen Wetterum-
schwung, bevor er sichtbar wurde. Ein Gewitter kündigte sich
in ihren Knochen an, noch bevor Wolken aufzogen. Ihr Körper
passte sich dem Wetter an; im Sommer hatte die große schlan-
ke Frau einen leichten Gang, im Winter schritt sie energisch
aus. Die Farbe ihrer Augen wechselte mit dem Licht von Blau
zu Grün; wenn die Sonne schien, schimmerten ihre braunen
Haare rot, und ihre Sommersprossen kamen und gingen mit
den Jahreszeiten.
   Joanne suchte sich eine Bank im Windschatten und behielt
dabei die Mantelmöwen im Auge, die mit ihrem Sandwich-
Radar Joannes Imbiss entdeckt hatten. Ein besonders großer
Vogel hing scheinbar schwerelos in einem starken Aufwind.
   Joanne begann zu träumen, ließ sich treiben wie die Möwe.
Der große Vogel (für sie war er männlich) schwebte ohne einen
einzigen Flügelschlag über die Hänge am Schloss, über den
Fluss zur Kathedrale, zur Infirmary Bridge, zurück zum Krie-
gerdenkmal und verschwand dann irgendwo über dem Gewirr
der Inseln.
   Sie stellte sich vor, wie sie auf den glänzenden Federn ruhte,
die einen leichten Fischgeruch verströmten. In die Aufwinde
segelten sie, über den Fluss, die Stadt, die Hügel, die Berge, das
Great Glen, jene Verwerfungslinie, von der die Highlands ge-
teilt waren. Scharfe Kuppen und Gebirgskämme spiegelten sich

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in einem Band schwarzer Seen, den Lochs. Glens, die Täler, an-
getan mit einem verblichenen Tartan aus Heide und Farn, hie
und da durchwirkt von grünen Tupfern am Rande kleiner Bau-
ernhäuser, aus denen man die Bewohner im Zuge der High-
land-Clearances vertrieben hatte, wurden durchschnitten von
wild gewundenen Bächen und Flüssen. Eine raue und atem-
beraubende Landschaft, bei deren Anblick Joanne immer den
Wunsch zu singen verspürte.
   Die Glocken der Kathedrale schlugen zuerst zwei Uhr. Dann
folgten vier weitere Glockenschläge, überlappend und dishar-
monisch.
   Eine ganze Stunde Sonne, dachte Joanne lächelnd; das kam
selten vor. Sie stand auf, wischte sich die Krümel vom Rock,
bereit, sich dem Rest dieses Tages zu stellen. Dann fiel ihr der
tote Junge wieder ein. Sie schauderte, dachte besorgt an ihre
Töchter und nahm sich vor, die beiden heute von der Schule
abzuholen.

»Ich möchte, dass keine von euch auch nur in die Nähe vom
Kanal geht.«
   Die Mädchen sahen sich an. Erst holte ihre Mutter sie von
der Schule ab, und nun hielt sie ihnen auch noch einen Vor-
trag. Dabei hatte das nur im Sommer Sinn. Wenn es kalt war,
ging ohnehin niemand zum Kanal. Ihr Geheimversteck am
Ufer lockte sie zwar auch manchmal im Herbst, aber sie waren
seit Wochen nicht mehr dort gewesen. Die schattige sandige
Höhle unterhalb der Wurzeln von Holunder- und Stechgins-
tersträuchern war ein perfekter Unterschlupf. Jedenfalls in den
langen Sommerferien. Aber im Herbst, wenn die Erde feucht
war und faule Holunderbeeren und nasses glitschiges Laub he-
rumlagen, war es dort dunkel und unheimlich.
   »Und noch was: Habt ihr noch dieses Versteck in den
Büschen am Kanal?«

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Annie zuckte zusammen. Ihre Mutter wusste Bescheid. Sie
konnte Gedanken lesen. Woher wusste sie davon? Annie hielt
die Luft an und wartete darauf, dass ihre Schwester sie verra-
ten würde. Klein-Jean blinzelte durch ihre langen Ponyfransen,
sah Annies bösen Blick und beschloss, dass sie mehr Angst vor
ihrer Schwester als vor ihrer Mutter hatte.
   »Nee, da ist es viel zu dunkel und kalt«, antwortete Annie
mit Nachdruck.
   Joanne schenkte ihrem älteren Kind Glauben. Dieses Mal
jedenfalls. Dann kam das nächste Rätsel.
   »Kennt ihr einen kleinen Jungen namens Jamie?«
   »Nee«, antwortete Annie rasch. Dann fügte sie hinzu: »Na ja,
es gibt schon einen Jamie, aber der ist nicht in meiner Klasse.
Auch nicht in der von Klein-Jean.«
   »Aber ihr kennt ihn«, beharrte Joanne.
   »Wir sehn ihn manchmal auf dem Heimweg. Er ist in der
Klasse von Miss Rankin.«
   Joanne war wohl bewusst, dass man sich von Kindern an-
deren Alters und Geschlechts fernhielt, wenn man neun und
sechs­einhalb war. Annie wusste, dass Fragen ihr nicht wei-
terhelfen würden, obwohl dieses Verhör und die Miene ihrer
Mutter sie so beunruhigten, dass sie gerne gewusst hätte, was
los war. Als sie zu ihrem Gartentor kamen, schob Joanne ihr
Rad hindurch, drehte sich zu ihren Töchtern um und sagte mit
ungewöhnlich strenger Stimme: »Wenn ich euch jemals da-
bei erwische oder von jemandem höre, dass ihr euch am Kanal
rumtreibt, sag ich es eurem Vater.«
   Das bedeutete den Gürtel. Es kam zwar nicht oft vor, aber
ein Ledergürtel auf dem nackten Hintern eines kleinen Mäd-
chens, »nur zu ihrem Guten«, versetzte Klein-Jean in Angst und
Schrecken. Für Annie war die Demütigung das Schlimmste.
   Die beiden rannten nach oben, um ihre Schuluniformen aus-
zuziehen. Hinter der geschlossenen Tür packte Annie Klein-

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Jean am Arm und zischte: »Wenn du auch nur ein Wort über
Jamie sagst, bohrt sich ein riesiger Wurm in deinen Po, sobald
du auf dem Klo sitzt.«
   »Ich sag nichts, ich sag nichts. Ganz bestimmt nicht.«
   Das tat Jean dann auch nicht, was aber Verstopfung und eine
Dosis Feigensirup zur Folge hatte.
   Später, im dunklen Zimmer, in dem die Vorhänge zugezogen
waren, um die Nacht auszuschließen, während ihre Eltern un-
ten stritten und Klein-Jean sich in ihrem Bett die Decke über
den Kopf zog, dachte Annie noch einmal gründlich über alles
nach. Wieso hatte Mama nach Jamie gefragt? Und wo steckte
der überhaupt? War er wieder krank? Jamie, der Angsthase –
manchmal sahen sie ihn tagelang nicht. Asthma, sagte er.
   Annie zog sich die Daunendecke über die Ohren, um das
Schluchzen aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern wenigstens
nicht mehr so laut zu hören. Sie war schon fast eingeschlafen,
als sich ein kleiner warmer Körper neben sie legte. Jean fand
es schrecklich, wenn Mama und Papa sich stritten. Annie ließ
zu, dass ihre Schwester sich an sie kuschelte, und versuchte
einzuschlafen. Aber sie musste daran denken, wie sie auf dem
Heimweg ihr übliches Spiel gemacht hatten. Und wie sie dann
weggerannt waren und Jamie alleine zurückgelassen hatten,
weil sie fürchteten, nicht rechtzeitig vor ihrem Vater zuhause
zu sein. Diese Erinnerung raubte ihr noch ein Weilchen den
Schlaf.

»Wahrheit oder Pflicht«, schrien die Mädchen, »Wahrheit oder
Pflicht!«
  Sie ließen nicht locker, bis der kleine dünne schüchterne Ja-
mie schließlich aufgab.
  »Wahrheit!«, rief er. Er fürchtete sich zwar vor den Mädchen,
war aber froh, jetzt wenigstens zur Bande zu gehören.
  »Wahrheit, so so«, sagte Annie. »Ist es wahr, dass du gern

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Kacka isst?« Die anderen Mädchen kreischten vor Lachen, als
sie dieses schlimmste aller Wörter hörten.
   »Großes Kacka, großes Kacka.« Die Mädchen hopsten la-
chend und singend um Jamie herum. Es war nicht böse ge-
meint, und Jamie sang erleichtert mit. Sie schubsten ihn nicht,
sie versuchten nicht, ihm die Hose runterzuziehen, und sie
nannten ihn auch nicht Heulsuse.
   Wie staksige Lämmchen hopsten sie weiter auf ihrem Heim-
weg von der Schule – Annie, ihre Schwester, die zwei Mädchen
aus ihrer Straße und der Junge Jamie – durch die Dämmerung
des Herbstabends, hüpften die lange Straße entlang, an der die
Laternen aufleuchteten, vorbei an den altehrwürdigen viktori-
anischen Doppelhäusern, den Vorkriegsbungalows mit ihren
ordentlichen Gärtchen, den großen alten Villen mit den ho-
hen Bäumen, in denen sich lärmend dunkle Vögel zur Nacht
niederließen.
   Eine ganz bestimmte Villa mit grabesdüsteren Bäumen
mieden die Kinder, wechselten auf die andere Straßensei-
te, schubsten und schoben sich, erzählten unheimliche Ge-
schichten und machten gruslige Geräusche, um sich gegen-
seitig Angst zu machen. Die gewundene Schotterzufahrt ver-
schwand zwischen ausladenden Rhododendronbüschen, aber
die Doppeltür mit den lebhaften Buntglasbildern von irgend-
welchen vergessenen viktorianischen Märtyrern war durch eine
Lücke in den Sträuchern deutlich sichtbar. Annie blieb stehen.
Die anderen Mädchen rannten weiter.
   »Komm schon, Jamie, du bist dran.«
   »Will nich«, ängstlich, er wusste, was jetzt kam, »muss ich
nich«, den Tränen nahe.
   »Angsthase, Angsthase, du traust dich ja gar nicht.«
   »Ich trau mich wohl, ich hab gar keine Angst.« Hatte er aber
doch.
   »Also?«, fragte ihn Annie herausfordernd.

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Jamie wusste Bescheid. Sie hatten dieses Spiel schon oft ge-
spielt. Bisher hatte sich nur Annie getraut. Eigentlich ganz ein-
fach: die Zufahrt entlangrennen, zwischen den Klauen der be-
drohlichen Rhododendronkrabben hindurch über den Kies-
platz, die Treppe zu der großen dunklen Tür rauf, heftig an der
großen Messingglocke ziehen, dann zurückrennen wie von tau-
send Teufeln verfolgt, auf die Straße raus, in die Sicherheit des
trüben Lichts der Laternen, mit Seitenstechen und keuchend,
grinsend, den Laternenpfahl umklammern … geschafft!
   Jean kam zurück; die anderen Mädchen waren schon weiter-
gegangen, weil es spät war.
   »Wo ist Jamie?«
   Entferntes Klingeln der Glocke, aber diesmal, zum allerers-
ten Mal, ging die Tür auf. Annie und Jean spähten mit weit
aufgerissenen Augen zwischen den Rhododendren hindurch
und kicherten ängstlich. Die anderen Mädchen waren längst
verschwunden, sie fanden Annies Spiele zu unheimlich. Ein
Lichtstrahl von hinten beleuchtete die verzerrte riesige Gestalt
wie ein grausiger Heiligenschein in einem Gruselfilm. Annie
packte ihre Schwester an der Hand, und sie flogen förmlich
die Straße entlang, voller Angst, dass der Nachtkrapp sie ho-
len würde.
   Sie bogen um die Straßenecke und rannten, bis sie nicht
mehr konnten.
   »Ich hab Seitenstechen.« Klein-Jean strauchelte. Ihre Beine
zitterten, und sie keuchte wie ein Collie, nachdem er eine auf-
gescheuchte Schafherde zusammengetrieben hat.
   »Was war das?«, ächzte sie, »was war das da in der Tür?«
   Annie hatte ebenso viel Angst wie ihre Schwester, würde sich
das jedoch niemals anmerken lassen. »Nix.« Nun fürchtete sie,
dass ihre Schwester sie verpetzen würde. »Gar nix.«
   »Doch, doch, ich hab’s gesehn, so ein riesiges schwarzes
Ding.«

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»Ja, ja, eine böse Krähe. Das war’s. Und die kommt und hackt
dir die Augen aus, wenn du’s Mama erzählst.« Annie zeigte mit
dem Finger auf die Augen ihrer Schwester.
   »Ich sag nix, ich versprech’s, ich sag nix«, jammerte Klein-
Jean.
   Und so gehörte die böse Krähe von nun an zu ihren Geheim-
nissen, ihren Abenteuern und ihren Albträumen.
   Mit hochroten Köpfen vom Rennen und der Aufregung gin-
gen die beiden Mädchen nun rasch nach Hause und hielten
sich fest an der Hand, um sich gegen böse Krähen, den Nacht-
krapp, die stockfinstere sternenlose Nacht und die Wut ihres
Vaters zu schützen. Und Jamie, der arme vernachlässigte Jamie,
blieb ein weiteres Mal zurück. Aber Jamie war ein Junge. Dem
würde schon nichts passieren. Schlimme Sachen stießen nur
Mädchen zu, das wusste man ja.

»Wo stecken denn alle?«
   Rob, der wie üblich zur Blattkritik am Freitagmorgen zu spät
kam, grinste Joanne an und schnappte sich ihre Ausgabe der
Zeitung.
   »Hey, hol dir gefälligst ‘ne eigene«, protestierte Joanne.
   »Ich trau mich nicht runter. Im Büro sind sie böse auf mich,
wegen meiner Telefonate mit Aberdeen. Ich hab keinen Fern-
gesprächantrag eingereicht.«
   Die Highland Gazette, die donnerstags erschien und für die
Stadt Inverness, die Grafschaft und entferntere Orte der west-
lichen Highlands zuständig war, hatte eine lange Tradition.
Seit ihrer Gründung 1862 hatte sie sich allerdings wenig verän-
dert. Die Titelseite bot eine öde Kost aus Berichten vom Graf-
schaftsrat, Stadtrat und Kirche, gemischt mit Meldungen von
diversen Gemeindegruppen; für manche waren die aktuellen
Preise vom Viehmarkt das Aufregendste an der Zeitung. An-
dere lasen zuerst die Geburts-, Todes- und Heiratsanzeigen;

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größter Beliebtheit erfreuten sich die Nachrufe. Rob schlug das
großformatige Blatt auf, überflog jede Seite, las seine eigenen
Beiträge und gab die Zeitung dann Joanne zurück.
   »So ein Kuddelmuddel. Du hast sie nicht richtig zusammen-
gefaltet«, beschwerte sich Joanne.
   Das Telefon klingelte.
   »Gazette«, meldete sich Rob. »Ja. Aha. Wann? Gut. Bis nach-
her.«
   Rob stand auf und zog Joanne hoch. Die Zeitung segelte in
Einzelteilen zu Boden.
   »Gnadenfrist. Wir haben noch eine Stunde Zeit«, verkün-
dete er. »McAllister ist mit Don auf Achse, und wir machen
uns jetzt auch aus dem Staub. Ich lass einen Kaffee springen.«
   »Wenn du zahlst, kann ich ja wohl kaum ablehnen. Aber was
macht denn der Chef mit Don McLeod? Die beiden zanken
sich doch sonst immer wie ein altes Ehepaar.«
   Rob, der nicht zugeben wollte, dass er es selbst nicht wusste,
zuckte nur die Achseln und flitzte die Treppe runter.
   »Wer als Erster da ist!«
   Draußen zauste der Wind Robs halblange strohblon-
de Haare, so dass er ein wenig aussah wie ein Löwenzahn.
Für viele Mädchen war Rob der Inbegriff des Traumprinzen
– ein Spitfire-Pilot, ein Filmstar, eine romantische Gestalt
aus einer Illustrierten vielleicht. Rob mit seinen blauen Au-
gen wirkte schon hinreißend, bevor er sein charmantestes Lä-
cheln aufsetzte und seine blendend weißen Zähne sehen ließ.
Woran es auch liegen mochte: Er war jedenfalls ein Frauen-
schwarm.
   Als Joanne ihn eingeholt hatte, hakte sie sich bei ihm unter,
und die beiden marschierten durch den Bogen auf die Brücke.
Beißender Wind brannte in ihren Augen und Ohren. Auf dem
whiskyfarbenen Fluss, der bei Hochwasser immer die dunkle
Farbe eines ausgereiften Single Malts annahm, hüpften weiße

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Schaumkronen, und die Steine der einstigen Furt waren vom
Wasser überspült.
   In dem Café an der Ecke gab es getoastete Sandwiches, Ge-
bäck, selbstgemachtes Eis und das größte Wunder überhaupt:
Cappuccino aus einer Maschine, einer gewaltigen, schim-
mernden Gerätschaft, deren ersticktes Gurgeln und damp-
fendes Zischen an den Luxuszug Flying Scotsman erin-
nerte. Nebenan befand sich der Fritten-Imbiss, der nach Ein-
bruch der Dunkelheit zum Treffpunkt für die Einheimischen
wurde.
   Als Joanne hereinkam, schrie Gino Corelli: »Wie geht, bel-
la? Jammerschade, hast du Chiara grade verpasst. Und Rober-
to, mein Junge, hab deine Vater vor eine Weile gesehen. Setzt
euch. Ich bring Kaffee.«
   Gino, der neben dem Chromungeheuer von Kaffeemaschi-
ne geradezu winzig wirkte, strahlte die beste Freundin seiner
Tochter an. Sein munterer Redeschwall wurde vom Getöse der
dampfenden Maschine übertönt. Gino war immer stolz auf
sein gutes Englisch gewesen, bis Joanne ihm mitgeteilt hatte,
dass er schottisches Englisch spräche. Als sie sich dann darüber
auslassen musste, wo nun genau die Unterschiede lagen, wur-
de es kompliziert.
   »Ah, verstehe.« Er hatte gestrahlt wie eine Fackel in einer
düsteren Nacht in den Highlands. »Wie mit Italienisch und
Sizilianisch. Wie in mein Dorf.« Seither benutzte er betont
viele schottische Wörter und Redewendungen, was allerdings
bei seinem sehr eigenwilligen Umgang damit nicht selten un-
freiwillig komisch geriet.
   Joanne lehnte sich behaglich in der Kunstledernische zurück,
schlürfte genüsslich den köstlichen schaumigen Cappuccino
und betrachtete dabei versonnen die bonbonfarbenen Wand-
bilder von italienischen Sehenswürdigkeiten.
   »Da würd ich gern mal hinfahren.« Sie wies mit dem Kopf

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auf den Vesuv, aus dem grell rosafarbene Lava in das türkis-
blaue Meer floss.
   »Ich auch.« Rob trank einen Schluck Kaffee. »Dürfte aber
inzwischen ziemlich anders aussehen.«
   »Bill war während des Kriegs in Italien. Sein Regiment
hatte es schwer. Sizilien, Neapel, Monte Cassino. Die Lovat
Scouts und alle anderen Highland-Regimenter hatten dort
eine schlimme Zeit. Messina sieht wohl nicht mehr so aus wie
früher.«
   Joannes Mann, ihr tapferer schmucker Soldat, hatte die
Schlachten überstanden, nicht jedoch den Krieg. In allen Städ-
ten und Dörfern gab es nun jene Männer – viele von ihnen
noch beinahe Jungen –, die der Krieg zu Schatten ihrer selbst
gemacht hatte. Die schottischen Regimenter waren in die Fer-
ne geschickt worden und hatten in den Kriegen anderer ge-
kämpft. Auch Mütter, Schwestern, Ehefrauen, Kinder waren
Opfer des Krieges, doch sie zählte man nicht. In hoffnungs-
loser Lage und unter härtesten Umständen, wenn alles verlo-
ren schien, holten die Generäle schon seit Jahrhunderten die
Schotten – die Black Watch, die Lovat Scouts, die Cameron
Highlanders, die Seaforth Highlanders, die Gordon Highlan-
ders, die Highland Light Infantry, dazu Abertausende der wil-
den Burschen aus den Kolonien. Die Schotten sind zäh und
kämpferisch, sagten die Generäle. Und man kann sie verheizen,
dachten sie bei sich.
   Durch seine Stirnfransen beobachtete Rob Joanne dabei, wie
sie den letzten Milchschaum aus ihrer Tasse löffelte. Er war seit
einem Jahr bei der Highland Gazette, Joanne seit sechs Mona-
ten. Man hatte sie eingestellt, weil sie Schreibmaschine schrei-
ben konnte und weil sie McAllister gefiel: Mit ihren langen
Beinen, den nussbraunen schulterlangen Haaren, leuchtend
blaugrünen Augen, zarten Sommersprossen und dem breiten
Lächeln war sie der Inbegriff einer hübschen jungen Schottin.

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Sie schaukelte gerne auf Kinderschaukeln, und zu ihren Lieb-
lingstätigkeiten gehörten Fahrradfahren, Stricken, Lesen, Sin-
gen und Musikhören. Und sie wurde von ihrem Mann miss-
handelt.
   »Ach, könnt ich nur Gedankenlesen«, sagte Rob.
   »Entschuldige. Hab geträumt.«
   »Life is but a dream, ssh boom, ssh boom,
   Life is but a dream, sweetheart.«
   Rob hatte die Gazette als Mikrofon aufgerollt und trällerte
den Song von Dion.
   »Da hast du wohl recht.« Joanne lachte, schüttelte den Kopf
und kehrte in die Realität des Jahres 1956 zurück. »Und du hast
wieder bei den Amis rumgelungert.«
   »Du solltest wirklich mal mitkommen, Joanne. Es würde dir
da gefallen. Die haben diese tolle Band und die ganzen neues-
ten Schallplatten aus den Staaten.«
   »Ich soll in der Kantine vom Stützpunkt Lossiemouth mit
amerikanischen Fliegern tanzen? Na, ich kann mir lebhaft vor-
stellen, was meine Schwiegermutter dazu sagen würde. Von
meinem Mann ganz zu schweigen.«
   Joanne war während des Krieges mit ihren Freundinnen von
der Armee leidenschaftlich gern am Stützpunkt gewesen und
hatte zur Musik von Glen Miller getanzt. Ihren Mann hatte sie
auf der Tanzfläche kennengelernt. Beim bloßen Gedanken da-
ran, beim Stützpunkt oder im Two Red Shoes in Elgin tanzen
zu gehen, schlug ihr Herz höher. Aber für derlei Träume gab es
in der Realität keinen Platz.
   »Also, was ist denn nun mit McAllister los?«, fragte sie Rob.
»Er hat noch nie die Blattkritik ausfallen lassen.«
   »Vielleicht hat es was mit dem kleinen Jungen im Kanal zu
tun.«
   »Nicht auszudenken.« Joanne schauderte. »McAllister ist
böse auf mich, weil ich nichts davon gesagt hab, aber ich bin

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schließlich nur die Schreibkraft. Ein Polizist hat bei allen Leu-
ten in der Straße geklopft, aber ich wollte meine Mädchen
nicht wecken, die haben schon geschlafen. Außerdem wusste
ich ja nicht, ob sie den Jungen gekannt haben, und ich wollte
sie nicht damit belasten, sie sind noch zu jung.«
   »Tja, aber solche Unfälle gibt’s nun mal.« Rob erhob sich, um
zu bezahlen, aber Gino wollte nichts davon hören und wedelte
wild mit den Händen.
   »Raus mit euch, raus.« Er grinste, als Rob protestierte. »Und
hab ich noch was für euch. Vögelchen hat mir gezwitschert,
im Hafen sei Seemann von einem baltischen Holzfrachter ge-
sprungen. Wollte bestimmt nur Mädchen zum Kuscheln, aber
nun ist verschwunden, der Mann. Vielleicht gute Geschichte
für euch, si?«

Schon auf der Treppe hörten sie den erbosten Wortwechsel.
Rob, der einen guten Streit immer zu schätzen wusste, nahm
je zwei Stufen auf einmal, Joanne folgte ihm auf dem Fuße.
Der quadratische Redaktionsraum mit der hohen Decke, dem
großen Reportertisch in der Mitte, auf dem die an Bomben er-
innernden wuchtigen Schreibmaschinen hockten, war kein ge-
eigneter Ort zum Streiten. Man konnte dort nicht einmal ver-
nünftig gestikulieren – auf dem engen Raum zwischen Wand
und Tisch war man seinem Gegner zu nahe; hatte man aber
den Tisch zwischen sich, war man zu weit entfernt, um dem
anderen drohend vor dem Gesicht herumzufuchteln. Den bei-
den Männern gelang das Streiten dennoch mühelos. Als Rob
und Joanne hereinkamen, hielten sie mit ihrer lautstarken De-
batte gerade so lange inne, dass McAllister »Tür zu!« brüllen
konnte, bevor er seine Brandrede fortsetzte und dabei nach-
drücklich auf den Tisch schlug. Joanne schlängelte sich an
Don vorbei und wünschte, sie könnte am Lautstärkeknopf
drehen.

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

                                A D Scott
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                                Roman

                                DEUTSCHE ERSTAUSGABE

                                Taschenbuch, Broschur, 448 Seiten, 11,8 x 18,7 cm
                                ISBN: 978-3-442-47247-5

                                Goldmann

                                Erscheinungstermin: November 2010

Ein totes Kind, ein düsteres Geheimnis, eine Stadt zwischen Aberglaube und Heuchelei

Schottland in den 1950er Jahren: In den Highlands wird die Leiche des kleinen Jamie in einer
Kanalschleuse gefunden. Ein Unfall? Die beiden Mitschülerinnen, die Jamie zuletzt gesehen
haben, erzählen seltsame Geschichten über eine dunkel gekleidete Gestalt – und über den
Priester der kleinen Stadt. Doch wer schenkt schon zwei kleinen Mädchen Glauben, wenn
das Wort des katholischen Geistlichen gegen sie steht? Joanne Ross, Reporterin bei der
örtlichen Highland Gazette, will die Geschichte nicht auf sich beruhen lassen – und sticht in ein
Wespennest …
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