DAS KLIMASCHUTZ-SOFORTPROGRAMM VON BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: MÖGLICHE AUSWIRKUNGEN AUF EMISSIONEN UND GESELLSCHAFT
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DAS KLIMASCHUTZ- SOFORTPROGRAMM VON BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: MÖGLICHE AUSWIRKUNGEN AUF EMISSIONEN UND GESELLSCHAFT Prof. Dr. Manuel Frondel Gutachten im Auftrag von DIE FAMILIENUNTERNEHMER e. V.
INHALTSVERZEICHNIS Kurzzusammenfassung 3 Einleitung 5 Erneuerbare Energien schneller ausbauen 6 Kohleausstieg auf 2030 vorziehen 10 Klimaoffensive bei Gebäuden und im Bausektor starten 14 Mobilitätswende beschleunigen 16 Grünen Wasserstoff stärken 18 Klimaschutz sozial gerecht gestalten 20 Die EU zur Klimavorreiterin machen, Klimaaußenpolitik vorantreiben 22 IMPRESSUM/KONTAKT Prof. Dr. Manuel Frondel DIE FAMILIENUNTERNEHMER e.V. Henry Borrmann | Charlottenstraße 24 | 10117 Berlin | Tel. 030 300 65-481 borrmann@familienunternehmer.eu | www.familienunternehmer.eu Berlin, September 2021
KURZZUSAMMENFASSUNG I n dieser Kurzstudie werden die Auswirkungen des Darüber hinaus wollen Baerbock und Habeck (2021) Klimaschutz-Sofortprogramms der Partei Bünd- den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen. Ein weiterer nis90/Die Grünen im Hinblick auf die gesellschaft- ordnungsrechtlicher Ausstiegsbeschluss sollte je- lichen Verteilungswirkungen und die Potentiale zur doch aus Kostengründen vermieden werden. Statt- Emissionsminderung bewertet. Aufgrund von Unklar- dessen sollte das endgültige Datum des Kohleaus- heiten in der Ausgestaltung zahlreicher Maßnahmen stiegs dem Markt bzw. den steigenden Preisen von ist es prinzipiell unmöglich, die damit in Summe Emissionszertifikaten überlassen bleiben. Andern- einhergehenden Emissionsminderungen zu quanti- falls könnten weitere Entschädigungszahlungen fizieren. Stattdessen wird sich hier auf diejenigen der an die Kraftwerksbetreiber in erheblichem Umfang großen Mannigfaltigkeit an Maßnahmen kapriziert, anfallen. die im Programm hinreichend klar formuliert sind, um eine Bewertung zu erlauben, zumindest in qualitati- Überdies wollen Baerbock und Habeck (2021) einen ver Hinsicht. nationalen Mindestpreis für im EU-Emissionshandel gehandelte Emissionszertifikate etablieren, der bei Als erste Maßnahme kündigen Baerbock und Habeck 60 Euro je Tonne Kohlendioxid beginnt und sukzessi- (2021:2) an, die erneuerbaren Stromerzeugungskapa- ve ansteigen soll. Aufgrund des Wasserbetteffektes zitäten schneller ausbauen zu wollen. Ein beschleu- beim EU-Emissionshandel wäre dadurch für den nigter Ausbau führt jedoch, nicht zuletzt aufgrund Klimaschutz nichts gewonnen, ein hoher nationaler des ungenügenden Netzausbaus, zu unnötig hohen Mindestpreis würde lediglich für höhere Belastungen Kosten, insbesondere dann, wenn der Ausbau weiter- der heimischen Unternehmen sorgen und möglicher- hin mit Hilfe des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes weise für Produktionsverlagerungen ins Ausland. (EEG) gefördert wird, statt diesen zunehmend dem Markt bzw. steigenden CO2-Zertifikatpreisen zu über- Baerbock und Habeck (2021: 6) möchten zudem lassen, und wenn er in besonderem Maße in techno- den nationalen CO2-Preis, der sich auf die Sektoren logiespezifischer Weise erfolgt, wie es von Baerbock Verkehr und Wärme auswirkt, im Jahr 2023 auf 60 und Habeck (2021) durch eine Solarpflicht und eine Euro je Tonne festsetzen, statt des bislang für 2023 2-Prozent-Quote für Windkraftanlagen an Land an- vorgesehenen CO2-Preises von 35 Euro. Dies hätte gedacht ist. besonders für einkommensschwache Haushalte er- hebliche Konsequenzen. Es ist deshalb lobenswert, Solange der Erneuerbaren-Ausbau nach über 20 dass Baerbock und Habeck (2021: 6) im Gegenzug Jahren EEG-Förderung noch immer nicht dem Markt einen sozialen Ausgleich schaffen wollen, indem die überlassen werden soll, sollte aus Kostengründen Einnahmen aus der CO2-Bepreisung vollständig an zumindest auf technologieoffene, statt auf techno- die Menschen zurückgegeben werden sollen, einer- logiespezifische Ausschreibungen gesetzt werden. seits in Form einer Absenkung der EEG-Umlage, Technologiespezifische Ausbauziele, wie die von andererseits durch ein sogenanntes Energiegeld, das Baerbock und Habeck (2021) avisierten 6 bzw. 12 jährlich pro Kopf ausgezahlt würde. Von einem deut- Gigawatt Zubauleistung an Windkraft an Land bzw. lich höheren CO2-Preis wird kurzfristig jedoch kaum Photovoltaik pro Jahr, wären damit ebenso obsolet mehr an Emissionsminderung zu erwarten sein. Das wie das proklamierte Ausbauziel von 35 Gigawatt CO2-Preissignal wirkt eher mittel- bis langfristig, da Windoffshore-Kapazitäten bis zum Jahr 2035. Es ist die Bürger im Wissen um die stetige Verteuerung insbesondere davon auszugehen, dass aufgrund wei- fossiler Kraft- und Brennstoffe erst bei den Neu- terer technologischer Fortschritte und der gestiege- anschaffungen von Autos und Heizungssystemen nen und wohl weiter steigenden CO2-Zertifikatpreise die energieeffizienteren und treibhausgasärmeren Windparks vor der Küste die Wettbewerbsfähigkeit Alternativen bevorzugen werden. Auf eine Erhöhung bald erreicht haben werden, wenn sie nicht gar des nationalen CO2-Preises über das gesetzlich fest- schon heute wettbewerbsfähig sind. gelegte Maß sollte daher verzichtet werden, um die Menschen nicht unnötig zu belasten.
4 GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM N icht angebracht ist auch das Vorhaben, sich bilaterales Bündnis allerdings zu wenig. Ein Bündnis für eine ambitionierte Reform der Flotten- zum Zwecke zur effektiven und effizienten Senkung grenzwerte für PKW-Neuzulassungen in der der Treibhausgasemissionen sollte deutlich umfas- Europäischen Union einzusetzen (Baerbock, Habeck sender sein und zumindest auf Ebene der G20-Staa- 2021: 7), denn mit diesen Emissionsstandards gehen ten initiiert werden sowie ein Abkommen über die hohe implizite CO2-Preise einher. Daher wäre es Etablierung eines einheitlichen CO2-Preises in diesen weitaus kostengünstiger, die Vermeidung von Treib- Ländern beinhalten. Allein einem möglichst umfas- hausgasen bei PKW einem Emissionshandelssystem senden Klimaschutzabkommen über einen einheit- zu überlassen, so wie es die jüngsten Pläne der lichen CO2-Preis, der in einem solchen Klimaschutz- EU-Kommission vorsehen. Zusätzliche Flottengrenz- Club etabliert wird, trauen Experten die effektive werte wären dann kontraproduktiv und würden das Senkung der globalen Treibhausgasemissionen zu, CO2-Preissignal schwächen. beim Pariser Abkommen wird hingegen erwartet, dass es wegen mangelnder internationaler Koopera- Vor dem Hintergrund, dass für eine effektive welt- tion aufgrund fehlender gegenseitiger Verpflichtun- weite Klimapolitik internationale Kooperation unab- gen und Sanktionen sowie instabiler Anreizstrukturen dingbar ist, ist das Versprechen von Baerbock und scheitern könnte. Habeck (2021: 7) lobenswert, dass sie eine transat- lantische Klimapartnerschaft zwischen der EU und den USA auf den Weg bringen möchten. Für effektive Minderungen der globalen Emissionen ist ein solches
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM 5 EINLEITUNG A nfang August stellten die Parteivorsitzenden ist, welche umweltschädlichen Subventionen abgebaut von Bündnis90/Die Grünen, Annalena Baerbock werden sollen und ob es einen derartigen Subventions- und Robert Habeck, das Klimaschutz-Sofort- umfang überhaupt gibt. Schließlich gehört die Subven- programm vor, mit dem sie sich für den Bundestags- tionierung der heimischen Steinkohleförderung, die in wahlkampf positionierten. Mit Hilfe dieses Programms Summe mehr als 150 Milliarden Euro an Subventionen soll nach den Worten der beiden Parteivorsitzenden verschlungen hat (Frondel, Kambeck, Schmidt 2007), das größte Klimaschutzpaket beschlossen werden, das seit Ende des Jahres 2018 der Geschichte an. es jemals gegeben hat. Das Programm besteht aus 10 Kernpunkten, etwa einem schnelleren Ausbau der er- Neben grundsätzlich begrüßenswerten Ansinnen, wie der neuerbaren Energien oder dem Vorziehen des Kohleaus- Etablierung einer transatlantischen Klimapartnerschaft stiegs auf das Jahr 2030, die ihrerseits eine Vielzahl an zwischen den USA und der EU, mit dem die Klima- Unterpunkten beinhalten. außenpolitik vorangetrieben werden soll (Kernpunkt 10), enthält das Programm einige Punkte, die wenig bis gar Dazu gehören beispielsweise die wünschenswerte Be- nichts mit Klimaschutz zu tun haben, etwa die Einfüh- schleunigung des Ausbaus der Stromnetze, der Abbau rung eines Tierschutz-Cent auf tierische Produkte, mit umweltschädlicher Subventionen, die in einem ersten dem eine Ausweitung der Stallflächen pro Nutztier er- Schritt um 10 Milliarden Euro gesenkt werden sollen, reicht werden soll, sowie die Erhöhung des Mindestlohns sowie eine zusätzliche Offensive für Investitionen in Kli- auf 12 Euro, mit der die höheren Kosten durch ambi- maschutz im Umfang von 15 Milliarden Euro — umzuset- tionierteren Klimaschutz für Menschen mit niedrigem zen vermutlich innerhalb der nächsten Legislaturperiode. Einkommen ausgeglichen werden sollen. Die letzten beiden Punkte gehören zum Kernpunkt 9 des Sofortprogramms, mit dem der Bundeshaushalt zum Kli- Vor diesem Hintergrund werden in dieser Kurzstudie die mahaushalt gemacht und eine doppelte Dividende erzielt Auswirkungen des Klimaschutz-Sofortprogramms der werden soll: Die Investitionen und der Subventionsabbau Partei Bündnis90/Die Grünen im Hinblick auf die gesell- sollen nicht nur den Klimaschutz voranbringen, sondern schaftlichen Verteilungswirkungen und die Potentiale zur auch für zukunftsfähige Jobs sorgen (Baerbock, Habeck Emissionsminderung bewertet. Aufgrund von Unklar- 2021: 6). heiten in der Ausgestaltung zahlreicher Maßnahmen des Programms ist es prinzipiell unmöglich, die damit Welche Emissionseinspareffekte von der nicht unbe- in Summe einhergehenden Emissionsminderungen zu trächtlichen Investition von 15 Milliarden Euro zu erwar- quantifizieren. Stattdessen wird sich hier notgedrungen ten sind, bleibt allerdings zwangsläufig unklar, solange auf diejenigen der großen Mannigfaltigkeit an Maßnah- nicht weiter spezifiziert wird, wie diese Summe auf die men kapriziert, die im Programm hinreichend klar formu- im Programm genannten zahlreichen Alternativen, wie liert sind, um eine Bewertung zu erlauben, zumindest in den Ausbau von Bahn-, Rad- und Fußverkehr, Ladesäu- qualitativer Hinsicht. Im Einzelnen werden 13 Maßnah- len, Energienetzen und vieles mehr, aufgeteilt werden men bewertet, die im Folgenden in der Reihenfolge der soll. Schließlich bringt nicht jede der Alternativen den im Sofort-Programm aufgeführten Kernpunkte diskutiert Klimaschutz in gleichem Maße voran. Noch weniger klar werden.
6 GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM ERNEUERBARE ENERGIEN SCHNELLER AUSBAUEN A ls erste Maßnahme kündigen Baerbock und wenig effizienten, emissionsintensiven Anlagen länger Habeck (2021:2) an, eine Novellierung des zu betreiben, als wenn der Anteil der Erneuerbaren nicht Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG) vor- weiter gesteigert worden wäre (Böhringer 2010: 69). nehmen zu wollen, mit der die Ausbauziele für Photo- voltaik auf 12 Gigawatt pro Jahr und für Windkraft Es hat sich mittlerweile eingebürgert, in diesem Zusam- an Land auf 6 Gigawatt erhöht werden sollen. Durch menhang vom Wasserbetteffekt zu sprechen. Drückt diese Maßnahme können jedoch, ebenso wie durch man das Wasserbett an einer Stelle herunter, etwa durch die weiteren hier noch zu diskutierenden Maßnahmen die EEG-Förderung erneuerbarer Energien in Deutsch- zum Ausbau der erneuerbaren Energien, aufgrund der land, geht es an anderen Stellen nach oben, etwa durch Existenz des EU-Emissionshandels — dem von Ökono- den Mehrausstoß von Kohlekraftwerken, die gesamte men präferierten Klimaschutzinstrument — im EU-wei- Emissionsmenge, bildlich gesprochen die Wassermenge, ten Maßstab betrachtet keinerlei Emissionsminderungen bleibt gleich (Graichen et al. 2018).1 erzielt werden, die über jenes Maß hinausgehen, das bereits durch den Emissionshandel erreicht wird (BMWA Ebensolche Wasserbetteffekte gibt es im Übrigen bei 2004: 8). sämtlichen zusätzlichen Bemühungen um Emissions- minderungen, die durch eine Reduzierung der Strom- Denn: Die via EEG geförderte Stromerzeugung sorgt produktion bzw. des Stromverbrauchs erzielt werden zwar für geringere Emissionen im deutschen Strom- sollen: Sinkende Zertifikatspreise führen anderswo zu sektor, weshalb die Zertifikatpreise niedriger ausfallen geringeren Anreizen, die Emissionen an Kohlendioxid als ohne das EEG. Dadurch werden Vermeidungsmaß- (CO2) zu reduzieren. Hierzu zählen beispielsweise die nahmen in anderen am Emissionshandel beteiligten Herstellungs- und Vertriebsverbote von elektrischen Ge- Sektoren nicht ergriffen, weil es kostengünstiger ist, räten gemäß der EU-Ökodesignrichtlinie (u. a. das sog. stattdessen Zertifikate zu kaufen. Andere Stromerzeu- »Glühlampenverbot«), aber auch Förderprogramme, die gungssektoren in der EU sowie die Industriesektoren, Anreize setzen sollen, die Energieeffizienz elektrischer die in den Emissionshandel eingebunden sind, weisen Geräte zu erhöhen, und nicht zuletzt auch der Kohleaus- folglich höhere Emissionen auf und gleichen so die stieg in Deutschland. Emissionseinsparungen, die im deutschen Stromerzeu- gungssektor durch das EEG zweifellos ausgelöst wer- Erschwerend kommt bei der Forderung nach einem den, gänzlich aus (Frondel, Ritter, Schmidt 2008). schnelleren Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugungs- technologien in Deutschland hinzu, dass der Ausbau Im Ergebnis ergibt sich lediglich eine Emissionsverla- der Stromnetze bei weitem nicht schnell genug voran- gerung, der durch das EEG bewirkte Emissionseinspar- kommt, um mit der Ausbaugeschwindigkeit bei den effekt ist de facto Null (BMWA 2004: 8, Morthorst 2003). Erneuerbaren auch nur annähernd mithalten zu können. So kann es sich bei einem starken Ausbau der erneuer- Baerbock und Habeck (2021: 3) möchten daher zu baren Energien in der EU und den damit verbundenen si- Recht den Netzausbau beschleunigen, denn ohne eine gnifikanten Zertifikatpreis senkenden Wirkungen gerade Synchronisation des Ausbaus der Erneuerbaren und für die Betreiber alter Kohlekraftwerke eher lohnen, ihre der Stromnetze kommt es zunehmend zu Ineffizienzen 1 Die Reform des Emissionshandels im Jahr 2018 hat dafür gesorgt, dass der Wasserbetteffekt vorübergehend aufgehoben wird, indem überschüssige Emissionsrechte in die Marktstablilitätsreserve eingestellt werden, aus der heraus ab 2023 die Rechte, die über eine Höchst- grenze hinausgehen, gestrichen werden. Damit ist die Emissionsobergrenze im EU-Emissionshandel vorübergehend nicht bindend, voraus- sichtlich bis zum Jahr 2025 (Weimann 2020). Würde man die Bindungswirkung des Cap aber dauerhaft aufheben wollen, dann setzt man da- mit den Emissionshandel außer Kraft, weil dann der Preis für die Emissionsrechte auf null fallen wird (Weimann 2020). Ohne Wasserbetteffekt verliert man den Emissionshandel und damit das wirksamste und kosteneffizienteste Klimaschutzinstrument, das sich weltweit gegenwärtig finden lässt.
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM 7 in Form von Abschaltungen von Erneuerbaren-Anlagen, Vor dem Hintergrund des dem Erneuerbaren-Ausbau weil der grüne Strom wegen fehlender Netzkapazitäten stark hinterherhinkenden Stromnetzausbaus sowie der nicht zu den Abnehmern gelangen kann. In vielen Fällen gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit von Erneuerbaren- bleibt den Netzbetreibern zur Aufrechterhaltung der Technologien aufgrund aktuell hoher Emissionszertifikat- Netzstabilität wenig anderes übrig, als eine Abschaltung preise wäre eine Erhöhung der Ausbauziele für Photo- der Erneuerbaren-Anlagen anzuordnen. Dies verringert voltaik und für Windkraft an Land aus Kostengründen die theoretisch mögliche Produktionsmenge an grünem und unter dem Gesichtspunkt der Kosteneffizienz der Strom und verursacht zunehmend höhere Kosten. So ha- falsche Weg. Statt einzelne Technologien, wie die Wind- ben sich die Kosten für das Abregeln von Erneuerbaren- kraft an Land, die absehbar mit die teuerste Erneuer- Anlagen zwischen 2016 und 2020 mehr als verdoppelt, baren-Technologie bleiben dürfte und die sich großen sie stiegen von rund 370 auf 760 Millionen Euro (BNetzA lokalen Widerständen durch Bürgerinitiativen gegen- 2020: 9). übersieht, durch die Erhöhung technologiespezifischer Ausschreibungsmengen zu einer größeren Verbreitung zu Das Ansinnen, den Ausbau der erneuerbaren Stromer- verhelfen, die mit hohen Kosten und Widerständen ver- zeugungstechnologien mit Hilfe von höheren Ausschrei- bunden wäre, sollte schnellstmöglich ausschließlich auf bungsvolumina für Windkraft an Land und Photovoltaik technologieoffene Ausschreibungen gesetzt werden, um beschleunigen zu wollen, führt aus einem weiteren die Kosten des künftigen Ausbaus der Erneuerbaren so Grund zu unnötig hohen Kosten: Aufgrund der seit 2017 gering wie möglich zu halten. stark gestiegenen Preise für Emissionszertifikate auf der- weil über 50 Euro je Tonne CO2 steigt die Wettbewerbs- Mit weiter steigenden Preisen für Emissionszertifikate, fähigkeit dieser regenerativen Stromerzeugungstechno- die die Wettbewerbsfähigkeit von Erneuerbaren weiter logien ebenfalls an, mit dem Resultat, dass zunehmend verbessern, sollte zudem baldmöglichst darüber nach- Solarparks errichtet werden, die keine Einspeisevergü- gedacht werden, die Förderung grünen Stroms mittels tungen mehr in Anspruch nehmen. des EEG auslaufen zu lassen und nach über 20 Jahren technologiespezifischer Förderung via EEG den künfti- Die Agora Energiewende (2019) geht davon aus, dass gen Ausbau der Erneuerbaren dem Markt zu überlassen. bei Preisen für Emissionszertifikate von über 50 Euro Dies wäre bei über 220 Milliarden Euro (Netztransparenz erneuerbare Energietechnologien, aber insbesonde- 2021), die seit Einführung des EEG im Jahr 2000 bislang re große Solarparks ohne eine Förderung in Form von an Einspeisevergütungen von den Stromverbrauchern Einspeisevergütungen auskommen können und die bezahlt werden mussten, sowie bereits feststehenden Photovoltaiktechnologie, wenn sie wie bei Solarparks weiteren rund 400 Milliarden Euro, die in den nächsten in großem Maßstab betrieben wird, nicht mehr auf eine 20 Jahren noch an Vergütungen zu zahlen sind (Andor, Förderung durch das EEG angewiesen ist. Dies ist Frondel, Vance 2017), höchste Zeit und angesichts der perspektivisch ebenso für Offshore-Windparks vor den Aussicht auf weiter steigende Emissionszertifikatpreise Küsten zu erwarten, schließlich haben bei entsprechen- vertretbar, ohne einen Einbruch oder gar einen Stopp den Ausschreibungen zum Bau von Offshore-Wind- beim Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugungstechno- parks in der Vergangenheit bereits einige Bieter auf die logien zu riskieren. So ist davon auszugehen, dass die Inanspruchnahme von Einspeisevergütungen verzichtet, Wettbewerbsfähigkeit der Erneuerbaren sich mit weiter etwa die EnBW und Dong. Demzufolge erwartet auch steigenden Preisen für Emissionszertifikate weiter ver- die Bundesregierung (2021), dass die Windkraft auf See bessert, wenn die EU-Kommission zur Erreichung des perspektivisch die günstigste Technologie zur Strom- verschärften Klimaschutzziels für 2030 die Emissions- erzeugung auf Basis erneuerbarer Energietechnologien obergrenze im EU-Emissionshandel, welche aktuell um sein wird. 2,2 Prozent pro Jahr verringert wird, stärker senkt.
8 GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM D ies dürfte neben dem Bau großer Solarparks vor als sehr befremdlich zu bezeichnen. So soll die Flä- allem den Offshore-Wind-Ausbau begünstigen. chenplanung für Windkraft gesetzlich so angepasst Das Vorhaben von Baerbock und Habeck (2021: werden, dass für den Windkraftausbau an Land zwei 2), den Ausbau der Windenergie vor den Küsten durch Prozent der Fläche eines jeden Bundeslandes zur Anhebung des Ziels für das Jahr 2035 auf 35 Giga- Verfügung stehen. watt installierte Leistung beschleunigen zu wollen, ist vor diesem Hintergrund als unnötig zu bezeichnen Mit einer solchen Maßnahme soll eine im Vergleich zu — zumal die Bundesregierung (2021) die Offshore-Wind- anderen regenerativen Technologien teurere Alternative ausbau-Ziele jüngst bereits erhöht hat. So sieht die am zu einer größeren Verbreitung verholfen werden. Tat- 10. Dezember 2020 in Kraft getretenen Änderung des sächlich lagen die mengengewichteten durchschnitt- Windenergie-auf-See-Gesetzes bis 2030 eine Erhöhung lichen Einspeisevergütungen bei den Ausschreibungen des Ausbauzieles für Offshore-Windenergie von 15 auf der Bundesnetzagentur für Windkraftanlagen an Land 20 Gigawatt Leistung vor, bis 2040 ist gar eine Erhö- im Jahr 2020 bei etwas über 6 Cent je Kilowattstunde hung auf 40 Gigawatt geplant. Ein weiteres Ziel von 35 (kWh), während die mengengewichteten durchschnittli- Gigawatt bis zum Jahr 2035 erscheint auch aus einem chen Einspeisevergütungen bei den Ausschreibungen für anderen Grund unnötig: Es wäre weitaus wichtiger, dass Solaranlagen im selben Jahr etwas über 5 Cent betrugen das nationale Denken, das mit dem Formulieren solcher (BNetzA 2021a, b). Eine Differenz von etwa einem Cent nationalen Ziele manifestiert wird, einer europäischen je kWh zwischen den Vergütungen für Solar- und Wind- Sichtweise weichen würde. kraftanlagen an Land lässt sich auch für die jüngsten Ausschreibungsrunden im Jahr 2021 konstatieren. Unter Kosteneffizienzgesichtspunkten wäre es wün- schenswert, den Ausbau der Erneuerbaren in Europa mit Was absolut betrachtet nach einem geringen Unter- den kostengünstigsten Technologien und an den Orten schied aussieht, ist in Relation gesehen eine erhebliche voranzutreiben, wo es am kostengünstigsten möglich ist. Differenz: Die Förderung der Windkraftanlagen an Land Daher ist es sehr zu begrüßen, dass die EU-Kommission via Einspeisevergütungen liegt derzeit im Mittel rund 20 die Rahmenbedingungen für Offshore-Wind-Projek- Prozent höher als bei Solarparks. Noch weitaus deut- te verbessern will, vor allem für grenzüberschreitende licher ist der Unterschied zur Offshore-Windkraft: Bereits Projekte. Die am 19. November 2020 von der EU-Kom- in den Ausschreibungen in den Jahren 2017 und 2018 mission vorgelegte Offshore-Strategie enthält hierzu eine gab es Gebote zu Errichtung von Windparks vor der Reihe von Maßnahmen. Angedacht sind zum Beispiel Küste, die bei 0 Cent je kWh lagen, die mengengewich- eine bessere Koordinierung der Mitgliedstaaten bei der teten durchschnittlichen Einspeisevergütungen bei den Planung von Flächen und Netzen für Offshore-Wind Ausschreibungen für Windkraftanlagen auf See betrugen sowie die Förderung von Forschung und Entwicklung. damals 0,44 bzw. 4,66 ct/kWh (BMWi 2021). Können beispielsweise Windparks, die vor den Küsten zweier Mitgliedsstaaten errichten werden, ihren Wind- Erschwerend käme bei einer solchen Vorschrift zur strom durch ein gemeinsames Stromnetz leiten, anstatt möglichst gleichmäßigen Verbreitung von Windkraftan- in jedem Land eine eigene Stromleitung zur Anbindung lagen an Land via einer 2-Prozent-Quote hinzu, dass sie der Windparks zu bauen, können dadurch Kosten ge- wegen den unterschiedlichen Windverhältnissen in den spart werden. einzelnen Bundesländern kostensteigernd wirken würde, da die Windkraftanlagen nicht notwendigerweise an den Angesichts eines aus Kosteneffizienzgründen wün- besten Standorten installiert werden würden. Ob einzel- schenswerten Gebots einer europäischen sowie einer ne Bundesländer von der in Aussicht gestellten Option, möglichst technologieoffenen Vorgehensweise bei Aus- von der 2-Prozent-Quote nach unten abweichen zu kön- bau der Erneuerbaren ist das Vorhaben Baerbocks und nen, wenn sie mit anderen Bundesländern vereinbaren, Habecks (2021: 2), einzelnen Technologien zusätzlich dass diese entsprechend mehr Fläche bereitstellen, ist zur bestehenden Förderung via EEG mit Hilfe des Ord- fraglich, würde aber die Restriktivität dieser Maßnahme nungsrechts zu einer größeren Verbreitung zu verhelfen, sowie die damit verbundenen Kosten mindern.
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM 9 Eine ebenso fragwürdige ordnungsrechtliche Maßnahme traproduktive Wirkungen ausgehen könnten, weil erstens wäre die als Solarpflicht bezeichnete Verpflichtung, die generell vorhandene Sympathie für die Photovoltaik Photovoltaikanlagen auf privaten Neubauten sowie dadurch leiden könnte und zweitens in vielen Fällen nur auf öffentlichen Gebäuden und Gewerbegebäuden die Mindestanlagengröße installiert würde, die, wenn zu installieren, die laut Baerbock und Habeck (2021:2) erst einmal auf dem Dach, einer späteren freiwilligen im Gebäudeenergiegesetz verankert werden soll. Diese Installation von umfangreicheren Anlagen aufgrund einer Maßnahme würde Photovoltaik-Kleinanlagen — der ak- höheren Attraktivität dieser Investitionsalternative im tuell und wegen fehlender Skaleneffekte, wie sie bei gro- Wege stehen würde. Dies würde die ohnehin nicht über- ßen Solar- und Windparks erzielt werden können, wohl mäßig groß eingeschätzten Potentiale der Photovoltaik auch künftig teuersten Stromerzeugungstechnologie bei Neubauten verringern. — zwar zu einer größeren Verbreitung führen. Es sollte jedoch noch einmal daran erinnert werden, dass damit, Summa summarum ist zu konstatieren, dass ein be- ebenso wie mit der 2-Prozent-Quote für den Windkraft- schleunigter Ausbau der erneuerbaren Stromerzeu- ausbau an Land, im Allgemeinen keine Emissionsminde- gungskapazitäten aufgrund der Einbindung des Strom- rungen erzielt werden, die über das im EU-Emissions- erzeugungssektors in den EU-Emissionshandel im handel erreichbare Maß hinausgehen. Insbesondere Allgemeinen zu keinen Emissionsminderungen führen, ist es wegen der im europäischen Maßstab betrachtet die über das durch den EU-Emissionshandel bewirkte geringfügigen Bedeutung dieser Maßnahmen kaum vor- Maß hinausgehen. Stattdessen führt ein beschleunigter stellbar, dass die EU-Kommission sie in nennenswerter Ausbau, nicht zuletzt auch aufgrund des ungenügenden Weise bei der künftigen Festsetzung der neuen Emis- Netzausbaus, zu unnötig hohen Kosten, insbesondere sionsobergrenzen für die in den EU-Emissionshandel dann, wenn der Ausbau weiterhin mit Hilfe des EEGs integrierten Sektoren berücksichtigen würde. gefördert wird, statt diesen zunehmend dem Markt bzw. steigenden CO2-Zertifikatpreisen zu überlassen, und Was somit keinen Klimaschutzeffekt hat, erhöht die wenn er in besonderem Maße in technologiespezifischer finanziellen Belastungen von öffentlichen und privaten Weise erfolgt, wie es von Baerbock und Habeck (2021) Haushalten. Dabei haben private Haushalte, die ein durch eine Solarpflicht und eine 2-Prozent-Quote für Eigenheim neu bauen, ohnehin bereits hohe Finanzie- Windkraftanlagen an Land angedacht ist. Solange der rungslasten zu tragen, nicht zuletzt aufgrund immer Erneuerbaren-Ausbau nach über 20 Jahren EEG-Förde- weiter verschärfter Energieeffizienz-Standards. Eine rung noch immer nicht dem Markt überlassen wird, sollte Solarpflicht wäre nicht nur ein starker Eingriff in die aus Kostengründen zumindest auf technologieoffene, Konsumentensouveränität, nach der im Idealfall allein statt auf technologiespezifische Ausschreibungen ge- die Verbraucher entscheiden, welche Art von Gütern und setzt werden. Technologiespezifische Ausbauziele, wie Dienstleistungen sie in Anspruch nehmen wollen und in die von Baerbock und Habeck (2021) avisierten 6 bzw. welchem Umfang. Darüber hinaus stellt eine Solarpflicht 12 Gigawatt Windkraft an Land bzw. Photovoltaik pro einen Eingriff in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit Jahr, wären damit ebenso obsolet wie das proklamierte dar, der dementsprechend einer besonderen Rechtferti- Ausbauziel von 35 Gigawatt Windoffshore-Kapazitäten gung bedarf und verhältnismäßig sein muss. Ob dieser bis zum Jahr 2035. Es ist vielmehr davon auszugehen, Eingriff in allen Fällen gerechtfertigt ist, ist angesichts dass aufgrund weiterer technologischer Fortschritte und der unterschiedlichen Sonnenscheindauern in den ver- der gestiegenen und wohl weiter steigenden CO2-Zer- schiedenen Bundesländern sowie der Abhängigkeit des tifikatpreise Windparks vor der Küste die Wettbewerbs- Solarstromertrags von der Himmelsausrichtung und der fähigkeit bald erreicht haben werden, wenn sie nicht gar Art des Daches fraglich. schon heute wettbewerbsfähig sind. Die Einführung einer deutschlandweiten Solarpflicht ist selbst in der Photovoltaik-Branche umstritten. So befürchtet der Präsident des Bundesverbands Solarwirt- schaft, Jörg Ebel (2021), dass von einer Solarpflicht kon-
10 GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM KOHLEAUSSTIEG AUF 2030 VORZIEHEN D eutschlands Stromversorgung steht vor großen Bis 2030 soll die Leistung der im Markt befindlichen Herausforderungen. Erstens: Bis Ende des Jah- Kohlekraftwerke auf maximal 9 Gigawatt Braunkohle und res 2022 gehen durch den Kernenergieausstieg 8 Gigawatt Steinkohle verringert werden. Das entspricht Kapazitäten im Umfang von rund 8 Gigawatt (GW) Netto- im Vergleich zu 2017 einem Rückgang von 10,9 Giga- leistung vom Netz und es müssen rund 65 Milliarden watt bei Braunkohlekraftwerken und 14,7 Gigawatt bei kWh an CO2-freiem Atomstrom bzw. rund 11 Prozent des Steinkohlekraftwerken. Folglich sollen 25,6 Gigawatt an Stromverbrauchs des Jahres 2020 durch andere Ener- Kohlekraftwerksleistung bis zum Jahr 2030 abgeschaltet gietechnologien ersetzt werden. werden. Dies ist mehr als ein Viertel der im Jahr 2019 vorhandenen Kapazitäten an konventionellen Kraftwer- Zweitens: Der mit dem Kohleverstromungsbeendi- ken, die eine Leistung von insgesamt rund 92 Gigawatt gungsgesetz (KVBG) beschlossene ordnungsrechtliche aufwiesen (BNetzA 2019). Ausstieg aus der Kohleverstromung in Deutschland, der spätestens bis zum Jahr 2038 abgeschlossen sein soll, Dieser Ausstiegsplan für die Kohleverstromung ist an bedeutet, dass 42,6 GW Kohlekraftwerkskapazitäten (Ta- eine Reihe von energie- und sozialpolitischen Bedin- belle 1), die im Jahr 2017 rund 241 Milliarden kWh Strom gungen geknüpft und soll in den Jahren 2023, 2026 und produzierten und knapp 37 Prozent zur Stromerzeugung 2029 überprüft werden. Sofern die energiewirtschaftli- beitrugen (AGEB 2019), abgeschaltet und auf andere chen, beschäftigungspolitischen und betriebswirtschaft- Art und Weise gedeckt werden müssen. Bereits bis zum lichen Voraussetzungen vorliegen, kann das Ausstiegs- Jahr 2022 soll die Leistung bei Braun- und Steinkohle datum in Verhandlungen mit den Betreibern auch auf auf jeweils rund 15 Gigawatt zurückgeführt werden. Das 2035 vorgezogen werden. Die Überprüfung, ob dies entspricht gegenüber 2017 einem Rückgang von 4,9 Gi- möglich ist, ist für das Jahr 2032 geplant (»Öffnungs- gawatt bei Braunkohlekraftwerken und von 7,7 Gigawatt klausel«). bei Steinkohlekraftwerken. 2017 2022 Abbau gegenüber 2017 2030 Abbau gegenüber 2017 Braunkohle 19,9 GW 15 GW -4,9 GW 9 GW -10,9 GW Steinkohle 22,7 GW 15 GW -7,7 GW 8 GW -14,7 GW Summe 42,6 GW 30 GW -12,6 GW 17 GW -25,6 GW Tabelle 1: Kapazitäten und Stein- und Braunkohlekraftwerke in Deutschland in Gigawatt (GW) und Kohleausstiegsplan Quelle: Kohlekommission 2019:62-63, BNetzA 2019
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM 11 Unter Versorgungssicherheitsgesichtspunkten könnte der So werden zur Umsetzung des vereinbarten Kohleaus- Termin für die erste Überprüfung im Jahr 2023 jedoch zu stieges bis zum Jahr 2038 die Betreiber von Braunkohle- spät stattfinden, denn bis Ende 2022 werden neben der kraftwerken für Stilllegungen entschädigt. Konkret wurde vorgesehenen Abschaltung von 12,6 Gigawatt an Kohle- RWE eine Entschädigung in Höhe von 2,6 Milliarden kraftwerksleistung zusätzlich rund 8 Gigawatt an Kern- Euro zugesagt, LEAG erhält 1,75 Milliarden Euro (BMF kraftkapazitäten vom Netz gehen. Insgesamt könnten 2021: 111). Hinzu kommen Zahlungen in unbestimmter somit rund 20 Gigawatt an konventioneller Kraftwerks- Höhe für die Betreiber von Steinkohlekraftwerken. Diese leistung bzw. rund ein Fünftel des heutigen konventionel- sollen Stilllegungsprämien erhalten, deren Höhe auf Ba- len Kraftwerksparks nicht mehr zur Verfügung stehen und sis von Ausschreibungen am Markt ermittelt wird. Diese die konventionellen Kapazitäten könnten bei fehlendem Ausschreibungen sind im Kohleverstromungsbeendi- Zubau neuer Kraftwerke bis Ende 2022 auf rund 72 Giga- gungsgesetz geregelt und erfolgen unter der Annahme, watt schrumpfen. Dann würden zur Deckung der Spitzen- dass es keine marktgetriebenen Stilllegungen gibt. last, die im Winter in Deutschland bei über 80 Gigawatt liegt, nicht mehr ausreichend konventionelle Kapazitäten Würde der ordnungsrechtliche Kohleausstieg von 2038 zur Verfügung stehen und man wäre auf Stromimporte, auf das Jahr 2030 vorgezogen, besteht die Gefahr, dass Pumpspeicher, Maßnahmen zur temporären Nachfragere- weitere Entschädigungszahlungen fällig werden könnten. duktion (Lastmanagement) und den Beitrag der erneuer- Dies wäre vermeidbar, wenn das Ende der Kohlever- baren Technologien dringend angewiesen. stromung dem Markt bzw. den steigenden Zertifikatprei- sen überlassen würde. Tatsächlich geht eine Studie im Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen tragen jedoch Auftrag der Agora Energiewende (2021: 11) davon aus, nur in geringem Umfang zur gesicherten Leistung bei dass der Kohleausstieg weitgehend marktbasiert erfol- (Schiffer 2019): Diese Beiträge liegen zwischen 0 Prozent gen könnte, da die EU-Kommission zur Umsetzung des (Photovoltaik) und 5 Prozent (Wind). Da die höchste Last höheren EU-Klimaziels für das Jahr 2030 aller Voraus- (Stromnachfrage) typischerweise im Herbst und Winter sicht nach eine Verschärfung des EU-Emissionshandels, auftritt, wenn es bereits dunkel ist und die Photovoltaik sprich eine stärkere jährliche Senkung der EU-weiten keinen Beitrag mehr leisten kann, müsste zu solchen Emissionsobergrenze als die bislang gültige Reduktion Zeiten bei einer Windflaute nahezu die gesamte Last von 2,2 Prozent pro Jahr, vorschlagen wird. Zu einem durch Importe und vor allem heimische konventionelle ähnlichen Ergebnis kommt auch das EWI (2021): Wenn Kraftwerke gedeckt werden. Angesichts eines Realisie- das europäische Klimaziel verschärft wird, könnte die rungszeitraums neuer Kraftwerke von vier bis sieben Steinkohleverstromung bereits bis zum Jahr 2030 weit- Jahren ist es ausgeschlossen, dass bis zum Ausstieg gehend zum Erliegen kommen, während die Braunkohle- aus der Kernenergienutzung Ende 2022 neue Erdgas- verstromung nach 2030 nur noch eine untergeordnete kraftwerke gebaut werden können. Dennoch dürften Rolle im deutschen Strommix spielt. neue Gaskraftwerke zukünftig eine wichtige Option zur Stromerzeugung darstellen. Die Studie der Agora Energiewende (2021: 11) geht da- von aus, dass bereits bei einem CO2-Zertifikat-Preis von Vor diesem Hintergrund möchten Baerbock und Habeck etwa 50 Euro je Tonne, also etwa dem aktuellen Preis- (2021: 3) den Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vor- niveau, Braunkohlekraftwerke unwirtschaftlich würden. ziehen und begründen dies unter anderem damit, dass Dies gälte wegen den höheren Brennstoffkosten erst bereits vollumfänglich Alternativen bereitstehen würden. recht für Steinkohlekraftwerke. Demnach müsste bei Unabhängig davon, dass die Prämisse vollumfänglich noch deutlich weiter steigenden CO2-Zertifikatspreisen bereitstehender Alternativen nach den obigen Ausfüh- sogar damit gerechnet werden, dass ein Kohleausstieg rungen offenbar nicht gegeben ist, sollte ein weiterer noch eher als im Jahr 2030 erfolgen könnte. ordnungsrechtlicher Ausstiegsbeschluss aus Kosten- gründen vermieden und das endgültige Datum des Kohleausstiegs dem Markt bzw. den steigenden Preisen von Emissionszertifikaten überlassen werden. Andern- falls könnten weitere Entschädigungszahlungen an die Kraftwerksbetreiber in erheblichem Umfang anfallen.
12 GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM O b nun der endgültige Kohleausstieg einige Jahre lischer Natur, weil mit dem Abschalten von Kohlekraft- vor oder nach dem Jahr 2030 oder exakt im werken die CO2-Emissionen nicht einfach verschwinden. Jahr 2030 erfolgt, ist allerdings nur von geringer Vielmehr entstehen die Emissionen an anderer Stelle, bzw. symbolischer Bedeutung: Der Trend einer abneh- etwa in Erdgaskraftwerken, die in Teilen die Strompro- menden Kohlestromerzeugung ist aufgrund schärferer duktion des abgeschalteten Kohlekraftwerkes überneh- Klimaziele und dadurch steigenden Zertifikatpreisen men. Es wäre folglich ein Irrtum, würde man glauben, unumkehrbar und hat bereits vor einigen Jahren ver- dass mit dem Abschalten eines Kohlekraftwerks die stärkt eingesetzt. So sanken die CO2-Emissionen der zuvor ausgestoßenen Emissionen gänzlich eingespart Energiewirtschaft zwischen 2017, als der CO2-Zertifikat- würden. preis noch bei rund 5 Euro je Tonne lag, und dem Jahr 2020, als der Zertifikatpreis mit rund 25 Euro bereits ein Ungeachtet der Symbolik, die von einem genauen Datum Vielfaches betrug, um rund 46 Prozent, von 323 auf 221 des Kohleausstiegs ausgeht, gibt es zwei wesentliche Tonnen (Abbildung 1). Allein im Jahr 2020 verringerten Aspekte, die mit dem unumkehrbaren Trend zur Verrin- sich die Emissionen aus der Braunkohleverstromung gerung der Kohlestromerzeugung einhergehen: Erstens um 23 Millionen t, die der Steinkohleverstromung um dürfte die Gewährleistung der Stromversorgungs- 13 Millionen t. Mit einer Minderung um insgesamt 36 sicherheit in den kommenden Jahren, vor allem nach Millionen Tonnen gegenüber 2019 leisteten Kohlekraft- dem Kernenergieausstieg Ende 2022, nach den obigen werke den größten Beitrag zur Emissionsminderung des Ausführungen eine große Herausforderung darstellen, Sektors Energiewirtschaft von 37 Millionen t gegenüber die aktuell noch zu wenig Beachtung findet. Zweitens: 2019 (Abbildung 1). Eine noch größere Minderung der Damit ein Kohleausausstieg Deutschlands angesichts CO2-Emissionen des Energiewirtschaftssektors gab es der Existenz des EU-weiten Emissionshandels überhaupt mit 51 Millionen Tonnen im Jahr 2019, als die Corona- klimawirksam wird, müssen die durch die Kraftwerksstill- Pandemie und die damit verbundene ökonomische Krise legungen freiwerdende CO2-Zertifikate im Umfang der noch keine Rolle spielten. dadurch eingesparten Emissionen aus dem nationalen Versteigerungsbudget gelöscht werden. Hierauf weist Den Kohleausstieg per staatlichem Dekret auf das Jahr die Kohlekommission (2019: 65) explizit hin. Andernfalls 2030 festsetzen zu wollen, ist auch deshalb nur symbo- dient ein Kohleausstieg zwar der Senkung der Emissio- Energiewirtschaft Industrie Gebäude Verkehr Landwirtschaft Abfall/Sonstiges Summe 1400 1.249 1200 87 1.121 1.043 993 Mio. t CO2-Äquivalente 164 74 942 1000 72 904 908 892 176 69 856 69 72 810 210 181 74 71 800 160 68 739 153 68 188 162 165 168 -0,1 167 163 66 -4 154 149 164 600 284 124 125 122 146 -4 116 244 123 208 191 188 120 +2 188 192 198 400 190 187 178 -8 466 200 400 385 397 368 347 344 323 309 258 221 -59 0 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Jahre Über-/Unterschreitung derJahresemissions- mengen des Bundes- klimaschutzgesetzes Abbildung 1: Treibhausgasemissionen in Deutschland (1990–2020) Quelle: UBA (2021)
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM 13 nen im deutschen Stromerzeugungssektor, eine zusätz- mit den Carbon-Leakage-Regeln Anerkennung verliehen liche Verringerung der Emissionen in der EU insgesamt hat, könnte ein nationaler Mindestpreis, der substantiell wird jedoch nicht erzielt (Wasserbetteffekt), solange die höher ist als der Zertifikatpreis im EU-Emissionshandel, EU-weit ausgegebene Zahl an Emissionsrechten unver- zu Emissionsverlagerungen innerhalb der Europäischen ändert bleibt. Union führen. In Deutschland beheimatete Unternehmen könnten daher bei dauerhaft hohen Preisdifferenzen die Aus demselben Grund wirkt sich ein weiteres Vorhaben Verlagerung der Produktion, und damit der Emissionen, von Baerbock und Habeck (2021) ebenfalls nicht emis- ins EU-Ausland in Erwägung ziehen, wenn nicht gar ins sionsmindernd im EU-weiten Maßstab aus. So soll ein Nicht-EU-Ausland. nationaler Mindestpreis für im EU-Emissionshandel gehandelte Emissionszertifikate etabliert werden, Im Ergebnis wäre für den Klimaschutz nichts gewonnen, der bei 60 Euro je Tonne Kohlendioxid beginnt und ein hoher nationaler Mindestpreis würde lediglich dafür sukzessive ansteigen soll. Falls dieser Mindestpreis sorgen, dass die Nachfrage nach Emissionszertifika- substantiell über dem jeweiligen Niveau der Zertifikat- ten in Deutschland geringer ist als ohne einen solchen preise im EU-Emissionshandel liegen sollte, würde er Mindestpreis, womit infolgedessen das Angebot an zwar für zusätzliche Emissionsminderungen im Stromer- Emissionszertifikaten für die übrigen EU-Mitgliedsstatten zeugungs- und Industriesektor in Deutschland sorgen, höher ausfallen würde, mit entsprechenden dämpfenden nicht jedoch die Emissionen in der Europäischen Union Effekten für die Emissionszertifikatpreise im EU-Emis- insgesamt reduzieren. sionshandel. In anderen Worten: Der Emissionsausstoß würde im EU-Ausland durch einen nationalen Mindest- Was somit infolge des Wasserbetteffektes keinerlei preis kostengünstiger werden als ohne einen solchen Emissionsminderungseffekte im EU-weiten Maßstab be- Mindestpreis. wirkt, hat kontraproduktive Effekte für die Unternehmen in Deutschland, da sie höheren Belastungen ausgesetzt werden als ihre Konkurrenten in Europa. Zusätzlich zu potentiellen Carbon-Leakage-Effekten außerhalb der Europäischen Union, deren Existenz die EU-Kommission
14 GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM KLIMAOFFENSIVE BEI GEBÄUDEN UND IM BAUSEKTOR STARTEN E s ist Tatsache, dass die Heizung von Wohnun- Ein solch umfangreiches Fördervolumen bedarf ohne gen und Gebäuden sowie die Versorgung mit Frage der umfassenden Rechtfertigung — zumal die Warmwasser derzeit überwiegend mit fossilen Verbreitung von Wärmepumpen bereits durch eine Brennstoffen erfolgt. Aus diesem Umstand wird häufig mehr als zwanzig Jahre währende Förderung durch ein geschlussfolgert, dass die Potentiale zur Einsparung Marktanreizprogramm begünstigt wurde und die Tech- von CO2 im Gebäudesektor besonders hoch seien, nologie längst als ausgereift gilt (PwC 2021: 10). Umso nach Baerbock und Habeck (2021: 4) sogar »riesig«. erstaunlicher ist es, dass es bislang keine umfassende Deshalb wollen sie unter anderem dafür sorgen, dass Evaluierung der mit der Förderung von Wärmepumpen Ölheizungen nicht mehr neu eingebaut werden dürfen einhergehenden Effekte gibt, insbesondere hinsichtlich und sie wollen ein Förderprogramm für 2 Millionen der Vermeidung von CO2-Emissionen und der CO2-Ver- hocheffiziente Wärmepumpen bis zum Jahr 2025 meidungskosten. auflegen, denn die Zukunft des Heizens liegt in den Erneuerbaren. Hierzu ist zu bemerken, dass Wärme- Hinzu kommt die Begünstigung der flächendeckenden pumpen eine konventionelle Technologie darstellen, die Verbreitung der Wärmepumpe in Neubauten per Ver- beim derzeitigen Strommix nur zu knapp 50 Prozent mit ordnung: Die Wärmepumpe gilt als die kostengünstigste grünem Strom betrieben wird. Nur wenn Wärmepumpen Alternative zur Einhaltung der durch die Energieeinspar- ausschließlich mit grünem Strom betrieben werden, wäre verordnung geforderten Energieeffizienzstandards in es gerechtfertigt, sie als regenerative Technologie zu Neubauten. Daher gibt es seit Jahresbeginn 2021 keine bezeichnen. Förderung mehr für den Einbau einer Wärmepumpe im Neubau. Die Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG) fördert dennoch den Einbau von Wärmepumpen bei der Sanie- Ob es darüber hinaus einer Förderung für die Verbrei- rung von Altbauten aktuell mit 35 Prozent bis 50 Prozent tung von Wärmepumpen im Altbau bedarf, darf stark be- der förderfähigen Gesamtkosten, die je Wohneinheit zweifelt werden, zumindest auf mittlere Sicht, wenn man maximal 60.000 Euro betragen. Die maximale Förderung der Schätzung der CO2-Vermeidungskosten von 45 Euro beträgt somit 30.000 Euro, wenn der Höchstfördersatz je Tonne CO2 für den Ersatz einer Ölheizung durch eine von 50 Prozent gewährt wird. Sollen tatsächlich 2 Mil- Wärmepumpe aus der Studie von PricewaterhouseCo- lionen Wärmepumpen gefördert werden und würden die opers glauben darf (PwC 2021: 44). Demnach wäre diese aktuellen Fördersätze beibehalten werden, wäre damit Option angesichts steigender CO2-Preise im nationalen ein Förderaufwand von bis 60 Milliarden Euro verbunden. Brennstoffemissionshandel spätestens im Jahr 2024 wettbewerbsfähig, denn der CO2-Preis ist für 2024 auf 45 Euro fixiert.
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM 15 Anstatt Fördergelder in möglicherweise zweistelliger Milliardenhöhe bis zum Jahr 2025 auszugeben, könn- te die Verbreitung von Wärmepumpen im Altbau somit den steigenden CO2-Preisen im nationalen Emissions- handelssystem überlassen werden, zumal sich die CO2-Einsparwirkungen des Einsatzes von Wärmepum- pen im Zuge der Dekarbonisierung des Strommixes in Deutschland auch erst mit der Zeit verbessern. Nach der PwC-Studie lag die CO2-Einsparung des Ersatzes eines alten Erdgasbrenners durch eine Wärmepumpe beim Strommix des Jahres 2018 bei rund 36 Prozent, die Treibhausgasemissionen je Kilowattstunde Wärme sinken von 250 Gramm bei der alten Erdgasheizung auf rund 160 Gramm mit der Wärmepumpe, wenn man eine Jahresarbeitszahl von 3 unterstellt (PwC 2021: 26). (Die Jahresarbeitszahl reflektiert die Effizienz einer Wärme- pumpe: Eine Jahresarbeitszahl von 3 besagt, dass die Wärmepumpe aus einer Kilowattstunde Strom drei Kilo- wattstunden an Wärme erzeugt.) Erst bei effizienteren Wärmepumpen und einem grüneren Strommix als heute verbessert sich die Emissionseinsparwirkung substan- ziell.2 In diesem Zusammenhang weist Weimann (2020) darauf hin, dass jede Wärmepumpe, die heute installiert wird, ebenso wie jedes Elektroauto, den Ausstieg aus der fossilen Stromproduktion verzögert, weil dadurch verhindert wird, dass grüner Strom fossil produzierten Strom ersetzt. 2 Die Effizienz einer Wärmepumpe hängt sehr von den individuellen Gegebenheiten, insbesondere dem Energieeffizienzstandard ab, den ein Haus erreicht. So lässt sich eine Heizungsanlage mit einer Wärmepumpe nur dann tatsächlich effizient betreiben, wenn man in einem sehr gut isolierten Niedrigenergiehaus wohnt (Meinwohn.Blog 2020). Je nach Haus und Anlage liegt der Stromanteil bei einer Wärmepumpenhei- zung aber auch dann noch immer zwischen 20 und 30 Prozent. Darum schlussfolgert der Blog-Autor, dass eine Wärmepumpenheizung auf absehbare Zeit für die meisten Menschen keine Alternative zu konventionellen Heizmethoden sein wird.
16 GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM MOBILITÄTSWENDE BESCHLEUNIGEN N eben vielerlei Maßnahmen zur Veränderung der Schwachpunkte von naiven Quer- bzw. Längsschnitt- Anteile unterschiedlicher Verkehrsmittel am untersuchungen vermieden werden (Bauernschuster, Verkehrsaufkommen (Modalsplit), etwa die Er- Traxler 2021: 89). Die zentralen Ergebnisse der Studie höhung der Investitionen für Schiene, ÖPNV und Rad im hinsichtlich der Verkehrssicherheit waren, dass ein Tem- Jahr 2022 um 2,5 Milliarden Euro, schlagen Baerbock polimit von 130 km/h im Vergleich zur Richtgeschwindig- und Habeck (2021: 5) die Beschließung eines Sicher- keit zu einem Rückgang der Unfälle um circa 10 Prozent heitstempos von 130 km/h auf Autobahnen vor, und zu einem Rückgang der Schwerverletzten und Ge- mit anderen Worten ein generelles Tempolimit. Diese töteten von circa 20 Prozent führte (BASt 1977). Maßnahme würde pro Jahr angeblich etwa 2 Millionen Tonnen CO2 einsparen, so viel wie der gesamte inner- Dass diese Ergebnisse, die mittlerweile 45 Jahre alt sind, deutsche Flugverkehr. auch heute noch gelten, muss stark bezweifelt wer- den, vor allem weil die PKW von heute im Durchschnitt Wenngleich es einige gute Gründe für eine solche schwerer und sicherer, aber auch deutlich schneller sind. Maßnahme gibt, zu denen neben der Verringerung von Im Ergebnis sind dadurch nicht nur die Durchschnitts-, Emissionen mit globaler und lokaler Wirkungsweise vor sondern auch die Spitzengeschwindigkeiten stark ge- allem die Erhöhung der Verkehrssicherheit und Ver- stiegen, und damit auch die Varianz der Geschwindig- ringerung der Zahl der Unfälle und damit einhergehend keiten (Bauernschuster, Traxler 2021: 90). Beschleuni- der Unfalltoten und -verletzten gehören, muss konsta- gungs- und Abbremsmanöver finden dadurch häufiger tiert werden, dass kausale empirische Evidenz zu den und in stärkerem Maße statt als früher. Dies trägt zur Wirkungen eines generellen Tempolimits rar ist, weil die Verunsicherung der übrigen Verkehrsteilnehmer bei und Datenlage dürftig ausfällt (Bauernschuster, Traxler 2021: verringert tendenziell die Sicherheit im Straßenverkehr. 86). Daher spricht der Verkehrsclub Deutschland (VCD), Zudem ist die Verkehrsdichte auf Autobahnen heute un- der ein starker Verfechter des generellen Tempolimits gleich höher als in den 1970er Jahren. ist, zu Recht von einem »forschungspolitischen Loch in Deutschland«, da kaum belastbare Studien existieren, Bevor ein Tempolimit 130 ohne solide Kenntnisse der die die Auswirkungen eines Tempolimits auf Autobahnen damit einhergehenden positiven wie negativen Effekte quantifizieren (Schmidt 2020). eingeführt wird, sollte entsprechend dem Beispiel des Feldexperiments aus den 1970er Jahren ein langjähri- Fundierte Evidenz für Deutschland stammt hierzu aus ger, groß angelegter Feldversuch unternommen werden, den 1970er Jahren, als die Bundesanstalt für Straßen- bei dem mit den modernsten Evaluationsmethoden die wesen (BaSt) in den Jahren 1975 und 1976 ein sorgfältig Rückgänge in den Durchschnitts- und Spitzengeschwin- entwickeltes Experiment umgesetzt hat, um die Effekte digkeiten und den Unfallzahlen und -opfern ermittelt eines Tempolimits 130 im Vergleich zu einer Richtge- werden, sowie die Zeitverluste, die mit einem Tempolimit schwindigkeit von 130 km/h gründlich zu evaluieren verbunden wären. Gerade in puncto Zeitverluste, welche (BASt 1977). Die untersuchten Autobahnabschnitte die positiven Wirkungen eines Tempolimits konterkarie- wurden dazu in zwei Gruppen unterteilt: in »Untersu- ren könnten, gibt es große Unsicherheiten ob ihres Um- chungsstrecken«, auf denen im Studienzeitraum anfangs fangs und den damit einhergehenden Kosten. ein Tempolimit 130 galt, bevor dann das Tempolimit aufgehoben und die Richtgeschwindigkeit eingeführt Wenngleich Schmidt (2020) errechnet, dass ein Tempoli- wurde; auf »Vergleichsstrecken« wurde die Anpassung mit 130 zu einem jährlichen Zeitverlust von insgesamt 65 in umgekehrter Reihung durchgeführt. Durch dieses Millionen Stunden führen würde, beruht diese Berech- Forschungsdesign konnten sowohl allgemeine Zeittrends nung auf einer Vielzahl von Annahmen, die den mög- als auch zeitkonstante Unterschiede zwischen den Auto- lichen Zeitverlust massiv über-, aber auch unterschätzen bahnabschnitten eliminiert werden und so die zentralen könnten (Bauernschuster, Traxler 2021: 97). In keinem
GUTACHTEN ZUM KLIMASCHUTZ-PROGRAMM 17 Fall ist es jedoch gerechtfertigt, zu behaupten, dass mit 2020: 6). Ob andere Vorteile eines Tempolimits, wie die einem Tempolimit keine nennenswerten Kosten verbun- Verringerung der Zahl der Unfälle und die Erhöhung der den seien, wie das Umweltbundesamt es tut: »Damit Verkehrssicherheit, dazu führen, dass dessen Nutzen die könnte die Einführung eines generellen Tempolimits auf Kosten überwiegen, muss mangels verlässlicher empiri- Bundesautobahnen zur Erreichung des Klimaschutz- scher Evidenz eine offene Frage bleiben. zieles für den Verkehr im Jahr 2030, wie es im Bundes- Klimaschutzgesetz festgelegt ist, beitragen – und zwar Anstatt übereilt ohne valide Kenntnis der Kosten-Nut- bereits kurzfristig und ohne nennenswerte Mehrkosten« zen-Relation ein generelles Tempolimit einzuführen, (UBA 2020: 10). sollte die Verkehrspolitik schnellstmöglich alternative Maßnahmen ergreifen, um die hohen Belastungen durch Besonders wichtig wäre, dass durch einen groß ange- den Verkehr, allen voran durch Staus, zu vermindern, legten Feldversuch zusätzlich zum Geschwindigkeits- und insbesondere zeit- und ortsabhängige Straßen- limit von 130 km/h auch andere Tempolimits von 140, nutzungsgebühren einführen, in Städten in Form einer 150 und 120 km/h evaluiert werden, denn es gibt keine City-Maut (Frondel 2019). Eine Städte-Maut ist anderen empirische Analyse für Deutschland zur optimalen Höhe Regulierungsinstrumenten, vor allem Fahrverboten, eines Tempolimits. Anstatt auf einem Feldexperiment, deutlich überlegen, auch weil den Menschen dadurch das tatsächlich kausale empirische Evidenz liefern wür- ihre Wahlfreiheit bewahrt würde und sie im Gegensatz de, beruht die Schätzung des UBA (2020) zur CO2-Emis- zu Fahrverboten frei entscheiden könnten, ob ihnen die sionsreduktion infolge eines Tempolimits von 130 km/h Fahrt ins Zentrum mit dem eigenen Personenwagen so von rund 2 Millionen Tonnen, auf die sich Baerbock und viel wert ist, wie sie an Betriebskosten, vor allem für Habeck (2021) wohl beziehen, auf einer Querschnitts- Sprit, sowie an Park- und Mautgebühren, aufzubringen analyse zur Geschwindigkeitsverteilung des Leichtver- hätten. kehrs auf Autobahnen der Bundesanstalt für Straßenwe- sen (Löhe 2016). Die vorliegende empirische Evidenz zu den Effekten ei- ner Städte-Maut in skandinavischen Städten zeigt, dass Diese deskriptive Querschnittsanalyse hat offensicht- die mit digitalen Technologien kostengünstig realisier- liche Schwächen, vergleicht sie doch die Daten von 41 bare belastungsabhängige Bepreisung der Straßennut- Messstellen ohne Tempolimit mit denen für lediglich drei zung das Verkehrsaufkommen in Städten in signifikanter Messstellen mit Tempolimit 130 (Bauernschuster, Traxler Weise senken kann. So konnte der Autoverkehr in Stock- 2021: 91). Zusätzlich zu dieser gravierenden Differenz holm mit Hilfe einer Städte-Maut um rund 20 Prozent in der Zahl der Messtellen gibt es weitere beobachtbare reduziert werden (Börjesson, Kristoffersson 2012). Um Unterschiede zwischen den Autobahnabschnitten mit solche Potentiale auch in deutschen Städten heben zu und ohne Tempolimit, etwa hinsichtlich der Fahrbahn- können, müsste der für eine Erhebung einer City-Maut steigung und -krümmung. Hinzu kommen kaum vermeid- notwendige Rechtsrahmen aber erst noch geschaffen bare Unterschiede hinsichtlich unbeobachteter Einfluss- werden (Frondel 2021). Dieses rechtliche Defizit sollte faktoren, die in Querschnittsanalysen zu Verzerrungen schnellstens beseitigt werden. führen, weshalb Bauernschuster und Traxler (2021: 88) solche Querschnittsanalysen zu Recht als wenig aussa- gekräftige Äpfel-Birnen-Vergleiche bezeichnen. In Ermangelung besserer empirischer Evidenz benutzt Schmidt (2020: 5) dennoch diese Daten und die Schät- zungen des Umweltbundesamtes zu den CO2-Einspa- rungen und beziffert die CO2-Vermeidungskosten eines Tempolimits 130 mit rund 716 Euro je Tonne, ein Viel- faches des aktuellen Preises für Emissionszertifikate, der derzeit bei rund 50 Euro liegt. Wenngleich trefflich über die diesen Vermeidungskosten zugrundeliegenden Annahmen gestritten werden kann, zeigt deren Größen- ordnung, »dass ein Tempolimit allein aus Klimaschutz- gründen ökonomisch wenig Sinn macht« (Schmidt
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