EDITORIAL - theologische ...

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EDITORIAL

     J
          üdinnen und Juden haben im Laufe der           gesellschaftliche Verbände einschließlich des
          Jahrhunderte wesentlich dazu beigetra-         Zentralrates der Juden unterstützen dieses für
          gen, dieses Land aufzubauen und zum            unser Zusammenleben so wichtige Ereignis.
     Blühen zu bringen. Sie leben so lange in            Es wird nicht nur im Inland, sondern auch in
     dem Gebiet, das heute Deutschland heißt,            Europa, in Israel, den USA und in vielen ande-
     wie Christen. Gleichwohl durchziehen Aus-           ren Ländern mit großer Aufmerksamkeit und
     grenzung und Pogrome die deutsch-jüdische           auch mit Respekt wahrgenommen.
     Geschichte. Auch die Kirchen sind mitver-           In diesem Kontext legen wir Ihnen das Her-
     antwortlich dafür.                                  der-Thema-Heft „Auf Zukunft hin. 1700 Jah-
     Den Juden wurden in der Shoa schrecklichste         re jüdisches Leben in Deutschland“ vor. Alle
     Gewalt und schlimmstes Unrecht angetan. Sie         Beiträge stehen in der Verantwortung der
     wurden beraubt, rechtlos gemacht, vertrieben,       jeweiligen Autoren. Es sind spannende und
     entwürdigt, ermordet. In deutschem Namen            aufrüttelnde Perspektiven auf das jüdische
     wurden während der Nazi-Diktatur in Europa          Leben in Deutschland und Europa – in sei-
     mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden         ner Vielfalt, im Dialog mit Christentum und
     getötet. Den größten Völkermord in der Ge-          Islam, in politischer und kultureller Hinsicht.
     schichte hat Deutschland zu verantworten. Er        Manche Autoren haben auch kritische Fragen
     wird für immer im Menschheitsgedächtnis             an das heutige Deutschland und seine Bewoh-
     bleiben.                                            ner. Andere stellen Überlegungen an, wie die
     Immer noch und immer wieder flammt An-              Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen
     tisemitismus in unserem Land und in Eu-             künftig aussehen könnte. In sehr persönli-
     ropa auf. Er hat in den vergangenen Jahren          chen Beiträgen berichten Nachkommen von
     sogar noch zugenommen. Weitere traurige             Holocaust-Überlebenden über ihre unge-
     Höhepunkte waren die Ausschreitungen vor            wöhnlichen Wege, die sie ausgerechnet auch
     etlichen Synagogen in Deutschland während           in Deutschland ihre Koffer auspacken ließen
     der jüngsten Kämpfe zwischen Israelis und           – die Erinnerung und auch den Schmerz im
     Palästinensern im Mai 2021. Jedweder Anti-          Gepäck. Dem Ernst Ludwig Ehrlich Studien-
     semitismus muss strafrechtlich verfolgt, das        werk danken wir für die Einzelzitate, die sich
     Strafrecht konsequent angewandt werden.             im Heft verstreut finden.
     Zum ersten Mal seit der Shoa und in der Ge-         Verein, Verlag und Redaktionskreis dan-
     schichte der Bundesrepublik begeht unser            ken der Deutschen Bischofskonferenz, dem
     Land nun ein Festjahr, an dem sich jüdische         Deutschen Koordinierungsrat der Gesell-
     und nichtjüdische Verbände und Vereine in           schaften für Christlich-Jüdische Zusammen-
     vielfältiger, überzeugender und auch berüh-         arbeit (DKR) und dem Bundesministerium
     render Weise beteiligen. 2021 setzt als Festjahr    des Innern für die finanzielle Unterstützung
     ein Zeichen der Solidarität mit Jüdinnen und        des Heftes, das einen wichtigen Beitrag zum
     Juden als Teil der deutschen Gesellschaft. Ziel     deutsch-jüdischen Jahr 2021 liefert.
     ist es, sich mit der Geschichte auseinanderzu-
     setzen, aber auch das lebendige, zeitgenössi-       Für den Verein „321–2021: 1700 Jahre jüdi-
     sche jüdische Leben in seiner Breite und Tiefe      sches Leben in Deutschland“
     vorzustellen und Begegnungen zwischen Men-
     schen zu ermöglichen. Die deutschen Verfas-         Joachim Gerhardt,
     sungsorgane, die Bundesländer, wirtschaftli-        Ruth Schulhof-Walter,
     che, wissenschaftliche, kulturelle, religiöse und   Matthias Schreiber

1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND1
EDITORIAL - theologische ...
INHALT
                                         Herder Thema

                                 EDITORIAL                                                                                          1
                                 INHALTSVERZEICHNIS                                                                                2
                                 GRUNDLAGEN                  – Fragil und kraftvoll zugleich. Judentum in Deutschland
                                                                vor und nach dem Nationalsozialismus Josef Schuster                4
                                                             – Jubiläum der wechselhaften Gefühle. Das aschkenasische
                                                                Judentum Julian-Chaim Soussan                                      6
                                                             – Erneuerung hat Tradition. 250 Jahre liberales Judentum
                                                                in Deutschland Walter Homolka                                      9
                                                             – Fragebogen: „Tacheles reden ist ein Eckpfeiler der leben-
                                                               digen Demokratie“ Armin Laschet                                    12
                                 DAS FESTJAHR                – Das Festjahr. Aus dem Maschinenraum
                                                               Joachim Gerhardt                                                   14
                                                             – Seien Sie ein Mentsh! Das Programm des Festjahres
                                                               Regina Plaßwilm                                                    16
                                                             – Das Wilhelm-Krützfeld-Projekt. Die Berliner Polizei im
                                                                Nationalsozialismus Frank Peter Bitter                            19
                                                             – Fragebogen: „Toleranz vorleben“ Winfried Kretschmann             20
                                 INTERNATIONALE PERSPEKTIVEN – Ein fruchtbares Wachstum. Österreichische Perspektive
                                                                auf das Festjahr Danielle Spera                                  22
                                                             – Trotz allem: Ja! Eine Sicht aus niederländischer
                                                               Perspektive Edward van Voolen                                      23
                                                             – Am Wannsee über die Zukunft jüdischen Lebens disku-
                                                               tieren. Aus der Sicht eines östlichen Nachbarn David Maxa          27
                                                             – Geschichte einer unerwiderten Liebe? Ein Blick aus Israel
                                                                auf Deutschland und das Festjahr Anna Azari                       29
           Zu den                                            – Fragebogen: „Das gemeinsame Erbe zum Leuchten
           Bildern                                             bringen“ Malu Dreyer                                               32

     Die Abbildungen in diesem
         Heft sind die zehn
       prämierten Bilder des
       Fotowettbewerbs der
         Initiative kulturelle
      Integration zum Thema
           jüdischer Alltag            Walter Homolka                      Edward van Voolen                      Malu Dreyer
           in Deutschland.
      Olaf Zimmermann stellt         „Die entscheidende                      „Was hat mich                    „Ich wünsche mir,
                sie vor.               Frage: Wie der                        bewegt? Mein                   dass junge Juden und
                64                  Tradition treu bleiben                 Wunsch, das fortzu-              Jüdinnen ihre Zukunft
                                   und doch offen sein für                 setzen, was unter-                  in unserem Land
                                       die Moderne?“                        brochen wurde.“                         sehen.“

2                                                                                                                     AUF ZUKUNFT HIN
EDITORIAL - theologische ...
AUF ZUKUNFT HIN
                  1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND
POLITIK                  – Einfach nur Mensch sein. Dokumentation einer Rede                    IMPRESSUM
                            zum Holocaust-Gedenktag Marina Weisband                        33   Herder Thema
                                                                                                 Auf Zukunft hin. 1700 Jahre jüdi-
                         – Spiel mit der Zweideutigkeit. Von der Verpflichtung der              sches Leben in Deutschland
                                                                                                 August 2021
                            Demokratie zur Eindeutigkeit Matthias Schreiber                35
                                                                                                 Herausgeber:
                         – Europäisches Holocaust-Museum. Zukunft der                           321–2021: 1700 Jahre jüdisches
                           Erinnerungskultur Jürgen Rüttgers                               38   Leben in Deutschland e.V.
                                                                                                 Kooperationspartner:
                         – Einladung zum Dialog. Was Martin Buber mit dem                       Deutscher Koordinierungs-
                           Festjahr #2021JLID zu tun hat Sylvia Löhrmann                   41   rat der Gesellschaften für
                                                                                                 Christlich-Jüdische Zusammen-
                         – Ohne Juden in Europa kein Europa. Ein Blick aus Brüssel              arbeit (DKR)
                            Katharina von Schnurbein                                       43   Deutsche Bischofskonferenz
                                                                                                 Redaktion:
                         – „Intensiv ja, aber nicht normal“. Die Beziehung zwischen             Leticia Witte, Redakteurin
                            Deutschland und Israel Alexander Graf Lambsdorff               47   Katholische Nachrichten-
                                                                                                 Agentur (KNA)
                         – Fragebogen: „Keinen Tinnef reden“ Bodo Ramelow                 49   Projektsteuerung:
INTERRELIGIÖSER DIALOG   – Hat der christlich-jüdische Dialog eine Zukunft? Der                 Dr. Stefan Orth
                            Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-                 Verlag und Anzeigen:
                                                                                                 Verlag Herder GmbH
                            Jüdische Zusammenarbeit Margaretha Hackermeier                 50   Hermann-Herder-Straße 4
                                                                                                 79104 Freiburg i. Br.
                         – Brücken bauen nach der Shoa. Jüdisch-christliche                     Anzeigenleitung:
                           Begegnung im protestantischen Bereich Friedhelm Pieper          52   Bettina Haller (Verantw.)
                                                                                                 Tel.: (0761) 2717-456; Fax.: -426
                         – Der „Freiburger Rundbrief “. Katholische Pioniere                    E-Mail: anzeigen@herder.de
                           im christlich-jüdischen DialogElias H. Füllenbach               54   Es gilt die Anzeigenpreisliste
                                                                                                 Nr. 52 vom 1.1.2021
   – Theologischer Diskurs zwischen Juden und Christen. Der                                      „Herder Thema“ ist eine
		 Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK                                                  Sonderedition-Reihe zu
                                                                                                 ausgewählten Themen.
		  Henry G. Brandt, Andreas Nachama, Hanspeter Heinz
                                                                                                 Druck:
     und Dagmar Mensink                                                                     57   RCDRUCK GmbH & Co.
                                                                                                 KG, Albstadt-Tailfingen,
                         – Die Einheit des Monotheismus. Islam und Judentum                     Gedruckt auf chlorfrei
                           im Dialog Mouhanad Khorchide                                    59   gebleichtem Papier
                                                                                                 Preis: 14,- €
                         – Fragebogen: „Unser Schutzversprechen gilt heute und                  ISBN: Print 978-3-451-02749-9;
                           in Zukunft“ Markus Söder                                        62   E-Book (PDF) 978-3-451-82445-6
                                                                                                 Bildnachweise:
BÜCHER                   		                                                                 63
                                                                                                 Coverbild: Auf dem Weg zur
                                                                                                 Schule; Foto: Evgenia Lisowski
                                                                                                 (Zweiter Preis)
                                                                                                 Für alle Bilder des Fotowett-
                                                                                                 bewerbs: Initiative kulturelle
                                                                                                 Integration, Berlin

    Sylvia Löhrmann              Katharina von Schnurbein             Elias H. Füllenbach
  „Und wer zusammen               „Mit dem Tod kann man             „Der Erfolg von ,Nos-
     nachdenkt und               umgehen, wenn die Wert-            tra aetate‘ war auch
  feiert, kommt auto-                 schätzung des                 der von engagierten
  matisch miteinander                Lebens zentrale                 Katholikinnen und
     ins Gespräch.“                  Bedeutung hat.“                     Katholiken.“

1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND3
EDITORIAL - theologische ...
GRUNDLAGEN

Judentum in Deutschland vor und nach dem Nationalsozialismus

Fragil und kraftvoll zugleich
Lange spielte Deutschland eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Judentums weltweit.
Bedeutende Persönlichkeiten schufen das liberale Judentum und die moderne Orthodoxie.
Nach dem systematischen Mord an den europäischen Juden sahen die Gemeinden
hierzulande anders aus. Mittlerweile gibt es ein neues Selbstbewusstsein. VON JOSEF SCHUSTER

I
   m Centrum Judaicum in Berlin läuft der-                                         Juden in Deutschland ist eine Geschichtsepoche
   zeit eine beeindruckende Ausstellung des                                        zu Ende gegangen. (...) Unser Glaube war es, dass
   amerikanisch-jüdischen Fotografen Robert                                        deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Bo-
Capa. Es sind bewegende Bilder aus Berlin im                                       den sich treffen und durch ihre Vermählung zum
Jahr 1945. Robert Capa hat nicht nur den Alltag                                    Segen werden könnten. Dies war eine Illusion – die
in der zerstörten Stadt abgebildet, sondern im                                     Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle
September 1945 einen ganz besonderen Moment                                        Mal vorbei.“
festgehalten: den ersten Rosch-Haschana-Got-              Dr. Josef Schuster,
tesdienst nach dem Krieg, nach der Shoa.               geboren 1954 in Haifa,      Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland
Die Menschen, die sich damals in der weitgehend         ist seit 2014 Präsident    gründete sich 1950 nicht vorrangig mit dem
unbeschädigten Synagoge am Landwehrkanal                    des Zentralrats der    Ziel, jüdisches Gemeindeleben wiederaufzubau-
(heute Synagoge am Fraenkelufer) einfanden,            Juden in Deutschland.       en, sondern Juden sozial und bei ihrer Ausreise
wirken auf den Fotos sehr ernst. Es sind schmale              Aufgewachsen in      zu unterstützen. Dass sich dennoch in größeren
Gesichter unter viel zu großen Hüten. Die meisten          Würzburg studierte      Städten rasch wieder jüdische Gemeinden grün-
Männer sehen alt aus. Eine Frau weint. Kinder sind         er dort Medizin und     deten und der Bau neuer Synagogen in Angriff
so gut wie nicht zu sehen. Für das „Life“-Magazin         führte bis 2020 eine     genommen wurde, lag an einer Mischung aus
beschrieb Capa damals seine Eindrücke von der             internistische Praxis.   Pragmatismus und dem Wunsch, wieder Boden
jüdischen Gemeinde: „Es gibt nicht viel, worauf              Josef Schuster ist    unter den Füßen zu gewinnen. Doch noch in den
sich die Berliner Juden im neuen Jahr freuen kön-           zugleich Vorsitzen-    Sechzigerjahren herrschte – so schreibt es der
nen; sie ergeben sich in ihr Schicksal, die letzten      der der Israelitischen    Historiker Michael Brenner – „das Gefühl einer
Überlebenden ohne Zukunft zu sein.“                   Kultusgemeinde Würz-         temporären Existenz vor“.
                                                      burg und Unterfranken        Wenn heutzutage eine Umfrage gemacht würde,
1945 waren die Schrecken der Shoa für die Über-            sowie Präsident des     wieso es nach dem Holocaust überhaupt wieder
lebenden so allgegenwärtig, dass die Diagnose von        Landesverbandes der       jüdisches Leben in Deutschland gibt und wie es
Robert Capa zutraf. Die traumatisierten Menschen      Israelitischen Kultusge-     dazu kam, würden die Ergebnisse wahrscheinlich
sahen viel älter aus, als sie waren. Nur sehr wenige       meinden in Bayern.      ein großes Unwissen zutage fördern. Den meis-
Kinder hatten überlebt. Das erzählen die Fotos.                                    ten nichtjüdischen Bürgern sind zwar die Ereig-
Das war die jüdische Realität 1945.                                  nisse zwischen 1933 und 1945 im Groben bekannt – vertieftes
Wenn wir in diesem Jahr mit einer Fülle von Veranstaltungen          Wissen fehlt in einem erschreckenden Ausmaß –, doch mit der
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland würdigen, dann             deutsch-jüdischen Geschichte vor dem Nationalsozialismus und
dürfen wir nicht vergessen, wie die Ausgangslage aussah, aus         seit 1945 haben sich die wenigsten beschäftigt.
der sich die heutigen jüdischen Gemeinden entwickelt ha-
ben. Eine Zukunft sahen Juden im Land der Täter nicht. Es            Ehemals führende Rolle
war auch vielfach nicht ihre Heimat, in die sie zurückgekehrt        Dabei hat Deutschland für die Entwicklung des Judentums welt-
waren. Die Mehrzahl stammte aus Osteuropa. Sie waren nur             weit lange eine sehr wichtige, wenn nicht sogar führende Rolle
in Deutschland gestrandet. Die meisten dieser entwurzelten           gespielt. Neben großen jüdischen Denkern im Mittelalter sind
„Displaced Persons“ wollten Deutschland Richtung Palästina           es vor allem die Reformer des 19. Jahrhunderts, deren Ideen bis
oder Amerika verlassen.                                              heute im Judentum fortwirken.
Nicht zufällig wurde ein Zitat von Leo Baeck berühmt. Der re-        Doch Namen wie Israel Jacobson aus dem niedersächsischen
nommierte deutsche Rabbiner, der das KZ Theresienstadt über-         Städtchen Seesen – im Grunde der erste liberale Rabbiner – oder
lebt hatte und nach dem Krieg in England lebte, beschrieb die        Abraham Geiger, Samson Raphael Hirsch, Seligmann Baer Bam-
Lage der Juden in Deutschland drastischer als Capa: „Für uns         berger sind heute fast ebenso vergessen wie Esriel Hildesheimer.

4                                                                                                                       AUF ZUKUNFT HIN
EDITORIAL - theologische ...
GRUNDLAGEN

Während Rabbiner Hildesheimer auf or-           Unterschied: Vor der Machtübernah-              außen. Wir haben auch in der Gemein-
thodoxer Seite die Rabbinerausbildung           me der Nationalsozialisten lebten rund          schaft selbst einen fragilen Zustand er-
auf ein wissenschaftliches Niveau hob,          170.000 Juden in der Hauptstadt. Heute          reicht. Denn seitdem die Zuwanderung
waren es die anderen genannten Perso-           hat die Gemeinde etwa 8700 Mitglieder.          fast zum Erliegen gekommen ist – die
nen, die das liberale Judentum und die          Hinzu kommen Juden, die nicht Mit-              Menschen, die einen Auswanderungs-
moderne Orthodoxie schufen. Unabhän-            glied der Gemeinde sind, sowie Israelis,        wunsch hatten, haben ihn inzwischen
gig davon, wie man diese Reformen beur-         die vorübergehend in Deutschland leben.         in der Regel in die Tat umgesetzt oder
teilt, stießen diese Intellektuellen wichtige   Dennoch dürfte die Gesamtzahl vermut-           scheitern an den erhöhten Hürden –,
Debatten an, die eine Religionsgemein-          lich 15.000 nicht überschreiten. Von den        geht die Zahl unserer Gemeindemit-
schaft braucht, um lebendig zu bleiben          mehr als 100 Synagogen vor dem Krieg            glieder zurück. Das liegt vor allem an
und sich weiterzuentwickeln.                    ist gerade einmal ein Dutzend übrigge-          der ungünstigen Altersstruktur. Das ist
                                                blieben.                                        ähnlich wie in den Kirchen.
Die jüdischen Gemeinden, die sich nach
der Shoa bildeten, hatten und haben             Trotz der überschaubaren Größe, die             Angebote für Familien
bis heute hingegen meistens einen ganz          heute die jüdischen Gemeinden haben,            Um die Zukunft auch kleinerer Ge-
anderen Charakter. Geprägt wurden sie           ist die Infrastruktur, die für ein religiöses   meinden zu sichern, unterstützt der
von Juden, die in Osteuropa ihre Heimat         und kulturelles jüdisches Leben wich-           Zentralrat der Juden seit einigen Jahren
gehabt hatten. Dadurch wurde das tra-           tig ist, in vielen Städten vorhanden. Die       die Gemeinden intensiv darin, neue
ditionelle Judentum die vorherrschende          Gemeinden haben häufig eigene Kin-              Mitglieder zu gewinnen. Gerade Ange-
Richtung in Deutschland. Zudem waren            dergärten, einige auch Grundschulen. In         bote für Familien mit kleinen Kindern
die Gemeinden so klein, dass sie es sich        Berlin, Hamburg, München, Düsseldorf            spielen dabei eine wichtige Rolle. Denn
selbst in größeren Städten nicht leisten        und Frankfurt gibt es jüdische Gymnasi-         es gilt, Menschen zu halten, die in der
konnten, sich nach religiösen Richtun-          en. Zudem bieten die Gemeinden in ih-           Rush-Hour des Lebens mit Berufsein-
gen aufzuteilen. So entstanden Einheits-        ren Jugendzentren viele Aktivitäten für         stieg und Familiengründung für das Ge-
gemeinden, in denen die liberale Rich-          Jugendliche an. Es gibt Programme für           meindeleben weniger Zeit haben. Häufig
tung meistens von weniger Mitgliedern           Familien und für Senioren, die zum Teil         gehen sie als Mitglieder auch aus dem
vertreten war.                                  in jüdischen Elternheimen leben. Neben          Grund verloren, weil sie es nach einem
Das hat sich erst in den vergangenen 30         Synagogen und Gemeindezentren gehö-             Umzug versäumen, sich und ihre Fami-
Jahren geändert. Und so ist das jüdische        ren zu den Gemeinden auch Friedhöfe             lie in der neuen Gemeinde anzumelden.
Leben, wie es heute in Deutschland an-          und häufig Mikwen, Ritualbäder.                 Von diesem Jahr an stellt der Zentralrat
zutreffen ist, verglichen mit den 1700 Jah-     Vor allem aber ist ein neues Selbstbe-          Coaches zur Verfügung, die vor Ort die
ren eine sehr junge Entwicklung. Durch          wusstsein gewachsen. Kinder und En-             Gemeinden unter anderem darin unter-
die Zuwanderung von rund 200.000 so-            kel der Zuwanderer aus der ehemaligen           stützen, attraktiver zu werden.
genannten jüdischen Kontingentflücht-           Sowjetunion betrachten Deutschland
lingen entstand in Deutschland wieder           ebenso selbstverständlich als ihr Zuhau-        Während wir jedoch zuversichtlich sind,
ein vielfältiges jüdisches Leben, das sich      se wie die Nachkommen jener Familien,           unsere Gemeinden zukunftsfest machen
innerhalb und außerhalb der Gemeinden           die schon länger oder seit Generationen         zu können, stimmt die allgemeine Lage
abspielt. Neben den Einheitsgemeinden           hier leben. Daher haben sie auch den            angesichts des wachsenden Antisemitis-
gründeten sich auch liberale und kon-           Wunsch, sich in die Gesellschaft ein-           mus mitunter skeptisch. Wie fragil das jü-
servative Gemeinden. Mit der Hoch-              zubringen. Sie sehen sich mittendrin,           dische Leben ist, hat der Anschlag auf die
schule für Jüdische Studien Heidelberg          nicht irgendwo am Rand. Sichtbarer              Synagoge in Halle an Jom Kippur 2019
und drei Rabbinerseminaren – dem Ab-            Ausdruck dieses kraftvollen Selbstbe-           sicherlich am eindrücklichsten vor Augen
raham Geiger Kolleg und dem Zacharias           wusstseins ist zum einen die neue Jüdi-         geführt. Hätte der Täter stärkere Waffen
Frankel College in Potsdam sowie dem            sche Akademie, für die in diesem Jahr           gehabt und hätte die Eingangstür nicht
Hildesheimer Rabbinerseminar in Berlin          in Frankfurt der erste Spatenstich ge-          gehalten, wäre es zu einem furchtbaren
– verfügen wir zudem wieder über Aus-           plant ist. Zum anderen spiegelt die Ein-        Blutbad gekommen. Doch auch wenn
bildungsstätten auf hohem Niveau.               führung von Militärrabbinern bei der            das wie durch ein Wunder verhindert
Es wäre jedoch Augenwischerei, so zu            Bundeswehr das neue Selbstverständnis           wurde, mussten zwei Menschen bei dem
tun, als gäbe es in Deutschland ein jüdi-       wider. So kraftvoll das jüdische Leben in       Anschlag ihr Leben lassen.
sches Leben wie vor der Shoa. Allein am         Deutschland ist, so fragil ist es zugleich.     Neben der Bedrohung durch Rechts-
Beispiel Berlins zeigt sich der immense         Das liegt nicht nur an Bedrohungen von          extremisten dürfen wir auch den isla-

Das Festjahr ist wichtig. Ich hoffe, dass unsere Geschichten, Sorgen und For-
derungen auch 2022 so viel Aufmerksamkeit erfahren.              Sarah, Berlin

1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND5
EDITORIAL - theologische ...
GRUNDLAGEN

mistischen Terrorismus nicht ver-         Das aschkenasische Judentum

                                          Jubiläum der
gessen. Beides stellt eine massive
Bedrohung des jüdischen Lebens
dar. Viele Juden erleben zudem im
Alltag Antisemitismus – in öffent-
lichen Verkehrsmitteln, auf der

                                          wechselhaften Gefühle
Straße, in der Schule. Vor allem im
Netz, in den sozialen Medien, ist
der Hass auf Juden weit verbreitet.
In der Corona-Krise hat er in Form
von Verschwörungsmythen einen
neuen Höhepunkt erreicht.                 Das laufende Festjahr wird durchaus auch mit gemischten
Dies führt in den Gemeinden zu einer
ambivalenten Stimmung: Einerseits         Gefühlen gesehen – denn Geschichte und Erfahrungen von
sind viele Gemeindemitglieder noch        Juden auf dem heutigen Gebiet Deutschlands sind auch von
einmal vorsichtiger geworden und
vermeiden es, in der Öffentlichkeit als   Verfolgung und Ausgrenzung geprägt, es zeigt sich aber auch
Jude erkennbar zu sein. Andererseits      eine blühende Gelehrsamkeit. VON JULIAN-CHAIM SOUSSAN
fühlen sich die meisten in Deutsch-
land dennoch vergleichsweise sicher

                                          D
und hegen keinerlei Gedanken, das                as Kölner Toleranzedikt von 321           und Mainz zu nennen, die im Jiddischen
Land zu verlassen.                               ist die erste offizielle Quelle für jü-   Schpira, Warmaisa und Magenza heißen.
                                                 disches Leben hierzulande – lan-          Fügt man die Anfangsbuchstaben zusam-
Das Festjahr „1700 Jahre jüdisches        ge bevor das Gebiet Deutschland hieß.            men, ergibt sich der Name SchUM, was
Leben in Deutschland“ sollte da-          Anlass genug, an die deutsch-jüdische            wiederum Knoblauch bedeutet. Im Laufe
her vor allem in der nichtjüdischen       Geschichte zu erinnern.                          der Zeit – sowie bedingt durch Vertrei-
Mehrheitsgesellschaft der Selbstver-      Das Jubiläumsjahr 2021 offenbart Am-             bungen von Juden und auch gekoppelt
gewisserung dienen: Wie steht es          bivalenzen: Da ist Stolz auf die erstaun-        an die allgemeinen Völkerwanderungen
um unser Zusammenleben? Inter-            lichen Errungenschaften jüdischen                – dehnt sich der Bereich der aschkenasi-
essiert es mich, wie Minderheiten,        Wirkens auf dem Gebiet, das im Laufe             schen Juden von Südfrankreich bis Russ-
wie Juden in unserem Land leben?          der Geschichte zu Deutschland wurde.             land aus.
Trage ich selbst dazu bei, Toleranz       Dieses Gefühl konkurriert mit dem der            Im Gegensatz dazu steht das sefardische
und Respekt zu stärken?                   Trauer und des Grauens angesichts einer          Judentum, abgeleitet von Sfarad (Spani-
Mit dem Festjahr möchten wir dazu         von Verfolgung, Pogromen und Ausgren-            en). Es verbreitet sich in Wellen und dann
beitragen, das Bewusstsein dafür zu       zung geprägten Geschichte, die schließ-          endgültig durch die spanische Inquisiti-
schärfen, dass Juden schon immer          lich im abscheulichsten Massenmord der           on um den Mittelmeerraum, so dass auch
zu Deutschland gehörten und wie           Geschichte gipfelt.                              die nordafrikanischen und zeitweise alle
sie die hiesige Kultur prägten. Dar-      Man kann diese Geschichte auf viele              aus muslimisch regierten Ländern stam-
über hinaus möchten wir Interesse         Arten erzählen: anhand der Leidensge-            menden Juden als Sefarden bezeichnet
an den jüdischen Gemeinden und            schichte, der christlich-jüdischen Inter-        werden.
weiteren Institutionen wecken, die        aktionen, der sozialen oder rechtlichen
heute das jüdische Leben hierzu-          Entwicklung im Spiegel der europäi-              Im Judentum wird die Tora als schrift-
lande ausmachen.                          schen oder deutschen Historie. Hier soll         liche Weisung G“tes an den Menschen
Es muss daher unser aller Ziel sein,      es um die innerjüdische Wirkungsge-              verstanden. Nach der rabbinischen
mit dem Festjahr eine nachhaltige         schichte gehen, das von Rabbinern und            Überlieferung wurden Moses auf dem
Wirkung zu erzielen. Ob Juden in          ihren Werken geprägte aschkenasische             Berg Sinai auch allerlei mündliche Inst-
Deutschland eine Zukunft haben,           Judentum, zu dem sich heute weltweit             ruktionen vom Ewigen gegeben, wie die
hängt in erheblichem Maße von             die Mehrheit aller Juden und Jüdinnen            613 Ge- und Verbote anzuwenden seien.
ihrer Umgebung ab. Wendet sie             zugehörig fühlt.                                 Als im Jahr 70 nach der Zeitrechnung der
sich mit Desinteresse ab und gibt         Der Begriff „Aschkenas“ leitet sich zu-          Jerusalemer Tempel zerstört wurde und
Rechtspopulisten und Rechtsext-           nächst aus der Bibel ab, wobei es sich           etwa im Jahr nach der Niederschlagung
remisten Raum, sich auszubreiten,         dort um den Urenkel Noahs, den Sohn              des Bar-Kochba-Aufstands die Hoffnung
dann sieht es schlecht aus für die        Gomers handelt (Genesis 10,1–3). Er              auf eine baldige Souveränität im eigenen
jüdische Gemeinschaft in Deutsch-         bezeichnet ab dem Mittelalter in rabbi-          Land zunichtegemacht wurde, beschlos-
land. Dann müssen sich aber auch          nischen Schriften dann den geographi-            sen die Weisen, die mündliche Tora zu
die übrigen Bürger fragen, in wel-        schen Bereich am Rhein ab dem Elsass             verschriftlichen.
chem Land sie eigentlich leben            bis Köln. Prominent sind in dem Zusam-           So entstand um das Jahr 200 zunächst
wollen. ■                                 menhang auch die Städte Speyer, Worms            die Mischna in Israel und schließlich

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ihre Ergänzung in Babylonien, die Gemarah.              Neben den Bibel- und Talmudkommentaren so-
Sie bilden den Talmud, eine Sammlung rabbini-           wie den halachischen Ausführungen kamen zwei
scher Meinungen zu allen denkbaren religiösen           weitere Literaturgattungen zum Tragen – deren
Themen. Hierzu brauchte es immer auch die               deutsche Vertreter bis heute ebenfalls weltweit ge-
Interpretation gelehrter Rabbiner. Die wichtigs-        würdigt werden. Es sind die Gattungen der Piutim
ten Rabbiner zwischen dem achten und zehnten            und der Kinnot. Piutim sind religiöse Dichtungen,
Jahrhundert erhielten den Beinamen „Gaon“               die häufig gesungen werden. Weltweit wird bei-        Julian-Chaim
(Riese). Sie waren in ihren jeweiligen Wirkungs-        spielsweise an jedem Schabbat das „Baruch E-L         Soussan wurde
stätten anerkannte Autoritäten, die neue binden-        Elion“ gesungen, das von Baruch ben Schmuel (ge-      1968 geboren und ist
de Edikte für ihre Gemeinschaft erlassen durften.       storben 1221 in Mainz) gedichtet wurde. Kinnot        Rabbiner in Frankfurt
                                                        sind Klagelieder, die vor allem zu den Trauertagen    sowie im Vorstands-
Ein aschkenasischer „Riese“                             rezitiert werden. Inhaltlich verweben einige asch-    beirat der Orthodoxen
Der einzige aschkenasische „Gaon“ war Rav Ger-          kenasische Kinnot die Trauer um die Zerstörung        Rabbinerkonferenz
schom Meor haGola (960–1028 oder 1040) aus              des Jerusalemer Tempels mit den häufig sehr de-       Deutschland. Soussan
Mainz. Der Name bedeutet Rabbiner Gerschom,             taillierten Beschreibungen der grausamen Pog-         studierte Volkswirt-
Leuchte des Exils. Er erklärte nicht nur das Brief-     rome in den SchUM-Städten sowie in Frankfurt,         schaft und Judaistik an
geheimnis für bindend. Es mag auch am äußeren           Würzburg, Augsburg und anderen Orten. Es sind         der Universität Heidel-
Einfluss gelegen haben, dass er als einer der Urvä-     literarische Schöpfungen für die Ewigkeit inmitten    berg, dann Judaistik
ter des aschkenasischen Judentums für alle euro-        von Gewalt und Zerstörung.                            an der Heidelberger
päischen Juden die Monogamie als verpflichtend                                                                Hochschule für Jüdi-
erklärte. In orientalischen Ländern war dies bis ins    Mit der Aufklärung und den Napoleonischen             sche Studien. Er war
19. Jahrhundert noch nicht der Fall.                    Kriegen wuchs die Hoffnung der Juden, endlich         Religionslehrer und
Der wohl weltweit bekannteste und am häufigsten         anerkannt zu werden und Bürgerrechte zu erlan-        absolvierte in Jerusa-
gelesenen Rabbiner ist Raschi (Rabbi Schimon ben        gen. Doch obwohl Ghettomauern die Juden nicht         lem eine Ausbildung
Jitzchak, 1040–1105), der in Mainz und Worms            mehr zurückhalten konnten, waren sie noch lange       zum Rabbiner. Dort
lernte, lebte und lehrte. Er gilt als der berühmteste   nicht in der deutschen Gesellschaft angekommen:       erhielt er im Mai 2003
Torakommentator und wird weltweit von Hun-              Der soziale Abstand war weit größer als abschließ-    seine Ordination. Von
derttausenden studiert. Der Gelehrte selbst sowie       bare Tore eines Judenviertels. Die Ultima Ratio für   2003 bis 2011 war
seine Schwiegersöhne und Enkel, die Tossafisten,        viele Juden jener Zeit war der Übertritt zum Chris-   Soussan Gemeinde­
wurden in jeder Talmudausgabe seit dem Buch-            tentum als „Entréebillet zur europäischen Kultur“,    rabbiner der Jüdischen
druck mit abgebildet. Dabei wird der Kommentar          wie es Heinrich Heine formulierte, der sich 1825      Gemeinde Düsseldorf
von Raschi jeweils auf der Innenseite, der der Tos-     selbst protestantisch taufen ließ.                    und wechselte dann
safisten auf der Außenseite abgedruckt.                 Die jüdischen Reformer wollten ein Judentum           nach Mainz. Von dort
Der berühmteste Lehrer der Halacha, also der jü-        schaffen, das dem Deutschsein nicht widerspre-        wurde er im August
dischen Gesetzeslehre, war Rabbi Jacob ben Ascher,      chen sollte: Man unterscheide sich schließlich        2013 nach Frankfurt
genannt der Baal ha-Turim (Meister der Türme),          nur durch die Religion, nicht durch Volkszugehö-      berufen.
der im 13. Jahrhundert in Köln zur Welt kam. Er         rigkeit oder Nationalität. Aus dieser Perspektive
zog nach Spanien und schrieb eine monumentale           heraus stammt auch die Bezeichnung „Deutscher
Zusammenfassung der Gesetze aus dem Talmud,             mosaischen Glaubens“. Auch äußerlich passte
die Arba Turim. Sie besteht aus den alltäglichen        man Synagogen und Kleidung der Rabbiner dem
Gesetzen, den Speise-, Trauer-, den Ehegesetzen         christlichen Umfeld an, von der Einführung der
sowie zivilen und strafrechtlichen Rechtsstreitig-      Orgel bis hin zum Talar mit Beffchen.
keiten. Die Schrift wurde mit den Werken von            Das Ringen um eine angemessene Bewahrung
Rambam und Rif zur Vorlage für das bis heute            der Tradition gekoppelt mit dem Wunsch, als
wichtigste halachische Standardwerk Schulchan           Teil Deutschlands anerkannt zu werden, führte
Aruch.                                                  in vielen Gemeinden zu Spaltungen. Im 19. Jahr-
Die Liste der Rabbinerdynastien reicht bis weit         hundert wurden in Deutschland die Reformbewe-
in die Neuzeit. Es gab Ende des 19. Jahrhunderts        gung (Rabbiner Leopold Stein, Abraham Geiger),
das Bonmot der „ABC-Rabbiner“: Auerbach,                das konservative Judentum (Rabbiner Zacharias
Bamberger und Carlebach – in vielen deutschen           Frankel) und als Gegenreaktion die Neoorthodo-
Gemeinden waren Rabbiner dieser Familien ver-           xie gegründet. Sie machen bis heute vor allem im
treten. Aus der ganzen Welt reisen heute noch           angelsächsischen Raum einen Großteil der jüdi-
Menschen zu den Gräbern von Gelehrten, die weit         schen Gemeinden aus.
über die Jeschiwot, also den religiösen Schulen, hi-    Der wohl berühmteste Mitbegründer der Neoor-
naus studiert werden: zum Beispiel der Maharam          thodoxie war Rabbiner Samson Raphael Hirsch
von Rothenburg oder der Baal Schem von Michel-          (1808–1888) in Frankfurt. Bereits als Landesrab-
stadt, zu dessen Beerdigung auch die Obrigkeiten        biner machte er durch seine Veröffentlichungen
der Kirchen anwesend waren.                             auf sich aufmerksam. 1851 trat er die Stelle in der

1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND7
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Separatgemeinde IRG (Israelitische Reli-     Rabbinerseminar lieber durch umfassen-        die Fähigkeiten jüdischer Ärzte, Anwäl-
gionsgemeinschaft) – oder auch Kehillat      de Schulung in Religiösem und Weltli-         te, Soldaten, Physiker, Biologen, Erfin-
Jeschurun genannt – an und sah die Stär-     chem darauf vor, innerhalb der Einheits-      der, Geisteswissenschaftler und Sportler
kung der Orthodoxie in seiner Gemeinde       gemeinde die Orthodoxie zu bewahren.          überlebte die Nürnberger Gesetze nicht.
als Lebensaufgabe. Bereits 1874 waren es                                                   Die Juden in Deutschland nach dem
1800 Mitglieder, ein Sechstel der Frank-     Auch wenn man die jüdische Geschichte         Zweiten Weltkrieg – vorwiegend Überle-
furter jüdischen Gemeinde.                   auf unterschiedlichen Ebenen erzählen         bende der Shoa und deren Nachkommen
Dem Mangel an jüdischem Wissen vor           kann, sind diese gleichwohl alle mitein-      sowie später Zuwanderer aus den GUS-
allem auch bei der Jugend könne man          ander verwoben. Insbesondere die Rabbi-       Staaten – begehen nun unter der Schirm-
nur mit einem zeitgemäßen pädagogi-          ner mussten auf die jeweiligen Umstände       herrschaft staatlicher Behörden ein Ju-
schen Programm entgegentreten, so der        und die religiösen Herausforderungen          biläum der wechselhaften Geschichte
Rabbiner. Dabei sollten sich Tora und        reagieren. Zahlreiche rabbinische Res-        und Gefühle. Es mag eine Chance sein,
weltliches Wissen verbinden. Da Hirsch       ponsen auf Anfragen zu Verhaltensregeln       in Erinnerung zu rufen, wie erfolgreich
unter anderem von den Familien Roth-         reagieren auf sich verändernde Umstän-        wir auch in diesem Land waren bei der
schild, Oppenheimer und Goldschmidt          de. Selbst die Reaktionen der Rabbiner        Erfüllung des Aufrufs des Propheten
finanziell unterstützt wurde, konnte er      auf den „Erfolg“ jüdischer Integration        Jirmejahu, den er einst den Exilanten in
viele seiner Pläne umsetzen, etwa je eine    in die deutsche Gesellschaft schwanken        Babylonien zugerufen hatte: „Suchet der
Realschule für Jungen und für Mädchen.       zwischen Stolz und mahnender Vorsicht.        Stadt Bestes, dahin Ich euch habe weg-
Das Curriculum umfasste sowohl religi-       Denn die Öffnung der „Judengassen“            führen lassen, und betet für sie zum Ewi-
öse als auch weltliche Bildung.              führte durch vermehrte Interaktionen          gen; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s
Neben dem Kommentar zur Tora, zum            mit der nichtjüdischen Umgebung häu-          auch euch wohl.“
Siddur (Gebetbuch) und zu den Sprü-          fig zur Assimilation bis hin zur Selbstver-
chen der Väter veröffentlichte Hirsch in     leugnung. Erfolgreiche (ehemalige) Juden      Das Jubiläumsjahr mag den Reichtum
dieser Zeit auch mehr als 400 Zeitungs-      wurden zunehmend namhafte Künstler            jüdischer religiöser und säkularer Errun-
artikel in dem von ihm herausgebrachten      und Wissenschaftler. Die wenigen großen       genschaften beleuchten, es mag an zahl-
Monatsjournal „Jeschurun“. Schließlich       Bankiersfamilien und andere (erfolg-)rei-     reiche deutsch-jüdische Freundschaften
setzte er bei den preußischen Behörden       che Juden setzten die jüdische Idee der       und Beziehungen erinnern. Es mag uns
durch, eine Austrittsgemeinde gründen        Wohltätigkeit in zahlreichen Stiftungen       selbst motivieren, dieses reiche Erbe fort-
zu dürfen.                                   in ihren Städten um. Kranken- und Wai-        zuführen. Es wird aber auch die Grenzen
                                             senhäuser, Armenspeisungen und Uni-           und die immer wiederkehrende gewalttä-
Öffnung in die Gesellschaft?                 versitäten wie etwa in Frankfurt wären        tige Umkehrung dieser Verbindung auf-
Hirschs Wirken beeinflusste das Juden-       ohne „jüdisches Geld“ nicht entstanden.       decken, die Fragilität dieser Beziehung.
tum weltweit vor allem mit seiner Fähig-     Wie „deutsch“ Juden waren, lässt sich         Angesichts des neu aufkommenden Anti-
keit, den Herausforderungen seiner Zeit      auch anhand der sogenannten Juden-            semitismus, angesichts der Tatsache, dass
zu begegnen. Während manche Juden            zählung im Ersten Weltkrieg ablesen.          sichtbares jüdisches Leben heute polizei-
säkulares Wissen und Kultur als Alter-       Ursprünglich entsprang sie einer anti-        lich geschützt werden muss, dass es meist
native zur Religion verstanden und sich      semitischen Motivation, um zu zeigen,         Mahnmale und Gedenkstätten, Stolper-
von dieser abwandten, sahen andere Ju-       dass Juden feiger seien und seltener für      und Grabsteine sind, die die jüdische Ge-
den darin das pure Böse, mit dem man         das Vaterland an die Front gingen. Sie        schichte sichtbar machen, ist es sicherlich
sich gar nicht beschäftigen sollte. Für      bewies jedoch das Gegenteil: Von damals       nicht an uns, beweisen zu wollen, dass
die gebildeten Traditionellen war Hirsch     etwa 550.000 deutschen Juden hatten           wir schon immer „gute Deutsche“ waren.
daher Mittler zwischen zwei Welten: sä-      rund 100.000 am Krieg teilgenommen,           Es ist Aufgabe aller Deutschen, den jahr-
kulares Wissen als Bereicherung zu emp-      davon etwa 78.000 an der Front. Mehr als      hundertealten Judenhass zu überwinden.
finden und es idealerweise zu nutzen, um     10.000 Juden hatten sich freiwillig zum       Vielleicht mag dem einen oder anderen
die Tora noch besser zu verstehen, und       Kriegsdienst gemeldet, 19.000 waren be-       die Erinnerung daran helfen, dass wir
zugleich den Wunsch stärkend, religiöse      fördert worden, 30.000 hatten Orden für       miteinander mehr erreichen können. Der
Gesetze einhalten zu wollen, statt sie dem   besondere Tapferkeit erhalten.                beste Selbstschutz für uns Juden ist wohl,
Zeitgeist zu opfern.                         Und dennoch: Schon vor der „Macht-            auch weiterhin daran mitzuwirken, dass
Während Rabbiner Hirsch in Frankfurt         ergreifung“ der Nationalsozialisten war       es dieser Nation gut gehen möge, „denn
also eine orthodoxe Austrittsgemeinde        der Antisemitismus allgegenwärtig.            wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch
gründete, bereitete Rabbiner Esriel Hil-     Die deutsch-jüdische Symbiose hat nie         wohl“. Wehe uns allen, Nichtjuden wie
desheimer seine Studenten am Berliner        wirklich stattgefunden. Die Freude über       Juden, wenn nicht!  ■

Mit dem Judentum der Vergangenheit habe ich eher weniger zu tun.
                                                            Rachel, Wien

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