Durch die Archäologie der Moderne zur modernen Archäologie

Die Seite wird erstellt Paul-Egon Schumann
 
WEITER LESEN
Durch die Archäologie der Moderne zur modernen Archäologie

                                                                                                                          Sophie Hüglin

Zusammenfassung – In den letzten Jahrzehnten werden mehr und mehr Relikte aus der Zeit zwischen 1500 bis 1950 dokumentiert. Es ist
sehr wichtig, dass sich die Archäologie nun auch dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte zuwendet, dem Holocaust. Zugleich
wurde jedoch versäumt, diese Epochen im deutschsprachigen Raum intellektuell und institutionell zu integrieren. Es wird nicht ausreichen,
die Ur- und Frühgeschichte und die Mittelalterarchäologie durch Neuzeit und Moderne rein additiv bis in die Gegenwart zu verlängern.
Hergebrachte chronologische, geographische und weltanschauliche Kategorien tragen zur Zersplitterung und Einengung der in der Ar-
chäologie Tätigen bei. Ein solches Wissenschaftsverständnis sperrt zudem grosse Teile der Bevölkerung von Teilhabe und Mitwirkung an
Forschung aus. Es sind die thematischen Klammern der Sonderforschungsbereiche und neue Forschungsfelder wie Landschaftsarchäo-
logie, Kulturmanagement, „Citizen Science“ und „Public Archaeology“, auf denen die Archäologie ihr Potenzial als Transdisziplin zwischen
Natur- und Humanwissenschaften und als Vermittlerin in heterogenen Gesellschaften beweisen kann. Zuletzt haben anglo-amerikanische
Archäologen und Anthropologen westliche Raum-, Zeit- und Wertekonzepte hinterfragt und damit auch fundamentale Strukturen unserer
Gesellschaften. Auf dem Weg zu einer modernen Archäologie müssen wir nicht nur patriarchal-hierarchische und kolonial-eurozentris-
tische Haltungen sowie einseitig weltanschauliche Perspektiven überwinden, sondern auch verständlicher kommunizieren. Ziel ist die
Vernetzung aller, um im Raum-Zeit-Kontinuum alle und alles besser zu verstehen.

Schlüsselwörter – Archäologie; Neuzeitarchäologie; Historische Archäologie; Archäologie der Gegenwart; Eurozentrismus; Epistemolo-
gie; Materialität; Fortschrittsparadigma; Raumzeit; DGUF Tagung 2020

Title – Through the Archaeology of Modernity to a modern Archaeology

Abstract – In recent decades, more and more relics from the period between 1500 and 1900 have been documented, and it is very
important that Archaeology now turns also to the darkest chapter of German history, the Holocaust. At the same time, in the German-
speaking countries these epochs have not been integrated intellectually and institutionally. It won’t suffice to extend Pre- and Protohistory
and Medieval Archaeology into the present simply by adding modernity. Traditional chronological, geographical, and ideological categories
contribute to the fragmentation and restriction of all active in archaeology. Such an understanding of the sciences is excluding a large part
of the population from participation in and contribution to research. Thematic brackets of special and new research fields like Landscape
Archaeology, Heritage Management, Citizen Science, and Public Archaeology allow archaeology to prove its potential as a trans-discipline
between the natural sciences and the humanities as well as a mediator in heterogenous societies. Recently, Anglo-American archaeolo-
gists and anthropologists have challenged Western concepts of space, time, and values – and through this also fundamental structures of
our societies. On our way to modern archaeology, we must not only overcome patriarchal-hierarchical and colonial-Eurocentric attitudes
as well as unilateral ideological perspectives but also communicate more clearly. The aim is to create a network of all in a continuous
spacetime to better understand everybody and everything.

Key words – archaeology; historical archaeology; contemporary archaeology; Eurocentrism; epistemology; new materialism; progress
paradigm; spacetime; DGUF conference 2020

Einleitung                                                               einfach noch die Wörtchen Neuzeit und Moderne
                                                                         anzuhängen, ohne grundsätzlich und geografisch
Wenn wir von Archäologie der Moderne oder                                global über die Rolle der Archäologie(-n) im 21.
von Neuzeitarchäologie sprechen, denken wir                              Jahrhundert nachzudenken – und hier sind die
oft zunächst nur an eine chronologische Ver-                             Provinzialrömische, die Klassische, die Vorder­
längerung der Mittelalterarchäologie in die Ge-                          asiatische, die Präkolumbianische Archäologie
genwart. Wir denken auch an Relikte dunkler                              und weitere zeitliche und räumliche Subdiszipli-
Kapitel der deutschen Geschichte, über die viele                         nen der Archäologie ausdrücklich mitgemeint. Es
lieber geschwiegen und das Gras haben wach-                              stellt sich die Frage, was Archäologie eigentlich
sen lassen. Es hat sich viel geändert: In den letz-                      ist, wenn man sie ihrer zeitlich differenzierenden,
ten Jahrzehnten werden mehr und mehr Relikte                             geografisch lokalisierenden und weltanschaulich
aus der Zeit zwischen 1500 bis 1950 ausgegraben                          orientierenden Präzisierungen beraubt. Als Aus-
und wissenschaftlich bearbeitet. Was jedoch –                            weg deutet sich die Naturwissenschaftliche Ar-
nicht nur im deutschsprachigen Raum – hinter-                            chäologie an, die zunächst weder zeitliche noch
herhinkt, ist eine angemessene intellektuelle und                        geografische Grenzen zu kennen scheint. Bei ge-
institutionelle Integration dieser Epochen. Die                          nauerer Betrachtung ist sie jedoch keineswegs frei
Frage ist, ob es ausreichen wird, bei den beste-                         von diesen Kategorien und selbst nur eine andere
henden universitären Instituten für Ur- und Früh-                        Art, das Fach in Schubladen zu packen, die hier
geschichte und für Archäologie des Mittelalters                          z. B. mit Geoarchäologie, Bioarchäologie etc. oder

Eingereicht: 6. Nov. 2020                                                               Archäologische Informationen 43, 2020, 77-94
angenommen: 21. Dez. 2020                                                                                                  CC BY 4.0
online publiziert: 25. Jan. 2021                                    77                      DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
                                                                                         DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Sophie Hüglin

mit chemischen und physikalischen Messmetho-                 westlich und kapitalistisch geprägte Vorstel-
den etikettiert sind. Welche Möglichkeiten, ja               lung. Sie sucht ihr Heil in ständigem Wandel
Notwendigkeiten es gibt, diesen Rastern zu ent-              und anhaltendem Wachstum und verabscheut
kommen und ein neues Verständnis des Fachs zu                dabei Wiederholung und Wellenbewegung (Ba-
gewinnen, das dann ganz selbstverständlich auch              umgartner, 1994; Gloy, 2006). Dem widerspricht,
die Archäologie der Moderne miteinschließen                  was in der archäologischen Langzeitbeobachtung
würde, soll im Folgenden erörtert werden.                    der Menschheit offenbar wird: die zahlreichen
    Die Autorin äußert sich hier nicht als Vertre-           Renaissancen und Diskontinuitäten. Die Urba-
terin einer Institution oder Organisation, sondern           nisierungswellen oder die Zusammenbrüche
als Frau vom Fach, die sowohl in den denkmalpfle-            von Zivilisationen beispielsweise ließen sich viel
gerischen, den akademischen wie auch den frei-               leichter mit einem zyklischen Zeitkonzept verste-
schaffenden Bereich verschiedener europäischer               hen. Die Zeitstrahlaufteilung der Vergangenheit
und außereuropäischer Länder hinreichend Ein-                hat auch keineswegs dazu geführt, dass wir uns
blicke gewonnen hat, um spezifische Perspektiven             der Zeittiefe angemessen bewusst werden. Immer
und Probleme zu kennen. Sie spricht hier durch-              noch fokussieren wir auf ein paar wenige Jahr-
aus als eine Vertreterin der Mittelalter- und Neu-           hunderte, die wir wieder und wieder und dabei
zeitarchäologie, denn darüber forscht sie bereits            scheinbar noch genauer ausleuchten, wobei rie-
seit 25 Jahren; man könnte sie mit Fug und Recht             sige Zeiträume – etwa der vor 10 000 v. Chr. oder
aber auch als Eisenzeitlerin bezeichnen, denn die-           der nach 1500 – in archäologischer Forschung und
se untersucht und lehrt sie ebenfalls mit Leiden-            Lehre sowie in der öffentlichen Wahrnehmung
schaft. Ihre Visionen einer theoriegeleiteten Neu-           im Verhältnis zu ihrer objektiven Dauer extrem
zeitarchäologie bzw. einer wirklich ganzheitlich             unterrepräsentiert sind.
modernen Archäologie sind sicher ein Ergebnis
ihres Forschungsaufenthaltes in Großbritannien,              Mit Monumenten und Dokumenten die Zukunft fest
aber auch Folge der engen Zusammenarbeit mit                 im Blick
Kollegen aus ganz Europa im Vorstand der Euro-               Wir stellen uns Archäologie vor als eine Wissen-
pean Association of Archaeologists (EAA). Diese              schaft, die – in der linearen Zeitvorstellung – nur in
Organisation lebt ein im Grundsatz diachrones                den Rückspiegel blickt. Die, wenn sie diachron be-
und transnationales Archäologieverständnis, das              trieben wird, verschiedene Prozesse in der Vergan-
ansteckend und aufregend ist und Mut macht,                  genheit vergleicht, und, wenn sie bis in die Gegen-
selbst weiter zu denken.                                     wart verlängert wird, Forschungsgeschichte heißt.
                                                             Dabei übersehen wir den Januskopf – zumindest
                                                             der intentionellen – Überlieferung, der, wenn er
Limitierende Kategorien                                      in die Vergangenheit schaut oder über die Gegen-
                                                             wart berichtet, zukünftige Generationen und ihr
Dem linear-additiven Zeitstrahl und dem                      Bild von der Vergangenheit fest im Blick hat.
Fortschrittsparadigma verhaftet                                  Wir müssen uns bewusst machen, dass wir
Wenn wir die Vergangenheit unschuldig mit                    und alle Menschen, seit sie ein Zeitbewusstsein
Präpositionen wie Ur- und Früh-, Prä- und Pro-               haben, vor allem die Monumente und Doku-
to-, Mittelalter- und Neuzeit- zerstückeln, um sie           mente rezipieren und selbst wieder produzieren,
gleich wieder additiv zusammenzufügen, ist uns               die für künftige Generationen oder gleich für die
zunächst gar nicht bewusst, dass wir damit ein li-           Ewigkeit gedacht und gemacht waren, sind und
neares Zeitkonzept bedienen. Eigentlich wollten              sein werden. Besonders deutlich wird dies im
wir doch nur sagen, dass das eine vorher und das             Kontext von Bestattungen und Sakralbauten. Die-
andere nachher kommt und nebenbei noch un-                   sem Aspekt der intentionellen Verstetigung wird
seren Kompetenzzeitraum benennen. Das linea­                 aus verschiedenen Blickwinkeln nachgegangen:
re Zeitkonzept ist aber keineswegs ideologisch               Die Einen betrachten Zusammenhänge zwischen
neutral und entspricht mit hoher Wahrscheinlich-             materiellen und gesellschaftlichen Verfestigungs-
keit auch nicht der Zeitwahrnehmung der Men-                 und Auflösungsprozessen (Hüglin, Gramsch &
schen, die wir betrachten. Im Paket mit dieser               Seppänen, im Druck), andere beschäftigen sich mit
zeitlich durchgetakteten Vergangenheit kommt                 kulturellem Gedächtnis im alten Ägypten und
– bewusst oder unbewusst – das Fortschrittspa-               der Erinnerung an die deutsche Geschichte (Ass-
radigma durch, also die Vorstellung, dass es mit             mann, 2003; 2007), und Dritte verklammern mit
der Menschheit immer vorwärts und aufwärts                   „Heritage Futures“ das Kulturerbe mit seinen in-
geht. Dies ist gleichzeitig eine zutiefst christlich,        härent-intendierten Zukunftsperspektiven (Har-

DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne               78
Durch die Archäologie der Moderne zur modernen Archäologie

rison et al.,2020). In Hinblick auf die Zeit sollten        in von mächtigen Sedimenten überdeckten Talau-
Archäologen also weder die Moderne übersprin-               en und in schwer- und unzugänglichen Höhlen
gen noch die gegenwärtigen und die zukünftigen              und Schächten.
Aspekte außer Acht lassen, sondern wie Janus al-                Was in der bisherigen räumlichen Gliederung
les im Blick behalten.                                      übergangen wurde, sind zudem die riesigen von
                                                            Wasser bedeckten Gebiete. Die Unterwasserar-
Räumlich verortet in euro- und geozentrischer               chäologie tastet sich nun langsam in die Seen so-
Perspektive                                                 wie in die Küsten- und Flachgewässer der Meere
Geographische Kategorien definieren die Subdis-             vor. Auch die paläolithische und mesolithische
ziplinen beispielsweise der Vorderasiatischen oder          Archäologie ist nicht denkbar ohne ein Bewusst-
der Altamerikanischen Archäologie. Spätes­tens bei          sein früherer Meeresspiegelstände und Küsten-
der Präkolumbianischen Archäologie – die Chris­             verläufe. Die Tiefsee, aber auch was unter flie-
toph Kolumbus im Namen führt – wird aber be-                ßendem Gewässer liegt, bleibt uns derzeit noch
wusst, dass diese Benennungen aus europäischer              weitgehend verborgen.
Eroberer-Perspektive erfolgt sind (Lowenthal,                   Im Wort geografisch steckt ein weiteres Vor-
1998; 2015). In Europa selbst sind die Archäolo-            urteil bzw. eine Wahrnehmungseinschränkung
gien nicht nur geografisch und sprachlich zerstü-           der Archäologie: Wir haben ein geozentrisches
ckelt, sondern auch krass unterschiedlich reguliert         Weltbild, das alles um uns herum, alles Außer-
und finanziert, sodass das Ergebnis weniger der             irdische, ja sogar den irdischen Himmel ausblen-
Erkenntnis ferner Vergangenheiten dient als der             det. Die Archäologie der Moderne erweitert nun
Selbstdarstellung und dem Identitätsnarrativ heu-           diese Perspektive – einigermaßen bescheiden in
tiger Nationen und deren föderaler Teilstaaten.             Hinblick auf die Weiten des Alls – um den Erd-
    Global gesehen bleiben bei den üblichen geo­            trabanten Mond. Große Defizite gibt es aber wei-
grafischen Einteilungen der Archäologien ganze              terhin im Verständnis dessen, welche Rolle die
Kontinente wie Australien oder die Antarktis                Beobachtung der Himmelskörper und des Ster-
außen vor, und ganz Afrika ist scheinbar mit der            nenhimmels in der Vergangenheit spielte und
Ägyptologie ausreichend abgedeckt. Gleichzeitig             wie sich das in Bauwerken und in Gegenständen
unterliegen auch die Forschung und Lehre in Aus-            ausdrückte. Dieses Forschungsgebiet – Archäo-
tralien und den USA demselben Eurozentrismus,               astronomie oder „Cultural Astronomy“ genannt
wenn ihre Dozenten, die in der Regel von euro-              (Wolfschmidt, 2017) – fasziniert nicht nur Laien;
päischen Auswanderern abstammen, in und über                es wird aber in der institutionalisierten Archäo-
Europa forschen oder Archäologie vornehmlich                logie noch weitgehend ausgeblendet, weil der bo-
am Beispiel Europas unterrichten. Man darf nicht            denständige Archäologe schlicht zu wenig über
vergessen, dass es in den USA vermutlich mehr               Astronomie weiß, um Erkenntnis von Esoterik
Archäologen gibt, die über Europa forschen, als in          unterscheiden zu können.
Europa selbst. Das wird z. B. deutlich, wenn man
sich die Teilnehmerzahlen der Jahrestagungen                Weltanschaulich wertende Wahrnehmungen
der Society for American Archaeology (SAA), des             Fachrichtungen wie die Biblische, die Christliche,
Archaeological Institutes for America (AIA) oder            die Klassische und die Provinzialrömische Ar­
des International Congress on Medieval Studies              chäo­logie bedienen religiöse, weltanschauliche
(ICMA) ansieht: Sie liegen um den Faktor zwei               oder machtpolitische Kategorien der fachlichen
bis drei höher als die bei vergleichbaren europäi­          Unterteilung. Diese zeichnen sich dadurch aus,
schen Veranstaltungen.1                                     dass sie sich auf ein Zentrum beziehen – wie Jeru-
    Obwohl die Archäologie zumeist mit Ausgra-              salem, Athen oder Rom – und dadurch definieren,
bungen in Verbindung gebracht wird, beschränkt              was Provinz bzw. Peripherie ist. Der Klassischen
sie sich im öffentlichen Bewusstsein doch meist             Archäologie liegt dabei sowohl die griechisch-
auf die sichtbaren Monumente. Dazu gehört we-               römische Antike als auch der Humanismus der
der ein Bewusstsein in die Fläche, d. h. eine Vor-          Neuzeit als weltanschauliches Ideal zugrunde.
stellung von historischen Landschaften, noch in             Der wertende Aspekt dieser Fachrichtungen liegt
die Tiefe, d. h. von den einst darüber liegenden            nicht so sehr darin, dass sie andere Weltsichten
und von den weiterhin darunter verborgenen                  aktiv abwerten würden, sondern darin, dass an-
Schichten. Die räumliche Gliederung beschränkt              dere Perspektiven zahlenmäßig stark untervertre-
sich damit ungebührend auf einzelne Punkte an               ten sind oder akademisch und gesellschaftlich gar
der Erdoberfläche und vergisst dabei nicht nur              nicht als Felder der Archäologie wahrgenommen
die Räume dazwischen, sondern auch die Spuren               werden. Dies ist im Fall der religiösen Kategorien

                                                       79                 DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Sophie Hüglin

erstaunlich bei der hohen und weiter stark zuneh-           Buch als Wort Gottes – Absolutsheitscharakter
menden Zahl von Muslimen, Buddhisten, Hindus,               zukommt. Archäologen, die sich wie Schliemann
Synkretisten und Atheisten in den mitteleuropäi­            auf die Jagd nach schriftlich überlieferten Orten
schen Gesellschaften. Das zentrale Argument, das            wie „Troja“ begeben, belegen die gewaltige An-
immer für die Wichtigkeit dieser Fachrichtungen             ziehungskraft solch überlieferter Namen, die je
angeführt wird, ist, dass sie uns die Ursprünge             älter je stärker zu werden scheint und nur zu oft
unserer eigenen Kultur verstehen lassen, näm-               auch in die Irre führt.3
lich die christliche Ethik, die Demokratie und die
Rechtsordnung2. So wichtig diese Werte auch sein            Die patriarchale Humanperspektive
mögen, so sind sie doch eindeutig westlich ge-              Eine andere Einschränkung, die sich die Archäo-
prägt, und so, wie sie angelegt sind, allein aus der        logie selbst auferlegt hat, ist die Humanperspek-
südost-europäischen und nahöstlichen Religions-             tive: Alles wird nur in Bezug auf den Menschen
und Geistesgeschichte heraus abgeleitet.                    untersucht. Bis vor wenigen Jahrzehnten war es
    Aus heutiger gesellschaftlicher Perspektive fin-        dabei normal, dass Erforschte und Erforschende
det dabei eine mehrfache Marginalisierung statt:            überwiegend männlich, weiß und Angehörige
Der deutschsprachige Raum und seine altein-                 der Elite waren. Man(n) betrieb eine androzen­
gesessene Bevölkerung werden aus antiker und                trische Nabelschau und rechtfertigte dabei die
vorgeschichtlicher Perspektive zur Provinz, zum             eigene Rolle im Rückgriff auf Figuren und Funde
Kulturempfänger und zum Reich der Barbaren                  der Vergangenheit.
degradiert. Die Neubürger aus anderen Kultur-                   Auch wenn Archäologie heute dem Alltag der
räumen können – soweit sie aus diesen alten Zen-            Vergangenheit wesentlich nähergekommen sein
tren stammen – nur bedingt vom vergangenen                  dürfte und von weit mehr Menschen betrieben
Ruhm profitieren, und wer noch andere kulturelle            wird als noch von 50 Jahren, so bleibt sie doch
Wurzeln hat, gehört schon gar nicht dazu.                   in Hinblick auf die Masse der Menschheit eine
    Dass die Archäologie der Neuzeit und Moder-             Beschäftigung von Privilegierten für Privilegier-
ne nicht selbstverständlich zum Spektrum der Ar-            te, die über Privilegierte forschen und schreiben.
chäologie gehört, ist die Folge von begriffsimma-           Diese Helden der Archäologie sind wie die der
nenten und populären Vorurteilen: Zum einen ist             Geschichte ganz überwiegend immer noch weiße
ihr Gegenstand nicht alt genug, um im Rennen um             alte reiche mächtige gebildete Männer in Europa
den Ursprung, den Anfang und das Erste mithal-              und Nordamerika: Alexander der Große, Karl der
ten zu können. Der Name der Archäologie drückt              Große, und wie sie alle heißen. Die Eigendynamik
in seinem griechischen Präfix – άρχαїος / archaios          dieser Männerwelle ist inzwischen erkannt, aber
für „alt“ und λóγος / logos für „Lehre“ – schon die         ähnlich wie die Vorherrschaft der Bleichgesichter
Prämisse der großen zeitlichen Distanz des For-             nur schwer zu brechen, weil eben auch sehr viel
schungsgegenstandes aus. Zum anderen ist sie                Macht und Geld dort gebunden ist und darin be-
nicht nur zeitlich, sondern oft auch räumlich zu            wegt wird. Immer wieder überrascht auch, dass
nah. Dem populären Empfinden nach ist „richtige“            fachlich herausragende Frauen unkritisch an
Archäologie anderswo, also in Ägypten, in Italien,          männlicher Selbstbespiegelung mitwirken.4 Das
in Griechenland oder gleich bei den Dinosauriern.           Geschlechterverhältnis in der universitären Ar-
„Terra X vor der Haustür“ klingt nicht aufregend            chäologie ist am Kippen: Die Mehrheit der Stu-
genug. Gleichzeitig kann die Archäologie der Mo-            dierenden ist inzwischen weiblich (Hüglin, 2019),
derne emotional zu nah kommen, wenn sie mit                 aber wir sind weit davon entfernt, dass Archäo-
verdrängter Vergangenheit konfrontiert.                     logen ein Spiegel der heutigen Gesellschaft sind.
    Nicht zu vernachlässigen ist auch das Argu-                 Tiere, Pflanzen und Dinge spielen bisher in
ment, Archäologie könne vor allem die schrift-              der Archäologie nur in Bezug auf den Menschen
losen Zeiten erhellen. Indirekt heißt das näm-              eine Rolle; ihnen wird keine eigene Geschichte
lich, dass sie in historischer Zeit zu oft nicht als        und keine Kultur zugestanden. Nur als Haus-
eigenständige Quelle, sondern nur als Illustration          und Nutztiere sowie als Jagdbeute kommen
überlieferter Ereignisse genutzt wird. Das Primat           Tiere vor. Erweist sich ein Fundort als frei von
der Schriftquellen, der Ereignisgeschichte, gilt            menschlichen Spuren, fühlen sich die meisten
aber selbst in der Geschichtswissenschaft schon             von uns nicht mehr zuständig.5 Diese abstufende
lange nicht mehr (Regazzoni, 2019). Die Fixierung           Trennung zwischen Mensch, Tier, Pflanze und
auf die Schrift hängt unter anderem mit dem                 Dingen ergibt sich auch aus der Schöpfungsge-
Wertekanon der monotheistischen Schriftreligio­             schichte der Bibel: Sie beschreibt den Menschen
nen zusammen, in denen einem Text – einem                   als Krone der Schöpfung und Tiere und Pflanzen

DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne              80
Durch die Archäologie der Moderne zur modernen Archäologie

als nachgeordnete Kreaturen. Diese hierarchische            nau denselben asymmetrischen, perspektivisch
Weltsicht postuliert einen Gegensatz zwischen               voreingenommenen Rastern, wie sie durch die
Natur und Kultur, den es beim zweiten Hinse-                anderen Archäologierichtungen vorgegeben sind.
hen gar nicht gibt. Gerade die Archäologie, die             Das liegt am auf wenige Epochen fokussierten öf-
ja materielle Spuren und nicht Texte liest, um die          fentlichen Interesse, an institutionell kanalisierten
Vergangenheit zu ergründen, hat den Schlüssel               Geldströmen und an hierarchischen Machtstruk-
dafür, stumme Geschichtszeugnisse zum Spre-                 turen in Politik und Forschung. So wird auch in
chen zu bringen. Die Architektur des Wespen-                der naturwissenschaftlichen Archäologie nicht
nestes, die Dynastien der Ameisenköniginnen                 wirklich diachron, global oder unvoreingenom-
oder Bakterienkulturen sind selbstverständliche             men geforscht.
Teile der „Animal History“, einer Vergangenheit
aus posthumanistischem Blickwinkel (Boyd, 2017;             Erkenntnisgrenzen einer materiellen
Burmeister, 2012; Nance, 2015; Domanska, 2018).             Geschichtswissenschaft
Über Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen for-               Wenn es um eine objektive Betrachtung der Ver-
schen, das machen doch die Biologen, wird jetzt             gangenheit geht bzw. um das, was Geschichtswis-
mancher denken. Wir müssen aber ihre Ergeb-                 senschaft überhaupt herausfinden kann, ist auf
nisse auch zur Kenntnis nehmen – etwa, dass wir             den Materialitätsbias zu verweisen: Ein Mensch,
gewichtsmäßig mehr Mikrobe sind als Mensch                  eine Tat, ein Sachverhalt, der keine materielle
(Moelling, 2017). Wir müssen auch gemeinsam                 Spur hinterlassen hat, ist für die historischen Wis-
konsequenter nach den (prä-)historischen Dimen-             senschaften zunächst einmal unsichtbar (Buchli,
sionen suchen – etwa nach Wechselmechanismen                2016; Hahn, 2017). Daran, dass der ganz über-
zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Mikroben               wiegende Teil der Vergangenheit keine Texte,
und Landschaft in der longue durée.                         Gegenstände, Schichten oder andere messbaren
                                                            Spuren hinterlassen hat, besteht andererseits kein
Maschinen, Methoden, Mikroskope und Fundmaßen               Zweifel. Die Herausforderung besteht nun darin,
Die Naturwissenschaften bedrängen die Geistes-              diese Lücken der Überlieferung mitzudenken.6
und Sozialwissenschaften und verändern auch die                 In der Geschichtswissenschaft ist etwa die
Archäologie. Längst gibt es Geo- und Bioarchäolo-           „Oral History“ ein Ansatz, neue Quellengattungen
gie, und aktuell wird kaum ein Forschungsprojekt            zu kreieren (Abrams, 2016). In der Archäologie
beantragt, bei dem nicht der größte Teil des Bud-           wird vor allem den naturwissenschaftlichen Me-
gets den Naturwissenschaften gewidmet ist. Fast             thoden, wie etwa der Radiocarbonmethode in Be-
schon selbstverständlich geworden sind im Klei-             zug auf die Datierung von organischem Material
nen die Radiokarbondatierung, die Isotopenun-               oder der Fernerkundung in Bezug auf die Pro-
tersuchung oder die Gefäßinhaltsanalyse und im              spektion ausgedehnter Fundstellen, die Fähigkeit
Großen der Bodenradar, der Lidar-Scan oder die              zugeschrieben, Unsichtbares sichtbar machen zu
Fundstellenanalyse mittels GIS. So wichtig die An-          können (Gibson, 2015). Hier handelt es sich aber
wendung dieser neuen Methoden in der Archäo­                strenggenommen um gegenwärtige Geräusche,
logie ist, so wenig sind sie archäologie-spezifisch,        Spuren, Eigenschaften etc., die materialisiert, ana-
noch sind ihre Ergebnisse „wahrer“ als die her-             lysiert und systematisiert werden und nicht um
kömmlicher Materialforschung ohne Mikroskop                 immaterielle Vergangenheit.
und Maschinen. Computergestützte Methoden er-                   Die Archäologie der Gegenwart ist jener Zeit-
lauben es uns, mit Fundmaßen und neuen Parame-              abschnitt, in dem wir dieses Immaterielle am bes­
tern zu arbeiten, aber auch hier muss gezielt aus-          ten beobachten können – d. h. wie Geschehenes,
gewählt, oft mit statistisch irrelevanten Mengen            Gesprochenes und Erlebtes nicht nur von vorne-
gearbeitet und das Ergebnis interpretiert werden.           herein subjektiv ist, sondern sich, wenn es nicht
    Die Archäologie der Moderne lehrt uns,                  gleich verklingt, mit zunehmender Entfernung
dass nicht nur Kultur und Natur, sondern auch               verändert und überlagert wird. Das Denken – das
die künstliche Maschinenwelt ein Gegenstand                 wir als Hirnstrom messen, aber dabei nicht lesen
archäo­logischer Betrachtung sein sollte. Wobei im          können – ist dagegen die Ursache, dass wir über-
Zeitalter künstlicher Intelligenz bald nicht mehr           haupt ein Zeitbewusstsein haben und nach Ver-
klar sein wird, wer hier eigentlich wen betrachtet.         gangenheit (und Zukunft) fragen. Den ebenso we-
    Der Vorteil der naturwissenschaftlichen Ar-             nig greifbaren Ideen bzw. dem Zeitgeist gestehen
chäologien sollte sein, dass sie weder zeitlich,            wir paradoxerweise eine große Wirkung auf das
geo­grafisch noch weltanschaulich limitiert sind.           tatsächliche gesellschaftliche Geschehen zu. In der
Bei genauerem Hinsehen arbeiten sie aber in ge-             Archäologie der Neuzeit, der Moderne und der

                                                       81                  DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Sophie Hüglin

Gegenwart können wir die Wirkung von Ideen stu-              auch ein Zeichen für den Wunsch, globaler zu
dieren, indem wir Schrift-, Bild-, Sach- und andere          arbeiten. Es ist kein Wunder, dass die Archäolo-
Quellen kontrastieren. Mithilfe von Soziologie und           gie der Moderne zuerst in Ländern gedacht und
Psychologie können wir zusätzlich Einstellungen              praktiziert wurde, die sich als Erben von Welt-
auf gesellschaftlicher und persönlicher Ebene mit            reichen oder als (ehemalige) Weltmächte verste-
gelebter Realität vergleichen. Dabei wird auch               hen, und weniger in Deutschland, das trotz sei-
deutlich, wie groß der Einfluss von Zukunftser-              ner wiedererlangten Größe und Wirtschaftskraft
wartung oder gesellschaftlicher Marginalisierung             im Angesicht seiner jüngeren Vergangenheit mit
darauf ist, ob wir uns für Spuren der Vergangen-             der gebotenen Bescheidenheit auftritt. Die globa-
heit interessieren bzw. selbst Spuren hinterlassen           le Archäologie der Neuzeit bewegt sich in christ-
(Hansson, Nilsson & Svensson, 2020).                         lichen Religionskriegen und kolonialen Netzwer-
   Archäologie ist dabei gleichzeitig ein Auf-               ken und muss sich damit auseinandersetzen. Die
begehren gegen die Schriftverhaftetheit der Ge-              Archäologie der Moderne kommt nicht darum
schichtswissenschaft und ein Statement für den               herum, sich mit den Weltkriegen zu beschäftigen,
Materialismus der harten Fakten. Sie selbst muss             und ringt darum, vor allem in Deutschland, nicht
aber erkennen, dass das absichtliche – etwa in               auf diesen Aspekt reduziert zu werden.
Form von Monumenten und Grablegen – oder das                     Die Archäologie der Moderne ist nur ein Sym-
unabsichtliche – etwa in Form von Abfällen und               ptom für eine zunehmende Unzufriedenheit mit
Nutzungshorizonten – Hinterlassen von Spuren                 dem bisherigen Kastensystem der Wissenschafts-
ein seltenes Privileg ist. Ein Privileg deshalb, weil        disziplinen. An allen Begrenzungen quillt es über
sich die Spur erst einmal erhalten, dann sachge-             und platzt sprichwörtlich aus den Nähten. Es gibt
mäß freigelegt und auch noch korrekt gelesen                 dazu verschiedene, mehr oder weniger revolutio­
werden muss. Im Fall von absichtlichen Spuren,               näre Lösungsansätze, die wir im Folgenden be-
besonders, wenn diese in Stein ausgeführt wur-               trachten wollen.
den, ist die Chance ungleich höher, dass sie lange
Zeiträume überdauern und Teil der erinnerten
und greifbaren Geschichte bleiben, während sich              Leinen los – Lösungsansätze
gleichzeitig neue Geschichten um sie ranken.
                                                             Transdisziplinäre Themenfelder
Gefangen in Präpositionen, Provinzialität und                Es sind vor allem die Sonderforschungsbereiche
einseitigen Perspektiven                                     der Universitäten, interdisziplinäre Projekte
Welche disziplinarische Schublade wir auch be-               und manche Museen, in denen Archäologen ge-
trachtet haben, es wird klar, dass Abgrenzungen              meinsam mit anderen Fachleuten an den großen
die Forschung oft behindern und es besonders                 Fragen der Gegenwart arbeiten. Solche großen
kreativen Denkern und Allroundern schwer                     Fragen sind Themen wie Umwelt und Klima im
machen. Der Nutzen der Betrachtung der sy-                   Anthropozän; Identität, Alterität und Gender;
stematischen Unterteilungen ist es, nicht nur zu             Konflikt, Krise und Migration oder Kulturerbe,
erkennen, nach welchen Kriterien das Fach Ar-                Monument und Erinnerung. Dazu gibt es spezi-
chäologie in der Vergangenheit strukturiert war,             fisch deutsche Themenfelder: Mauer, Lager und
sondern auch zu sehen, welche Zeiten, Räume                  Mahnmal; oder Themen, die im anglo-amerika-
und Perspektiven in diesem System eben gerade                nischen Raum stärker verbreitet sind wie z. B. Ko-
nicht abgedeckt werden. Dabei wird klar, dass                lonialismus, Sklaverei und Hautfarbe.
die Archäologien sich disproportional bestimm-                   Die Beschäftigung mit solchen Themenfeldern
ten, oft recht kurzen Zeitabschnitten zuwenden,              zwingt Archäologen, über die vordergründige
dass sie Europa – bzw. Rom, Athen und Jerusa-                und überwältigende Materialität ihrer Quellen hi-
lem – als den Nabel der Welt betrachten, und                 naus zu denken, und sie macht auch die Notwen-
dass sie religiös-weltanschaulich bzw. christlich-           digkeit einer Archäologie der Moderne unmittel-
westlich geprägt sind.                                       bar sichtbar. Interessante Themenfelder zeichnen
   Der Wunsch nach einer Archäologie der Mo-                 sich dadurch aus, dass sie gesellschaftlich rele-
derne ist gleichzeitig ein Zeichen für die Gefan-            vant, wenn nicht politisch brisant sind, und das
genheit der Archäologie in Kategorien wie auch               Regionale in Bezug bringen zum Globalen. Dabei
ein Beleg für den Wunsch, diesen Rahmen – zu-                steht immer die Fragestellung im Zentrum und
nächst einmal nur zeitlich – zu erweitern. Da die            nicht eine Methode oder eine Disziplin.
globale Vernetzung in der Neu- und Jetztzeit aber                Ausstellungsmacher stehen vor dem Dilemma,
offensichtlicher ist als zu anderen Epochen, ist es          dass für die x-te Wiederholung einer Ausstellung

DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne               82
Durch die Archäologie der Moderne zur modernen Archäologie

mit dem Titel „Die Kelten“ oder „Das Gold der ...“          und der Moderne. Hier postuliert die schriftliche
nicht nur leichter Fördermittel zu bekommen sind,           Überlieferung Zahlen, Fakten und Sachverhalte,
sondern dass auch ein Erfolg bei den Besuchern vor-         an denen sich die Geschichte der Dinge messen
hersehbarer ist. Dem bewährten Titel folgt deshalb          und reiben kann oder man sich gegenseitig Lü-
regelmäßig der Spagat, in der Ausstellung und im            ckenhaftig- und Einseitigkeiten aufzeigen kann.
Katalog (z. B. Furger, 1991; Rieckhoff, 2012; Hunter        Wenn Archäologen nur das erforschen, wozu es
et al., 2015; Thiermann, 2017), bei den Besuchern           keine anderen Quellen gibt, so vergeben sie eine
und Lesern die mythische Faszination der Thema-             große Chance, ihre Methoden und Ergebnisse zu
tik zu erhalten, während man die Klischees hinter-          prüfen. (Natur-) Wissenschaftlich arbeiten heißt
fragt, sowie der Versuch, dem Publikum neue Er-             ja, dass die aufgestellten Hypothesen falsifizier-
kenntnisse zur Alltagswelt jenseits der glänzenden          bar sein müssen (Popper, 1935). Beispielhaft tut
Oberfläche der Schatzfunde nahezubringen.                   das z. B. die Archäo-Anthropologie, wenn sie
    Die Archäologie der Moderne schiebt sich vor            neuzeitliche Bestattungen im Spiegel ihrer his­
allem aus der Praxis der archäologischen Denk-              torischen Krankenakten untersucht und dabei
malpflege in die Universitäten und Museen: Mehr             den Skelettbefund mit der historisch überliefer-
und mehr Grabungen und Denkmalschutzaktivi-                 ten medizinischen Diagnose konfrontiert. Noch
täten beschäftigen sich mit Relikten der Neuzeit            weiter gehen Projekte, bei denen diese Skelette
und der Moderne (vgl. Mehler, in diesem Band).              an verschiedene Labore ohne Unterlagen und z.
Vielerorts gibt es schon Privatleute und Spezial-           T. zweimal versandt werden, um zu prüfen, wie
sammlungen, die die Materialität der Neuzeit und            genau und reproduzierbar die Ergebnisse sind.8
der Moderne beforschen, seien es nun Tonpfeifen,                Auch die neuzeitliche Keramikkunde, beson-
Mineralwasserflaschen, Uniformknöpfe oder Sta-              ders die Ofenkachelforschung – vornehmer auch
cheldrahtsorten (vgl. Müller-Kissing, in diesem             Furnologie9 genannt – profitiert von der zuneh-
Band). Es gibt und es braucht noch viel mehr Spe-           menden Fülle von Objekten aus (Grabungs-) Kon-
zialisten, z. B. für Plastiksorten, Betonmischungen         texten, die es erstmals möglich machen, die histo-
und Asphaltvarianten. Die Archäologie entwi-                rische Verbreitung und nicht das heutige Überleben
ckelt sich dabei zur Tatortwissenschaft, deren De-          in Sammlungen geografisch zu analysieren (Hüg-
tektive mit Gerichtsmedizinern und Forensikern              lin, in Vorbereitung). Unterschätzt wird gemein-
zusammenarbeiten, um vergangenes Geschehen                  hin noch die Aussagekraft der – im Vergleich mit
zu rekonstruieren und die möglichen Motive der              Museumsstücken – unansehnlichen Fragmente
Akteure zu eruieren.                                        von Kacheln und Modeln aus Grabungen in Be-
    Das Arbeiten in Themenfeldern bedeutet aber             zug auf die Datierung weitverbreiteter Serien. So
auch, dass sich die Archäologie nicht nur antrei-           gelang es z. B. mit Bodenfunden aus Freiburg im
ben lassen darf von Bauvorhaben und dem seit                Breisgau (Stelzle-Hüglin, 1999, 125–133; Hüglin,
mit der Konvention von Malta installierten Ver-             2020, 68-69), den Herstellungsbeginn der Ober-
ursacherprinzip, was jeweils eng mit den national           rheinische Apostelserie um fast ein Jahrhundert
stark unterschiedlichen finanziellen, wirtschaftli-         vorzudatieren, und damit zu belegen, dass eine
chen und rechtlichen Gegebenheiten zusammen-                druckgrafische Serie aus der Zeit um 1600 (Rosma-
hängt. Vielmehr muss sie selbst aktiv dort hin-             nitz, 2000, 103 Fig. 1) nicht Vorlage, sondern Nach-
gehen und forschen, wo Daten fehlen, die nicht              folger sein dürfte. Datierte Modeln aus der Mitte
zugänglich sind oder nicht erhoben werden (De-              des 17. Jahrhunderts (Rosmanitz, 2000, 105-109 Fig.
moule, 2012; Guermandi & Salas Rossenbach, 2013;            3 u. 7-12) belegen nun eher die Langlebigkeit des
Karl, 2017). Bis zu einem gewissen Grad leisten             Motivs als seinen Ursprung. Auch in anderen Fäl-
dies Forscher, die Satellitenbilder von Weltge-             len konnte gezeigt werden, dass vor dem Dreissig-
genden auswerten, in die sie derzeit nicht reisen           jährigen Krieg die Druckgrafik weder für das Auf-
können. Auf eine andere Weise engagieren sich               kommen noch für die Verbreitung neuer Motive in
hier auch Forscher, die versuchen, nationale und            anderen Kunstgattungen eine große Rolle gespielt
private Daten aus der Archäologie zusammenzu-               hat (Hüglin, 2013, 134-136). Leider haben sich diese
führen und öffentlich zugänglich zu machen.7                Ergebnisse weder in der kunsthistorischen noch in
                                                            der archäo­logischen Forschung genügend herum-
Archäologie ernst nehmen und sich messen                    gesprochen, um das Paradigma der Führerschaft
Archäologie als Erkenntnisinstrument kann dort              der bildenden Künste über die handwerklichen
ernst genommen und dann am besten bewer-                    Produkte zu erschüttern.10
tet werden, wo sie nicht allein agiert und wo es
andere Quellen gibt, also gerade in der Neuzeit

                                                       83                  DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Sophie Hüglin

Befreiung aus territorialen und trägen                       neutralen Ort, wo nun immerhin beide Parteien,
Kulturstrukturen                                             aber lange noch nicht die interessierte Öffent-
Die westlich-europäische Perspektive in der                  lichkeit Zugang haben. Ebenfalls halböffentlich
deutschsprachigen Archäologie kann man z. B.                 wurde der Streit um die Grabungsunterlagen des
daran erkennen, dass die Ur- und Frühgeschich-               Projekts „Oedenburg“ bei Biesheim/Kunheim im
te sowie die Mittelalter- und Neuzeitarchäolo-               Elsass: Bei dem trinationalen Forschungsprojekt
gie sich bis vor Kurzem fast ausschließlich mit              weigerte sich der deutsche Partner, die Doku-
Funden und Befunden deutschsprachiger oder                   mentation an die französische Universität he-
maximal noch angrenzender mitteleuropäischer                 rauszugeben, da diese noch nicht ausgewertet sei.
Länder auseinandergesetzt haben. In vielen Bun-              Dies war problematisch, da französische Kollegen
desländern und Kantonen wurde die universitäre               am selben Ort weitere Grabungen durchführen
Ur- und Frühgeschichte sowie die Mittelalter- und            wollten (Hüglin, 2016).
Neuzeitarchäologie als erweiterter Arm der föde-                 Ich erinnere mich noch gut an die Entrüstung
ral gegliederten archäologischen Denkmalpflege               unter Kollegen, als Prof. Barbara Scholkmann
gelebt.11 Die Betrachtung oder Einbeziehung von              (Univ. Tübingen) – die die Mittelalterarchäologie
Funden und Befunden von anderen Staatsgebie-                 in Südwestdeutschland maßgeblich aufgebaut
ten wurde kaum als intellektuell bereichernd oder            hat – die Einladung annahm, in der Hauptstadt
wissenschaftlich notwendig, sondern als Einmi-               des mittelamerikanischen Panama zu forschen
schung in die Geschichte und Archäologie ande-               und damit – wie es der Titel der späteren Publi-
rer angesehen und häufig als Konkurrenzkampf                 kation nahelegt – mit ihren Studenten nicht nur
zwischen Kollegen oder Systemen ausgetragen.                 den Atlantik überquerte, sondern auch fachlich
Somit wurden und werden nicht nur Laien, son-                einen Schritt in Richtung einer globalen histo-
dern auch Kollegen, die sich von außen einbrin-              rischen Archäologie machte (Scholkmann, Schreg
gen oder Zugang zu unpubliziertem Material                   & Zeischka-Kenzler, 2015).13 An diesem Beispiel
wünschen, oft ignoriert und abgewehrt.12                     wird deutlich, in welchem christlich-nationalen,
    Wenig hilfreich ist z. B. die im Fach verbreitete        landesfürstlich-provinziellen, hierarchisch-patri-
Praxis, den Zugang zu Material und Dokumen-                  archalen Wertekorsett die Archäologie (nicht nur)
tation einer Grabung oder eines Fundorts einem               in Baden-Württemberg damals steckte. Innerhalb
Doktorierenden über Jahre, manchmal Jahr-                    der Mittelalterarchäologie herrschte zudem ein
zehnte, vorzubehalten; denn Abschlussarbeiten                Dünkel der kunsthistorisch ausgebildeten Baufor-
sollten in jedem Fall Neuheitswert haben. Ein sol-           scher gegenüber den archäologisch ausgebildeten
ches Vorgehen befördert weder das Tempo noch                 Auswertern von Objektgruppen und innerhalb
die Qualität einer Forschungsarbeit und macht                dieser wiederum eine Rangordnung der Materia­
sie im schlimmsten Fall nicht nachprüf- oder                 lien, die den Numismatiker über den Metallspe-
vergleichbar. Man stelle sich nur vor, Naturwis-             zialisten und diesen wiederum über die Keramik-
senschaftler würden nicht gleichzeitig an einem              forscher und die Tierknochen-Spezialisten setzte.
Problem bzw. an einer Fragestellung forschen.                Im Prinzip spiegelten die Forscher unter sich und
Selbstverständlich wäre bei einzigartigen Kultur­            in den Publikationen14 die intellektuellen Hierar-
objekten die Behörde in der Pflicht, den Zugang              chien der mittelalterlichen, von der Kirche domi-
so zu regeln, dass Dokumentation und Funde vor               nierten Adelsgesellschaft wider.15
Verlust und Schaden bewahrt werden.                              Diese Strukturen waren in den Landesbehör-
    Während früher häufig Emeriti und Ausgrä-                den noch ausgeprägter als an den Universitäten.
ber Dokumentationen und Funde zurückhielten                  Die personellen und inhaltlichen Verflechtungen
und diese nicht herausgaben bzw. teilten, so sind            zwischen beiden führten jedoch dazu, dass auch
es heute mehr die Institutionen, die das Open-               die Forschungsinstitutionen sich geistig, geogra-
Access-Prinzip nicht umsetzen können oder wol-               fisch und epochal einengten bzw. Territorien fest-
len. Selten gehen diese Konflikte vor Gericht wie            legten und verteidigten. Einige wenige Orte und
etwa im Fall des emeritierten Kunsthistorikers               Thematiken wurden dabei wieder und wieder –
Hans Rudolph Sennhauser in der Schweiz, des-                 wenn durchaus auch mit neuen Methoden – be-
sen Stiftung von einer Reihe von Kantonen zur                arbeitet, während andere, weiter entfernte oder
Herausgabe der Grabungsdokumentationen mit-                  weniger bekannte, unbeachtet blieben.16
telalterlicher Sakralbauten auf ihrem jeweiligen                 Alle diese Faktoren – Dünkel unter den For-
Hoheitsgebiet verklagt wurde (Krummenacher,                  schern, Behinderung des Informationsflusses,
2017). Teilweise waren diese Klagen erfolgreich              unterschiedliche Methodik und extreme Unter-
und die Unterlagen befinden sich nun an einem                schiede in der personellen und finanziellen Aus-

DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne               84
Durch die Archäologie der Moderne zur modernen Archäologie

stattung sowie in der geografischen Abdeckung                chen sie als (Sub-) Disziplinen überflüssig. Wenn
– sind Filter, die sich zusätzlich über die ohnehin          zeitliche und räumliche Grenzen fallen, dann ge-
nur rudimentär erhaltenen Spuren der Vergan-                 hen auch Archäologie und Ethnologie ineinander
genheit legen. In einem solchen Nebel blüht nur              über und werden zur Kulturwissenschaft. Aus
das Gefolgschaftswesen und die Wissenschaft-                 der Sicht der anglo-amerikanischen Anthropo-
lichkeit hat es schwer.                                      logie wäre die Archäologie dabei die „Disziplin
    Es wäre zu bedauern, wenn sich die Neuzeit-              der Dinge“ (Olsen et al., 2012). Aus europäischer
archäologie im 21. Jahrhundert in dieses Schubla-            und archäologischer Sicht ist das etwas verkürzt
densystem einweisen lassen würde und zur kultu-              und zu museal gedacht, denn wir haben ja nun
rellen Sachgeschichte des 16.-20. Jahrhunderts nur           lange genug gepredigt und praktiziert, dass erst
weitere Studien zu Ofenkacheln, Tonpfeifen, Ka-              der Befund dem Fund und also der Kontext den
nonenkugeln, Festungen, Manufakturen, Indus-                 Dingen Bedeutung gibt. Der räumliche und zeit-
trieanlagen, Arbeits- und Konzentrationslagern               liche Bezug der Dinge müsste also fester Bestand-
aus dem deutschsprachigen Raum hinzufügen                    teil dieser Disziplin sein. Aus anthropologischer
würde. Natürlich ist es wichtig, dass die archäo-            und historischer Perspektive sind archäologische
logische Denkmalpflege, freischaffende Archäolo-             Kontexte verlassene Bühnen, ihrer eigentlichen
gen, Archäologiefirmen und Bürgerforscher diese              Akteure beraubt, wenn sie nicht virtuell wie-
Themen bearbeiten, die Relikte vorlegen und in               derbelebt werden. Gleichzeitig geht von der Ar-
Publikationen zur Regionalgeschichte einbrin-                chäologie und ihren Quellen die Faszination des
gen, aber dies darf nicht in einer – vielleicht sogar        Faktischen aus: hier wird Geschichte dingfest und
unbewussten – „Blut- und Boden-Mentalität“ bzw.              erhält eine Beweiskraft, die gerade beispielsweise
bio­deutschen Mentalität erfolgen, die maximal               im Kontext jüngster Leugnungen des Holocaust
noch direkt angrenzende Regionen in Betracht                 unersetzlich ist.
zieht, aber den globalen Kontext vernachläßigt.                  Erkenntnistheoretisch werden die neuen über-
    Ein Mehr an Archäologie der Moderne darf                 greifenden Themenfelder gespeist aus dem „New
nicht nur auf additiv-quantitative Aspekte ver-              Materalism“ (Coole & Frost, 2010) und den femi-
kürzt werden, sondern muss sich neu vernetzen,               nistischen „Gender Studies“ (Stephens, 2014). Diese
um an intellektueller Qualität, kreativer Potenz             radikalen Ideen reichen zurück in die französische
und gesellschaftlicher Relevanz zu gewinnen.                 Annales-Schule mit ihrem relativierten Zeitbegriff
Dazu muss die Archäologie als Ganzes im 21.                  der longue durée und in die anglo-amerikanische
Jahrhundert dynamisch-diachron und interdis-                 „New Archaeology“ mit ihrem Schlagwort „ar-
ziplinär-pluralistisch neu gedacht und gesell-               chaeology as anthropology“ (Schreg, 2010). Rainer
schaftspolitisch verankert werden.                           Schreg beschreibt, wie dieses strukturelle Ge-
                                                             schichtsverständnis im deutschsprachigen Raum
Neue Forschungsfelder und der fließende Übergang             auf eine Archäologie trifft, die noch weitgehend
zur Kulturanthropologie                                      der historistischen Tradition der Ereignis- und Po-
Manche der neuen Themenfelder – wie Land-                    litikgeschichte mit ihrer linearen Zeitauffassung
schaft,17 Umwelt, Kulturmanagement und Gen-                  verhaftet ist. Es ist deshalb verständlich, dass eine
derforschung – haben sich bereits soweit eman-               ganze Generation von deutschen Archäologen,
zipiert, dass sie die Archäologie und andere                 die in dieser Geisteshaltung ausgebildet wurde
hergebrachte akademische Fächer nicht nur über-              und ihren Beruf nach den alten Spielregeln erfolg-
lagern, sondern in Form spezialisierter Zentren              reich ausübt, genau deshalb skeptisch ablehnend
in Zukunft wohl ersetzen werden. Diese The-                  bleibt, während andere sie bereitwillig aufgreifen,
menwissenschaften vereinen bisher getrennte                  weil sie erkennen, welche Sprengkraft in diesen
Bereiche wie z. B. Natur und Kultur, Kultur und              Ideen liegt. Letztere erwarten zurecht, dass sich
Wirtschaft oder Biologie und Soziologie. In ihnen            damit verfestigte Denkschemata bei jedem Ein-
drückt sich die Kritik an hergebrachten Kategorien           zelnen, vielleicht sogar ganze Gesellschaftsord-
und Polaritäten – wie z. B. Mann und Frau, lokal             nungen aufbrechen und in Bewegung bringen
und global, oder Gegenwart und Vergangenheit                 lassen. Hier finden sie die gedanklichen Ansätze,
– aus und damit auch an den damit verbundenen                mit denen sich westliche Raum-, Zeit- und Wert-
gesellschaftlichen Konventionen und institutio-              konzepte grundsätzlich hinterfragen lassen. Ganz
nellen Abbildern. Da hier Fragestellungen ohne-              konkret sind das in der Archäologie der inhärente
hin schon diachron und überregional betrachtet               Eurozentrismus, lineare Zeitvorstellungen, binäre
werden, beinhalten sie die Archäologie der Neu-              Konzepte – wie das von jung und alt – oder hierar-
zeit, der Moderne und der Gegenwart und ma-                  chische, unsymmetrische Machtgefüge.

                                                        85                  DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Sophie Hüglin

    Transdisziplinäre Themenfelder werden aber             turerbe-Diskurses, wie man die „Critical Heritage
nicht nur akademisch-theoretisch gedacht und               Studies“ übersetzt bezeichnen könnte. Leider
geschrieben, sondern auch in der archäologisch-            agiert die archäologische Denkmalpflege in der
denkmalpflegerischen Praxis angewendet: Der                Praxis oft gerade gegenteilig und beugt sich dem
Wunsch nach der Überwindung des Natur-Kul-                 autoritären Diskurs.
tur-Gegensatzes (Descola, 2012), wie er in der
„Landscape Archaeology“ (Branton, 2009) seinen             Archäologie für alle als zeitlose „Zwischenschaft“ und
Ausdruck gefunden hat, hat z. B. bei English He-           erdverhaftete Vermittlerin
ritage zu neuen Erfassungsmethoden wie der                 Wenn man die Archäologie ihrer Präpositionen
„Historic Landscape Characterisation (HLC)“ (Tur-          und damit ihrer zeitlichen, räumlichen oder welt-
ner, 2006) geführt. Die HLC erfasst nicht nur ein-         anschaulichen Verankerungen beraubt, wird
zelne Denkmale, sondern unterteilt die gesamte             es plötzlich schwierig zu sagen, was Archäo-
Landschaft in Einheiten, die nach einheitlichen            logie eigentlich ist. Sie schwebt dann – immer
Kriterien charakterisiert, aber nicht bewertet wer-        noch unter dem Einfluss der Erdanziehung – je
den. Diese Daten lassen sich im Rahmen von Pla-            nach Methode und Thematik zwischen den
nungsprozessen heranziehen, um zusammen mit                Geistes-, Geschichts-, Wirtschafts-, Sozial-, Erd-
anderen Interessenvertretern eine möglichst den            und Naturwissenschaften und wird im Idealfall
Charakter der Landschaft schonende Verwirk-                ohnehin inter- und transdisziplinär betrieben.20
lichung von Bauvorhaben zu ermöglichen. Ein                Dabei könnte sich die Archäologie als investiga-
anderes Beispiel wäre die Zusammenlegung von               tive Projektmanagerin verstehen, die mit einer
Naturschutz- und Denkmalbehörden in Schott-                Fragestellung bzw. einem historischen Tatort
land zu „Historic Environment Scotland (HES)“.18           konfrontiert die Methodik wählt und dann Er-
Dies geschah auch in der Hoffnung, dass Denk-              gebnisse zusammenführt, interpretiert und kom-
mal- und Naturschutz so gerade in Planungsver-             muniziert. In dieser Rolle agiert die Archäologie
fahren enger zusammenarbeiten würden.                      je nach Fragestellung und gewählter Methodik
    Ein anderes Beispiel für die Veränderung von           zwischen den Human- und Naturwissenschaften.
Denk- und Sehweisen in Kulturmanagement                    Sie war wegen ihrer Ding-Verhaftetheit ohnehin
und Denkmalpflege, z.T. schon mit praktischen              nie eine reine Geisteswissenschaft, und seit dem
Konsequenzen, sind die „Critical Heritage Stu-             Erstarken der naturwissenschaftlichen Faktizität
dies“ (Winter, 2013).19 Sie wenden sich gegen ein          erhofft man sich Erfolg bei Forschungsanträgen
westlich-ästhetisch-monumental-hierarchisch                durch das vermehrte Einbinden von Technik und
geprägtes Denkmalverständnis bzw. gegen den                Naturwissenschaften.21 Die Archäologie verbin-
„Authorized Heritage Discourse (AHD)“ (Smith,              det aber nicht nur die akademischen Disziplinen,
2006). Der AHD bzw. die Kritik daran speist sich           sondern sie hat auch eine große Affinität zum
aus dem, was ich den „Kultur-Kultur-Gegensatz“             nicht-akademischen Bereich, ja zum Alltäglichen.
nennen würde, nämlich eine enge oder weite De-             Ihre Stärke, ja ihr Maßstab ist der angewandte Be-
finition des Kulturbegriffs. Die enge Auffassung           reich, die Praxis. Ihr Blick auf vergangene Welten
sieht Kultur als etablierte oder Hochkultur, z. B.         ist gleichzeitig pragmatisch, hat aber auch die
als Klassische Musik, Sakralbau oder Festbrauch,           Kraft, diese in der Rekonstruktion, im Experi-
die weite Auffassung hingegen begreift Kultur              ment und spielerisch im Reenactment wiederer-
umfassend als Alltagskultur bzw. als das, was              stehen zu lassen. Hier erweist sich die Archäo-
den Menschen vom Tier unterscheidet, wie etwa              logie erneut nicht nur als Vermittlerin zwischen
die Sprache, der Gebrauch des Feuers, die Her-             Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch
stellung von Werkzeugen oder das Bestatten von             zwischen Gesellschaftsschichten, zwischen Intel-
Verstorbenen. Es ist klar, dass die Archäologie            lekt und Gefühl, und zwischen Abstraktem und
schon aufgrund ihrer Quellen die weite Defini­             Erlebbarem. Lokal und regional können „Pub­
tion bevorzugt und damit eine „Kultur von unten“           lic“ oder „Community Archaeology“ und „Citizen
betreibt. Die Archäologie als Kulturwissenschaft           Science“ also eine Vor-Ort-Archäologie mit den
„im und aus dem Dreck“ hat damit das Potenzial,            Bürgern bzw. eine Forschung durch Bürger diese
bestehende und historische Hierarchien zu unter-           Verbindung zwischen Professionellen und Laien
laufen, wenn sie sich nicht – wie oben besprochen          herstellen; global gesehen eröffnet sich die Mög-
– selbst wieder in alten und neuen Kastensyste-            lichkeit, das Fortschrittsparadigma umzukehren
men verfängt. Die Archäologie, ganz besonders              und von scheinbar primitiveren Gesellschaften
die Archäologie der Moderne, wäre damit auch               zu lernen, deren Lebenswirklichkeit und Wirt-
eine natürliche Verbündete des kritischen Kul-             schaftsweise dem ähnelt, was in der westlichen

DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne             86
Durch die Archäologie der Moderne zur modernen Archäologie

Welt nur noch in Form unbelebter vergangener               und Kleingeister an und wirken abstoßend auf
Dingwelten fragmentarisch erhalten ist.                    Reformer und Weltoffene. Beispielhaft könnte
    Als verhältnismäßig junge Wissenschaft und             hier die 2005 erfolgte Umbenennung der „Schwei-
erst kürzlich verankerte staatliche Institution ist        zerischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte“ in
die Archäologie gleichzeitig Täter, Opfer und Sym-         „Archäologie Schweiz“ sein: zwei statt sechs Wör-
ptom eines gesellschaftlichen Strukturwandels.             ter und alles ist gesagt. Warum hat das „Deutsche
Dieser Wandel findet statt in den akademischen             Archäologische Institut“ – solange es noch kein Eu-
Köpfen, wenn alte Kategorien keinen Sinn mehr              ropäisches Archäologisches Institut gibt – nicht
ergeben, und er erscheint in der berufspraktischen         eine „Abteilung Europa“ und eine Zeitschrift, die
Wirklichkeit, wenn wir mit mehr und mehr Fun-              schlicht „Archäologie“ heißt? Warum benennen
den und Befunden der Neuzeit, Moderne und                  wir die DGUF nicht um in „Archäologie und Ge-
Gegenwart konfrontiert sind. Das beste Beispiel            sellschaft (AG)“? Da würden sich die zahlreichen
ist vermutlich, sich den Lidar-Scan einer Land-            deutschsprachigen Kollegen aus der Schweiz,
schaft vorzustellen mit dem Palimpsest aus Spu-            Österreich und aller Welt auch gleich viel mitge-
ren, in denen alle Zeiten enthalten, aber auch Na-         meinter fühlen.22
tur und Kultur miteinander verwoben sind. Hier
wird auch klar, dass unsere datenbanktaugliche             Komplexe Kommunikation verhindert Verstehen und
Denkmaldefinition mit ihrer punktuellen und ab-            Vernetzen
grenzbaren Auffassung von Unterschutzstellung              Auf dem Weg zu einer globalen Archäologie
weder ganzheitlich noch langfristig nachhaltig             müssen wir auch besser kommunizieren, das
ist. Wir müssen uns noch mehr vernetzen und                heißt eine einfache klare Sprache sprechen und
zusammenarbeiten mit anderen Disziplinen und               schreiben. Auch wenn das Ideal eines Archäolo-
gesellschaftlichen Gruppen, ganz zuvorderst mit            gen ist und bleibt, dass er oder sie mit möglichst
den Naturschutzverbänden und -behörden, wenn               vielen Sprachen und Kommunikationssystemen
archäologische Belange in der Zeit von Klimakrise          vertraut ist, so sollten wir uns auf akademischer
noch eine Rolle spielen sollen. Dazu müssen wir            Ebene davon verabschieden, Kongresse in ver-
unser Wissen teilen, alle einladen, (auch) Archäo­         schiedenen Sprachen abzuhalten und in mehre-
logen zu werden, und selbst für andere und an-             ren Sprachen zu publizieren. Wir werden besser
deres offen sein.                                          verstehen und verstanden werden, wenn wir
                                                           uns auf eine Wissenschaftssprache einigen, und
Umdenken und sich öffnen heißt auch umbenennen             diese sollte derzeit das Englische sein. Nachdem
Was können wir tun, um die Archäologie der                 es oben schon von englischen Ausdrücken und
Moderne zu integrieren und überhaupt eine in-              anglo-amerikanischen Konzepten gewimmelt
klusive, verbindende Archäologie zu fördern?               hat, kommt dieser Vorschlag nicht überraschend.
Umdenken allein reicht nicht. Wir müssen die               Aber warum sollten wir mit den Konzepten auch
akademischen, institutionellen und organisato-             noch gleich noch die Sprache übernehmen? Un-
rischen Strukturen verändern, sodass die Ideen,            terwerfen wir uns damit nicht gerade dem west-
die dahinter wirken, sichtbar werden. Die Kol-             lichen Paradigma – kolonialisieren wir uns damit
legen werden ächzen und sagen: Umstrukturie-               nicht selbst? Meiner Meinung nach geht es dabei
rungen haben wir doch die ganze Zeit. Das ist              nicht um Unterwerfung und Übernahme, sondern
wahr, aber das sind Anpassungen, die von au-               um Kenntnisnahme und intellektuelle Auseinan-
ßen kommen und selten der Archäologie nützen.              dersetzung. Das Englische erfüllt dabei eine Dop-
Wirkliche Veränderungen kommen von innen.                  pelrolle: Es hilft dem Nicht-Muttersprachler, eine
Ein erster Schritt dazu sollte sein, sich bzw. dem,        professionelle Distanz zum Forschungsobjekt zu
was man reformieren möchte, den Namen zu ge-               gewinnen und mit einem viel größeren Kreis an
ben, der ausdrückt, was man macht oder in Zu-              Interessierten – gerade auch aus nicht-westlichen
kunft machen möchte. Das heißt schlicht: außen             Kulturkreisen – zu kommunizieren. Gleichzeitig
sollte draufstehen, was innen drin ist.                    ist das akademische Englisch eine demokratische
    Was ist zu erwarten von einem „Römisch-                Sprache, indem es vom Schreibenden Stringenz,
Germanischen Institut“, von einer Zeitschrift „Ger-        Verständlichkeit und klaren knappen Ausdruck
mania“ oder von einer „Deutschen Gesellschaft für          fordert, ganz im Gegensatz zu Gepflogenheiten
Ur- und Frühgeschichte“? Wer nicht hingeht und             in anderen europäischen, akademisch-introver-
nachschaut, wird rückwärtsgewandte Nationa-                tierten Sprachzirkeln. Allerdings, das gebe ich zu,
listen erwarten. Während wir an den traditions-            gehen in der Fremdsprache auch Nuancen verlo-
reichen Namen kleben, ziehen wir Reaktionäre               ren und man kann sich – zumindest anfangs – nur

                                                      87                  DGUF-Tagung 2020: Archäologie der Moderne
Sie können auch lesen