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EDITORIAL J üdinnen und Juden haben im Laufe der gesellschaftliche Verbände einschließlich des Jahrhunderte wesentlich dazu beigetra- Zentralrates der Juden unterstützen dieses für gen, dieses Land aufzubauen und zum unser Zusammenleben so wichtige Ereignis. Blühen zu bringen. Sie leben so lange in Es wird nicht nur im Inland, sondern auch in dem Gebiet, das heute Deutschland heißt, Europa, in Israel, den USA und in vielen ande- wie Christen. Gleichwohl durchziehen Aus- ren Ländern mit großer Aufmerksamkeit und grenzung und Pogrome die deutsch-jüdische auch mit Respekt wahrgenommen. Geschichte. Auch die Kirchen sind mitver- In diesem Kontext legen wir Ihnen das Her- antwortlich dafür. der-Thema-Heft „Auf Zukunft hin. 1700 Jah- Den Juden wurden in der Shoa schrecklichste re jüdisches Leben in Deutschland“ vor. Alle Gewalt und schlimmstes Unrecht angetan. Sie Beiträge stehen in der Verantwortung der wurden beraubt, rechtlos gemacht, vertrieben, jeweiligen Autoren. Es sind spannende und entwürdigt, ermordet. In deutschem Namen aufrüttelnde Perspektiven auf das jüdische wurden während der Nazi-Diktatur in Europa Leben in Deutschland und Europa – in sei- mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden ner Vielfalt, im Dialog mit Christentum und getötet. Den größten Völkermord in der Ge- Islam, in politischer und kultureller Hinsicht. schichte hat Deutschland zu verantworten. Er Manche Autoren haben auch kritische Fragen wird für immer im Menschheitsgedächtnis an das heutige Deutschland und seine Bewoh- bleiben. ner. Andere stellen Überlegungen an, wie die Immer noch und immer wieder flammt An- Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen tisemitismus in unserem Land und in Eu- künftig aussehen könnte. In sehr persönli- ropa auf. Er hat in den vergangenen Jahren chen Beiträgen berichten Nachkommen von sogar noch zugenommen. Weitere traurige Holocaust-Überlebenden über ihre unge- Höhepunkte waren die Ausschreitungen vor wöhnlichen Wege, die sie ausgerechnet auch etlichen Synagogen in Deutschland während in Deutschland ihre Koffer auspacken ließen der jüngsten Kämpfe zwischen Israelis und – die Erinnerung und auch den Schmerz im Palästinensern im Mai 2021. Jedweder Anti- Gepäck. Dem Ernst Ludwig Ehrlich Studien- semitismus muss strafrechtlich verfolgt, das werk danken wir für die Einzelzitate, die sich Strafrecht konsequent angewandt werden. im Heft verstreut finden. Zum ersten Mal seit der Shoa und in der Ge- Verein, Verlag und Redaktionskreis dan- schichte der Bundesrepublik begeht unser ken der Deutschen Bischofskonferenz, dem Land nun ein Festjahr, an dem sich jüdische Deutschen Koordinierungsrat der Gesell- und nichtjüdische Verbände und Vereine in schaften für Christlich-Jüdische Zusammen- vielfältiger, überzeugender und auch berüh- arbeit (DKR) und dem Bundesministerium render Weise beteiligen. 2021 setzt als Festjahr des Innern für die finanzielle Unterstützung ein Zeichen der Solidarität mit Jüdinnen und des Heftes, das einen wichtigen Beitrag zum Juden als Teil der deutschen Gesellschaft. Ziel deutsch-jüdischen Jahr 2021 liefert. ist es, sich mit der Geschichte auseinanderzu- setzen, aber auch das lebendige, zeitgenössi- Für den Verein „321–2021: 1700 Jahre jüdi- sche jüdische Leben in seiner Breite und Tiefe sches Leben in Deutschland“ vorzustellen und Begegnungen zwischen Men- schen zu ermöglichen. Die deutschen Verfas- Joachim Gerhardt, sungsorgane, die Bundesländer, wirtschaftli- Ruth Schulhof-Walter, che, wissenschaftliche, kulturelle, religiöse und Matthias Schreiber 1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND1
INHALT Herder Thema EDITORIAL 1 INHALTSVERZEICHNIS 2 GRUNDLAGEN – Fragil und kraftvoll zugleich. Judentum in Deutschland vor und nach dem Nationalsozialismus Josef Schuster 4 – Jubiläum der wechselhaften Gefühle. Das aschkenasische Judentum Julian-Chaim Soussan 6 – Erneuerung hat Tradition. 250 Jahre liberales Judentum in Deutschland Walter Homolka 9 – Fragebogen: „Tacheles reden ist ein Eckpfeiler der leben- digen Demokratie“ Armin Laschet 12 DAS FESTJAHR – Das Festjahr. Aus dem Maschinenraum Joachim Gerhardt 14 – Seien Sie ein Mentsh! Das Programm des Festjahres Regina Plaßwilm 16 – Das Wilhelm-Krützfeld-Projekt. Die Berliner Polizei im Nationalsozialismus Frank Peter Bitter 19 – Fragebogen: „Toleranz vorleben“ Winfried Kretschmann 20 INTERNATIONALE PERSPEKTIVEN – Ein fruchtbares Wachstum. Österreichische Perspektive auf das Festjahr Danielle Spera 22 – Trotz allem: Ja! Eine Sicht aus niederländischer Perspektive Edward van Voolen 23 – Am Wannsee über die Zukunft jüdischen Lebens disku- tieren. Aus der Sicht eines östlichen Nachbarn David Maxa 27 – Geschichte einer unerwiderten Liebe? Ein Blick aus Israel auf Deutschland und das Festjahr Anna Azari 29 Zu den – Fragebogen: „Das gemeinsame Erbe zum Leuchten Bildern bringen“ Malu Dreyer 32 Die Abbildungen in diesem Heft sind die zehn prämierten Bilder des Fotowettbewerbs der Initiative kulturelle Integration zum Thema jüdischer Alltag Walter Homolka Edward van Voolen Malu Dreyer in Deutschland. Olaf Zimmermann stellt „Die entscheidende „Was hat mich „Ich wünsche mir, sie vor. Frage: Wie der bewegt? Mein dass junge Juden und 64 Tradition treu bleiben Wunsch, das fortzu- Jüdinnen ihre Zukunft und doch offen sein für setzen, was unter- in unserem Land die Moderne?“ brochen wurde.“ sehen.“ 2 AUF ZUKUNFT HIN
AUF ZUKUNFT HIN 1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND POLITIK – Einfach nur Mensch sein. Dokumentation einer Rede IMPRESSUM zum Holocaust-Gedenktag Marina Weisband 33 Herder Thema Auf Zukunft hin. 1700 Jahre jüdi- – Spiel mit der Zweideutigkeit. Von der Verpflichtung der sches Leben in Deutschland August 2021 Demokratie zur Eindeutigkeit Matthias Schreiber 35 Herausgeber: – Europäisches Holocaust-Museum. Zukunft der 321–2021: 1700 Jahre jüdisches Erinnerungskultur Jürgen Rüttgers 38 Leben in Deutschland e.V. Kooperationspartner: – Einladung zum Dialog. Was Martin Buber mit dem Deutscher Koordinierungs- Festjahr #2021JLID zu tun hat Sylvia Löhrmann 41 rat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammen- – Ohne Juden in Europa kein Europa. Ein Blick aus Brüssel arbeit (DKR) Katharina von Schnurbein 43 Deutsche Bischofskonferenz Redaktion: – „Intensiv ja, aber nicht normal“. Die Beziehung zwischen Leticia Witte, Redakteurin Deutschland und Israel Alexander Graf Lambsdorff 47 Katholische Nachrichten- Agentur (KNA) – Fragebogen: „Keinen Tinnef reden“ Bodo Ramelow 49 Projektsteuerung: INTERRELIGIÖSER DIALOG – Hat der christlich-jüdische Dialog eine Zukunft? Der Dr. Stefan Orth Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich- Verlag und Anzeigen: Verlag Herder GmbH Jüdische Zusammenarbeit Margaretha Hackermeier 50 Hermann-Herder-Straße 4 79104 Freiburg i. Br. – Brücken bauen nach der Shoa. Jüdisch-christliche Anzeigenleitung: Begegnung im protestantischen Bereich Friedhelm Pieper 52 Bettina Haller (Verantw.) Tel.: (0761) 2717-456; Fax.: -426 – Der „Freiburger Rundbrief “. Katholische Pioniere E-Mail: anzeigen@herder.de im christlich-jüdischen DialogElias H. Füllenbach 54 Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 52 vom 1.1.2021 – Theologischer Diskurs zwischen Juden und Christen. Der „Herder Thema“ ist eine Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK Sonderedition-Reihe zu ausgewählten Themen. Henry G. Brandt, Andreas Nachama, Hanspeter Heinz Druck: und Dagmar Mensink 57 RCDRUCK GmbH & Co. KG, Albstadt-Tailfingen, – Die Einheit des Monotheismus. Islam und Judentum Gedruckt auf chlorfrei im Dialog Mouhanad Khorchide 59 gebleichtem Papier Preis: 14,- € – Fragebogen: „Unser Schutzversprechen gilt heute und ISBN: Print 978-3-451-02749-9; in Zukunft“ Markus Söder 62 E-Book (PDF) 978-3-451-82445-6 Bildnachweise: BÜCHER 63 Coverbild: Auf dem Weg zur Schule; Foto: Evgenia Lisowski (Zweiter Preis) Für alle Bilder des Fotowett- bewerbs: Initiative kulturelle Integration, Berlin Sylvia Löhrmann Katharina von Schnurbein Elias H. Füllenbach „Und wer zusammen „Mit dem Tod kann man „Der Erfolg von ,Nos- nachdenkt und umgehen, wenn die Wert- tra aetate‘ war auch feiert, kommt auto- schätzung des der von engagierten matisch miteinander Lebens zentrale Katholikinnen und ins Gespräch.“ Bedeutung hat.“ Katholiken.“ 1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND3
GRUNDLAGEN Judentum in Deutschland vor und nach dem Nationalsozialismus Fragil und kraftvoll zugleich Lange spielte Deutschland eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Judentums weltweit. Bedeutende Persönlichkeiten schufen das liberale Judentum und die moderne Orthodoxie. Nach dem systematischen Mord an den europäischen Juden sahen die Gemeinden hierzulande anders aus. Mittlerweile gibt es ein neues Selbstbewusstsein. VON JOSEF SCHUSTER I m Centrum Judaicum in Berlin läuft der- Juden in Deutschland ist eine Geschichtsepoche zeit eine beeindruckende Ausstellung des zu Ende gegangen. (...) Unser Glaube war es, dass amerikanisch-jüdischen Fotografen Robert deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Bo- Capa. Es sind bewegende Bilder aus Berlin im den sich treffen und durch ihre Vermählung zum Jahr 1945. Robert Capa hat nicht nur den Alltag Segen werden könnten. Dies war eine Illusion – die in der zerstörten Stadt abgebildet, sondern im Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle September 1945 einen ganz besonderen Moment Mal vorbei.“ festgehalten: den ersten Rosch-Haschana-Got- Dr. Josef Schuster, tesdienst nach dem Krieg, nach der Shoa. geboren 1954 in Haifa, Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland Die Menschen, die sich damals in der weitgehend ist seit 2014 Präsident gründete sich 1950 nicht vorrangig mit dem unbeschädigten Synagoge am Landwehrkanal des Zentralrats der Ziel, jüdisches Gemeindeleben wiederaufzubau- (heute Synagoge am Fraenkelufer) einfanden, Juden in Deutschland. en, sondern Juden sozial und bei ihrer Ausreise wirken auf den Fotos sehr ernst. Es sind schmale Aufgewachsen in zu unterstützen. Dass sich dennoch in größeren Gesichter unter viel zu großen Hüten. Die meisten Würzburg studierte Städten rasch wieder jüdische Gemeinden grün- Männer sehen alt aus. Eine Frau weint. Kinder sind er dort Medizin und deten und der Bau neuer Synagogen in Angriff so gut wie nicht zu sehen. Für das „Life“-Magazin führte bis 2020 eine genommen wurde, lag an einer Mischung aus beschrieb Capa damals seine Eindrücke von der internistische Praxis. Pragmatismus und dem Wunsch, wieder Boden jüdischen Gemeinde: „Es gibt nicht viel, worauf Josef Schuster ist unter den Füßen zu gewinnen. Doch noch in den sich die Berliner Juden im neuen Jahr freuen kön- zugleich Vorsitzen- Sechzigerjahren herrschte – so schreibt es der nen; sie ergeben sich in ihr Schicksal, die letzten der der Israelitischen Historiker Michael Brenner – „das Gefühl einer Überlebenden ohne Zukunft zu sein.“ Kultusgemeinde Würz- temporären Existenz vor“. burg und Unterfranken Wenn heutzutage eine Umfrage gemacht würde, 1945 waren die Schrecken der Shoa für die Über- sowie Präsident des wieso es nach dem Holocaust überhaupt wieder lebenden so allgegenwärtig, dass die Diagnose von Landesverbandes der jüdisches Leben in Deutschland gibt und wie es Robert Capa zutraf. Die traumatisierten Menschen Israelitischen Kultusge- dazu kam, würden die Ergebnisse wahrscheinlich sahen viel älter aus, als sie waren. Nur sehr wenige meinden in Bayern. ein großes Unwissen zutage fördern. Den meis- Kinder hatten überlebt. Das erzählen die Fotos. ten nichtjüdischen Bürgern sind zwar die Ereig- Das war die jüdische Realität 1945. nisse zwischen 1933 und 1945 im Groben bekannt – vertieftes Wenn wir in diesem Jahr mit einer Fülle von Veranstaltungen Wissen fehlt in einem erschreckenden Ausmaß –, doch mit der 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland würdigen, dann deutsch-jüdischen Geschichte vor dem Nationalsozialismus und dürfen wir nicht vergessen, wie die Ausgangslage aussah, aus seit 1945 haben sich die wenigsten beschäftigt. der sich die heutigen jüdischen Gemeinden entwickelt ha- ben. Eine Zukunft sahen Juden im Land der Täter nicht. Es Ehemals führende Rolle war auch vielfach nicht ihre Heimat, in die sie zurückgekehrt Dabei hat Deutschland für die Entwicklung des Judentums welt- waren. Die Mehrzahl stammte aus Osteuropa. Sie waren nur weit lange eine sehr wichtige, wenn nicht sogar führende Rolle in Deutschland gestrandet. Die meisten dieser entwurzelten gespielt. Neben großen jüdischen Denkern im Mittelalter sind „Displaced Persons“ wollten Deutschland Richtung Palästina es vor allem die Reformer des 19. Jahrhunderts, deren Ideen bis oder Amerika verlassen. heute im Judentum fortwirken. Nicht zufällig wurde ein Zitat von Leo Baeck berühmt. Der re- Doch Namen wie Israel Jacobson aus dem niedersächsischen nommierte deutsche Rabbiner, der das KZ Theresienstadt über- Städtchen Seesen – im Grunde der erste liberale Rabbiner – oder lebt hatte und nach dem Krieg in England lebte, beschrieb die Abraham Geiger, Samson Raphael Hirsch, Seligmann Baer Bam- Lage der Juden in Deutschland drastischer als Capa: „Für uns berger sind heute fast ebenso vergessen wie Esriel Hildesheimer. 4 AUF ZUKUNFT HIN
GRUNDLAGEN Während Rabbiner Hildesheimer auf or- Unterschied: Vor der Machtübernah- außen. Wir haben auch in der Gemein- thodoxer Seite die Rabbinerausbildung me der Nationalsozialisten lebten rund schaft selbst einen fragilen Zustand er- auf ein wissenschaftliches Niveau hob, 170.000 Juden in der Hauptstadt. Heute reicht. Denn seitdem die Zuwanderung waren es die anderen genannten Perso- hat die Gemeinde etwa 8700 Mitglieder. fast zum Erliegen gekommen ist – die nen, die das liberale Judentum und die Hinzu kommen Juden, die nicht Mit- Menschen, die einen Auswanderungs- moderne Orthodoxie schufen. Unabhän- glied der Gemeinde sind, sowie Israelis, wunsch hatten, haben ihn inzwischen gig davon, wie man diese Reformen beur- die vorübergehend in Deutschland leben. in der Regel in die Tat umgesetzt oder teilt, stießen diese Intellektuellen wichtige Dennoch dürfte die Gesamtzahl vermut- scheitern an den erhöhten Hürden –, Debatten an, die eine Religionsgemein- lich 15.000 nicht überschreiten. Von den geht die Zahl unserer Gemeindemit- schaft braucht, um lebendig zu bleiben mehr als 100 Synagogen vor dem Krieg glieder zurück. Das liegt vor allem an und sich weiterzuentwickeln. ist gerade einmal ein Dutzend übrigge- der ungünstigen Altersstruktur. Das ist blieben. ähnlich wie in den Kirchen. Die jüdischen Gemeinden, die sich nach der Shoa bildeten, hatten und haben Trotz der überschaubaren Größe, die Angebote für Familien bis heute hingegen meistens einen ganz heute die jüdischen Gemeinden haben, Um die Zukunft auch kleinerer Ge- anderen Charakter. Geprägt wurden sie ist die Infrastruktur, die für ein religiöses meinden zu sichern, unterstützt der von Juden, die in Osteuropa ihre Heimat und kulturelles jüdisches Leben wich- Zentralrat der Juden seit einigen Jahren gehabt hatten. Dadurch wurde das tra- tig ist, in vielen Städten vorhanden. Die die Gemeinden intensiv darin, neue ditionelle Judentum die vorherrschende Gemeinden haben häufig eigene Kin- Mitglieder zu gewinnen. Gerade Ange- Richtung in Deutschland. Zudem waren dergärten, einige auch Grundschulen. In bote für Familien mit kleinen Kindern die Gemeinden so klein, dass sie es sich Berlin, Hamburg, München, Düsseldorf spielen dabei eine wichtige Rolle. Denn selbst in größeren Städten nicht leisten und Frankfurt gibt es jüdische Gymnasi- es gilt, Menschen zu halten, die in der konnten, sich nach religiösen Richtun- en. Zudem bieten die Gemeinden in ih- Rush-Hour des Lebens mit Berufsein- gen aufzuteilen. So entstanden Einheits- ren Jugendzentren viele Aktivitäten für stieg und Familiengründung für das Ge- gemeinden, in denen die liberale Rich- Jugendliche an. Es gibt Programme für meindeleben weniger Zeit haben. Häufig tung meistens von weniger Mitgliedern Familien und für Senioren, die zum Teil gehen sie als Mitglieder auch aus dem vertreten war. in jüdischen Elternheimen leben. Neben Grund verloren, weil sie es nach einem Das hat sich erst in den vergangenen 30 Synagogen und Gemeindezentren gehö- Umzug versäumen, sich und ihre Fami- Jahren geändert. Und so ist das jüdische ren zu den Gemeinden auch Friedhöfe lie in der neuen Gemeinde anzumelden. Leben, wie es heute in Deutschland an- und häufig Mikwen, Ritualbäder. Von diesem Jahr an stellt der Zentralrat zutreffen ist, verglichen mit den 1700 Jah- Vor allem aber ist ein neues Selbstbe- Coaches zur Verfügung, die vor Ort die ren eine sehr junge Entwicklung. Durch wusstsein gewachsen. Kinder und En- Gemeinden unter anderem darin unter- die Zuwanderung von rund 200.000 so- kel der Zuwanderer aus der ehemaligen stützen, attraktiver zu werden. genannten jüdischen Kontingentflücht- Sowjetunion betrachten Deutschland lingen entstand in Deutschland wieder ebenso selbstverständlich als ihr Zuhau- Während wir jedoch zuversichtlich sind, ein vielfältiges jüdisches Leben, das sich se wie die Nachkommen jener Familien, unsere Gemeinden zukunftsfest machen innerhalb und außerhalb der Gemeinden die schon länger oder seit Generationen zu können, stimmt die allgemeine Lage abspielt. Neben den Einheitsgemeinden hier leben. Daher haben sie auch den angesichts des wachsenden Antisemitis- gründeten sich auch liberale und kon- Wunsch, sich in die Gesellschaft ein- mus mitunter skeptisch. Wie fragil das jü- servative Gemeinden. Mit der Hoch- zubringen. Sie sehen sich mittendrin, dische Leben ist, hat der Anschlag auf die schule für Jüdische Studien Heidelberg nicht irgendwo am Rand. Sichtbarer Synagoge in Halle an Jom Kippur 2019 und drei Rabbinerseminaren – dem Ab- Ausdruck dieses kraftvollen Selbstbe- sicherlich am eindrücklichsten vor Augen raham Geiger Kolleg und dem Zacharias wusstseins ist zum einen die neue Jüdi- geführt. Hätte der Täter stärkere Waffen Frankel College in Potsdam sowie dem sche Akademie, für die in diesem Jahr gehabt und hätte die Eingangstür nicht Hildesheimer Rabbinerseminar in Berlin in Frankfurt der erste Spatenstich ge- gehalten, wäre es zu einem furchtbaren – verfügen wir zudem wieder über Aus- plant ist. Zum anderen spiegelt die Ein- Blutbad gekommen. Doch auch wenn bildungsstätten auf hohem Niveau. führung von Militärrabbinern bei der das wie durch ein Wunder verhindert Es wäre jedoch Augenwischerei, so zu Bundeswehr das neue Selbstverständnis wurde, mussten zwei Menschen bei dem tun, als gäbe es in Deutschland ein jüdi- wider. So kraftvoll das jüdische Leben in Anschlag ihr Leben lassen. sches Leben wie vor der Shoa. Allein am Deutschland ist, so fragil ist es zugleich. Neben der Bedrohung durch Rechts- Beispiel Berlins zeigt sich der immense Das liegt nicht nur an Bedrohungen von extremisten dürfen wir auch den isla- Das Festjahr ist wichtig. Ich hoffe, dass unsere Geschichten, Sorgen und For- derungen auch 2022 so viel Aufmerksamkeit erfahren. Sarah, Berlin 1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND5
GRUNDLAGEN mistischen Terrorismus nicht ver- Das aschkenasische Judentum Jubiläum der gessen. Beides stellt eine massive Bedrohung des jüdischen Lebens dar. Viele Juden erleben zudem im Alltag Antisemitismus – in öffent- lichen Verkehrsmitteln, auf der wechselhaften Gefühle Straße, in der Schule. Vor allem im Netz, in den sozialen Medien, ist der Hass auf Juden weit verbreitet. In der Corona-Krise hat er in Form von Verschwörungsmythen einen neuen Höhepunkt erreicht. Das laufende Festjahr wird durchaus auch mit gemischten Dies führt in den Gemeinden zu einer ambivalenten Stimmung: Einerseits Gefühlen gesehen – denn Geschichte und Erfahrungen von sind viele Gemeindemitglieder noch Juden auf dem heutigen Gebiet Deutschlands sind auch von einmal vorsichtiger geworden und vermeiden es, in der Öffentlichkeit als Verfolgung und Ausgrenzung geprägt, es zeigt sich aber auch Jude erkennbar zu sein. Andererseits eine blühende Gelehrsamkeit. VON JULIAN-CHAIM SOUSSAN fühlen sich die meisten in Deutsch- land dennoch vergleichsweise sicher D und hegen keinerlei Gedanken, das as Kölner Toleranzedikt von 321 und Mainz zu nennen, die im Jiddischen Land zu verlassen. ist die erste offizielle Quelle für jü- Schpira, Warmaisa und Magenza heißen. disches Leben hierzulande – lan- Fügt man die Anfangsbuchstaben zusam- Das Festjahr „1700 Jahre jüdisches ge bevor das Gebiet Deutschland hieß. men, ergibt sich der Name SchUM, was Leben in Deutschland“ sollte da- Anlass genug, an die deutsch-jüdische wiederum Knoblauch bedeutet. Im Laufe her vor allem in der nichtjüdischen Geschichte zu erinnern. der Zeit – sowie bedingt durch Vertrei- Mehrheitsgesellschaft der Selbstver- Das Jubiläumsjahr 2021 offenbart Am- bungen von Juden und auch gekoppelt gewisserung dienen: Wie steht es bivalenzen: Da ist Stolz auf die erstaun- an die allgemeinen Völkerwanderungen um unser Zusammenleben? Inter- lichen Errungenschaften jüdischen – dehnt sich der Bereich der aschkenasi- essiert es mich, wie Minderheiten, Wirkens auf dem Gebiet, das im Laufe schen Juden von Südfrankreich bis Russ- wie Juden in unserem Land leben? der Geschichte zu Deutschland wurde. land aus. Trage ich selbst dazu bei, Toleranz Dieses Gefühl konkurriert mit dem der Im Gegensatz dazu steht das sefardische und Respekt zu stärken? Trauer und des Grauens angesichts einer Judentum, abgeleitet von Sfarad (Spani- Mit dem Festjahr möchten wir dazu von Verfolgung, Pogromen und Ausgren- en). Es verbreitet sich in Wellen und dann beitragen, das Bewusstsein dafür zu zung geprägten Geschichte, die schließ- endgültig durch die spanische Inquisiti- schärfen, dass Juden schon immer lich im abscheulichsten Massenmord der on um den Mittelmeerraum, so dass auch zu Deutschland gehörten und wie Geschichte gipfelt. die nordafrikanischen und zeitweise alle sie die hiesige Kultur prägten. Dar- Man kann diese Geschichte auf viele aus muslimisch regierten Ländern stam- über hinaus möchten wir Interesse Arten erzählen: anhand der Leidensge- menden Juden als Sefarden bezeichnet an den jüdischen Gemeinden und schichte, der christlich-jüdischen Inter- werden. weiteren Institutionen wecken, die aktionen, der sozialen oder rechtlichen heute das jüdische Leben hierzu- Entwicklung im Spiegel der europäi- Im Judentum wird die Tora als schrift- lande ausmachen. schen oder deutschen Historie. Hier soll liche Weisung G“tes an den Menschen Es muss daher unser aller Ziel sein, es um die innerjüdische Wirkungsge- verstanden. Nach der rabbinischen mit dem Festjahr eine nachhaltige schichte gehen, das von Rabbinern und Überlieferung wurden Moses auf dem Wirkung zu erzielen. Ob Juden in ihren Werken geprägte aschkenasische Berg Sinai auch allerlei mündliche Inst- Deutschland eine Zukunft haben, Judentum, zu dem sich heute weltweit ruktionen vom Ewigen gegeben, wie die hängt in erheblichem Maße von die Mehrheit aller Juden und Jüdinnen 613 Ge- und Verbote anzuwenden seien. ihrer Umgebung ab. Wendet sie zugehörig fühlt. Als im Jahr 70 nach der Zeitrechnung der sich mit Desinteresse ab und gibt Der Begriff „Aschkenas“ leitet sich zu- Jerusalemer Tempel zerstört wurde und Rechtspopulisten und Rechtsext- nächst aus der Bibel ab, wobei es sich etwa im Jahr nach der Niederschlagung remisten Raum, sich auszubreiten, dort um den Urenkel Noahs, den Sohn des Bar-Kochba-Aufstands die Hoffnung dann sieht es schlecht aus für die Gomers handelt (Genesis 10,1–3). Er auf eine baldige Souveränität im eigenen jüdische Gemeinschaft in Deutsch- bezeichnet ab dem Mittelalter in rabbi- Land zunichtegemacht wurde, beschlos- land. Dann müssen sich aber auch nischen Schriften dann den geographi- sen die Weisen, die mündliche Tora zu die übrigen Bürger fragen, in wel- schen Bereich am Rhein ab dem Elsass verschriftlichen. chem Land sie eigentlich leben bis Köln. Prominent sind in dem Zusam- So entstand um das Jahr 200 zunächst wollen. ■ menhang auch die Städte Speyer, Worms die Mischna in Israel und schließlich 6 AUF ZUKUNFT HIN
GRUNDLAGEN ihre Ergänzung in Babylonien, die Gemarah. Neben den Bibel- und Talmudkommentaren so- Sie bilden den Talmud, eine Sammlung rabbini- wie den halachischen Ausführungen kamen zwei scher Meinungen zu allen denkbaren religiösen weitere Literaturgattungen zum Tragen – deren Themen. Hierzu brauchte es immer auch die deutsche Vertreter bis heute ebenfalls weltweit ge- Interpretation gelehrter Rabbiner. Die wichtigs- würdigt werden. Es sind die Gattungen der Piutim ten Rabbiner zwischen dem achten und zehnten und der Kinnot. Piutim sind religiöse Dichtungen, Jahrhundert erhielten den Beinamen „Gaon“ die häufig gesungen werden. Weltweit wird bei- Julian-Chaim (Riese). Sie waren in ihren jeweiligen Wirkungs- spielsweise an jedem Schabbat das „Baruch E-L Soussan wurde stätten anerkannte Autoritäten, die neue binden- Elion“ gesungen, das von Baruch ben Schmuel (ge- 1968 geboren und ist de Edikte für ihre Gemeinschaft erlassen durften. storben 1221 in Mainz) gedichtet wurde. Kinnot Rabbiner in Frankfurt sind Klagelieder, die vor allem zu den Trauertagen sowie im Vorstands- Ein aschkenasischer „Riese“ rezitiert werden. Inhaltlich verweben einige asch- beirat der Orthodoxen Der einzige aschkenasische „Gaon“ war Rav Ger- kenasische Kinnot die Trauer um die Zerstörung Rabbinerkonferenz schom Meor haGola (960–1028 oder 1040) aus des Jerusalemer Tempels mit den häufig sehr de- Deutschland. Soussan Mainz. Der Name bedeutet Rabbiner Gerschom, taillierten Beschreibungen der grausamen Pog- studierte Volkswirt- Leuchte des Exils. Er erklärte nicht nur das Brief- rome in den SchUM-Städten sowie in Frankfurt, schaft und Judaistik an geheimnis für bindend. Es mag auch am äußeren Würzburg, Augsburg und anderen Orten. Es sind der Universität Heidel- Einfluss gelegen haben, dass er als einer der Urvä- literarische Schöpfungen für die Ewigkeit inmitten berg, dann Judaistik ter des aschkenasischen Judentums für alle euro- von Gewalt und Zerstörung. an der Heidelberger päischen Juden die Monogamie als verpflichtend Hochschule für Jüdi- erklärte. In orientalischen Ländern war dies bis ins Mit der Aufklärung und den Napoleonischen sche Studien. Er war 19. Jahrhundert noch nicht der Fall. Kriegen wuchs die Hoffnung der Juden, endlich Religionslehrer und Der wohl weltweit bekannteste und am häufigsten anerkannt zu werden und Bürgerrechte zu erlan- absolvierte in Jerusa- gelesenen Rabbiner ist Raschi (Rabbi Schimon ben gen. Doch obwohl Ghettomauern die Juden nicht lem eine Ausbildung Jitzchak, 1040–1105), der in Mainz und Worms mehr zurückhalten konnten, waren sie noch lange zum Rabbiner. Dort lernte, lebte und lehrte. Er gilt als der berühmteste nicht in der deutschen Gesellschaft angekommen: erhielt er im Mai 2003 Torakommentator und wird weltweit von Hun- Der soziale Abstand war weit größer als abschließ- seine Ordination. Von derttausenden studiert. Der Gelehrte selbst sowie bare Tore eines Judenviertels. Die Ultima Ratio für 2003 bis 2011 war seine Schwiegersöhne und Enkel, die Tossafisten, viele Juden jener Zeit war der Übertritt zum Chris- Soussan Gemeinde wurden in jeder Talmudausgabe seit dem Buch- tentum als „Entréebillet zur europäischen Kultur“, rabbiner der Jüdischen druck mit abgebildet. Dabei wird der Kommentar wie es Heinrich Heine formulierte, der sich 1825 Gemeinde Düsseldorf von Raschi jeweils auf der Innenseite, der der Tos- selbst protestantisch taufen ließ. und wechselte dann safisten auf der Außenseite abgedruckt. Die jüdischen Reformer wollten ein Judentum nach Mainz. Von dort Der berühmteste Lehrer der Halacha, also der jü- schaffen, das dem Deutschsein nicht widerspre- wurde er im August dischen Gesetzeslehre, war Rabbi Jacob ben Ascher, chen sollte: Man unterscheide sich schließlich 2013 nach Frankfurt genannt der Baal ha-Turim (Meister der Türme), nur durch die Religion, nicht durch Volkszugehö- berufen. der im 13. Jahrhundert in Köln zur Welt kam. Er rigkeit oder Nationalität. Aus dieser Perspektive zog nach Spanien und schrieb eine monumentale heraus stammt auch die Bezeichnung „Deutscher Zusammenfassung der Gesetze aus dem Talmud, mosaischen Glaubens“. Auch äußerlich passte die Arba Turim. Sie besteht aus den alltäglichen man Synagogen und Kleidung der Rabbiner dem Gesetzen, den Speise-, Trauer-, den Ehegesetzen christlichen Umfeld an, von der Einführung der sowie zivilen und strafrechtlichen Rechtsstreitig- Orgel bis hin zum Talar mit Beffchen. keiten. Die Schrift wurde mit den Werken von Das Ringen um eine angemessene Bewahrung Rambam und Rif zur Vorlage für das bis heute der Tradition gekoppelt mit dem Wunsch, als wichtigste halachische Standardwerk Schulchan Teil Deutschlands anerkannt zu werden, führte Aruch. in vielen Gemeinden zu Spaltungen. Im 19. Jahr- Die Liste der Rabbinerdynastien reicht bis weit hundert wurden in Deutschland die Reformbewe- in die Neuzeit. Es gab Ende des 19. Jahrhunderts gung (Rabbiner Leopold Stein, Abraham Geiger), das Bonmot der „ABC-Rabbiner“: Auerbach, das konservative Judentum (Rabbiner Zacharias Bamberger und Carlebach – in vielen deutschen Frankel) und als Gegenreaktion die Neoorthodo- Gemeinden waren Rabbiner dieser Familien ver- xie gegründet. Sie machen bis heute vor allem im treten. Aus der ganzen Welt reisen heute noch angelsächsischen Raum einen Großteil der jüdi- Menschen zu den Gräbern von Gelehrten, die weit schen Gemeinden aus. über die Jeschiwot, also den religiösen Schulen, hi- Der wohl berühmteste Mitbegründer der Neoor- naus studiert werden: zum Beispiel der Maharam thodoxie war Rabbiner Samson Raphael Hirsch von Rothenburg oder der Baal Schem von Michel- (1808–1888) in Frankfurt. Bereits als Landesrab- stadt, zu dessen Beerdigung auch die Obrigkeiten biner machte er durch seine Veröffentlichungen der Kirchen anwesend waren. auf sich aufmerksam. 1851 trat er die Stelle in der 1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND7
GRUNDLAGEN Separatgemeinde IRG (Israelitische Reli- Rabbinerseminar lieber durch umfassen- die Fähigkeiten jüdischer Ärzte, Anwäl- gionsgemeinschaft) – oder auch Kehillat de Schulung in Religiösem und Weltli- te, Soldaten, Physiker, Biologen, Erfin- Jeschurun genannt – an und sah die Stär- chem darauf vor, innerhalb der Einheits- der, Geisteswissenschaftler und Sportler kung der Orthodoxie in seiner Gemeinde gemeinde die Orthodoxie zu bewahren. überlebte die Nürnberger Gesetze nicht. als Lebensaufgabe. Bereits 1874 waren es Die Juden in Deutschland nach dem 1800 Mitglieder, ein Sechstel der Frank- Auch wenn man die jüdische Geschichte Zweiten Weltkrieg – vorwiegend Überle- furter jüdischen Gemeinde. auf unterschiedlichen Ebenen erzählen bende der Shoa und deren Nachkommen Dem Mangel an jüdischem Wissen vor kann, sind diese gleichwohl alle mitein- sowie später Zuwanderer aus den GUS- allem auch bei der Jugend könne man ander verwoben. Insbesondere die Rabbi- Staaten – begehen nun unter der Schirm- nur mit einem zeitgemäßen pädagogi- ner mussten auf die jeweiligen Umstände herrschaft staatlicher Behörden ein Ju- schen Programm entgegentreten, so der und die religiösen Herausforderungen biläum der wechselhaften Geschichte Rabbiner. Dabei sollten sich Tora und reagieren. Zahlreiche rabbinische Res- und Gefühle. Es mag eine Chance sein, weltliches Wissen verbinden. Da Hirsch ponsen auf Anfragen zu Verhaltensregeln in Erinnerung zu rufen, wie erfolgreich unter anderem von den Familien Roth- reagieren auf sich verändernde Umstän- wir auch in diesem Land waren bei der schild, Oppenheimer und Goldschmidt de. Selbst die Reaktionen der Rabbiner Erfüllung des Aufrufs des Propheten finanziell unterstützt wurde, konnte er auf den „Erfolg“ jüdischer Integration Jirmejahu, den er einst den Exilanten in viele seiner Pläne umsetzen, etwa je eine in die deutsche Gesellschaft schwanken Babylonien zugerufen hatte: „Suchet der Realschule für Jungen und für Mädchen. zwischen Stolz und mahnender Vorsicht. Stadt Bestes, dahin Ich euch habe weg- Das Curriculum umfasste sowohl religi- Denn die Öffnung der „Judengassen“ führen lassen, und betet für sie zum Ewi- öse als auch weltliche Bildung. führte durch vermehrte Interaktionen gen; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s Neben dem Kommentar zur Tora, zum mit der nichtjüdischen Umgebung häu- auch euch wohl.“ Siddur (Gebetbuch) und zu den Sprü- fig zur Assimilation bis hin zur Selbstver- chen der Väter veröffentlichte Hirsch in leugnung. Erfolgreiche (ehemalige) Juden Das Jubiläumsjahr mag den Reichtum dieser Zeit auch mehr als 400 Zeitungs- wurden zunehmend namhafte Künstler jüdischer religiöser und säkularer Errun- artikel in dem von ihm herausgebrachten und Wissenschaftler. Die wenigen großen genschaften beleuchten, es mag an zahl- Monatsjournal „Jeschurun“. Schließlich Bankiersfamilien und andere (erfolg-)rei- reiche deutsch-jüdische Freundschaften setzte er bei den preußischen Behörden che Juden setzten die jüdische Idee der und Beziehungen erinnern. Es mag uns durch, eine Austrittsgemeinde gründen Wohltätigkeit in zahlreichen Stiftungen selbst motivieren, dieses reiche Erbe fort- zu dürfen. in ihren Städten um. Kranken- und Wai- zuführen. Es wird aber auch die Grenzen senhäuser, Armenspeisungen und Uni- und die immer wiederkehrende gewalttä- Öffnung in die Gesellschaft? versitäten wie etwa in Frankfurt wären tige Umkehrung dieser Verbindung auf- Hirschs Wirken beeinflusste das Juden- ohne „jüdisches Geld“ nicht entstanden. decken, die Fragilität dieser Beziehung. tum weltweit vor allem mit seiner Fähig- Wie „deutsch“ Juden waren, lässt sich Angesichts des neu aufkommenden Anti- keit, den Herausforderungen seiner Zeit auch anhand der sogenannten Juden- semitismus, angesichts der Tatsache, dass zu begegnen. Während manche Juden zählung im Ersten Weltkrieg ablesen. sichtbares jüdisches Leben heute polizei- säkulares Wissen und Kultur als Alter- Ursprünglich entsprang sie einer anti- lich geschützt werden muss, dass es meist native zur Religion verstanden und sich semitischen Motivation, um zu zeigen, Mahnmale und Gedenkstätten, Stolper- von dieser abwandten, sahen andere Ju- dass Juden feiger seien und seltener für und Grabsteine sind, die die jüdische Ge- den darin das pure Böse, mit dem man das Vaterland an die Front gingen. Sie schichte sichtbar machen, ist es sicherlich sich gar nicht beschäftigen sollte. Für bewies jedoch das Gegenteil: Von damals nicht an uns, beweisen zu wollen, dass die gebildeten Traditionellen war Hirsch etwa 550.000 deutschen Juden hatten wir schon immer „gute Deutsche“ waren. daher Mittler zwischen zwei Welten: sä- rund 100.000 am Krieg teilgenommen, Es ist Aufgabe aller Deutschen, den jahr- kulares Wissen als Bereicherung zu emp- davon etwa 78.000 an der Front. Mehr als hundertealten Judenhass zu überwinden. finden und es idealerweise zu nutzen, um 10.000 Juden hatten sich freiwillig zum Vielleicht mag dem einen oder anderen die Tora noch besser zu verstehen, und Kriegsdienst gemeldet, 19.000 waren be- die Erinnerung daran helfen, dass wir zugleich den Wunsch stärkend, religiöse fördert worden, 30.000 hatten Orden für miteinander mehr erreichen können. Der Gesetze einhalten zu wollen, statt sie dem besondere Tapferkeit erhalten. beste Selbstschutz für uns Juden ist wohl, Zeitgeist zu opfern. Und dennoch: Schon vor der „Macht- auch weiterhin daran mitzuwirken, dass Während Rabbiner Hirsch in Frankfurt ergreifung“ der Nationalsozialisten war es dieser Nation gut gehen möge, „denn also eine orthodoxe Austrittsgemeinde der Antisemitismus allgegenwärtig. wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch gründete, bereitete Rabbiner Esriel Hil- Die deutsch-jüdische Symbiose hat nie wohl“. Wehe uns allen, Nichtjuden wie desheimer seine Studenten am Berliner wirklich stattgefunden. Die Freude über Juden, wenn nicht! ■ Mit dem Judentum der Vergangenheit habe ich eher weniger zu tun. Rachel, Wien 8 AUF ZUKUNFT HIN
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