"Ein kurtzweilig lesen von Dyl" - Till Eulenspiegel war ein Gassenphilosoph, kein Narr!
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4 • 2020 «Ein kurtzweilig lesen von Dyl» Till Eulenspiegel war ein Gassenphilosoph, kein Narr! Im Spätmittelalter zog Till Eulenspiegel Erstautor ist dem (verstorbenen) Schweizer Von Heini Hofmann durch die Lande, nicht als Narr, sondern Eulenspiegel-Forscher und Ehrendoktor Peter als Schalk und Gassenphilosoph. Er gab Honegger zu verdanken: 1973 fand er den im sich naiv, war jedoch gerissen, spielte Text als Zierinitialen der letzten Kapitel versteck- anderen derbe Streiche und hielt ihnen ten Hinweis (= Akrostichon) «Erman B», was auf den Spiegel vor. Sein Ghostwriter Hermann Bote hinwies. Aus dessen beruflicher machte ihn vor 500 Jahren unsterblich. Funktion heraus versteht sich, warum er die oft bissig-grobianischen, obrigkeitskritischen Epi- Im Jahr 1300 soll er im niedersächsischen soden nicht unter seinem Namen publizierte. Kneitlingen bei Schöppenstedt geboren sein, Typisch für Eulenspiegeleien (wie auch Münch- und 1350 beschloss er angeblich im Heilig- hausiaden und Robinsonaden) ist, dass ihre geist-Hospital zu Mölln (Schleswig-Holstein) Erstfassungen sich einer extrem derberen Spra- sein unstet Leben. Obschon an seiner histori- che bedienen als spätere, imitiert-plagiierte Ver- schen Existenz Zweifel bestehen, lebt die Figur sionen, die sogar als Jugendliteratur daherkom- Eulenspiegel heute noch. men. Tills Böswilligkeiten mit pädagogischer Absicht wurden zunehmend weichgespühlt und Spezielles 500. Gedenkjahr verwandelten sich in harmlosen Schabernack. Der anonyme Erstautor der im Volksgedächtnis So mutierte er, dem Zeitgeist folgend, vom überlieferten Eulenspiegeleien, dessen Sam- archaisch-unangepassten, derben Spötter und melband 1510/11, also 160 Jahre nach Till Eulen- Grobian, dem nichts heilig war, schon gar nicht spiegels Tod erschienen ist und nur noch in Obrigkeiten, zum sympathisch-netten, gesell- zwei Fragmenten existiert, konnte später iden- Das älteste, ganz erhaltene Eulenspiegel-Buch, schaftsfähig-harmlosen Schalk und Possenreis- tifiziert werden als der Braunschweiger Zoll- gedruckt 1515 bei Grüninger in Strassburg. ser. Bigotte Moral hat ihn zensuriert, in Tills schreiber und Amtsvogt Hermann Bote. Über Sprache: kastriert. ihn selber ist wenig bekannt, ausser dass er – als letztes Le- benszeichen – anfangs Juni 1520, am Samstag nach Pfings- Leck mich am Allerwertesten! ten, zum letzten Mal seinen Lohn ausbezahlt erhielt, was be- Eine Abbildung in der ersten ganz erhaltenen Ausgabe von deutet, dass der Autor eines der weltweit ältesten Romane 1515 zeigt Till bereits mit Eule und Spiegel in Händen – nie- in Prosa im Sommer 1520 verstorben ist – vor 500 Jahren. derdeutsch «ule» und «spegel» –, beides traditionelle Em- Die Eulenspiegelfigur basiert also auf diesem anonym ver- bleme. Die Eule galt im alten Griechenland als Symbol der fassten Volksbuch: «Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspie- Weisheit, im Mittelalter dagegen als Vogel des Teufels, so gel, gebore uß dem land zu Brunßwick, wie er sein leben vol- wie Tills Streiche sowohl geistige Überlegenheit signalisier- bracht hatt». Es erschien beim Strassburger Verleger und ten als auch böswillige Kränkung bewirkten. Vom Wort Spie- Drucker Johannes Grüninger und war die Hefe im Teig für gel leitet sich übrigens auch der französische Ausdruck eine dann weltweit erfolgte literarische Multiplikation – ana- «espiègle» für schalkhaft-schelmisch ab. log wie bei «Robinson» oder «Münchhausen». Den ersteren Till hat gesagt «Ick bin ulen spegel», das heisst «Ich bin euer hat Daniel Defoe zuerst auch anonym publiziert, und der Spiegel», will sagen «Ich halte euch den Spiegel vor». Derber Baron hat selber nie etwas niedergeschrieben; das taten un- formulierte dies eine inzwischen nicht mehr salonfähige In- gefragte Ghostwriter. terpretation: Das plattdeutsche Wort «ulen» steht auch für «putzen», und «spegel» für Gesäss (die Jägersprache be- Böser Spötter – netter Schalk zeichnet heute noch das helle Fell über dem Weidloch von Volksbücher haben es in sich, dass sich ihr Überlieferungsur- Reh und Hirsch als «Spiegel»). «Ul’n spegel» heisst also sprung im Dunkeln verliert. Klarheit über den Eulenspiegel- «Wisch mir’n Hintern!» vulgo «Leck mich am Arsch!». – 35 –
4 • 2020 Eulenspiegel war weder Hofnarr noch Faschingsfigur stillschweigend hinter ihm auf dem Pferd, und und wurde anfänglich auch nicht mit Narrenattri- trotzdem würden die Menschen über ihn läs- buten dargestellt. Vielmehr war er Gassenphi- tern. Und so geschah es – weil Till im Rücken losoph im Gewand des Dummen. Erst in spä- des Vaters allen den nackten Hintern teren Illustrationen trägt er Narrenkappe, zeigte. besetzt mit Eselsohren oder Schellen. Da setzte der Vater den lieben Sohn vor Dieses Image wurde er nie mehr los. Be- sich aufs Pferd. Wieder reklamierten die reits zur Hohezeit des Volksbuchs und in Leute, obschon er ganz still war – aber den Anfängen einer Kinder- und Jugend- er grinste die Bauern an und streckte ih- buchkultur jagten sich (meist illustrierte) nen die Zunge heraus. Ahnungslos fol- Adaptationen dieses Weltbestsellers, der gerte der Vater: «Du bist freilich in einer bis heute in über 280 Sprachen übersetzt unglückseligen Stunde geboren. Du sit- und in Musik, Theater und Film verewigt zest still und schweigst und tust nie- wurde. mandem etwas, und doch sagen die Leute, du seist ein Nichtsnutz und Gleichentags dreimal getauft Schalk». Die einzig existierende, älteste vollstän- Dem Wunsch der Mutter, ein Handwerk dige Ausgabe des «Thyl Vlenspiegel» zu erlernen, kam Till nicht nach; denn von 1515 enthält 96 Kapitel (wobei hier ihm schien, es gebe weit bessere Mög- Historie 42 fehlt). Die ersten beziehen lichkeiten, durchs Leben zu kommen. sich auf Herkunft und Kindheit. Im neun- Also reihte sich nun Historie an Historie ten verlässt er seine Mutter und begibt – wie er Jugendstreiche spielte, Hand- sich auf lebenslange Wanderschaft. Da- werker und Kaufleute veräppelte, Fürs- bei bereist er fast den gesamten euro- ten und Geistliche verspottete, Wirte päischen Kontinent. Die letzten Histo- und Bauern prellte, den Frauen die rien drehen sich um sein Sterben. Pelze wusch – und so fort. Doch begleiten wir Till nun selber durch sein exzentrisches Leben, das bereits Zuguterletzt: kurios begann: Er wurde in Kneitlingen stehend begraben am Elm geboren, der Vater hiess Claus Als Eulenspiegel ernstlich erkrankte, Eulenspiegel, die Mutter Ann Wibcken. machte er sein Testament: Sein Gut, Als sie des Kindes genas, trugen sie es verwahrt in einer verschlossenen Kiste, ins Nachbardorf Ampleben zur Taufe. vermachte er zu gleichen Teilen an Und wie es dort Brauch war, bringt man Bleiglasfenster aus dem ehemaligen Rathaus Bernburg: seine Freunde, an den Rat von Mölln die Kinder nach der Taufe ins Bierhaus, Till dreht der Stadt die lange Nase. und an den Kirchherrn. Im Gegenzug er- vertrinkt sie (auf Kosten des Vaters) und ist fröhlich. bat er sich, man möge ihn in geweihter Erde gemäss christ- Aber o weh! Auf dem Rückweg stolperte die bierselige Tauf- licher Ordnung begraben und mit vielen Gebeten und Toten- patin mitsamt dem Kind auf dem Arm, fiel vom Steg in eine messen für sein Seelenheil sorgen. Doch die Kiste dürfe erst Schmutzpfüzze, worin klein Till beinahe erstickt wäre. Die vier Wochen nach seinem Begräbnis eröffnet werden. Frauen eilten mit dem dreckigen Täufling nach Hause und Als alle auf dem Kirchhof um Eulenspiegels Sarg standen, schrubbten ihn sauber. Somit wurde Eulenspiegel an einem legten sie diesen auf die beiden Seile, um ihn ins Grab zu Tag dreimal getauft und mit allen Wassern gewaschen: in der senken. Da riss das Seil am Fussende, der Sarg schoss ins Kirche, in der Pfüzze und im Waschzuber. Grab, so dass Till darin auf die Füsse zu stehen kam. Da hiess es spontan: «Lasst ihn stehen! Er ist in seinem Leben wun- Den eigenen Vater reingelegt derlich gewesen, wunderlich will er auch sein in seinem Als sich später alle Nachbarn beim Vater beklagten, klein Till Tod». Sie setzten ihm einen mit Eule und Spiegel verzierten sei ein frecher Spötter, nahm er ihn ins Gebet. Doch Till gab Stein aufs Grab, auf dem geschrieben stand: «Disen stein sol sich unschuldig. Er tue niemandem etwas und könne dies niemans erhaben. Hie stat (steht!) Ulenspiegel begraben. beweisen bei einem gemeinsamen Ritt durchs Dorf. Er sitze Anno domini M.CCC.L. jar». – 36 –
4 • 2020 Alle drei Bilder aus «Till Eulenspiegel» von Kinderbuchautor Erich Kästner (Atrium Verlag, Zürich): Cover; Wie Eulenspiegel in Nürnberg die Kranken heilte; Wie Eulenspiegel einem Esel das Lesen beibrachte Als dann schliesslich die Erben besagte Kiste erwartungsvoll öffneten, fanden sie nichts als Steine. Sie starrten sich an Mach’ fröhlich weiter, Till! und wurden zornig. Der Pfarrer mutmasste, dass der Rat, der Seine Stärke und List bestand darin, die Worte anderer stets die Kiste in Verwahrung genommen hatte, den Inhalt geklaut wörtlich zu nehmen, so bei einem Bäckermeister in Braun- und durch Steine ersetzt habe. Der Rat konterte mit der Ver- schweig, wo er als Geselle anheuerte. Auf die überflüssige mutung, die Freunde hätten den Schatz während Tills Krank- Frage, was er nachts backen solle, meinte der Meister heit gestohlen, und die Freunde ihrerseits unterstellten den scherzhaft, statt Brot und Brötchen, Eulen und Meerkatzen Pfaffen, sie hätten den Schatz entwendet, als Eulenspiegel (auf Niederdeutsch: Ulen und Apen). Till nahm dies wörtlich. beichtete und jedermann hinausgegangen war. Also schie- Am andern Morgen war der Meister ausser sich vor Wut. Till den sie in Unfrieden auseinander. willigte ein, den Teig zu bezahlen, stellte sich mit seinen Ex- trabackwaren vor die Kirche und verkaufte sie mit hohem Ge- winn … Noch heute sind sie bei Touristen beliebt! Die Eulenspiegel-Hochburgen Eulenspiegels Vermächtnis? Er nimmt menschliche Fehler, Schwächen und Eitelkeiten unbarmherzig aufs Korn, wobei Für Schöppenstedt im Braunschweigerland ist Till Markenzeichen er nie Partei ergreift. So es stimmt, dass Schalke und Kinder – mit dem bekanntesten Eulenspiegel-Museum und dem Freundes- die Wahrheit sagen, halten sie der Gesellschaft den Spiegel kreis Till Eulenspiegels e.V., Herausgeber des Eulenspiegel-Jahr- vor. Was wäre die Welt ohne Humor und ohne Sonderlinge buchs. mit Tillallüren? Sie wäre ärmer. Deshalb: Till Eulenspiegel, lebe fröhlich weiter! x Korrespondenzadresse: In Bernburg an der Saale steht mit dem Eulenspiegel-Turm im Heini Hofmann Schlosshof das grösste Denkmal. Die Kabarett-Festival-Stadt ver- Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist leiht jährlich den Till an Deutschlands beliebtesten Kabarettisten. Hohlweg 11 8645 Jona © alle Bilder: Eulenspiegel-Museum Schöppenstedt, Museum Bernburg und Eulenspiegel-Museum Mölln Nach Mölln in Schleswig-Holstein kam Till kurz vor seinem Tod im Pestjahr 1350. Ein Museum, periodische Festspiele und eine Eulen- spiegel-Gilde erinnern hier an Deutschlands Vorzeigeschalk. – 37 –
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