DAS KLIMASCHUTZ-SOFORTPROGRAMM VON BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: MÖGLICHE AUSWIRKUNGEN AUF EMISSIONEN UND GESELLSCHAFT

Die Seite wird erstellt Niclas Beckmann
 
WEITER LESEN
DAS KLIMASCHUTZ-
SOFORTPROGRAMM VON
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
MÖGLICHE AUSWIRKUNGEN AUF
EMISSIONEN UND GESELLSCHAFT
Prof. Dr. Manuel Frondel

 Gutachten im Auftrag von DIE FAMILIENUNTERNEHMER e. V.
INHALTSVERZEICHNIS
Kurzzusammenfassung                                                           3

Einleitung                                                                    5

Erneuerbare Energien schneller ausbauen                                       6

Kohleausstieg auf 2030 vorziehen                                             10

Klimaoffensive bei Gebäuden und im Bausektor starten                         14

Mobilitätswende beschleunigen                                                16

Grünen Wasserstoff stärken                                                   18

Klimaschutz sozial gerecht gestalten                                         20

Die EU zur Klimavorreiterin machen, Klimaaußenpolitik vorantreiben 22

  IMPRESSUM/KONTAKT

  Prof. Dr. Manuel Frondel

  DIE FAMILIENUNTERNEHMER e.V.
  Henry Borrmann | Charlottenstraße 24 | 10117 Berlin | Tel. 030 300 65-481
  borrmann@familienunternehmer.eu | www.familienunternehmer.eu

  Berlin, September 2021
KURZZUSAMMENFASSUNG

I
   n dieser Kurzstudie werden die Auswirkungen des        Darüber hinaus wollen Baerbock und Habeck (2021)
   Klimaschutz-Sofortprogramms der Partei Bünd-           den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen. Ein weiterer
   nis90/Die Grünen im Hinblick auf die gesellschaft-     ordnungsrechtlicher Ausstiegsbeschluss sollte je-
lichen Verteilungswirkungen und die Potentiale zur        doch aus Kostengründen vermieden werden. Statt-
Emissionsminderung bewertet. Aufgrund von Unklar-         dessen sollte das endgültige Datum des Kohleaus-
heiten in der Ausgestaltung zahlreicher Maßnahmen         stiegs dem Markt bzw. den steigenden Preisen von
ist es prinzipiell unmöglich, die damit in Summe          Emissionszertifikaten überlassen bleiben. Andern-
einhergehenden Emissionsminderungen zu quanti-            falls könnten weitere Entschädigungszahlungen
fizieren. Stattdessen wird sich hier auf diejenigen der   an die Kraftwerksbetreiber in erheblichem Umfang
großen Mannigfaltigkeit an Maßnahmen kapriziert,          anfallen.
die im Programm hinreichend klar formuliert sind, um
eine Bewertung zu erlauben, zumindest in qualitati-       Überdies wollen Baerbock und Habeck (2021) einen
ver Hinsicht.                                             nationalen Mindestpreis für im EU-Emissionshandel
                                                          gehandelte Emissionszertifikate etablieren, der bei
Als erste Maßnahme kündigen Baerbock und Habeck           60 Euro je Tonne Kohlendioxid beginnt und sukzessi-
(2021:2) an, die erneuerbaren Stromerzeugungskapa-        ve ansteigen soll. Aufgrund des Wasserbetteffektes
zitäten schneller ausbauen zu wollen. Ein beschleu-       beim EU-Emissionshandel wäre dadurch für den
nigter Ausbau führt jedoch, nicht zuletzt aufgrund        Klimaschutz nichts gewonnen, ein hoher nationaler
des ungenügenden Netzausbaus, zu unnötig hohen            Mindestpreis würde lediglich für höhere Belastungen
Kosten, insbesondere dann, wenn der Ausbau weiter-        der heimischen Unternehmen sorgen und möglicher-
hin mit Hilfe des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes          weise für Produktionsverlagerungen ins Ausland.
(EEG) gefördert wird, statt diesen zunehmend dem
Markt bzw. steigenden CO2-Zertifikatpreisen zu über-      Baerbock und Habeck (2021: 6) möchten zudem
lassen, und wenn er in besonderem Maße in techno-         den nationalen CO2-Preis, der sich auf die Sektoren
logiespezifischer Weise erfolgt, wie es von Baerbock      Verkehr und Wärme auswirkt, im Jahr 2023 auf 60
und Habeck (2021) durch eine Solarpflicht und eine        Euro je Tonne festsetzen, statt des bislang für 2023
2-Prozent-Quote für Windkraftanlagen an Land an-          vorgesehenen CO2-Preises von 35 Euro. Dies hätte
gedacht ist.                                              besonders für einkommensschwache Haushalte er-
                                                          hebliche Konsequenzen. Es ist deshalb lobenswert,
Solange der Erneuerbaren-Ausbau nach über 20              dass Baerbock und Habeck (2021: 6) im Gegenzug
Jahren EEG-Förderung noch immer nicht dem Markt           einen sozialen Ausgleich schaffen wollen, indem die
überlassen werden soll, sollte aus Kostengründen          Einnahmen aus der CO2-Bepreisung vollständig an
zumindest auf technologieoffene, statt auf techno-        die Menschen zurückgegeben werden sollen, einer-
logiespezifische Ausschreibungen gesetzt werden.          seits in Form einer Absenkung der EEG-Umlage,
Technologiespezifische Ausbauziele, wie die von           andererseits durch ein sogenanntes Energiegeld, das
Baerbock und Habeck (2021) avisierten 6 bzw. 12           jährlich pro Kopf ausgezahlt würde. Von einem deut-
Gigawatt Zubauleistung an Windkraft an Land bzw.          lich höheren CO2-Preis wird kurzfristig jedoch kaum
Photovoltaik pro Jahr, wären damit ebenso obsolet         mehr an Emissionsminderung zu erwarten sein. Das
wie das proklamierte Ausbauziel von 35 Gigawatt           CO2-Preissignal wirkt eher mittel- bis langfristig, da
Windoffshore-Kapazitäten bis zum Jahr 2035. Es ist        die Bürger im Wissen um die stetige Verteuerung
insbesondere davon auszugehen, dass aufgrund wei-         fossiler Kraft- und Brennstoffe erst bei den Neu-
terer technologischer Fortschritte und der gestiege-      anschaffungen von Autos und Heizungssystemen
nen und wohl weiter steigenden CO2-Zertifikatpreise       die energieeffizienteren und treibhausgasärmeren
Windparks vor der Küste die Wettbewerbsfähigkeit          Alternativen bevorzugen werden. Auf eine Erhöhung
bald erreicht haben werden, wenn sie nicht gar            des nationalen CO2-Preises über das gesetzlich fest-
schon heute wettbewerbsfähig sind.                        gelegte Maß sollte daher verzichtet werden, um die
                                                          Menschen nicht unnötig zu belasten.
4   GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM

    N
           icht angebracht ist auch das Vorhaben, sich    bilaterales Bündnis allerdings zu wenig. Ein Bündnis
           für eine ambitionierte Reform der Flotten-     zum Zwecke zur effektiven und effizienten Senkung
           grenzwerte für PKW-Neuzulassungen in der       der Treibhausgasemissionen sollte deutlich umfas-
    Europäischen Union einzusetzen (Baerbock, Habeck      sender sein und zumindest auf Ebene der G20-Staa-
    2021: 7), denn mit diesen Emissionsstandards gehen    ten initiiert werden sowie ein Abkommen über die
    hohe implizite CO2-Preise einher. Daher wäre es       Etablierung eines einheitlichen CO2-Preises in diesen
    weitaus kostengünstiger, die Vermeidung von Treib-    Ländern beinhalten. Allein einem möglichst umfas-
    hausgasen bei PKW einem Emissionshandelssystem        senden Klimaschutzabkommen über einen einheit-
    zu überlassen, so wie es die jüngsten Pläne der       lichen CO2-Preis, der in einem solchen Klimaschutz-
    EU-Kommission vorsehen. Zusätzliche Flottengrenz-     Club etabliert wird, trauen Experten die effektive
    werte wären dann kontraproduktiv und würden das       Senkung der globalen Treibhausgasemissionen zu,
    CO2-Preissignal schwächen.                            beim Pariser Abkommen wird hingegen erwartet,
                                                          dass es wegen mangelnder internationaler Koopera-
    Vor dem Hintergrund, dass für eine effektive welt-    tion aufgrund fehlender gegenseitiger Verpflichtun-
    weite Klimapolitik internationale Kooperation unab-   gen und Sanktionen sowie instabiler Anreizstrukturen
    dingbar ist, ist das Versprechen von Baerbock und     scheitern könnte.
    Habeck (2021: 7) lobenswert, dass sie eine transat-
    lantische Klimapartnerschaft zwischen der EU und
    den USA auf den Weg bringen möchten. Für effektive
    Minderungen der globalen Emissionen ist ein solches
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM   5

EINLEITUNG

A
        nfang August stellten die Parteivorsitzenden         ist, welche umweltschädlichen Subventionen abgebaut
        von Bündnis90/Die Grünen, Annalena Baerbock          werden sollen und ob es einen derartigen Subventions-
        und Robert Habeck, das Klimaschutz-Sofort-           umfang überhaupt gibt. Schließlich gehört die Subven-
programm vor, mit dem sie sich für den Bundestags-           tionierung der heimischen Steinkohleförderung, die in
wahlkampf positionierten. Mit Hilfe dieses Programms         Summe mehr als 150 Milliarden Euro an Subventionen
soll nach den Worten der beiden Parteivorsitzenden           verschlungen hat (Frondel, Kambeck, Schmidt 2007),
das größte Klimaschutzpaket beschlossen werden, das          seit Ende des Jahres 2018 der Geschichte an.
es jemals gegeben hat. Das Programm besteht aus 10
Kernpunkten, etwa einem schnelleren Ausbau der er-           Neben grundsätzlich begrüßenswerten Ansinnen, wie der
neuerbaren Energien oder dem Vorziehen des Kohleaus-         Etablierung einer transatlantischen Klimapartnerschaft
stiegs auf das Jahr 2030, die ihrerseits eine Vielzahl an    zwischen den USA und der EU, mit dem die Klima-
Unterpunkten beinhalten.                                     außenpolitik vorangetrieben werden soll (Kernpunkt 10),
                                                             enthält das Programm einige Punkte, die wenig bis gar
Dazu gehören beispielsweise die wünschenswerte Be-           nichts mit Klimaschutz zu tun haben, etwa die Einfüh-
schleunigung des Ausbaus der Stromnetze, der Abbau           rung eines Tierschutz-Cent auf tierische Produkte, mit
umweltschädlicher Subventionen, die in einem ersten          dem eine Ausweitung der Stallflächen pro Nutztier er-
Schritt um 10 Milliarden Euro gesenkt werden sollen,         reicht werden soll, sowie die Erhöhung des Mindestlohns
sowie eine zusätzliche Offensive für Investitionen in Kli-   auf 12 Euro, mit der die höheren Kosten durch ambi-
maschutz im Umfang von 15 Milliarden Euro — umzuset-         tionierteren Klimaschutz für Menschen mit niedrigem
zen vermutlich innerhalb der nächsten Legislaturperiode.     Einkommen ausgeglichen werden sollen.
Die letzten beiden Punkte gehören zum Kernpunkt 9 des
Sofortprogramms, mit dem der Bundeshaushalt zum Kli-         Vor diesem Hintergrund werden in dieser Kurzstudie die
mahaushalt gemacht und eine doppelte Dividende erzielt       Auswirkungen des Klimaschutz-Sofortprogramms der
werden soll: Die Investitionen und der Subventionsabbau      Partei Bündnis90/Die Grünen im Hinblick auf die gesell-
sollen nicht nur den Klimaschutz voranbringen, sondern       schaftlichen Verteilungswirkungen und die Potentiale zur
auch für zukunftsfähige Jobs sorgen (Baerbock, Habeck        Emissionsminderung bewertet. Aufgrund von Unklar-
2021: 6).                                                    heiten in der Ausgestaltung zahlreicher Maßnahmen
                                                             des Programms ist es prinzipiell unmöglich, die damit
Welche Emissionseinspareffekte von der nicht unbe-           in Summe einhergehenden Emissionsminderungen zu
trächtlichen Investition von 15 Milliarden Euro zu erwar-    quantifizieren. Stattdessen wird sich hier notgedrungen
ten sind, bleibt allerdings zwangsläufig unklar, solange     auf diejenigen der großen Mannigfaltigkeit an Maßnah-
nicht weiter spezifiziert wird, wie diese Summe auf die      men kapriziert, die im Programm hinreichend klar formu-
im Programm genannten zahlreichen Alternativen, wie          liert sind, um eine Bewertung zu erlauben, zumindest in
den Ausbau von Bahn-, Rad- und Fußverkehr, Ladesäu-          qualitativer Hinsicht. Im Einzelnen werden 13 Maßnah-
len, Energienetzen und vieles mehr, aufgeteilt werden        men bewertet, die im Folgenden in der Reihenfolge der
soll. Schließlich bringt nicht jede der Alternativen den     im Sofort-Programm aufgeführten Kernpunkte diskutiert
Klimaschutz in gleichem Maße voran. Noch weniger klar        werden.
6   GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM

    ERNEUERBARE ENERGIEN
    SCHNELLER AUSBAUEN

    A
             ls erste Maßnahme kündigen Baerbock und                       wenig effizienten, emissionsintensiven Anlagen länger
             Habeck (2021:2) an, eine Novellierung des                     zu betreiben, als wenn der Anteil der Erneuerbaren nicht
             Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG) vor-                     weiter gesteigert worden wäre (Böhringer 2010: 69).
    nehmen zu wollen, mit der die Ausbauziele für Photo-
    voltaik auf 12 Gigawatt pro Jahr und für Windkraft                     Es hat sich mittlerweile eingebürgert, in diesem Zusam-
    an Land auf 6 Gigawatt erhöht werden sollen. Durch                     menhang vom Wasserbetteffekt zu sprechen. Drückt
    diese Maßnahme können jedoch, ebenso wie durch                         man das Wasserbett an einer Stelle herunter, etwa durch
    die weiteren hier noch zu diskutierenden Maßnahmen                     die EEG-Förderung erneuerbarer Energien in Deutsch-
    zum Ausbau der erneuerbaren Energien, aufgrund der                     land, geht es an anderen Stellen nach oben, etwa durch
    Existenz des EU-Emissionshandels — dem von Ökono-                      den Mehrausstoß von Kohlekraftwerken, die gesamte
    men präferierten Klimaschutzinstrument — im EU-wei-                    Emissionsmenge, bildlich gesprochen die Wassermenge,
    ten Maßstab betrachtet keinerlei Emissionsminderungen                  bleibt gleich (Graichen et al. 2018).1
    erzielt werden, die über jenes Maß hinausgehen, das
    bereits durch den Emissionshandel erreicht wird (BMWA                  Ebensolche Wasserbetteffekte gibt es im Übrigen bei
    2004: 8).                                                              sämtlichen zusätzlichen Bemühungen um Emissions-
                                                                           minderungen, die durch eine Reduzierung der Strom-
    Denn: Die via EEG geförderte Stromerzeugung sorgt                      produktion bzw. des Stromverbrauchs erzielt werden
    zwar für geringere Emissionen im deutschen Strom-                      sollen: Sinkende Zertifikatspreise führen anderswo zu
    sektor, weshalb die Zertifikatpreise niedriger ausfallen               geringeren Anreizen, die Emissionen an Kohlendioxid
    als ohne das EEG. Dadurch werden Vermeidungsmaß-                       (CO2) zu reduzieren. Hierzu zählen beispielsweise die
    nahmen in anderen am Emissionshandel beteiligten                       Herstellungs- und Vertriebsverbote von elektrischen Ge-
    Sektoren nicht ergriffen, weil es kostengünstiger ist,                 räten gemäß der EU-Ökodesignrichtlinie (u. a. das sog.
    stattdessen Zertifikate zu kaufen. Andere Stromerzeu-                  »Glühlampenverbot«), aber auch Förderprogramme, die
    gungssektoren in der EU sowie die Industriesektoren,                   Anreize setzen sollen, die Energieeffizienz elektrischer
    die in den Emissionshandel eingebunden sind, weisen                    Geräte zu erhöhen, und nicht zuletzt auch der Kohleaus-
    folglich höhere Emissionen auf und gleichen so die                     stieg in Deutschland.
    Emissionseinsparungen, die im deutschen Stromerzeu-
    gungssektor durch das EEG zweifellos ausgelöst wer-                    Erschwerend kommt bei der Forderung nach einem
    den, gänzlich aus (Frondel, Ritter, Schmidt 2008).                     schnelleren Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugungs-
                                                                           technologien in Deutschland hinzu, dass der Ausbau
    Im Ergebnis ergibt sich lediglich eine Emissionsverla-                 der Stromnetze bei weitem nicht schnell genug voran-
    gerung, der durch das EEG bewirkte Emissionseinspar-                   kommt, um mit der Ausbaugeschwindigkeit bei den
    effekt ist de facto Null (BMWA 2004: 8, Morthorst 2003).               Erneuerbaren auch nur annähernd mithalten zu können.
    So kann es sich bei einem starken Ausbau der erneuer-                  Baerbock und Habeck (2021: 3) möchten daher zu
    baren Energien in der EU und den damit verbundenen si-                 Recht den Netzausbau beschleunigen, denn ohne eine
    gnifikanten Zertifikatpreis senkenden Wirkungen gerade                 Synchronisation des Ausbaus der Erneuerbaren und
    für die Betreiber alter Kohlekraftwerke eher lohnen, ihre              der Stromnetze kommt es zunehmend zu Ineffizienzen

    1 Die Reform des Emissionshandels im Jahr 2018 hat dafür gesorgt, dass der Wasserbetteffekt vorübergehend aufgehoben wird, indem
    überschüssige Emissionsrechte in die Marktstablilitätsreserve eingestellt werden, aus der heraus ab 2023 die Rechte, die über eine Höchst-
    grenze hinausgehen, gestrichen werden. Damit ist die Emissionsobergrenze im EU-Emissionshandel vorübergehend nicht bindend, voraus-
    sichtlich bis zum Jahr 2025 (Weimann 2020). Würde man die Bindungswirkung des Cap aber dauerhaft aufheben wollen, dann setzt man da-
    mit den Emissionshandel außer Kraft, weil dann der Preis für die Emissionsrechte auf null fallen wird (Weimann 2020). Ohne Wasserbetteffekt
    verliert man den Emissionshandel und damit das wirksamste und kosteneffizienteste Klimaschutzinstrument, das sich weltweit gegenwärtig
    finden lässt.
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM   7

in Form von Abschaltungen von Erneuerbaren-Anlagen,          Vor dem Hintergrund des dem Erneuerbaren-Ausbau
weil der grüne Strom wegen fehlender Netzkapazitäten         stark hinterherhinkenden Stromnetzausbaus sowie der
nicht zu den Abnehmern gelangen kann. In vielen Fällen       gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit von Erneuerbaren-
bleibt den Netzbetreibern zur Aufrechterhaltung der          Technologien aufgrund aktuell hoher Emissionszertifikat-
Netzstabilität wenig anderes übrig, als eine Abschaltung     preise wäre eine Erhöhung der Ausbauziele für Photo-
der Erneuerbaren-Anlagen anzuordnen. Dies verringert         voltaik und für Windkraft an Land aus Kostengründen
die theoretisch mögliche Produktionsmenge an grünem          und unter dem Gesichtspunkt der Kosteneffizienz der
Strom und verursacht zunehmend höhere Kosten. So ha-         falsche Weg. Statt einzelne Technologien, wie die Wind-
ben sich die Kosten für das Abregeln von Erneuerbaren-       kraft an Land, die absehbar mit die teuerste Erneuer-
Anlagen zwischen 2016 und 2020 mehr als verdoppelt,          baren-Technologie bleiben dürfte und die sich großen
sie stiegen von rund 370 auf 760 Millionen Euro (BNetzA      lokalen Widerständen durch Bürgerinitiativen gegen-
2020: 9).                                                    übersieht, durch die Erhöhung technologiespezifischer
                                                             Ausschreibungsmengen zu einer größeren Verbreitung zu
Das Ansinnen, den Ausbau der erneuerbaren Stromer-           verhelfen, die mit hohen Kosten und Widerständen ver-
zeugungstechnologien mit Hilfe von höheren Ausschrei-        bunden wäre, sollte schnellstmöglich ausschließlich auf
bungsvolumina für Windkraft an Land und Photovoltaik         technologieoffene Ausschreibungen gesetzt werden, um
beschleunigen zu wollen, führt aus einem weiteren            die Kosten des künftigen Ausbaus der Erneuerbaren so
Grund zu unnötig hohen Kosten: Aufgrund der seit 2017        gering wie möglich zu halten.
stark gestiegenen Preise für Emissionszertifikate auf der-
weil über 50 Euro je Tonne CO2 steigt die Wettbewerbs-       Mit weiter steigenden Preisen für Emissionszertifikate,
fähigkeit dieser regenerativen Stromerzeugungstechno-        die die Wettbewerbsfähigkeit von Erneuerbaren weiter
logien ebenfalls an, mit dem Resultat, dass zunehmend        verbessern, sollte zudem baldmöglichst darüber nach-
Solarparks errichtet werden, die keine Einspeisevergü-       gedacht werden, die Förderung grünen Stroms mittels
tungen mehr in Anspruch nehmen.                              des EEG auslaufen zu lassen und nach über 20 Jahren
                                                             technologiespezifischer Förderung via EEG den künfti-
Die Agora Energiewende (2019) geht davon aus, dass           gen Ausbau der Erneuerbaren dem Markt zu überlassen.
bei Preisen für Emissionszertifikate von über 50 Euro        Dies wäre bei über 220 Milliarden Euro (Netztransparenz
erneuerbare Energietechnologien, aber insbesonde-            2021), die seit Einführung des EEG im Jahr 2000 bislang
re große Solarparks ohne eine Förderung in Form von          an Einspeisevergütungen von den Stromverbrauchern
Einspeisevergütungen auskommen können und die                bezahlt werden mussten, sowie bereits feststehenden
Photovoltaiktechnologie, wenn sie wie bei Solarparks         weiteren rund 400 Milliarden Euro, die in den nächsten
in großem Maßstab betrieben wird, nicht mehr auf eine        20 Jahren noch an Vergütungen zu zahlen sind (Andor,
Förderung durch das EEG angewiesen ist. Dies ist             Frondel, Vance 2017), höchste Zeit und angesichts der
perspektivisch ebenso für Offshore-Windparks vor den         Aussicht auf weiter steigende Emissionszertifikatpreise
Küsten zu erwarten, schließlich haben bei entsprechen-       vertretbar, ohne einen Einbruch oder gar einen Stopp
den Ausschreibungen zum Bau von Offshore-Wind-               beim Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugungstechno-
parks in der Vergangenheit bereits einige Bieter auf die     logien zu riskieren. So ist davon auszugehen, dass die
Inanspruchnahme von Einspeisevergütungen verzichtet,         Wettbewerbsfähigkeit der Erneuerbaren sich mit weiter
etwa die EnBW und Dong. Demzufolge erwartet auch             steigenden Preisen für Emissionszertifikate weiter ver-
die Bundesregierung (2021), dass die Windkraft auf See       bessert, wenn die EU-Kommission zur Erreichung des
perspektivisch die günstigste Technologie zur Strom-         verschärften Klimaschutzziels für 2030 die Emissions-
erzeugung auf Basis erneuerbarer Energietechnologien         obergrenze im EU-Emissionshandel, welche aktuell um
sein wird.                                                   2,2 Prozent pro Jahr verringert wird, stärker senkt.
8   GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM

    D
             ies dürfte neben dem Bau großer Solarparks vor     als sehr befremdlich zu bezeichnen. So soll die Flä-
             allem den Offshore-Wind-Ausbau begünstigen.        chenplanung für Windkraft gesetzlich so angepasst
             Das Vorhaben von Baerbock und Habeck (2021:        werden, dass für den Windkraftausbau an Land zwei
    2), den Ausbau der Windenergie vor den Küsten durch         Prozent der Fläche eines jeden Bundeslandes zur
    Anhebung des Ziels für das Jahr 2035 auf 35 Giga-           Verfügung stehen.
    watt installierte Leistung beschleunigen zu wollen,
    ist vor diesem Hintergrund als unnötig zu bezeichnen        Mit einer solchen Maßnahme soll eine im Vergleich zu
    — zumal die Bundesregierung (2021) die Offshore-Wind-       anderen regenerativen Technologien teurere Alternative
    ausbau-Ziele jüngst bereits erhöht hat. So sieht die am     zu einer größeren Verbreitung verholfen werden. Tat-
    10. Dezember 2020 in Kraft getretenen Änderung des          sächlich lagen die mengengewichteten durchschnitt-
    Windenergie-auf-See-Gesetzes bis 2030 eine Erhöhung         lichen Einspeisevergütungen bei den Ausschreibungen
    des Ausbauzieles für Offshore-Windenergie von 15 auf        der Bundesnetzagentur für Windkraftanlagen an Land
    20 Gigawatt Leistung vor, bis 2040 ist gar eine Erhö-       im Jahr 2020 bei etwas über 6 Cent je Kilowattstunde
    hung auf 40 Gigawatt geplant. Ein weiteres Ziel von 35      (kWh), während die mengengewichteten durchschnittli-
    Gigawatt bis zum Jahr 2035 erscheint auch aus einem         chen Einspeisevergütungen bei den Ausschreibungen für
    anderen Grund unnötig: Es wäre weitaus wichtiger, dass      Solaranlagen im selben Jahr etwas über 5 Cent betrugen
    das nationale Denken, das mit dem Formulieren solcher       (BNetzA 2021a, b). Eine Differenz von etwa einem Cent
    nationalen Ziele manifestiert wird, einer europäischen      je kWh zwischen den Vergütungen für Solar- und Wind-
    Sichtweise weichen würde.                                   kraftanlagen an Land lässt sich auch für die jüngsten
                                                                Ausschreibungsrunden im Jahr 2021 konstatieren.
    Unter Kosteneffizienzgesichtspunkten wäre es wün-
    schenswert, den Ausbau der Erneuerbaren in Europa mit       Was absolut betrachtet nach einem geringen Unter-
    den kostengünstigsten Technologien und an den Orten         schied aussieht, ist in Relation gesehen eine erhebliche
    voranzutreiben, wo es am kostengünstigsten möglich ist.     Differenz: Die Förderung der Windkraftanlagen an Land
    Daher ist es sehr zu begrüßen, dass die EU-Kommission       via Einspeisevergütungen liegt derzeit im Mittel rund 20
    die Rahmenbedingungen für Offshore-Wind-Projek-             Prozent höher als bei Solarparks. Noch weitaus deut-
    te verbessern will, vor allem für grenzüberschreitende      licher ist der Unterschied zur Offshore-Windkraft: Bereits
    Projekte. Die am 19. November 2020 von der EU-Kom-          in den Ausschreibungen in den Jahren 2017 und 2018
    mission vorgelegte Offshore-Strategie enthält hierzu eine   gab es Gebote zu Errichtung von Windparks vor der
    Reihe von Maßnahmen. Angedacht sind zum Beispiel            Küste, die bei 0 Cent je kWh lagen, die mengengewich-
    eine bessere Koordinierung der Mitgliedstaaten bei der      teten durchschnittlichen Einspeisevergütungen bei den
    Planung von Flächen und Netzen für Offshore-Wind            Ausschreibungen für Windkraftanlagen auf See betrugen
    sowie die Förderung von Forschung und Entwicklung.          damals 0,44 bzw. 4,66 ct/kWh (BMWi 2021).
    Können beispielsweise Windparks, die vor den Küsten
    zweier Mitgliedsstaaten errichten werden, ihren Wind-       Erschwerend käme bei einer solchen Vorschrift zur
    strom durch ein gemeinsames Stromnetz leiten, anstatt       möglichst gleichmäßigen Verbreitung von Windkraftan-
    in jedem Land eine eigene Stromleitung zur Anbindung        lagen an Land via einer 2-Prozent-Quote hinzu, dass sie
    der Windparks zu bauen, können dadurch Kosten ge-           wegen den unterschiedlichen Windverhältnissen in den
    spart werden.                                               einzelnen Bundesländern kostensteigernd wirken würde,
                                                                da die Windkraftanlagen nicht notwendigerweise an den
    Angesichts eines aus Kosteneffizienzgründen wün-            besten Standorten installiert werden würden. Ob einzel-
    schenswerten Gebots einer europäischen sowie einer          ne Bundesländer von der in Aussicht gestellten Option,
    möglichst technologieoffenen Vorgehensweise bei Aus-        von der 2-Prozent-Quote nach unten abweichen zu kön-
    bau der Erneuerbaren ist das Vorhaben Baerbocks und         nen, wenn sie mit anderen Bundesländern vereinbaren,
    Habecks (2021: 2), einzelnen Technologien zusätzlich        dass diese entsprechend mehr Fläche bereitstellen, ist
    zur bestehenden Förderung via EEG mit Hilfe des Ord-        fraglich, würde aber die Restriktivität dieser Maßnahme
    nungsrechts zu einer größeren Verbreitung zu verhelfen,     sowie die damit verbundenen Kosten mindern.
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM   9

Eine ebenso fragwürdige ordnungsrechtliche Maßnahme           traproduktive Wirkungen ausgehen könnten, weil erstens
wäre die als Solarpflicht bezeichnete Verpflichtung,          die generell vorhandene Sympathie für die Photovoltaik
Photovoltaikanlagen auf privaten Neubauten sowie              dadurch leiden könnte und zweitens in vielen Fällen nur
auf öffentlichen Gebäuden und Gewerbegebäuden                 die Mindestanlagengröße installiert würde, die, wenn
zu installieren, die laut Baerbock und Habeck (2021:2)        erst einmal auf dem Dach, einer späteren freiwilligen
im Gebäudeenergiegesetz verankert werden soll. Diese          Installation von umfangreicheren Anlagen aufgrund einer
Maßnahme würde Photovoltaik-Kleinanlagen — der ak-            höheren Attraktivität dieser Investitionsalternative im
tuell und wegen fehlender Skaleneffekte, wie sie bei gro-     Wege stehen würde. Dies würde die ohnehin nicht über-
ßen Solar- und Windparks erzielt werden können, wohl          mäßig groß eingeschätzten Potentiale der Photovoltaik
auch künftig teuersten Stromerzeugungstechnologie             bei Neubauten verringern.
— zwar zu einer größeren Verbreitung führen. Es sollte
jedoch noch einmal daran erinnert werden, dass damit,         Summa summarum ist zu konstatieren, dass ein be-
ebenso wie mit der 2-Prozent-Quote für den Windkraft-         schleunigter Ausbau der erneuerbaren Stromerzeu-
ausbau an Land, im Allgemeinen keine Emissionsminde-          gungskapazitäten aufgrund der Einbindung des Strom-
rungen erzielt werden, die über das im EU-Emissions-          erzeugungssektors in den EU-Emissionshandel im
handel erreichbare Maß hinausgehen. Insbesondere              Allgemeinen zu keinen Emissionsminderungen führen,
ist es wegen der im europäischen Maßstab betrachtet           die über das durch den EU-Emissionshandel bewirkte
geringfügigen Bedeutung dieser Maßnahmen kaum vor-            Maß hinausgehen. Stattdessen führt ein beschleunigter
stellbar, dass die EU-Kommission sie in nennenswerter         Ausbau, nicht zuletzt auch aufgrund des ungenügenden
Weise bei der künftigen Festsetzung der neuen Emis-           Netzausbaus, zu unnötig hohen Kosten, insbesondere
sionsobergrenzen für die in den EU-Emissionshandel            dann, wenn der Ausbau weiterhin mit Hilfe des EEGs
integrierten Sektoren berücksichtigen würde.                  gefördert wird, statt diesen zunehmend dem Markt bzw.
                                                              steigenden CO2-Zertifikatpreisen zu überlassen, und
Was somit keinen Klimaschutzeffekt hat, erhöht die            wenn er in besonderem Maße in technologiespezifischer
finanziellen Belastungen von öffentlichen und privaten        Weise erfolgt, wie es von Baerbock und Habeck (2021)
Haushalten. Dabei haben private Haushalte, die ein            durch eine Solarpflicht und eine 2-Prozent-Quote für
Eigenheim neu bauen, ohnehin bereits hohe Finanzie-           Windkraftanlagen an Land angedacht ist. Solange der
rungslasten zu tragen, nicht zuletzt aufgrund immer           Erneuerbaren-Ausbau nach über 20 Jahren EEG-Förde-
weiter verschärfter Energieeffizienz-Standards. Eine          rung noch immer nicht dem Markt überlassen wird, sollte
Solarpflicht wäre nicht nur ein starker Eingriff in die       aus Kostengründen zumindest auf technologieoffene,
Konsumentensouveränität, nach der im Idealfall allein         statt auf technologiespezifische Ausschreibungen ge-
die Verbraucher entscheiden, welche Art von Gütern und        setzt werden. Technologiespezifische Ausbauziele, wie
Dienstleistungen sie in Anspruch nehmen wollen und in         die von Baerbock und Habeck (2021) avisierten 6 bzw.
welchem Umfang. Darüber hinaus stellt eine Solarpflicht       12 Gigawatt Windkraft an Land bzw. Photovoltaik pro
einen Eingriff in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit        Jahr, wären damit ebenso obsolet wie das proklamierte
dar, der dementsprechend einer besonderen Rechtferti-         Ausbauziel von 35 Gigawatt Windoffshore-Kapazitäten
gung bedarf und verhältnismäßig sein muss. Ob dieser          bis zum Jahr 2035. Es ist vielmehr davon auszugehen,
Eingriff in allen Fällen gerechtfertigt ist, ist angesichts   dass aufgrund weiterer technologischer Fortschritte und
der unterschiedlichen Sonnenscheindauern in den ver-          der gestiegenen und wohl weiter steigenden CO2-Zer-
schiedenen Bundesländern sowie der Abhängigkeit des           tifikatpreise Windparks vor der Küste die Wettbewerbs-
Solarstromertrags von der Himmelsausrichtung und der          fähigkeit bald erreicht haben werden, wenn sie nicht gar
Art des Daches fraglich.                                      schon heute wettbewerbsfähig sind.

Die Einführung einer deutschlandweiten Solarpflicht
ist selbst in der Photovoltaik-Branche umstritten. So
befürchtet der Präsident des Bundesverbands Solarwirt-
schaft, Jörg Ebel (2021), dass von einer Solarpflicht kon-
10   GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM

     KOHLEAUSSTIEG AUF 2030
     VORZIEHEN

     D
             eutschlands Stromversorgung steht vor großen        Bis 2030 soll die Leistung der im Markt befindlichen
             Herausforderungen. Erstens: Bis Ende des Jah-       Kohlekraftwerke auf maximal 9 Gigawatt Braunkohle und
             res 2022 gehen durch den Kernenergieausstieg        8 Gigawatt Steinkohle verringert werden. Das entspricht
     Kapazitäten im Umfang von rund 8 Gigawatt (GW) Netto-       im Vergleich zu 2017 einem Rückgang von 10,9 Giga-
     leistung vom Netz und es müssen rund 65 Milliarden          watt bei Braunkohlekraftwerken und 14,7 Gigawatt bei
     kWh an CO2-freiem Atomstrom bzw. rund 11 Prozent des        Steinkohlekraftwerken. Folglich sollen 25,6 Gigawatt an
     Stromverbrauchs des Jahres 2020 durch andere Ener-          Kohlekraftwerksleistung bis zum Jahr 2030 abgeschaltet
     gietechnologien ersetzt werden.                             werden. Dies ist mehr als ein Viertel der im Jahr 2019
                                                                 vorhandenen Kapazitäten an konventionellen Kraftwer-
     Zweitens: Der mit dem Kohleverstromungsbeendi-              ken, die eine Leistung von insgesamt rund 92 Gigawatt
     gungsgesetz (KVBG) beschlossene ordnungsrechtliche          aufwiesen (BNetzA 2019).
     Ausstieg aus der Kohleverstromung in Deutschland, der
     spätestens bis zum Jahr 2038 abgeschlossen sein soll,       Dieser Ausstiegsplan für die Kohleverstromung ist an
     bedeutet, dass 42,6 GW Kohlekraftwerkskapazitäten (Ta-      eine Reihe von energie- und sozialpolitischen Bedin-
     belle 1), die im Jahr 2017 rund 241 Milliarden kWh Strom    gungen geknüpft und soll in den Jahren 2023, 2026 und
     produzierten und knapp 37 Prozent zur Stromerzeugung        2029 überprüft werden. Sofern die energiewirtschaftli-
     beitrugen (AGEB 2019), abgeschaltet und auf andere          chen, beschäftigungspolitischen und betriebswirtschaft-
     Art und Weise gedeckt werden müssen. Bereits bis zum        lichen Voraussetzungen vorliegen, kann das Ausstiegs-
     Jahr 2022 soll die Leistung bei Braun- und Steinkohle       datum in Verhandlungen mit den Betreibern auch auf
     auf jeweils rund 15 Gigawatt zurückgeführt werden. Das      2035 vorgezogen werden. Die Überprüfung, ob dies
     entspricht gegenüber 2017 einem Rückgang von 4,9 Gi-        möglich ist, ist für das Jahr 2032 geplant (»Öffnungs-
     gawatt bei Braunkohlekraftwerken und von 7,7 Gigawatt       klausel«).
     bei Steinkohlekraftwerken.

                          2017              2022       Abbau gegenüber 2017        2030         Abbau gegenüber 2017

      Braunkohle        19,9 GW            15 GW             -4,9 GW               9 GW                -10,9 GW

      Steinkohle        22,7 GW            15 GW             -7,7 GW               8 GW                -14,7 GW

      Summe             42,6 GW            30 GW             -12,6 GW              17 GW               -25,6 GW

     Tabelle 1: Kapazitäten und Stein- und Braunkohlekraftwerke in Deutschland in Gigawatt (GW)
     und Kohleausstiegsplan
     Quelle: Kohlekommission 2019:62-63, BNetzA 2019
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM   11

Unter Versorgungssicherheitsgesichtspunkten könnte der      So werden zur Umsetzung des vereinbarten Kohleaus-
Termin für die erste Überprüfung im Jahr 2023 jedoch zu     stieges bis zum Jahr 2038 die Betreiber von Braunkohle-
spät stattfinden, denn bis Ende 2022 werden neben der       kraftwerken für Stilllegungen entschädigt. Konkret wurde
vorgesehenen Abschaltung von 12,6 Gigawatt an Kohle-        RWE eine Entschädigung in Höhe von 2,6 Milliarden
kraftwerksleistung zusätzlich rund 8 Gigawatt an Kern-      Euro zugesagt, LEAG erhält 1,75 Milliarden Euro (BMF
kraftkapazitäten vom Netz gehen. Insgesamt könnten          2021: 111). Hinzu kommen Zahlungen in unbestimmter
somit rund 20 Gigawatt an konventioneller Kraftwerks-       Höhe für die Betreiber von Steinkohlekraftwerken. Diese
leistung bzw. rund ein Fünftel des heutigen konventionel-   sollen Stilllegungsprämien erhalten, deren Höhe auf Ba-
len Kraftwerksparks nicht mehr zur Verfügung stehen und     sis von Ausschreibungen am Markt ermittelt wird. Diese
die konventionellen Kapazitäten könnten bei fehlendem       Ausschreibungen sind im Kohleverstromungsbeendi-
Zubau neuer Kraftwerke bis Ende 2022 auf rund 72 Giga-      gungsgesetz geregelt und erfolgen unter der Annahme,
watt schrumpfen. Dann würden zur Deckung der Spitzen-       dass es keine marktgetriebenen Stilllegungen gibt.
last, die im Winter in Deutschland bei über 80 Gigawatt
liegt, nicht mehr ausreichend konventionelle Kapazitäten    Würde der ordnungsrechtliche Kohleausstieg von 2038
zur Verfügung stehen und man wäre auf Stromimporte,         auf das Jahr 2030 vorgezogen, besteht die Gefahr, dass
Pumpspeicher, Maßnahmen zur temporären Nachfragere-         weitere Entschädigungszahlungen fällig werden könnten.
duktion (Lastmanagement) und den Beitrag der erneuer-       Dies wäre vermeidbar, wenn das Ende der Kohlever-
baren Technologien dringend angewiesen.                     stromung dem Markt bzw. den steigenden Zertifikatprei-
                                                            sen überlassen würde. Tatsächlich geht eine Studie im
Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen tragen jedoch           Auftrag der Agora Energiewende (2021: 11) davon aus,
nur in geringem Umfang zur gesicherten Leistung bei         dass der Kohleausstieg weitgehend marktbasiert erfol-
(Schiffer 2019): Diese Beiträge liegen zwischen 0 Prozent   gen könnte, da die EU-Kommission zur Umsetzung des
(Photovoltaik) und 5 Prozent (Wind). Da die höchste Last    höheren EU-Klimaziels für das Jahr 2030 aller Voraus-
(Stromnachfrage) typischerweise im Herbst und Winter        sicht nach eine Verschärfung des EU-Emissionshandels,
auftritt, wenn es bereits dunkel ist und die Photovoltaik   sprich eine stärkere jährliche Senkung der EU-weiten
keinen Beitrag mehr leisten kann, müsste zu solchen         Emissionsobergrenze als die bislang gültige Reduktion
Zeiten bei einer Windflaute nahezu die gesamte Last         von 2,2 Prozent pro Jahr, vorschlagen wird. Zu einem
durch Importe und vor allem heimische konventionelle        ähnlichen Ergebnis kommt auch das EWI (2021): Wenn
Kraftwerke gedeckt werden. Angesichts eines Realisie-       das europäische Klimaziel verschärft wird, könnte die
rungszeitraums neuer Kraftwerke von vier bis sieben         Steinkohleverstromung bereits bis zum Jahr 2030 weit-
Jahren ist es ausgeschlossen, dass bis zum Ausstieg         gehend zum Erliegen kommen, während die Braunkohle-
aus der Kernenergienutzung Ende 2022 neue Erdgas-           verstromung nach 2030 nur noch eine untergeordnete
kraftwerke gebaut werden können. Dennoch dürften            Rolle im deutschen Strommix spielt.
neue Gaskraftwerke zukünftig eine wichtige Option zur
Stromerzeugung darstellen.                                  Die Studie der Agora Energiewende (2021: 11) geht da-
                                                            von aus, dass bereits bei einem CO2-Zertifikat-Preis von
Vor diesem Hintergrund möchten Baerbock und Habeck          etwa 50 Euro je Tonne, also etwa dem aktuellen Preis-
(2021: 3) den Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vor-          niveau, Braunkohlekraftwerke unwirtschaftlich würden.
ziehen und begründen dies unter anderem damit, dass         Dies gälte wegen den höheren Brennstoffkosten erst
bereits vollumfänglich Alternativen bereitstehen würden.    recht für Steinkohlekraftwerke. Demnach müsste bei
Unabhängig davon, dass die Prämisse vollumfänglich          noch deutlich weiter steigenden CO2-Zertifikatspreisen
bereitstehender Alternativen nach den obigen Ausfüh-        sogar damit gerechnet werden, dass ein Kohleausstieg
rungen offenbar nicht gegeben ist, sollte ein weiterer      noch eher als im Jahr 2030 erfolgen könnte.
ordnungsrechtlicher Ausstiegsbeschluss aus Kosten-
gründen vermieden und das endgültige Datum des
Kohleausstiegs dem Markt bzw. den steigenden Preisen
von Emissionszertifikaten überlassen werden. Andern-
falls könnten weitere Entschädigungszahlungen an die
Kraftwerksbetreiber in erheblichem Umfang anfallen.
12                    GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM

                         O
                                  b nun der endgültige Kohleausstieg einige Jahre              lischer Natur, weil mit dem Abschalten von Kohlekraft-
                                  vor oder nach dem Jahr 2030 oder exakt im                    werken die CO2-Emissionen nicht einfach verschwinden.
                                  Jahr 2030 erfolgt, ist allerdings nur von geringer           Vielmehr entstehen die Emissionen an anderer Stelle,
                         bzw. symbolischer Bedeutung: Der Trend einer abneh-                   etwa in Erdgaskraftwerken, die in Teilen die Strompro-
                         menden Kohlestromerzeugung ist aufgrund schärferer                    duktion des abgeschalteten Kohlekraftwerkes überneh-
                         Klimaziele und dadurch steigenden Zertifikatpreisen                   men. Es wäre folglich ein Irrtum, würde man glauben,
                         unumkehrbar und hat bereits vor einigen Jahren ver-                   dass mit dem Abschalten eines Kohlekraftwerks die
                         stärkt eingesetzt. So sanken die CO2-Emissionen der                   zuvor ausgestoßenen Emissionen gänzlich eingespart
                         Energiewirtschaft zwischen 2017, als der CO2-Zertifikat-              würden.
                         preis noch bei rund 5 Euro je Tonne lag, und dem Jahr
                         2020, als der Zertifikatpreis mit rund 25 Euro bereits ein            Ungeachtet der Symbolik, die von einem genauen Datum
                         Vielfaches betrug, um rund 46 Prozent, von 323 auf 221                des Kohleausstiegs ausgeht, gibt es zwei wesentliche
                         Tonnen (Abbildung 1). Allein im Jahr 2020 verringerten                Aspekte, die mit dem unumkehrbaren Trend zur Verrin-
                         sich die Emissionen aus der Braunkohleverstromung                     gerung der Kohlestromerzeugung einhergehen: Erstens
                         um 23 Millionen t, die der Steinkohleverstromung um                   dürfte die Gewährleistung der Stromversorgungs-
                         13 Millionen t. Mit einer Minderung um insgesamt 36                   sicherheit in den kommenden Jahren, vor allem nach
                         Millionen Tonnen gegenüber 2019 leisteten Kohlekraft-                 dem Kernenergieausstieg Ende 2022, nach den obigen
                         werke den größten Beitrag zur Emissionsminderung des                  Ausführungen eine große Herausforderung darstellen,
                         Sektors Energiewirtschaft von 37 Millionen t gegenüber                die aktuell noch zu wenig Beachtung findet. Zweitens:
                         2019 (Abbildung 1). Eine noch größere Minderung der                   Damit ein Kohleausausstieg Deutschlands angesichts
                         CO2-Emissionen des Energiewirtschaftssektors gab es                   der Existenz des EU-weiten Emissionshandels überhaupt
                         mit 51 Millionen Tonnen im Jahr 2019, als die Corona-                 klimawirksam wird, müssen die durch die Kraftwerksstill-
                         Pandemie und die damit verbundene ökonomische Krise                   legungen freiwerdende CO2-Zertifikate im Umfang der
                         noch keine Rolle spielten.                                            dadurch eingesparten Emissionen aus dem nationalen
                                                                                               Versteigerungsbudget gelöscht werden. Hierauf weist
                         Den Kohleausstieg per staatlichem Dekret auf das Jahr                 die Kohlekommission (2019: 65) explizit hin. Andernfalls
                         2030 festsetzen zu wollen, ist auch deshalb nur symbo-                dient ein Kohleausstieg zwar der Senkung der Emissio-

                                   Energiewirtschaft    Industrie         Gebäude     Verkehr       Landwirtschaft   Abfall/Sonstiges   Summe

                         1400
                                  1.249
                         1200      87         1.121
                                                       1.043
                                                                    993
Mio. t CO2-Äquivalente

                                  164          74                              942
                         1000                           72                              904         908        892
                                              176                    69                                                856
                                                                                69                   72                           810
                                  210                  181                               74                    71
                         800                                        160                                                 68                739
                                                                               153                                                 68
                                              188                                       162         165        168                                        -0,1
                                                       167                                                             163                 66             -4
                                                                    154        149                                                164
                         600      284                                                   124         125        122                        146             -4
                                                                                                                       116
                                              244                                                                                 123
                                                       208          191        188                                                        120             +2
                                                                                        188         192        198
                         400                                                                                           190
                                                                                                                                  187
                                                                                                                                          178             -8
                                  466
                         200                  400      385          397        368      347         344        323     309        258     221             -59
                            0
                                  1990        1995     2000         2005       2010     2015        2016      2017     2018      2019    2020
                                                                                       Jahre                                            Über-/Unterschreitung
                                                                                                                                         derJahresemissions-
                                                                                                                                         mengen des Bundes-
                                                                                                                                         klimaschutzgesetzes

                         Abbildung 1: Treibhausgasemissionen in Deutschland (1990–2020)
                         Quelle: UBA (2021)
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM   13

nen im deutschen Stromerzeugungssektor, eine zusätz-        mit den Carbon-Leakage-Regeln Anerkennung verliehen
liche Verringerung der Emissionen in der EU insgesamt       hat, könnte ein nationaler Mindestpreis, der substantiell
wird jedoch nicht erzielt (Wasserbetteffekt), solange die   höher ist als der Zertifikatpreis im EU-Emissionshandel,
EU-weit ausgegebene Zahl an Emissionsrechten unver-         zu Emissionsverlagerungen innerhalb der Europäischen
ändert bleibt.                                              Union führen. In Deutschland beheimatete Unternehmen
                                                            könnten daher bei dauerhaft hohen Preisdifferenzen die
Aus demselben Grund wirkt sich ein weiteres Vorhaben        Verlagerung der Produktion, und damit der Emissionen,
von Baerbock und Habeck (2021) ebenfalls nicht emis-        ins EU-Ausland in Erwägung ziehen, wenn nicht gar ins
sionsmindernd im EU-weiten Maßstab aus. So soll ein         Nicht-EU-Ausland.
nationaler Mindestpreis für im EU-Emissionshandel
gehandelte Emissionszertifikate etabliert werden,           Im Ergebnis wäre für den Klimaschutz nichts gewonnen,
der bei 60 Euro je Tonne Kohlendioxid beginnt und           ein hoher nationaler Mindestpreis würde lediglich dafür
sukzessive ansteigen soll. Falls dieser Mindestpreis        sorgen, dass die Nachfrage nach Emissionszertifika-
substantiell über dem jeweiligen Niveau der Zertifikat-     ten in Deutschland geringer ist als ohne einen solchen
preise im EU-Emissionshandel liegen sollte, würde er        Mindestpreis, womit infolgedessen das Angebot an
zwar für zusätzliche Emissionsminderungen im Stromer-       Emissionszertifikaten für die übrigen EU-Mitgliedsstatten
zeugungs- und Industriesektor in Deutschland sorgen,        höher ausfallen würde, mit entsprechenden dämpfenden
nicht jedoch die Emissionen in der Europäischen Union       Effekten für die Emissionszertifikatpreise im EU-Emis-
insgesamt reduzieren.                                       sionshandel. In anderen Worten: Der Emissionsausstoß
                                                            würde im EU-Ausland durch einen nationalen Mindest-
Was somit infolge des Wasserbetteffektes keinerlei          preis kostengünstiger werden als ohne einen solchen
Emissionsminderungseffekte im EU-weiten Maßstab be-         Mindestpreis.
wirkt, hat kontraproduktive Effekte für die Unternehmen
in Deutschland, da sie höheren Belastungen ausgesetzt
werden als ihre Konkurrenten in Europa. Zusätzlich zu
potentiellen Carbon-Leakage-Effekten außerhalb der
Europäischen Union, deren Existenz die EU-Kommission
14   GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM

     KLIMAOFFENSIVE BEI GEBÄUDEN
     UND IM BAUSEKTOR STARTEN

     E
            s ist Tatsache, dass die Heizung von Wohnun-        Ein solch umfangreiches Fördervolumen bedarf ohne
            gen und Gebäuden sowie die Versorgung mit           Frage der umfassenden Rechtfertigung — zumal die
            Warmwasser derzeit überwiegend mit fossilen         Verbreitung von Wärmepumpen bereits durch eine
     Brennstoffen erfolgt. Aus diesem Umstand wird häufig       mehr als zwanzig Jahre währende Förderung durch ein
     geschlussfolgert, dass die Potentiale zur Einsparung       Marktanreizprogramm begünstigt wurde und die Tech-
     von CO2 im Gebäudesektor besonders hoch seien,             nologie längst als ausgereift gilt (PwC 2021: 10). Umso
     nach Baerbock und Habeck (2021: 4) sogar »riesig«.         erstaunlicher ist es, dass es bislang keine umfassende
     Deshalb wollen sie unter anderem dafür sorgen, dass        Evaluierung der mit der Förderung von Wärmepumpen
     Ölheizungen nicht mehr neu eingebaut werden dürfen         einhergehenden Effekte gibt, insbesondere hinsichtlich
     und sie wollen ein Förderprogramm für 2 Millionen          der Vermeidung von CO2-Emissionen und der CO2-Ver-
     hocheffiziente Wärmepumpen bis zum Jahr 2025               meidungskosten.
     auflegen, denn die Zukunft des Heizens liegt in den
     Erneuerbaren. Hierzu ist zu bemerken, dass Wärme-          Hinzu kommt die Begünstigung der flächendeckenden
     pumpen eine konventionelle Technologie darstellen, die     Verbreitung der Wärmepumpe in Neubauten per Ver-
     beim derzeitigen Strommix nur zu knapp 50 Prozent mit      ordnung: Die Wärmepumpe gilt als die kostengünstigste
     grünem Strom betrieben wird. Nur wenn Wärmepumpen          Alternative zur Einhaltung der durch die Energieeinspar-
     ausschließlich mit grünem Strom betrieben werden, wäre     verordnung geforderten Energieeffizienzstandards in
     es gerechtfertigt, sie als regenerative Technologie zu     Neubauten. Daher gibt es seit Jahresbeginn 2021 keine
     bezeichnen.                                                Förderung mehr für den Einbau einer Wärmepumpe im
                                                                Neubau.
     Die Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG) fördert
     dennoch den Einbau von Wärmepumpen bei der Sanie-          Ob es darüber hinaus einer Förderung für die Verbrei-
     rung von Altbauten aktuell mit 35 Prozent bis 50 Prozent   tung von Wärmepumpen im Altbau bedarf, darf stark be-
     der förderfähigen Gesamtkosten, die je Wohneinheit         zweifelt werden, zumindest auf mittlere Sicht, wenn man
     maximal 60.000 Euro betragen. Die maximale Förderung       der Schätzung der CO2-Vermeidungskosten von 45 Euro
     beträgt somit 30.000 Euro, wenn der Höchstfördersatz       je Tonne CO2 für den Ersatz einer Ölheizung durch eine
     von 50 Prozent gewährt wird. Sollen tatsächlich 2 Mil-     Wärmepumpe aus der Studie von PricewaterhouseCo-
     lionen Wärmepumpen gefördert werden und würden die         opers glauben darf (PwC 2021: 44). Demnach wäre diese
     aktuellen Fördersätze beibehalten werden, wäre damit       Option angesichts steigender CO2-Preise im nationalen
     ein Förderaufwand von bis 60 Milliarden Euro verbunden.    Brennstoffemissionshandel spätestens im Jahr 2024
                                                                wettbewerbsfähig, denn der CO2-Preis ist für 2024 auf
                                                                45 Euro fixiert.
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM      15

Anstatt Fördergelder in möglicherweise zweistelliger
Milliardenhöhe bis zum Jahr 2025 auszugeben, könn-
te die Verbreitung von Wärmepumpen im Altbau somit
den steigenden CO2-Preisen im nationalen Emissions-
handelssystem überlassen werden, zumal sich die
CO2-Einsparwirkungen des Einsatzes von Wärmepum-
pen im Zuge der Dekarbonisierung des Strommixes in
Deutschland auch erst mit der Zeit verbessern. Nach
der PwC-Studie lag die CO2-Einsparung des Ersatzes
eines alten Erdgasbrenners durch eine Wärmepumpe
beim Strommix des Jahres 2018 bei rund 36 Prozent,
die Treibhausgasemissionen je Kilowattstunde Wärme
sinken von 250 Gramm bei der alten Erdgasheizung auf
rund 160 Gramm mit der Wärmepumpe, wenn man eine
Jahresarbeitszahl von 3 unterstellt (PwC 2021: 26). (Die
Jahresarbeitszahl reflektiert die Effizienz einer Wärme-
pumpe: Eine Jahresarbeitszahl von 3 besagt, dass die
Wärmepumpe aus einer Kilowattstunde Strom drei Kilo-
wattstunden an Wärme erzeugt.) Erst bei effizienteren
Wärmepumpen und einem grüneren Strommix als heute
verbessert sich die Emissionseinsparwirkung substan-
ziell.2 In diesem Zusammenhang weist Weimann (2020)
darauf hin, dass jede Wärmepumpe, die heute installiert
wird, ebenso wie jedes Elektroauto, den Ausstieg aus
der fossilen Stromproduktion verzögert, weil dadurch
verhindert wird, dass grüner Strom fossil produzierten
Strom ersetzt.

2 Die Effizienz einer Wärmepumpe hängt sehr von den individuellen Gegebenheiten, insbesondere dem Energieeffizienzstandard ab, den ein
Haus erreicht. So lässt sich eine Heizungsanlage mit einer Wärmepumpe nur dann tatsächlich effizient betreiben, wenn man in einem sehr
gut isolierten Niedrigenergiehaus wohnt (Meinwohn.Blog 2020). Je nach Haus und Anlage liegt der Stromanteil bei einer Wärmepumpenhei-
zung aber auch dann noch immer zwischen 20 und 30 Prozent. Darum schlussfolgert der Blog-Autor, dass eine Wärmepumpenheizung auf
absehbare Zeit für die meisten Menschen keine Alternative zu konventionellen Heizmethoden sein wird.
16   GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM

     MOBILITÄTSWENDE
     BESCHLEUNIGEN

     N
            eben vielerlei Maßnahmen zur Veränderung der         Schwachpunkte von naiven Quer- bzw. Längsschnitt-
            Anteile unterschiedlicher Verkehrsmittel am          untersuchungen vermieden werden (Bauernschuster,
            Verkehrsaufkommen (Modalsplit), etwa die Er-         Traxler 2021: 89). Die zentralen Ergebnisse der Studie
     höhung der Investitionen für Schiene, ÖPNV und Rad im       hinsichtlich der Verkehrssicherheit waren, dass ein Tem-
     Jahr 2022 um 2,5 Milliarden Euro, schlagen Baerbock         polimit von 130 km/h im Vergleich zur Richtgeschwindig-
     und Habeck (2021: 5) die Beschließung eines Sicher-         keit zu einem Rückgang der Unfälle um circa 10 Prozent
     heitstempos von 130 km/h auf Autobahnen vor,                und zu einem Rückgang der Schwerverletzten und Ge-
     mit anderen Worten ein generelles Tempolimit. Diese         töteten von circa 20 Prozent führte (BASt 1977).
     Maßnahme würde pro Jahr angeblich etwa 2 Millionen
     Tonnen CO2 einsparen, so viel wie der gesamte inner-        Dass diese Ergebnisse, die mittlerweile 45 Jahre alt sind,
     deutsche Flugverkehr.                                       auch heute noch gelten, muss stark bezweifelt wer-
                                                                 den, vor allem weil die PKW von heute im Durchschnitt
     Wenngleich es einige gute Gründe für eine solche            schwerer und sicherer, aber auch deutlich schneller sind.
     Maßnahme gibt, zu denen neben der Verringerung von          Im Ergebnis sind dadurch nicht nur die Durchschnitts-,
     Emissionen mit globaler und lokaler Wirkungsweise vor       sondern auch die Spitzengeschwindigkeiten stark ge-
     allem die Erhöhung der Verkehrssicherheit und Ver-          stiegen, und damit auch die Varianz der Geschwindig-
     ringerung der Zahl der Unfälle und damit einhergehend       keiten (Bauernschuster, Traxler 2021: 90). Beschleuni-
     der Unfalltoten und -verletzten gehören, muss konsta-       gungs- und Abbremsmanöver finden dadurch häufiger
     tiert werden, dass kausale empirische Evidenz zu den        und in stärkerem Maße statt als früher. Dies trägt zur
     Wirkungen eines generellen Tempolimits rar ist, weil die    Verunsicherung der übrigen Verkehrsteilnehmer bei und
     Datenlage dürftig ausfällt (Bauernschuster, Traxler 2021:   verringert tendenziell die Sicherheit im Straßenverkehr.
     86). Daher spricht der Verkehrsclub Deutschland (VCD),      Zudem ist die Verkehrsdichte auf Autobahnen heute un-
     der ein starker Verfechter des generellen Tempolimits       gleich höher als in den 1970er Jahren.
     ist, zu Recht von einem »forschungspolitischen Loch in
     Deutschland«, da kaum belastbare Studien existieren,        Bevor ein Tempolimit 130 ohne solide Kenntnisse der
     die die Auswirkungen eines Tempolimits auf Autobahnen       damit einhergehenden positiven wie negativen Effekte
     quantifizieren (Schmidt 2020).                              eingeführt wird, sollte entsprechend dem Beispiel des
                                                                 Feldexperiments aus den 1970er Jahren ein langjähri-
     Fundierte Evidenz für Deutschland stammt hierzu aus         ger, groß angelegter Feldversuch unternommen werden,
     den 1970er Jahren, als die Bundesanstalt für Straßen-       bei dem mit den modernsten Evaluationsmethoden die
     wesen (BaSt) in den Jahren 1975 und 1976 ein sorgfältig     Rückgänge in den Durchschnitts- und Spitzengeschwin-
     entwickeltes Experiment umgesetzt hat, um die Effekte       digkeiten und den Unfallzahlen und -opfern ermittelt
     eines Tempolimits 130 im Vergleich zu einer Richtge-        werden, sowie die Zeitverluste, die mit einem Tempolimit
     schwindigkeit von 130 km/h gründlich zu evaluieren          verbunden wären. Gerade in puncto Zeitverluste, welche
     (BASt 1977). Die untersuchten Autobahnabschnitte            die positiven Wirkungen eines Tempolimits konterkarie-
     wurden dazu in zwei Gruppen unterteilt: in »Untersu-        ren könnten, gibt es große Unsicherheiten ob ihres Um-
     chungsstrecken«, auf denen im Studienzeitraum anfangs       fangs und den damit einhergehenden Kosten.
     ein Tempolimit 130 galt, bevor dann das Tempolimit
     aufgehoben und die Richtgeschwindigkeit eingeführt          Wenngleich Schmidt (2020) errechnet, dass ein Tempoli-
     wurde; auf »Vergleichsstrecken« wurde die Anpassung         mit 130 zu einem jährlichen Zeitverlust von insgesamt 65
     in umgekehrter Reihung durchgeführt. Durch dieses           Millionen Stunden führen würde, beruht diese Berech-
     Forschungsdesign konnten sowohl allgemeine Zeittrends       nung auf einer Vielzahl von Annahmen, die den mög-
     als auch zeitkonstante Unterschiede zwischen den Auto-      lichen Zeitverlust massiv über-, aber auch unterschätzen
     bahnabschnitten eliminiert werden und so die zentralen      könnten (Bauernschuster, Traxler 2021: 97). In keinem
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM   17

Fall ist es jedoch gerechtfertigt, zu behaupten, dass mit   2020: 6). Ob andere Vorteile eines Tempolimits, wie die
einem Tempolimit keine nennenswerten Kosten verbun-         Verringerung der Zahl der Unfälle und die Erhöhung der
den seien, wie das Umweltbundesamt es tut: »Damit           Verkehrssicherheit, dazu führen, dass dessen Nutzen die
könnte die Einführung eines generellen Tempolimits auf      Kosten überwiegen, muss mangels verlässlicher empiri-
Bundesautobahnen zur Erreichung des Klimaschutz-            scher Evidenz eine offene Frage bleiben.
zieles für den Verkehr im Jahr 2030, wie es im Bundes-
Klimaschutzgesetz festgelegt ist, beitragen – und zwar      Anstatt übereilt ohne valide Kenntnis der Kosten-Nut-
bereits kurzfristig und ohne nennenswerte Mehrkosten«       zen-Relation ein generelles Tempolimit einzuführen,
(UBA 2020: 10).                                             sollte die Verkehrspolitik schnellstmöglich alternative
                                                            Maßnahmen ergreifen, um die hohen Belastungen durch
Besonders wichtig wäre, dass durch einen groß ange-         den Verkehr, allen voran durch Staus, zu vermindern,
legten Feldversuch zusätzlich zum Geschwindigkeits-         und insbesondere zeit- und ortsabhängige Straßen-
limit von 130 km/h auch andere Tempolimits von 140,         nutzungsgebühren einführen, in Städten in Form einer
150 und 120 km/h evaluiert werden, denn es gibt keine       City-Maut (Frondel 2019). Eine Städte-Maut ist anderen
empirische Analyse für Deutschland zur optimalen Höhe       Regulierungsinstrumenten, vor allem Fahrverboten,
eines Tempolimits. Anstatt auf einem Feldexperiment,        deutlich überlegen, auch weil den Menschen dadurch
das tatsächlich kausale empirische Evidenz liefern wür-     ihre Wahlfreiheit bewahrt würde und sie im Gegensatz
de, beruht die Schätzung des UBA (2020) zur CO2-Emis-       zu Fahrverboten frei entscheiden könnten, ob ihnen die
sionsreduktion infolge eines Tempolimits von 130 km/h       Fahrt ins Zentrum mit dem eigenen Personenwagen so
von rund 2 Millionen Tonnen, auf die sich Baerbock und      viel wert ist, wie sie an Betriebskosten, vor allem für
Habeck (2021) wohl beziehen, auf einer Querschnitts-        Sprit, sowie an Park- und Mautgebühren, aufzubringen
analyse zur Geschwindigkeitsverteilung des Leichtver-       hätten.
kehrs auf Autobahnen der Bundesanstalt für Straßenwe-
sen (Löhe 2016).                                            Die vorliegende empirische Evidenz zu den Effekten ei-
                                                            ner Städte-Maut in skandinavischen Städten zeigt, dass
Diese deskriptive Querschnittsanalyse hat offensicht-       die mit digitalen Technologien kostengünstig realisier-
liche Schwächen, vergleicht sie doch die Daten von 41       bare belastungsabhängige Bepreisung der Straßennut-
Messstellen ohne Tempolimit mit denen für lediglich drei    zung das Verkehrsaufkommen in Städten in signifikanter
Messstellen mit Tempolimit 130 (Bauernschuster, Traxler     Weise senken kann. So konnte der Autoverkehr in Stock-
2021: 91). Zusätzlich zu dieser gravierenden Differenz      holm mit Hilfe einer Städte-Maut um rund 20 Prozent
in der Zahl der Messtellen gibt es weitere beobachtbare     reduziert werden (Börjesson, Kristoffersson 2012). Um
Unterschiede zwischen den Autobahnabschnitten mit           solche Potentiale auch in deutschen Städten heben zu
und ohne Tempolimit, etwa hinsichtlich der Fahrbahn-        können, müsste der für eine Erhebung einer City-Maut
steigung und -krümmung. Hinzu kommen kaum vermeid-          notwendige Rechtsrahmen aber erst noch geschaffen
bare Unterschiede hinsichtlich unbeobachteter Einfluss-     werden (Frondel 2021). Dieses rechtliche Defizit sollte
faktoren, die in Querschnittsanalysen zu Verzerrungen       schnellstens beseitigt werden.
führen, weshalb Bauernschuster und Traxler (2021: 88)
solche Querschnittsanalysen zu Recht als wenig aussa-
gekräftige Äpfel-Birnen-Vergleiche bezeichnen.

In Ermangelung besserer empirischer Evidenz benutzt
Schmidt (2020: 5) dennoch diese Daten und die Schät-
zungen des Umweltbundesamtes zu den CO2-Einspa-
rungen und beziffert die CO2-Vermeidungskosten eines
Tempolimits 130 mit rund 716 Euro je Tonne, ein Viel-
faches des aktuellen Preises für Emissionszertifikate,
der derzeit bei rund 50 Euro liegt. Wenngleich trefflich
über die diesen Vermeidungskosten zugrundeliegenden
Annahmen gestritten werden kann, zeigt deren Größen-
ordnung, »dass ein Tempolimit allein aus Klimaschutz-
gründen ökonomisch wenig Sinn macht« (Schmidt
Sie können auch lesen