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Ein „Neubau zeitgemäßer Kunst Dresden“ ersteht auf dem Altmarkt Ab dem 10.7. gibt es auf dem Altmarkt jede Menge Kunst zu bestaunen. Die Initiative DEI FUNK WuK startet einen NEUBAU zeitgemäßer Kunst und will damit ein Zeichen für Kunst und Kultur in der Altstadt von Dresden setzen. DEI FUNK WuK teilt mit: „Nach dem großen Erfolg des eintägigen Nicht-Museums auf dem Neumarkt im letzten Jahr geht es nun weiter – wir vitalisieren den Altmarkt mit Kunst und: Wir bauen drei Wochen lang als als uneigennützige Investoren für Dresden! Der NEUBAU zeitgemäßer Kunst erscheint auf dem Altmarkt und wird für vom 10.-31.7.2021 die Spanne zwischen Grundsteinlegung und Richtfest von Ideen heutiger Kunst im Stadtraum im Rahmen des „Dresden Open Air – Kultursommer 2021“ abstecken. Und einen realen, offenen und öffentlichen Kunst-Raum mitten in der Stadt bilden. Die feierliche Grundsteinlegung findet am Sonnabend, den 10. Juli 2021 um 14 Uhr in Anwesenheit der zweiten Bürgermeisterin, Frau Annekatrin Klepsch, Beigeordnete für Kultur und Tourismus, statt. Das Programm an diesem Tag läuft bis 22 Uhr. Unser NEUBAU-Objekt auf dem Altmarkt bildet nicht nur die Baustelle des künftigen Institutsgebäudes, sondern ist gleichzeitig raumgreifendes Zeichen für Formen und Genres gegenwärtiger Kunst. Gleichzeitig steht es auf den Fundamenten des alten Dresdner Rathauses, steht so für die ungebrochene Tradition des Neuen in der Stadt. Mit Dauer- und temporärer Ausstellung, Performance, Tanz, Konzert, Diskussion, Workshop und mehr zeigen wir: Auf den Altmarkt, als dem ansonsten oft nur gebrauchten, manchmal in der Sommerhitze fad dahindämmern pochenden Herz der Stadt, gehört DER Ort heutiger Künste. Wir fragen und fordern weiter nach den Möglichkeiten und Beschaffenheiten
heutiger Präsentation der Künste, wir schaffen vor allem einen Ort der Begegnung und der Nähe, wenn nicht gar der unabdingbar wichtigen Wieder- Annäherung der Menschen. Das erneute Sehen, Tönen, Hören und Bewegen lädt ein, aktiv und freudig an Kultur und Kunst teilzuhaben. Wir finden: ein Sommerfest, ein Sommermärchen der Kunst inmitten der Stadt ist jetzt genau das Richtige. Und der städtische ORT für gegenwärtige Kunst im Zentrum muss realisiert werden. Mit besten Grüßen, Die Direktion PARASIT Dresdner mobiles Europainstitut für Neue Kunst, Neue Kulturarbeit, Kultur & Wissenschaft & Wirtschaft (DEI FUNK WuK) Recherchieren. Initiieren. Provozieren. Archivieren. Infos: https://www.deifunkwuk.org/ oder DEI FUNK WuK | Facebook PROGRAMM Sonnabend 10.7.2021 14 Uhr Eröffnung und Grundsteinlegung mit YesOderNie und DEI FUNK WuK 14.30 Uhr Kasia Majchrzak, Oboe 15 Uhr triple trouble
16 Uhr Karoline Schulz (fl) und Max Loeb (git) 17 Uhr Richard Ebert Quartett 18 Uhr Ulrich Thiem (vc) 19 Uhr Johnethen Fuchs Duo 20 Uhr Jörg Sonntag: CHROMA_PIXEL_ERROR, mit Jörg Sonntag, sound, interactive visuals und Mascha Schellong und Hannah Kelly, Dance Montag 12.7.2021 15-20 Uhr Performance Neubau Altmarkt – die empathische Revolution, Lina Lawina Sonnabend 17.7.2021 / Sonntag 18.7.2021 Aktuelle Kunst im öffentlichen Raum – Aktionen, Workshops, Panels Sonnabend 24.7.2021, Zeigt her Eure Werke! Ein Kunstfest zum Mitmachen. 15 Uhr Eröffnung mit DEI FUNK WuK 15.30 Kasia Majchrzak, Oboe 16 Uhr Sophia Mix 17 Uhr Performance: Anna Ameno, Matthias Baumgart 18 Uhr Dominik Friedrich 19 Uhr Kinbom & Kessner Sonnabend 31.7.2021, Abschluss – Das Richtfest 14 Uhr Richtfest mit YesOderNie und DEI FUNK WuK das weitere Programm wird noch bekanntgegeben. Suche nach Gemeinschaft und Respekt Das Thema Debattenkultur scheint aktueller denn je, zumal wir derzeit vielfach aus Ausnahmesituationen heraus agieren, uns an den Grenzen unserer
emotionalen oder geistigen Ausdrucksfähigkeiten befinden oder bewegen, die mit unseren eigenen Bedürfnissen und Wahrheiten zusammenprallen. Diese Melange, gemixt mit der Sucht nach Aufmerksamkeit, der Suche nach einem sicheren Platz in einer stark bedrohten Gesellschaft, und der permanenten (Reiz-) Überforderung durch und innerhalb der Medien erzeugt eine Atmosphäre, in der Werte vor allem der Kommunikation und des menschlichen Umgangs miteinander nicht nur verloren zu gehen drohen, sondern schon nahezu in Brand geraten und sich in ihre Gegenteile verkehren. Vor einigen Tagen fand eine Mitgliederversammlung der Sächsischen Akademie der Künste statt, die solche Verhärtungen der Debattenkultur ins Zentrum ihres Austausches stellte. Fast zeitgleich fand sich im Dresdner Stadtrat aufgrund immer wieder zermürbender Diskussionen und anhaltender Pöbeleien eine Initiative zu einer würdigen Debattenkultur (Bericht der DNN) zusammen, wobei die gekränkten Reaktionen innerhalb des Gremiums wie auch die schräge Berichterstattung darüber („Knigge-Frauen“) nur zeigen, wie notwendig das Engagement ist. Beides kann man als positive Zeichen werten, dass die Suche nach Gemeinschaft vernünftig geführte Auseinandersetzungen nicht ausschließt, aber dass wir uns heute und künftig sehr aktiv und deutlich(er) darum bemühen müssen. Ich wüßte dazu selbst einige sehr harte und kompromisslose Schritte, bin aber auch gespannt, was diese hier geschilderten öffentlichen Initiativen bewirken. Ob der von der SAdK für den Anstoß der Diskussion verwendete und historisch besetzte Begriff Aufklärung in diesem Zusammenhang geeignet ist, grundlegende emotionale Störungen und Defizite im Miteinander aufzuarbeiten, bezweifele ich. Im folgenden dokumentiere ich den Wortlaut der Pressemitteilung der SAdK: „WIR BRAUCHEN EINE NEUE AUFKLÄRUNG Die Sächsische Akademie der Künste plädierte auf ihrer Mitgliederversammlung gegen eine Verhärtung in der Debattenkultur Die Sächsische Akademie der Künste diskutierte auf ihrer Mitgliederversammlung, die pandemiebedingt hybrid durchgeführt wurde, über die Möglichkeiten von Kultur und Kunst, in Prozessen gesellschaftlichen Wandels reflektierend und inspirierend wirksam zu sein. Die Diskussion ging weit über gefährdete Arbeitsmöglichkeiten von vor allem freischaffenden Künstlern und Künstlerinnen hinaus, auch wenn die aktuelle Pandemie diese Gefährdungen
offengelegt und verschärft hat. Im Zentrum stand die Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft. „Angesichts einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft nach vierzig Jahren neoliberaler Umverteilung muss sich eine Akademie den Diskussionen um neue Gesellschaftsmodelle stellen. Fragen der Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit sind Fragen nach der Zukunftsfähigkeit unserer Lebensform“, so Vizepräsident Jörg Bochow. Die Spaltungen in der Kultur, von denen die zwischen einer lokal verorteten Identitätsbildung und die einer kosmopolitischen Hyperkultur nur eine von zahlreichen Bruchlinien ist, erzeugen Konflikte, die zur Sprache gebracht werden müssten. „Wo bleiben die Inhalte, wenn nur noch ideologische Fragen diskutiert werden?“ fragte Akademiemitglied Wolfgang Holler und verwies darauf, dass in den Medien vor allem emotionalisierte Auseinandersetzungen und ideologische Grabenkämpfe stattfinden würden. Jörg Bochow erklärte: „Die Akademie ist der richtige Ort, um dem Diskurs eine Form zu geben und fern von ideologischen Debatten inhaltliche Diskussionen zu führen.“ Die Notwendigkeit einer solchen Verständigung sei umso dringender geboten angesichts des schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Gefährdungen künstlerischer Freiheit und der geringen Kraft des Europagedankens. Wolfgang Holler postulierte: „Wir sollten uns auf die Suche nach Gemeinschaft mit anderen machen. Wir müssen Europa weiter denken, uns öffnen und zugleich fragen, ob und wie Entgrenzung auch Verortung möglich macht. Dazu brauchen wir eine neue Aufklärung.“ Mit Blick auf die Kanonkritik sprach er sich dafür aus, nicht alles über Bord zu werfen, sondern das Vergangene als Teil der Zukunftsgestaltung zu betrachten. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen wird in der Akademie weitergeführt. Beiträge der Mitglieder sind unter der Rubrik Europa und unter der Rubrik Positionen im Programm auf der Homepage der Sächsischen Akademie der Künste nachzulesen.“ Weitere Beiträge zum Thema Debattenkultur: Interview mit Nicole Deitelhoff in der taz: „Demokratie ist Infragestellung!“ „Der Aufstieg der Mundtotmacher“ – in der nzz vom 19.4.21 Pianist Martin Stadtfeld über Debattenkultur, in: cicero, 18.4.21
Auf mehrlicht befinden sich mehr als 600 Rezensionen, Interviews, Reiseberichte und Kulturfeatures. Wenn Sie als Leser*in mein werbefreies Blog mit einer kleinen Spende unterstützen wollen, freue ich mich sehr. Ein Nimbus voller Töne Geht Ihnen das auch so? Wenn man einmal eine Künstlerin oder einen Künstler für sich entdeckt und schätzen gelernt hat, ist man ganz hungrig auf deren jeweils neue Projekte und Inspirationen. Das ist in der Popmusikwelt, in der die Fanbase eine ganz wichtige Funktion hat, völlig normal. Aber auch in der Klassik lernt man so seine Favoriten nach und nach immer besser kennen, staunt über Seitenwege oder Unerwartetes und ist ein hörender Begleiter eines künstlerischen Weges, der sich im besten Fall nicht an kommerziellen Vorgaben orientiert, sondern den Ausdruck der Persönlichkeit in der Musik formt. Mit Laura Farré Rozada ist es mir so ergangen. Das Debütalbum der 30-jährigen Pianistin vor drei Jahren ließ mich aufhorchen, weil ihr tiefer Sinn für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts sich mit Entdeckerlust und großem pianistischem Können paart. Auf ihrem Album „The French Reverie“ gelang es Laura Farré Rozada vor allem, Farbtöne der französischen Musik offenzulegen, die zwar etwa über die besondere Art des musikalischen Fantasierens bekannt erscheinen, aber in der zeitgenössischen Musik mit anderen Strukturen und Kompositionsarten neu verbunden werden – als Paradebeispiel hatte sie dafür die Klaviersonate von Henri Dutilleux ins Zentrum der Aufnahme gestellt.
Nun ist das neue, zweite Album von Laura Farré Rozada erschienen und, wie eingangs behauptet, ist es ein weiterer Schritt auf ihrem künstlerischen Weg, dabei ebenso vorhersagbar (im guten Sinne!) wie überraschend. Denn wieder ist es ein Konzeptalbum geworden, wobei der Begriff eigentlich furchtbar ist, denn er erfasst nicht die Tiefe der Beschäftigung, die die Pianistin für dieses Album aufgewendet hat. Schon der Titel trägt uns assoziativ hinweg, denn „Nimbus“ führt möglicherweise in wolkige Wettersphären, hat aber über den meteorologischen Aspekt hinaus auch die Bedeutung eines Rufes, einer Aura, mit der etwas umgeben ist. Der Lichtaspekt kommt hinzu, wenn man Nimbus in Richtung eines Heiligenscheins begreift – ein Seitengedanke zur Kranzbedeutung „corona“ kommt auf, Nimbus eröffnet aber eher einen offenen, manchmal ungreifbaren Bereich. Doch die zweite Überraschung (die erste ist schon das Auspacken der CD selbst, die beim katalanischen Label seedmusic in fantastischem Book-Design erschienen ist) folgt mit den einleitenden Worten im Booklet und einem Blick auf die Werke: tatsächlich geht es hier in den neun Werken um Wasser, mal mehr, mal weniger explizit, aber doch in den vielen Ebenen zwischen einer stillen Wasserfläche und einem Seesturm, im Fließen und sogar auch in der Anordnung der einzelnen Tropfen. Laura Farré Rozada ist ja mit gleicher Leidenschaft auch forschende Mathematikerin, was nicht nur das Klavierüben und -Lernen der neuen Werke betrifft und beeinflusst, sondern ihrem Spiel und Verständnis von Musik auch einen besonderen Sinn beispielsweise für Räume und Verläufe eingibt. Gleich das erste Werk, Pierre Jodlowskis „Serie Blanche“ eröffnet die Assoziation einer sich immer mehr von Wasser bedeckenden Fläche, bis irgendwann das Bild im Kopf nicht mehr funktioniert, weil das Stück zu gewaltig wird. Kompositionen von Unsuk Chin (zwei Etüden) und Toru Takemitsu (sein bekanntes Klavierstück „Rain Tree Sketch“) holen uns in die Betrachtung des Wassers zurück, gleichzeitig grüßt im Hintergrund Olivier Messiaen, der zwar selbst nicht auf der
CD vertreten ist – vielleicht ja wieder in der Fortsetzung dieser französisch geprägten Reihe? – aber dessen Schüler Takemitsu war. Auch bei Josep Maria Guix „Drizzle draft“ ist der französisch-impressionistische Einfluss spürbar und damit ist das Werk eine ideale Vorbereitung für das wohl bekannteste Stück auf der CD, Maurice Ravels „Gaspard de la Nuit“, geschrieben übrigens in Messiaens Geburtsjahr 1908. Laura Farré Rozada Laura Farré Rozada besitzt auch für diese Musik ein enormes Gespür und weiß dabei ihre eigene Handschrift mit den Anforderungen von Ravels herausragender Partitur intelligent zu verbinden. Damit entsteht eine Interpretation, die besonders hinhorchen läßt, wenn man die Melodien von Ravel schon im Ohr hat: die Pianistin vermeidet Süffisanz und Dekor, findet aber in „Le Gibet“ genau den stillen Ton, den der von der Poesie von Aloysius Bertrand inspirierte Zyklus hier benötigt. Vom Kobold Scarbo, den Laura Farré Rozada im dritten Teil von „Gaspard de la Nuit“ durchaus wild wüten läßt, geht es in dunklere Sphären der Wasserbetrachtung, aber die Poesie zieht sich auch hier wie ein Faden durch die Musik: Anna Þorvaldsdóttirs „Scape“ eröffnet eine weite Klangfläche, in die man als Hörer unweigerlich hineingezogen wird. Dai Fujikura und Yixuan Zhao schauen noch einmal anders auf die nun aufgebrochenen Themen – Fujikura
arbeitet eher im mechanisch-repetitiven Raum, während das für die Pianistin entstandene Stück „Still Life“ von Yixuan Zhao – wie das Stück von Guix übrigens eine Ersteinspielung – eine Finalatmosphäre schafft, indem es an Fujikuras letzten Akkord anschließt und einen assoziativen Bogen zum Beginn des Albums, zu Jodlowskis Riesenwassertropfen, schafft. Wer sich bis hierhin in die von Laura Farré Rozada grandios dargebotene, bekannte und unbekannte Klaviermusik vertieft hat, kann eigentlich nur gewinnen, weil das Album erneut wie schon bereits „The French Reverie“ ein ungeheuer breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten des zeitgenössisch behandelten Klaviers zeigt, gleichzeitig mit der Tradition und mit einem spannenden, unerschöpflichen Thema verbunden. Ich freue mich bereits auf die dritte CD – und werde hier natürlich auch posten, wenn Laura Farré Rozada mit dem Programm auftreten wird, was ihr wie allen Künstlerinnen und Künstlern auch, die noch im Stillen wirken, bald zu wünschen ist. Fotos (c) Silvia Poch Laura Farré Rozada: Nimbus, Werke von Jodlowski, Chin, Takemitsu, Guix, Ravel, Þorvaldsdóttir, Fujikura und Zhao — Seedmusic 2021, zu beziehen direkt vom Label. ein aktuelles Interview mit Laura Farré Rozada, Diario de Sevilla (spanisch) Auf mehrlicht befinden sich mehr als 600 Rezensionen, Interviews, Reiseberichte und Kulturfeatures. Wenn Sie als Leser*in mein werbefreies Blog mit einer kleinen Spende unterstützen wollen, freue ich mich sehr.
Pause – entleert und gefüllt Neues beim Abschlusswochenende der Tonlagen Hellerau Mit einem vollgepackten digital-musikalischen Wochenende ging die erste Runde der „Tonlagen“, der 30. Tage der zeitgenössischen Musik beim Europäischen Zentrum der Künste Hellerau zu Ende. Als großes Experiment mit Konzerten, Diskussionen und Arbeitsständen unter dem Titel „Pause“ erschienen die Beiträge ebenso kontrovers wie in sich überzeugend – es gab viel zu entdecken. Eine Pause eröffnet Möglichkeiten. Der lapidare Satz ließe sich aus vielen Perspektiven interpretieren. In der Zurücknahme, im Innehalten oder gar Schweigen üben wir uns situationsbedingt gerade alle, erkunden das Davor, fragen nach dem Danach. Die am letzten Wochenende – in erster Lesung, zwei weitere Blöcke folgen im Herbst und 2022 – zu Ende gegangene „Tonlagen“, die 30. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik haben die Pause als Leitbegriff für die Besonderheiten des diesjährigen Programms gefunden. Über drei Wochen hinweg bildete John Cages berühmte Komposition 4‘33‘‘ ein Kontinuum, an welchem entlang bewusste, zufällige und damit auch unbeabsichtigte Betrachtungen der Pause entstanden. Und ganz still war es ja auch nicht, denn mit dem Festspielhaus war der Raum vorhanden, die Kompositionen und auch, sogar die Interpreten standen bereit. Doch für alle Programmpunkte mussten kurzfristig individuelle Lösungen gefunden werden, die im Idealfall der Botschaft und auch der Würde des Kunstwerks ebenso gerecht werden sollten wie dem Interesse des Publikums, das sich, mehr geht noch nicht, wieder vor dem heimischen Bildschirm einfand.
Robin Schulkowsky (Percussion) Immerhin: da die Auseinandersetzung mit den Präsentationsformen unterschiedlichster Werkformate sozusagen das tägliche Brot in Hellerau bildet, waren die Veranstalter nicht verlegen, der zeitgenössischen Musik das jeweils Passende und auch maximal Mögliche einer mis-en-scène mitzugeben. So wurde etwa Helmut Oehrings TanzFilmRequiem „Eurydike Vol. 2“ – die Uraufführung ist für 2022 geplant – als Materialarbeitsstand zum Selbstentdecken präsentiert, Frieder Zimmermann spielte seine für Prohlis angedachte Häuserblock- Komposition auf dem Vorplatz in Hellerau ein. Am letzten Wochenende gab es weitere Online-Veranstaltungen zum Aufhorchen: mit Robert Lippoks „Sunday 4am“-Studie konnte man zum Sonnenaufgang am Sonntag seine Wohnung mit elektronischen Klängen fluten, nachdem die Komponistin Olga Neuwirth am späten Sonnabend mit ihrem Beitrag zu einem Jani-Christou-Musiktheater quasi die entgegengesetzte elektronische Klammer setzte – ganze zwei Stunden bearbeitete die Percussionistin Robin Schulkowsky im leeren Festspielhaus behutsam eine E-Gitarre und beim Zuschauen entleerten sich langsam die Gedanken in den dahingleitenden Abend. Ganz anders im Sinne des Festivalthemas Pause wirkte am Freitag ein in
Kooperation mit dem Sächsischen Musikbund aufgezeichnetes Konzert des Leipziger Ensembles „contemporary insights“, das aus studentischer Initiative an der Leipziger Musikhochschule hervorging und nun mittlerweile seit sieben Jahren in wechselnden Besetzungen Zeitgenössisches vorrangig junger Komponistinnen und Komponisten erkundet. Denn die Pause als musikalischer Parameter oder als Ordnungs- oder gar Ausdruckselement war in den neuen Partituren nicht en vogue, stattdessen wurden munter ganze Kübel an Tönen in allen möglichen avancierten Spielarten auf die Zuhörer am Streamschirm ausgekippt. Diesen blieb es dann überlassen, mittels pdf-Programmheft und eigener Fantasie das Ganze wieder zu sortieren. Ausgerechnet das erste Stück von Tobias Schick „In Erinnerung an eckige Zeiten“ ragte aus diesem Notenchaos weit heraus, weil Schick es vermochte, sein Material geschickt mit einer klanglichen Idee und einer übersichtlichen Form zu verbinden, der man gut folgen konnte – gerade die Überbelichtung der Musik blieb wie ein Stachel im Ohr hängen. „bačisc“ von Pablo Ondoni Olabarría wollte dann mantraartig die Unendlichkeit von Klängen untersuchen, doch lediglich die Brutalität einer musikalischen (Ent-)Äußerung teilte sich mit. Das ist ebenso uninteressant und unzureichend wie die folgenden mäandernden Stücke von Dongsun Shin „Die Königsschlange verschlingt einen Elefant“ und „Die Berge unter dem Mondschein“ von Tianwei Zhu. Das könnte alles so sein, aber auch anders, der zwingende Zugang fehlte. Fojan Gharibnejads „Rapeseed“ wirkte da als komprimierte Klangstudie anders: hier lag Musik als unbehauenes Rohmaterial herum und das reine Hören schien hier angebrachter als Zuschauen, denn die Plexiglasattacken auf das Innere des Bechstein-Flügels lassen überlegen, ob es nicht auch eine FSK für solche Musikvideos geben sollte. Elias Jurgschat schließlich präsentierte in „Betrachtung V“ bruitistische Cluster, gerufene Wortfetzen und dekonstruierte am Ende alles mit Fingertips auf Büroklammern, während man in Zachary Seelys „Condition No. 1“ lediglich durch einen am Ende auch nur müde wirkenden Schrei aus der Langeweile geholt wurde. Wenn das Konzert die „Reichhaltigkeit gegenwärtigen Komponierens“ wiederspiegeln sollte, so hatte man nach dieser Darbietung eher das Gefühl, dass das Komponieren an diesem Stand der Beschäftigung mit Tönen und Inhalten erst anfangen müßte, indes: die sich hier zeigende Haltlosigkeit innerhalb der Musik erscheint kaum verwunderlich in dieser unsteten Zeit. Die John-Cage-Interpretationen 433X22 und weitere Specials der
Tonlagen sind auf dem Youtube-Kanal vom Europäischen Zentrum der Künste Hellerau abrufbar. Fotos (c) Klaus Gigga Auf mehrlicht befinden sich mehr als 600 Rezensionen, Interviews, Reiseberichte und Kulturfeatures. Wenn Sie als Leser*in mein werbefreies Blog mit einer kleinen Spende unterstützen wollen, freue ich mich sehr. Historische Zäsur Ein Jahr Corona – Die Dresdner Philharmonie blickt zurück Der große Saal im Kulturpalast ist voller Menschen und Mikrofone. Musik tönt aus allen Ecken, und in der Mitte steht Daniel Orén, der Gastdirigent, der an diesem Nachmittag das Orchester bei einer CD-Aufnahme von Giuseppe Verdis „Traviata“ leitet. Alles wie immer bei der Dresdner Philharmonie? Nein, nichts wie immer, und doch tönt Musik und doch leuchten die Augen der Musikerinnen und Musiker, weil sie nicht zum Nichtstun verdammt sind, sondern das maximal Mögliche in dieser Pandemiezeit unter Beachtung der aktuellen Vorgaben und Regelungen gemeinsam auf die Bühne bringen. Das ist heute eben eine Opernaufnahme für die CD, und im Parkett wirkt sogar bis in den Rang verteilt mit drei Metern Abstand der Sächsische Staatsopernchor mit. Frauke Roth, Intendantin der
Dresdner Philharmonie In den nächsten Wochen wird Chefdirigent Marek Janowski wieder das Orchester leiten – weitere Rundfunkaufnahmen stehen an. Vor genau einem Jahr saß die Leitung des Orchesters zur Spielzeitkonferenz im Foyer, zwei Tage später war das Haus geschlossen. Ein Jahr Pandemie, das hieß viel Musik unterlassen, aber auch Musik ermöglichen unter extremen und sich immer wieder verändernden Bedingungen – Frauke Roth sprach in der Pressekonferenz, die zu diesem Anlass am Donnerstag von einer „irrsinnigen, historischen Zäsur“. Die Tragweite sei allen bewusst, die Geschichten dazu dürften erst später erzählt werden, so die Intendantin, allerdings sei so eine Zeitmarke eine Gelegenheit, mitzuteilen, wie sich Musikmachen und Musikmöglichmachen in diesem besonderen Jahr verändert habe. Als Gemeinschaft sei die Dresdner Philharmonie immens gewachsen, so Frauke Roth, weil alle in besonderer Weise mit- und füreinander gearbeitet hätten. Und obwohl physisch nicht anwesend, ist es ausgerechnet das Dresdner Publikum, das dem Orchester in diesem Jahr besonders die Treue hält. Das ist nicht nur durch Zahlen erklärbar, wie etwa, dass die Konzerte mit Publikum der Saison zu 90,5 Prozent ausgelastet waren und auch später durch den zweiten Lockdown abgesagte Konzerte zunächste ausverkauft waren. Viel wichtiger, so Frauke Roth, seien die vielen Rückmeldungen und Kontakte, die insbesondere nach dem eigens produzierten CD-Gruß des Orchesters eintrafen, der einer Zeitungsausgabe beilag und inmitten in den Lockdowns am Frühstückstisch für Berührung sorgte. Denn was derzeit so immens fehlt und auch digital – bei allen positiven Wirkungen der neu entwickelten Formate – unersetzbar sei, ist der persönliche, analoge Austausch zwischen Publikum und Bühne, Werk und Interpret, Begegnung und Gemeinschaft von Zuhörerinnen und Zuhörern untereinander, damit schlicht alles, was das kulturelles Leben in dieser Stadt ausmacht. Trotzdem, und an dieser Stelle lobt Frauke Roth nicht nur alle ihre Kolleginnen und Kollegen in der Verwaltung wie auch im Orchester selbst, sondern auch den „absolut flexibel“ agierenden Chefdirigenten („ein Glücksfall!“) Marek Janowski, der gleich im ersten Lockdown ein außergewöhnliches Haydn-Hindemith- Programm für den Rundfunk realisierte. Die durch Janowski immer verfolgte, qualitativ einzigartige Spielkultur, ging daher auch mit den Abständen im Saal nicht verloren, im Gegenteil wurden nun,
so Solobratscherin Christina Biwank als Vertreterin des Orchesterverstands, „alle Sinne beim Spielen geschärft“. Es zähle nun beispielsweise das Visuelle viel mehr, weil die Kollegen, die zur gleichen Zeit mit den Noten einsetzen, viel weiter weg sind. Mittlerweile haben sich alle, auch dank des akustisch hervorragenden Saals, gut auf das neue Spielen eingestellt. Trotzdem, so Biwank, fehle natürlich die Energie eines Konzerts mit Publikum , der kleine Moment des „leisen Raschelns zwischen den Sätzen, die Spannung eines Innehaltens“. Man habe, so Intendantin Frauke Roth, natürlich schnell auf die Möglichkeiten des Kontakthaltens zum Publikum reagiert, und neben den beliebten One-to-One- Konzerten auch Online-Formate entwickelt, die sicher auch über die Pandemiezeit hinaus in der Zukunft Bestand haben werden, wie überhaupt dieses Jahr auch eine Zeit des Nachdenkens und Innehaltens für den Organismus Orchester an sich bedeutet habe. Zur aktuellen Situation befragt, sei die Wiederaufnahme des Konzertbetriebs mit Publikum momentan nicht absehbar, entsprechende Bedingungen (Testpflicht, Kontaktnachverfolgung, Anpassung der Sitzzahl u.ä.) werden derzeit geprüft und ein entsprechendes Zugangskonzept erarbeitet. Bei der Dresdner Philharmonie orientieren sich die Vorbereiteungen bereits jetzt auf die Sommerzeit und die kommende Saison hin, ein „kurzfristiges Hin- und Hergeschiebe der Stadtgesellschaft“ sei für alle Beteiligten eher zermürbend. Um die Wiederaufnahme des Konzertbetriebs besser planen zu können, werden u.a. Telefongespräche mit dem Publikum geführt. Wer daran gern teilnehmen und angerufen werden möchte, kann sich unter ticket@dresdnerphilharmonie bzw. 0351/4 866 866 gern melden. Am 26. März 2021 überträgt Deutschlandfunk Kultur live ein Konzert aus dem Kulturpalast Dresden mit Werken von Martinů, Kabeláč und Dvořák unter der Leitung von Tomáš Netopil. Foto Header (c) Alexander Keuk / Foto Frauke Roth (c) Markenfotografie Auf mehrlicht befinden sich mehr als 600 Rezensionen, Interviews, Reiseberichte und Kulturfeatures. Wenn Sie als Leser*in mein werbefreies Blog mit einer kleinen Spende unterstützen wollen, freue ich mich sehr.
Beschwingtes Debüt Duo Dopico veröffentlicht Debüt-CD Kennengelernt haben sich die Violinistin Nora Scheidig und die Pianistin Cristina Allés Dopico beim Studium an der Dresdner Musikhochschule „Carl Maria von Weber“. Den ersten musikalischen Begegnungen – u. a. auch konzertant mit Beethovens „Tripelkonzert“ mit dem TU Sinfonieorchester – folgte bald die Erkenntnis, dass die berühmte musikalische Chemie so stimmig war, dass die beiden Lust auf ein eigenes Ensemble bekamen. Und dies gestaltete sich recht schnell so ernsthaft, dass es mehr war als eine bloße Nebenbei-Kammermusik, in der Interpretation großer Kammermusikwerke wie etwa der 1. Violinsonate von Robert Schumann suchen die beiden auch durchaus die Herausforderung, verrieten sie im Gespräch.
Die erste CD des „Duo Dopico“ „Kammermusik ist für mich ein ganz wichtiges Ausdrucksmittel“, so Nora Scheidig, „gerade diese interpretatorische Reibung, die unterschiedlichen Ansichten sind doch das Spannende in so einer Duoarbeit.“ – Vor drei Jahren haben sich die beiden als „Duo Dopico“ gegründet und sich vorgenommen, richtig durchzustarten. In der Region sind sie nun schon einige Male aufgetreten und haben etwa im Coselpalais Dresden und auch bei mehreren Festivals erfolgreich musiziert. Als Profilierung – Geige und Klavier ist ja so ungewöhnlich als Formation nicht, und an zu spielender Literatur gibt es wahrlich genug – nennen die beiden vor allem die Entdeckung unentdeckter Perlen der Kammermusikliteratur, die sie aber durchaus großen, bekannten Werken gegenüberstellen wollen. Genau das ist ihnen auch mit ihrer ersten CD gelungen, die überdies kaum treffender die Persönlichkeiten der beiden Musikerinnen vereint. Denn Cristina Allés Dopico ist Spanierin, sie stammt aus Palma de Mallorca, lebt aber schon lange in Dresden und ist nun nach dem Abschluss des Studiums als Lehrbeauftragte für Klavier und Korrepetition tätig. Aus ihrer Heimat sind zwei Stücke auf der neuen CD vertreten – die 1. Violinsonate des aus Andalusien stammenden Komponisten Joaquin Turina (1882-1949) und die „Suite populaire espagnole“ des hierzulande vor allem durch seine Ballettmsiken bekannten Manuel de Falla (1876-1946). Damit erhält die erste Aufnahme des Duo Dopico einen unzweifelhaft folkloristischen Touch, aber der ist in dieser Interpretation auch unwiderstehlich, weil die beiden Musikerinnen Feuer und Flamme für die spanischen Werke abbrennen ohne dass irgendwo die Pferde komplett durchgehen. Das ist eigentlich auch eine sehr schöne Hommage an den der Musik
innewohnenden Flamenco, der ja bei aller Dramatik immer einen sehr seriösen darstellenden Stil wahrt. Frappierend einleuchtend wirkt dann die Gegenüberstellung dieses südspanischen Flairs mit Werken von Clara und Robert Schumann, die in sich auch noch einmal ein familiäres, gar amouröses Künstlergespräch bilden. Allein die poetische Sprache ist nun in einer anderen, weniger rhythmischen Qualiät gehalten, dafür in den Linien von Nora Scheidigs Violine fein austariert. Gerade aber Fragen des Temperamentes in der Musik sind hier spannend beantwortet, man merkt immer wieder, etwa in den Tänzen der „Suite populaire espagnole“, wie Cristina Allés Dopico mal die Führung leidenschaftlich übernimmt, dann ist es wieder Nora Scheidig, die die großbögigen spanischen Melodien selbstbewusst mit der hier durchaus nötigen kleinen Übertreibung in Angriff nimmt, im Hintergrund nun sanft vom Klavier begleitet. Nach dem Genuss der CD, die schlicht auch „Duo Dopico“ heißt, fühlt man sich angenehm beschwingt und mit frischen Interpretationen ausgestattet, so dass eigentlich nur noch eins fehlt: den beiden Musikerinnen auch einmal live zuzuhören. Genau dies ist auch das, was Cristina Allés Dopico und Nora Scheidig im Gespräch als größtes Defizit in der Pandemiezeit benennen: der Kontakt zum Publikum, die Möglichkeit wieder in der Live-Energie ein gemeinsames, kaum online nachahmbares Erlebnis entstehen zu lassen. Immerhin, so das Duo, seien in der Zweisamkeit des Ensembles Treffen und Proben möglich, und das haben beide auch genutzt, um nicht nur im Duospiel zu wachsen und die nächsten Projekte auszuhecken, sondern schlicht auch um ihre Freundschaft zu pflegen und über das gemeinsame Musizieren sich eine positive Ausstrahlung zu bewahren, die sich hoffentlich bald auch wieder einem großen Publikum mitteilt. Einstweilen darf man an der Aufnahme seine helle Freude haben. CD „Duo Dopico“, Werke von Turina, de Falla Clara und Robert Schumann Nora Scheidig (Violine), Cristina Allés Dopico (Klavier) Label Vespree (2020), erhältlich im Versandhandel, direkt beim Ensemble und in Dresden u. a. bei Sweetwater nächster Konzerttermin geplant: Frühlingskonzert auf Gut Gamig (Dohna), Sonnabend 8.5.2021, 18 Uhr https://www.duo-dopico.de/
Foto (c) Anne Hornemann Auf mehrlicht befinden sich mehr als 600 Rezensionen, Interviews, Reiseberichte und Kulturfeatures. Wenn Sie als Leser*in mein werbefreies Blog mit einer kleinen Spende unterstützen wollen, freue ich mich sehr. Nichts mehr zu lesen? Oh, doch – da ist noch genug zum Lesen. Der Stapel wächst und wächst. Und eigentlich sollte man meinen, es wäre sowieso genug Zeit zum Schmökern und rezensieren geht ja auch immer. Leider waren meine Kunst- und Musikprojekte in den letzten Monaten so zeitaufwändig, dass nur wenig für den Kulturjournalismus blieb, zumal die meisten Konzertrezensionen ja auch noch wegfielen. Trotzdem hatte ich einige Neuveröffentlichungen auf dem Tisch, die mich sehr interessiert haben und die zumindest jetzt in einer Kurzvorstellung auf dem Blog einen Platz finden sollen. Und sicher gibt es auch eine Zeit nach Geschenken und Weihnachten (das neue Jahr scheint ebenso still zu beginnen…), die man mit Lesen ausfüllen kann. Vielleicht ergänze ich den Artikel nach Weihnachten auch noch, denn auch diese vier Bücher sind nur eine Auswahl aus meinem Stapel…
Was leider angesichts eines übermächtigen Herrn L. von B. aus B. mit seinem 250. Geburtstag etwas in den Hintergrund geriet, ist, dass wir nach 2018 erneut ein Bernd-Alois-Zimmermann-Jahr hätten würdigen können, nämlich im Jahr des 50. Todestags eines der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Schon 2018 habe ich einen Beitrag zu Zimmermann geschrieben, anlässlich seines 100. Geburtstages und der Veröffentlichung „con tutta forza“ von Bettina Zimmermann im Wolke-Verlag. Das ist ein gewichtiges biografisches Werk, das von der Tochter ebenso liebevoll wie informativ zusammengestellt wurde und uns vor allem die Persönlichkeit des Komponisten im (musikalischen wie privaten) Alltag, in Schrift und Wort nahebringt. Nun gibt es in der Komponisten-Serie im Laaber Verlag ein Buch, das quasi die perfekte Ergänzung dazu darstellt: Der Musikwissenschaftler Jörn Peter Hiekel widmet sich dem Komponisten im Kontext der musikalischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, die ja Zimmermanns eigene Werkentstehung beeinflusst haben, aber eben genauso strahlte Zimmermann selbst auch auf ganze Komponisten- und Kulturgenerationen aus. Die unglaublich einzigartige, starke und auch widerständige Musik im 20. Jahrhundert zu verorten, eine Position oder einen Platz dafür zu finden, ist zwar eine Aufgabe, der sich Hiekel in diesem Buch zwar mit Lust stellt (und das macht auch Freude zu lesen), aber bald drängt sich eine Art Scheitern in der Fülle der Aspekte auf, die aber fast schon wieder dem Werk Zimmermanns als so immanent zuzuordnen ist, dass völlig logisch erscheint, dass man mit diesem Komponisten niemals „fertig“ werden wird. Die Kraft seiner Musik zeigt sich überdies erst recht, wenn Hiekel verschiedene Stücke, Aussagen oder Ästhetiken seiner Musik etwa mit Bach, Stockhausen, der Jazzmusik oder Adorno konfrontiert und zu dem erstaunlichen Schluss kommt, dass Zimmermann unter all diesen Perspektivwechseln bestehen kann, da die meisten dieser Einflüsse ohnehin von ihm schon selbst offen oder im Denken verhandelt sind. Kein Zimmermann-Werk etwa kommt ohne ein reflexives Denken über Kontrapunkt oder Entwicklung aus, keines aber auch ohne tief greifenden Ausdruck und Aussage. In Hiekels viele Aspekte wie Literatur, Film oder Philosophie einbindender (und nicht unbedingt für den Laien immer leicht zu folgender) Darstellung steht man am Ende vor einer in Ganzheit leuchtenden künstlerischen Person und bedauert nur aufrichtig, dass in diesem Jahr kaum eine musikalische Würdigung möglich war – Tonträger
müssen es richten und hier und da finden sich auch im Rundfunk oder in den Mediatheken interessante Beiträge. Das sollten eigentlich Kurzvorstellungen werden hier, aber Zimmermann läßt sich eben nicht in zwei Sätzen abhandeln. Die folgenden Bücher eigentlich auch nicht, aber es soll ja noch etwas zum Lesen übrig bleiben, daher versuche ich mich nun doch kürzer zu fassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass, wer gerade noch bis hierher folgen konnte und auch mit Zimmermann etwas anfangen kann, den Namen Margarete Dessoff noch nicht gehört hat. Maximal dürfte ihr Vater Otto Dessoff in den Gehirnwindungen ein „da war doch was“ hervorrufen – richtig, der hat 1876 in Karlsruhe Brahms 1. Sinfonie uraufgeführt. Die Tochter des Kapellmeisters und Brahms-Freundes wollte eigentlich Konzertsängerin werden, verlor aber im Gesangsunterricht ihre Stimme. Fortan widmete sie sich aus dem Unterricht heraus der Chormusik, gründete den „Dessoff’schen Frauenchor“ und setzte Marksteine in der Repertoireentwicklung und der Dynamik von Amateur- und Profichören im beginnenden 20. Jahrhundert, in dem es auch galt eine ritualisierte und nicht mehr zeitgemäße Kultur der Gesangvereine zu überwinden. 1923 ging Margarete Dessoff nach New York und gründete dort die „Dessoff Choirs“, die sie bis 1936 betreute. Ihre letzten Lebensjahre – von den Nazis von Verfolgung bedroht – verbrachte sie im schweizerischen Locarno. Sabine Fröhlich hat im März dieses Jahres die absolut spannende Biografie von Margarete Dessoff im Wolke Verlag veröffentlicht, die natürlich erst einmal mit der Persönlichkeit bekannt macht, aber auch versucht zu erklären, warum diese Chordirigentin und ihr Wirken lange Zeit so aus der Wahrnehmung so verschwunden war. Die Dessoff Choirs in New York bestehen weiterhin – vor allem ist die Biografie vor dem Hintergrund der Zeit spannend zu lesen und sicher auch für Chordirigenten und Musikwissenschaftler als Zeitdokument interessant. Indes scheint die Wirkung der durch Dessoff verbreiteten Chorkultur (insbesondere lokal begrenzt auf die Juilliard School und ihre Umgebung) einigermaßen in Grenzen zu verbleiben, wenngleich man über ihre Persönlichkeit einen Blick auf die Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts einmal aus einer ganz anderen, beispielhaften Perspektive einnehmen kann.
Bleiben wir noch kurz im 20. Jahrhundert und wenden den Blick nach Österreich, dort, wo im Angesicht der Dreitausender ebenso kolossale Partituren entstanden sind. Im Mahler- Komponierhäuschen am Wörthersee läßt sich die karge Einsiedelei des Komponisten nachempfinden, der täglich hier in den Wald hochstieg und immerhin die Sinfonien 5-8 in dieser grünen Umgebung schuf. Keine fünfzehn Kilometer entfernt am gleichen See steht etwas oberhalb am Wegesrand eine verschlossene Villa nebst gepflegtem Park – die Nummer 22 prangt auf dem Briefkasten. Wer dort was einwirft, landet bei der Alban-Berg-Stiftung in Wien – es ist das „Waldhaus“ von Helene und Alban Berg, in dem Berg die letzten drei Sommer seines Lebens verbrachte. Und obwohl Helene Berg diese Wirkungsstätte ihres Gatten gerne offen gesehen hätte, scheint es bislang nicht gelungen zu sein, hier einen Gedenk- oder Schaffensort etablieren zu können, von wenigen Veranstaltungen abgesehen. Immerhin gibt es nun eine sehr interessante Bilddokumentation über verschiedene Wohnorte von Alban und Helene Berg von Daniel Ender (Böhlau Verlag), die insofern sehr gelungen ist, weil sie ein Künstlerleben aus der Sicht der Wohnungen, Interieurs und auch der fotografischen (Selbst-) Darstellung dieser Räume und Orte abbildet – Ender konnte hier natürlich auf viele Nachlass- Dokumente aus dem Besitz der Berg-Stiftung zurückgreifen, man fühlt sich wirklich wie bei einem Gang durch eine Art Museum, vorübergehend treten auch die kompositorischen Werke in den Hintergrund, eine ganz normale österreichische Familie…? – Alban Bergs Begeisterung für das Automobil etwa hatte ja schon früher eine eigene „Auto-Biographie“ hervorgerufen. Und nun kann man auch nachverfolgen, in welchen Räumen Berg die „Lulu“ oder das Violinkonzert schrieb. Auch die familiäre Wiener Umgebung ist ausgiebig beschrieben, samt kleiner Gegenstände wie einer Münz- und Steinsammlungen oder selbst gezeichneten Grundrissen, die vor einem Umzug angefertigt wurden. Nun wünscht man sich nur noch, dass der nächste Bildband die Villa in Auen wieder mit geöffneten Fenstern zeigt…
Ein Dirigent dirigiert. Und man freut sich über die Musik, die er aus dem Orchester hervorzaubert. Dann und wann fragt man sich aber auch, warum denn dieser Takt so und so ist oder ob der gute Beethoven an jener Stelle das wirklich so schnell gedacht hat? Und was meinte er eigentlich mit diesen unsingbaren Stellen in der Neunten? Und wie schnell ist denn ein Allegro wirklich bei ihm? Das sind lauter Dinge, auf die es niemals endgültige Antworten gibt, die aber spannend zu erfahren sind, wenn ein Dirigent vom Schlage Christian Thielemann darüber sinniert. So ein Satz zur Neunten wie: „Die Reife dafür erwirbt man, indem man sich von dieser Symphonie gleichsam berieseln läßt und viele, viele Jahre lang weder ein noch aus weiß.“ wirkt gleich sympathischer als eine Analyse bis ins hinterletzte Sechzehntel, weil wir danach vermutlich auch nicht schlauer wären. Doch diese im Lernen niemals aufhörende Annäherung an Beethoven, die etwa auch einen Herbert Blomstedt mit 93 Jahren immer wieder dazu anfeuert, die Partituren neu zu befragen, ist es, was uns diese Erlebnisse so wertvoll macht. Schön ist an Christian Thielemanns „Reise zu Beethoven“, wie der Dirigent nahezu im leichten Plauderton plötzlich zu (Un-)Tiefen bei Beethoven vorstößt, gerade noch mit der Anmoderation „Ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster…“ versehen. Das ganze Buch zeigt eigentlich wunderbar, wie Thielemann mit den Noten und ihren Vielschichtigkeiten umgeht, wie er auch im Wort in einen Dialog mit Beethoven treten kann, seine Metronome in Frage stellt oder in die Werkstatt der Leonoren-Ouvertüren eintaucht. „Mit Beethoven muss man leben als Musiker. Und immer wieder neu kämpfen.“ – Und ab und zu läßt Thielemann auch mal fünfe gerade sein. Wo kein Drama ist, ist immer noch Musik, wie er treffend zur „Pastorale“ bemerkt: „Die Vögel singen, ein paar Wolken ziehen vorbei, ich freue mich auf mein Butterbrot.“ – Wer nicht da gleich die Oboe im Ohr hat, dem ist auch nicht mehr geholfen.. Auf mehrlicht befinden sich mehr als 600 Rezensionen, Interviews, Reiseberichte und Kulturfeatures. Wenn Sie als Leser*in mein werbefreies Blog mit einer kleinen Spende unterstützen wollen, freue ich mich sehr.
Advent, Advent 2020 Gerade habe ich festgestellt, dass die Tradition der Adventskalenderseite bei mehrlicht mindestens seit 2006 besteht, der Artikel ist sogar noch online auf dem alten Blog. Es gibt halt Dinge, die verändern sich nicht. Allerdings haben sich meine Kalenderempfehlungen auch über die Jahre verändert – reine Konsum- oder Gewinnspieljunkies also bitte weitergehen. Wie immer ist der Artikel work in progress und ich freue mich über Tipps und Empfehlungen in den Kommentaren zu besonders schönen, besonders informativen, verrückten oder verspielten Kalendern im Netz, gerne natürlich aus der Kultur-Ecke, die ja derzeit besonders still ist. Aber in diesem Jahr sind auch einige Institutionen oder Ensembles dabei, die eben über die Möglichkeit des Kalenders wieder ein wenig Licht und Töne zu den Menschen bringen wollen. Hoffentlich auch bald wieder live – und vielleicht kann das eine oder andere Türchen ja zu einem Lächeln oder guter Laune verhelfen. Viel Spaß! Kultur, Klassik und Classics * Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden präsentieren ihren Adventskalender auf ihren Social Media Kanälen. Hinter den Türchen verbergen sich Geschichten aus dem Museumsalltag, es gibt Einblicke in aktuell ruhende Ausstellungen, oder Neuigkeiten aus den insgesamt 15 Museen der Sammlungen. * Das Theater Junge Generation (tjg) in Dresden verschickt künstlerische Impulse über seinen Newsletter. Einfach abonnieren und Überraschungen vom Lieblingstheater in die Mailbox bekommen! * MDR Kultur macht in diesem Jahr seine App zum Adventskalender. Wir sind gespannt, was sich hinter den Türchen verbirgt. Die MDR Orchesterfreunde haben sogar einen eigenen Kalender – zB bei youtube. * Fleißig geprobt mit Kamera und Instrument wird bereits am Landesmusikgymnasium in Dresden, denn auf der facebook-Seite gibt es dieses
Jahr einen Adventskalender der Schülerinnen und Schüler! Tolle Idee! * Und das Landesjugendorchester Sachsen öffnet auch auf seiner Facebookseite jeden Tag ein Türchen. * In diesem Jahr ist auch die Frauenkirche Dresden dabei, deren Chor und Instrumentalensemble jeden Tag musikalische Grüße schickt. Ich war bei den Theatern in diesem Jahr mal fleißig und deswegen gibt es hier die Links unkommentiert gesammelt – auf jeden Fall gibt es da jede Menge Musik, Tickets und Überraschungen: * Adventskalender der Semperoper Dresden, der Staatsoperette Dresden, Oper Leipzig, der Bayrischen Staatsoper, Oper Frankfurt, Komische Oper Berlin, Oper Zürich, Volksoper Wien, Alte Oper Frankfurt mehr Kultur? * Burg Posterstein * Sonntagskrimi Tatort & Polizeiruf 110 – Adventskalender * Süddeutsche Zeitung – mit dem SZ Adventsquiz und tollen Preisen * concerti – Musikrätsel zum Advent * idagio offeriert wieder jeden Tag eine klassisch-vorweihnachtliche Playlist – kostenlos! * aus Frankreich kommt ein musikalischer Adventskalender, der sich Komponistinnen widmet – und sie stellen sich selbst in kleinen Filmen vor. „La Boite à Pépites“ – via youtube und facebook. * und neue Musik vom Nachwuchs gibt es beim Kalender der Komponistenklasse Halle. Sehr schön! mehr aus Dresden * Können Roboter backen? Dies und viel mehr beim Adventskalender der TU Dresden * Kalender der Laufszene Sachsen * Dresden for Friends Kalender special * selbstgemacht und gezeichnet sind die schönen Adventskalender von Eva Ludwig * PIA – Physik im Advent hat wieder 24 Experimente, bei denen man richtig was lernen kann! * wer aber lieber Mathe im Advent haben möchte – bittesehr. Lohnt auch zum Auffrischen
* Berliner anwesend? Die S-Bahn Berlin hat auch einen Adventskalender. * Da die deutsche Bahn dieses Jahr keinen Adventskalender anbietet, gehen wir einfach zur SBB in die Schweiz! * und für die #wienliebe Menschen in meiner Timeline hier der Vienna.at Adventskalender * mehr Österreich gibt es beim falter.at Adventkalender specialspecial * Es gibt Länder, wo was los ist… offline * Advenster Dresden Neustadt – findet auch 2020 statt, allerdings nur online – die Neustädter haben ihre Fenster schon mit Beiträgen gefüllt. Heute geht es an der Bibo auf der Königsbrücker Straße los * der beliebte Neustadt Adventskalender – von Juliane Hackbeil gestaltet – erscheint auch in diesem Jahr und ist in vielen Läden erhältlich, zb auch beim Kirchspiel an der Martin Luther Kirche. * Der Hechtviertel Adventskalender ist leider dieses Jahr abgesagt worden — Immerhin ist am 6. Dezember der Nikolaus unterwegs… Das ist alles viel zu doof hier? Bitteschön, lieber Adventskalenderjunkie, hier entlang. Auf mehrlicht befinden sich mehr als 600 Rezensionen, Interviews, Reiseberichte und Kulturfeatures. Wenn Sie als Leser*in mein werbefreies Blog mit einer kleinen Spende unterstützen wollen, freue ich mich sehr. Die Dresdner Philharmonie wird
150 Gegenwartsbefragung durch die Kunst: Das Städtische Orchester feiert Jubiläum. Eine Betrachtung von Alexander Keuk Als der Postbote klingelt und ich die Festschrift zum 150. Geburtstag der Dresdner Philharmonie in den Händen halte, denke ich, Moment, eine Festschrift gab es doch schon mal. Und richtig, im Bücherregal findet sich der Band zum 125. Geburtstag von 1995. Eine andere Zeit, andere Bilder, gar andere Klänge? Noch bevor ich darüber sinnieren kann, in welcher Geschwindigkeit ein Vierteljahrhundert vergeht, drängen sich die Bilder von damals in den Vordergrund. Und lassen die Gewissheit wachsen, dass ich, als ich Dresden als Lebensmittelpunkt wählte, mich auch für die Musik entschieden habe, die in dieser Stadt eine sehr gewichtige Rolle spielte und gottlob heute noch spielt, und zwar in ebenso selbstverständlich, traditionell gewachsener Weise wie auch immer mit etwas Exzentrik ausgeführt. Die Gewerbehaus-Kapelle mit dem Dirigenten August Trenkler im Gewerbehaus, um 1900
Anlässe wie Jubiläen, Gedenken, Feste, Eröffnungen – und tatsächlich auch eine letztlich zu akustischem Glück führende Schließung – forderten immer Musik heraus, bilden Zyklen im Jahreslauf und sind dazu geeignet, entstandene und entstehende Musik immer wieder neu aufzuführen, in Interpretationen zu ihrem Zeit- und Weltbezug zu befragen. In Dresden ist genau diese Gegenwartsbefragung durch die Kunst eine natürliche, aber auch immer mit Bewusstsein und zielführender Handlung zu unterfütternde Sache für ein städtisches Orchester. Und muss es sein, will sich das Orchester nicht als museales Reproduktions- oder Repetitionsorgan begreifen. Das wurde mir im Laufe der Jahre, in denen ich die Konzerte hören und dann auch journalistisch begleiten durfte, schnell klar. Festschrift 2020 Natürlich bilden Anlässe auch Rituale heraus, über das Kirchenjahr ebenso wie über die spezifische Stadt- oder die reichhaltige Musikgeschichte von Stadt und Region, wobei das bereits in Barockzeiten umtriebige Erzgebirge ebenso wie die städtische Pfeifer- und Kapellentradition frühe Beweise führen, dass in Sachsen die Musik eine gewichtige Rolle im Leben aller einnimmt. Immer wieder diese enorme, sich stetig verändernde und in ihrem Reichtum wachsende Fülle, und damit die ebenso wohltuende wie kontroverse Auseinandersetzung mit Klängen und den diesen innewohnenden Botschaften zu den Menschen zu bringen, das ist der ebenso lapidar formulierte wie immens wichtige Auftrag. Dem folgt die Dresdner Philharmonie bis heute mit einem hohen Anspruch, mit dem immer auch die Eigenverantwortung jedes einzelnen Musikers einhergeht.
Festkonzert zum 100-Jährigen Bestehen am 29.11.1970 im Kulturpalast unter Leitung von Kurt Masur Ich habe diese Haltung als Zuhörer, aber oft auch als Mitwirkender in chorsinfonischen Konzerten oder mit eigenen Werken beobachten und auch bewundern dürfen. Würde mir an dieser Stelle eine Philharmonikerin oder ein Philharmoniker gegenüber sitzen, würde sie oder er mir vermutlich in aller Bescheidenheit entgegnen: „Wir spielen doch bloß!“, aber am Ende steckt ein ganzes Leben in Musik dahinter, und das hat, diesseits wie jenseits der Bühne, alle Höhen und Tiefen. Es wird ab und an laut und dramatisch, es zwingt zum Hinhören in der Kontemplation, es flieht rasant oder es erstarrt, stumm und tief. Wo ist die Grenze zwischen Musik und Leben? In Dresden war sie gottseidank selten fühlbar, da konnte ein einziger Philharmonieabend für eine schlaflose Nacht sorgen, für eine Debatte im Foyer oder auch für ein sattes nachtönendes Wohlbefinden – und das gleichzeitig!
Die Dresdner Philharmonie heute – im neuen Saal des Kulturpalastes. Spätestens hier muss auch das Publikum gewürdigt werden, das nicht nur Unterstützer und Profiteur ist, sondern – das ist in Dresden wie in kaum einer anderen Stadt so erlebbar – in komplexen Verzweigungen selbst in der Musik lebt. Ein kulturell affines Bürgertum mag für Soziologen ein antiquiertes Sujet sein, in Dresden scheint, um mit Jean Jaurès zu sprechen, „die Weitergabe des Feuers“ auch den Philharmoniebesuch zu betreffen. Schon im alten Kulturpalast gab es skeptische Blicke, wenn man sich versehentlich auf einen freien Platz setzte, wo doch jedem klar sein musste, dort sitzen seit zehn Jahren Schulzes mit ihrem Wahl-Abo, nur die Bahn aus Kleinzschachwitz hat wohl wieder Verspätung. Unter vor einigen Jahren noch bis zu 10 000 Abonnenten der Dresdner Philharmonie findet sich eben kaum jemand, der nicht in einem der vielen Chöre in Dresden singt, Verbindungen zum dritten Trompeter auf der Bühne hat oder die Hausmusik bei den Nachbarn auf dem Weißen Hirsch besucht.
jüngste CD-Veröffentlichung: „Il Tabarro“ von Giacomo Puccini Liebevoll kritisch wird auch jeder neue Ton der Philharmonie begleitet und werden die Uraufführungen goutiert, weil es ja vor der Pause auch einen ohrenschmeichelnden Mozart gab und die Musiker bei Fazil Say oder Cristobal Halffter ebenso engagiert zu Werke gehen wie bei Weber und Brahms. 150 Jahre Dresdner Philharmonie – es ist Zeit zum Feiern! Am 29. November, dem Gründungstag der „Gewerbehauskapelle“ im Jahre 1870, geschieht dies leider nur vor dem Bildschirm oder Radio. Vielleicht nehmen wir alle daran teil und überlegen, welchen Wert diese Musik, dieses Orchester, diese Menschen für uns haben, welche Erinnerungen in uns zur Musik aufsteigen, was wir auch davon gelernt haben und was uns stark macht und zur Haltung zwingt. Vielleicht hören wir auch in uns hinein und lassen einige Gefühle zu, zu denen uns die Philharmonie immer wieder auffordert und die sie selbst mit Enthusiasmus Woche für Woche in jährlich bis zu 80 Konzerten zelebrieren. Der Dresdner Philharmonie auch künftig unsere Aufmerksamkeit, unser genaues Hinhören zu schenken, könnte auch in zukünftigen Zeiten Balsam für die Seele darstellen und uns in der Begegnung und Beschäftigung mit Kultur zu Menschen definieren. Was könnte schöner, was könnte unverzichtbarer sein als Musik? Das Festkonzert zum 150-jährigen Bestehen der Dresdner Philharmonie wird live am 29.11.2020 um 20 Uhr über die Website der Philharmonie, arte.tv.de/arte-concert, MDR Kultur, MDR Klassik und über die facebook Seite der Philharmonie als Videostream gesendet. Deutschlandfunk Kultur
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