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Bayerische Landeszentrale 3|11 für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit / Der preußische Staatsgedanke im Horizont der Politik Metternichs / Die polnische alternative Protestbewegung „Orangene Alternative“ / Eine Reise nach Kairo – Tagebucheinträge / „In uns der Ort“
Einsichten und Perspektiven Autorinnen und Autoren dieses Heftes Impressum Agnieszka Balcerzak, geboren in Połczyn Zdrój in Polen, ist Philologin und Absolventin des Einsichten Elitestudiengangs „Osteuropastudien“ an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. und Perspektiven Udo Seiwert-Fauti war langjähriger Journalist bei der ARD und arbeitet seit 1998 als freier Korrespondent in Schottland. Verantwortlich: Marina Hübner ist Tutorin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft an der Otto- Monika Franz, Friedrich-Universität Bamberg. Praterinsel 2, Werner Karg leitet das Veranstaltungsreferat der Bayerischen Landeszentrale für politische 80538 München Bildungsarbeit. Prof. Dr. Wolfram Siemann ist Inhaber des Lehrstuhls Neuere und Neueste Geschichte an der Redaktion: Ludwig-Maximilians-Universität München. Monika Franz, Dr. Christof Hangkofer, Veranstaltungsankündigung Christoph Huber, Werner Karg Gestaltung: griesbeckdesign www.griesbeckdesign.de „Mehr als Steine …“ Druck: creo Druck & Tagung zum Arbeitsbeginn am dritten Medienservice GmbH, Synagogen-Gedenkband Bayern: Unterfranken Gutenbergstraße 1, 96050 Bamberg am 6. und 7. November 2011 im Zentrum Schalom Europa, Würzburg Titelbild: Beduine in den Sinai-Bergen Über 200 Synagogen waren um 1930 in Bayern in Gebrauch. In den Gotteshäusern wurde gebetet Bild: Marina Hübner und gelesen, es wurden Geschichten erzählt und Unterricht gehalten, Streitigkeiten ausgetragen und Entscheidungen getroffen. Sie waren Herz und Symbol des jüdischen Lebens. Mit der Zer- Die Landeszentrale konnte die Urhe- störung der Synagogen in den Novemberpogromen des Jahres 1938 erlosch dieses Leben nahezu berrechte nicht bei allen Bildern dieser vollständig. Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit, glaubhaft gemachte Ansprüche nach- Das Projekt der Synagogen-Gedenkbände dokumentiert die Synagogen, die um 1930 im Gebiet träglich zu honorieren. des heutigen Bayern bestanden. Nicht nur die Gotteshäuser und ihre Geschichte einschließlich der Zerstörungen, sondern auch die mit ihnen verbundenen Geschichten der Menschen und Gemeinden sollen dabei im Mittelpunkt stehen, um zu zeigen: Die Synagogen waren für die, die sie errichtet hatten, „mehr als Steine“. In den Jahren 2007 und 2010 erschienen die ersten beiden Bände, im Herbst 2011 beginnt die Arbeit am dritten Band, der die Synagogen in Unterfranken dokumentiert. Aus diesem Anlass sollen auf der Tagung historische, theologische bzw. religiöse, volkskundliche, architektonische, denkmal- pflegerische und didaktische Fragen zur Geschichte der Synagogen und der jüdischen Kultur in Unterfranken verhandelt werden. Detailliertes Programm siehe www.politische-bildung-bayern.de >> Veranstaltungen. Anmeldung: Teilnehmerinnen und Teilnehmer richten bitte ihre Anmeldung bis zum 27. Oktober 2011 an: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit * Elke Kapell Praterinsel 2, 80538 München Fax: (089) 21 86 - 21 80, E-Mail: Elke.Kapell@stmuk.bayern.de 154 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Einsichten und Perspektiven Inhalt Udo Seiwert-Fauti 156 Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Wolfram Siemann 176 Der preußische Staatsgedanke im Horizont der Politik Metternichs Werner Karg 190 „In uns der Ort“ Überlegungen zu einer Ausstellung mit Fotos von Renate Niebler und Beatrice Apel in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Agnieszka Balcerzak 192 „Es gibt keine Freiheit ohne die Zwerge!“ Die polnische alternative Protestbewegung „Orangene Alternative“ seit den achtziger Jahren bis heute Marina Hübner 212 Eine Reise nach Kairo – Tagebucheinträge einer Bamberger Studentin Einsichten und Perspektiven 3 | 11 155
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Von Udo Seiwert-Fauti Eine Tasse Kaffee im Scottish Parliament Foto: Udo Seiwert-Fauti 156 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Schottland besiegt England. Im Fußball wäre das derzeit eine kaum vorstellbare Sen- sation. Die oft sehr kriegerische Geschichte beider Nationen belegt ebenfalls eher das Gegenteil. Die politische Realität in England und Schottland hat in den letzten Mo- naten allerdings zu einer Situation geführt, die man so bezeichnen könnte: Schottland fordert England heraus. Schottland könnte dabei durchaus als Sieger hervorgehen, auch wenn der Termin für das „Entscheidungsspiel“ noch auf sich warten lässt. Die heiße Trainingsphase fürs Finale ist jedoch seit langem eröffnet. Leben in und mit der Vergangenheit Strukturen. Einige Nationen wie die Albaner, die Serben und die Kurden sind sogar über mehr als nur einen Staat ver- Wer als föderal denkender Kontinentaleuropäer die teilt. Die Position Schottlands als eine staatenlose Nation „Dauer-Liebesbeziehung“ zwischen Schottland (Natio- ist, obwohl vergleichsweise unüblich, nicht einzigartig.“1 nalflagge: Andreaskreuz) und seinem südlichen Nach- McGafferty und Cairney zeigen in ihrer Erklärung barn England (Nationalflagge: Georgskreuz) verstehen die Regionen auf, mit denen sich Schottland gerne vergleicht will, muss zuerst eine intensive Geschichtsstunde ab- und mit denen es seit langem zusammenarbeitet, zum Bei- solvieren. spiel Katalonien oder das Baskenland (Anm. d. Verf.: Auf Bayern kommen wir später noch zu sprechen). Zunehmend Living in and with the past (Leben in und mit der Vergan- wird auch der westliche Nachbar Norwegen zum Vorbild. genheit) steht in Schottland für die Zukunft. The Past, die Norwegen war 91 Jahre in einer Union mit Schweden, die Vergangenheit, ist ganz sicher das Triebmittel aller Dis- 1905 aufgelöst wurde. Norwegen wurde unabhängig und ist kussionen in Schottland und England, wenn es um die Zu- heute wirtschaftlich wie sozial ein starkes und unabhängi- kunft beider Länder geht. „Together“ or „Go your own ges Land, nicht zuletzt durch die Öl- und Gaseinnahmen. way“, um einmal Songs britischer Popbands zu zitieren, Die Öl- und Gasförderung verbindet Schottland und Nor- lautet die sehr aktuelle Frage. Schotten haben dazu sehr oft wegen in der Nordsee. eine drastische Meinung: „... get rid of the English!“ Das wiederum bringt die sonst so coolen Engländer von jetzt auf Die wissenschaftliche Erklärung Schottlands ist das gleich von Null auf Hundert. „You can bet on it“, du kannst Eine, die Geschichte aber sicher das weit Wichtigere. darauf wetten! Man muss etwa verlorene Schlachten wie Culloden (gegen die Engländer), den Verrat beziehungsweise das Die erste Frage, die zu klären wäre, lautet: Was ist Massaker von Glencoe oder die Niederlage der Schotten Schottland derzeit? Ein Staat, eine Nation oder eine gegen die Engländer in der Schlacht bei Dunbar ken- Region – und: Kann das Land einfach so aus dem UK nen, die Edinburgh in ärgste Bedrängnis brachte. Man austreten? muss wissen, dass die Franzosen in der „Auld Alliance“ immer Seite an Seite mit den Schotten im Kampf gegen Die Politikwissenschaftler Neil McGafferty (Strathclyde die Engländer standen. Vor allem aber ist ein Datum ein Uni Glasgow) and Paul Cairney (Uni Aberdeen) haben in Muss: 1707! ihrem Buch „Scottish Politics: An Introduction“ eine Erklä- rung von Schottland und „Scottish“ versucht: Schottland war lange Zeit ein unabhängiger Staat. Wobei die „[...] Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist Wörter „unabhängig“ und „Staat“ hier mit Vorsicht zu ge- Schottland kein Nationalstaat. Es gibt keine Beziehung zwi- nießen sind; wir haben diesbezüglich moderne Vorstellun- schen den geographischen Grenzen Schottlands, der Nation gen, die auf vergangene Zeiten schwer zu übertragen sind. und dem Staat „Vereinigtes Königreich“. Schottland steht Jedenfalls: Das Königreich Schottland existierte von 843 bis damit allerdings nicht alleine. „Nationen“ wie Katalonien, in jenes Jahr 1707.2 Seit dem elften Jahrhundert versuchte das Baskenland und Palästina haben auch keine staatlichen die englische Krone zunehmend, ihren Einfluss auf und in 1 Zit. nach Neil McGafferty und Paul Cairney: Scottish Politics: An Introduction, Basingstoke 2008, S. 5. 2 Ein gut lesbares Standardwerk zur schottischen Geschichte ist etwa Peter u. Fiona Somerset Fry: The History of Scotland, London 2005 [1982]. Einsichten und Perspektiven 3 | 11 157
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Die Verwaltungsgliederung Großbritanniens Karte: Maximilian Dörrbecker/Wikipedia, Lizenz: cc-by-sa-3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de.legalcode 158 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Die Schlacht von Glencoe Abbildung: ullstein bild-heritage Richtung ihres nördlichen Nachbarn auszudehnen. Der, Englands durch einen Staatsvertrag, der „Treaty of Union“, wenn man so will, Befreiungsschlag der Schotten war die vereinigt. Das vorher Eigenständige hieß ab sofort „Parlia- Schlacht von Bannockburn im Jahre 1314, mit der die eng- ment of Great Britain“.3 lischen Avancen dauerhaft zurückgedrängt werden konnten Schottland verlor 1707 sein bis dahin eigenständi- und die zur „Schottischen Unabhängigkeitserklärung“, der ges Parlament und wurde seitdem aus London regiert. Be- 1320 proklamierten Declaration of Arbroath, führte. reits 1606, 1667 und 1689 hatte es zwar Versuche gegeben, Erst dreihundert Jahre später kam es zu einer er- beide Parlamente zu vereinigen, aber erst 1707 gelang die neuten Verbindung der beiden Königreiche: Nach dem Tod Zusammenführung, die der britische Historiker Simon Elisabeths I. und damit dem Aussterben der Tudordynastie Schama so charakterisiert: bestieg Jakob I., der Sohn von Elisabeths langjähriger Riva- „[…] Was als feindliche Übernahme begann, sollte lin Maria Stuart, als Jakob IV. König von Schottland, 1603 schließlich als volle Partnerschaft im mächtigsten Unter- den englischen Thron. Dieser Personalunion folgte rund ein nehmen der Welt enden [...] [E]s war eine der unglaublich- Jahrhundert später – nach mancherlei wirtschaftlichen und sten Transformationen der europäischen Geschichte.“4 gesellschaftlichen Verwerfungen, die auszuführen an dieser Stelle zu weit ging, – schließlich die politische: Full partnership, volle Partnerschaft? Eine sehr britische 1706 hatte zuerst das englische und 1707 auch das oder genauer: englische Darstellung des Entstehens von schottische Parlament dem Zusammenschluss beider Parla- Großbritannien! Viele Schotten sahen und sehen den mente zugestimmt. Am 22. Juli 1706 verabschiedeten die 1. Mai 1707 eher als eine Schmach. 1707! Dieses Datum Delegationen beider Parlamente die Vereinigungsurkunde, wird bis heute als Niederlage gesehen. 1707 traf nicht der beide Parlamente zustimmten. Am 1. Mai 1707 wurden nur das Herz Schottlands, sondern ganz sicher auch die bis dahin unabhängigen Parlamente Schottlands und sehr tief das Mark der Eigenständigkeit. 3 Ein ausführliches Werk zum Werden des Vereinigten Königreiches wäre etwa: Allan I. Macinnes: Union and Empire: the Making of the United Kingdom in 1707, Cambridge 2007. 4 Simon Schama: A History of Britain. Part 10: Britannia Incorporated, ausgestrahlt am 22. Mai 2001 auf BBC One. Einsichten und Perspektiven 3 | 11 159
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Queen Anne wird die Act of Union überreicht. Abbildung: ullstein bild – Granger Collection Paul Henderson Scott, der ehemalige Rektor der Uni Dun- lament, eben das Scottish Parliament/Pàrlamaid na h-Alba dee und ehemaliger Vorsitzender des schottischen PEN, (gälisch, die Minderheitensprache Schottlands) in der schot- kommentiert die Union in dem von ihm und anderen schot- tischen Hauptstadt Edinburgh. tischen Autoren herausgegebenen Buch „A Nation Again. Die Edinburgher Zeitung The Scotsman titelte an Why Independence Will be Good for Scotland (and Eng- diesem Tag auf der ersten Seite ihrer Sonderausgabe: „A new land Too): nation again!“ „Ein kleines Land in einer Union mit einem größe- Dass es dazu kommen konnte, ist dem 1953 in ren, so wie Schottland mit England, ist immer im Nachteil, Edinburgh geborenen ehemaligen britischen Premierminis- vor allem wenn das größere Land seine eigenen Interessen ter und Leader der britischen Labour Party, Tony Blair, zu voranstellt und bevorzugt auf die Vor- und Einstellungen verdanken. Der Erfinder von „cool“ New Labour und Ab- des eigenen Volkes reagiert. Man könnte aber durchaus be- solvent von Edinburghs teuerster Privatschule Fettes Col- haupten, dies sei sogar demokratisch korrekt, da die Mei- lege brauchte für seinen ersten Wahlsieg 1997 dringend die nung der Mehrheit gelten sollte.“5 Stimmen aus dem überwiegend Old-Labour-(Arbeiter)- Land Schottland, aus der alten Werftarbeiterstadt Glasgow. 1999 – Geburtsjahr des Schottischen Parla- Um dies zu gewährleisten, erfanden und versprachen Blair mentes und seine Berater ein Schlagwort: Devolution! Föderalistischen Deutschen kann man diesen Erst 292 Jahre später konnte die „1707-Schmach“ beseitigt Begriff am besten mit „Verlagerung von (etwas) Macht aus werden. Am 1. Juli 1999 eröffnete Her Majesty The Queen London in die Regionen“ erklären. In den außerenglischen das alte schottische Parlament neu – oder – wie es viele Regionen des UK (Schottland, Wales, Nord-Irland), die Schotten sehen – endlich wieder ein neues und eigenes Par- sich als Nationen sehen, sollten ganz neue oder alte 5 Paul Henderson Scott: Introduction, in: ders. (Hg.): A Nation Again. Why Independence Will be Good for Scotland (and England Too), Edinburgh 2011, S. 11–17, hier S. 17. 160 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Devolved und Reserved Matters Das schottische Parlament kann nur auf be- stimmten Politikfeldern tätig werden. Diese wer- den „Devolved Matters“ genannt, da die Gesetz- gebungsgewalt in diesen Bereichen „devolved“, also vom Westminster-Parlament auf das schottische übertragen wurde. „Devolved Matters“ sind: Gesundheitswesen Bildung Lokale Verwaltung Sozialarbeit Bebauung Bauplanung Tourismus Wirtschaftliche Entwicklung Teile des Transportsystems Gerichte und Rechtssystem Polizei und Feuerwehr Umwelt Naturerbe und Baudenk- Land- und Forstwirtschaft, mäler Fischerei Sport und Kunst Öffentliche Register und Aufzeichnungen Quelle: The Scottish Parliament7 Parlamente neu entstehen. Wie auch immer, in Schottland Ergebnisse der Wahl zum schottischen Parlament 1999 (ohne die gelang dies 1999 im zweiten Anlauf. Bereits 1979 hatte Inseln im Nordosten, wo überwiegend Liberaldemokraten ge- Schottland in einem Referendum über die Errichtung eines wählt wurden), Gelb: SNP, Rot: Labour, Blau: Konservative. Regional- beziehungsweise Nationalparlaments abge- Graphik: S. Hildensperger stimmt. Eine knappe Mehrheit der Wähler votierte zwar für soll, reiste zu diesem Staatsakt nach Edinburgh. Schottland das Referendum, aber die erforderliche Anzahl Ja-Stimmen war an diesem Tag wirklich in einem unglaublichen Feier- von 40 Prozent aller Wahlbeteiligten wurde verfehlt. Das rausch. A dream had come true! Referendum scheiterte. Es gibt keinen Zweifel. Seit der ersten Sitzung des Scot- 1997 gewann dann Tony Blairs Labour Party die Wahl tish Parliament der Neuzeit am 12. Juli 1999 hat in zum britischen Parlament in London. Der neue briti- „north of the border“, wie Engländer Schottland gerne sche Premierminister hielt sein Wahlversprechen: bezeichnen, eine Entwicklung eingesetzt, die schon bald 1997 wurde in Schottland per Volksentscheid über die zum nächsten Referendum führen wird beziehungswei- (Wieder-)Einführung eines Scottish Parliament abge- se führen könnte. stimmt. Das Ergebnis war dieses Mal sehr deutlich: 74,3 Prozent stimmten für ein neues Parlament, Die Volksabstimmung über die Frage, ob Schottland als 25,7 Prozent dagegen.6 Nation oder Region im United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland verbleibt oder aber aus dem UK aus- Nach diesem Referendum ging alles ganz schnell. Im Mai tritt und damit als eigener, unabhängiger Staat entstehen 1999 wurden die Abgeordneten für das neue Scottish Par- wird, ist spätestens für 2014/15 vorgesehen! Auch ein frü- liament gewählt, am 1. Juli 1999 übertrug das britische Par- herer Zeitpunkt wird derzeit durchaus diskutiert. lament dem neuen schottischen Parlament seine neuen Rechte. „Independence“ on the way ...?! Her Majesty The Queen, die auch Schottlands Königin ist Seit dem 5. Mai 2011 hat die „Independence“, die Unabhän- und dies auch nach einer etwaigen Unabhängigkeit bleiben gigkeitsdiskussion in Schottland, einen Umfang angenom- 6 The Scottish Parliament: Referendum Results; http://www.scottish.parliament.uk/corporate/history/aDevolvedParliament/results.htm Agnes [Stand: 22.09.2011]. 7. The Scottish Parliament: Devolved and Resolved Measures; http://www.scottish.parliament.uk/vli/education/docs/enviro-studies/ Additional%20Materials/Devolved_and_Reserved_Matters.pdf [Stand: 22.09.2011]. Einsichten und Perspektiven 3 | 11 161
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Das Schottische Parlament in Edinburgh Foto: ullstein bild – Imagebroker.net men, mit dem auch viele Schotten selbst sicher nicht gerech- Von Schock bis ungläubiger Freude reichten die Reak- net haben. An diesem Maitag wurde Schottland vollkom- tionen in der Wahlnacht. Parlamentskorrespondenten, men unerwartet „gelb“. Wähler und Politiker konnten kaum fassen, was sich in Mit der Wahl zum vierten Scottish Parliament der Schottland zwischen Wahllokalschluss um 22 Uhr und Neuzeit wurde Schottland ein Scottish-National-Party- acht Uhr morgens abspielte. Alte Labour-Wahlkreise in (SNP)-Land! Die von 2007 bis 2011 mit einer Minderheits- Glasgow und ehemals liberaldemokratische Wahlkreise regierung alleine regierende sozialdemokratische SNP und im schottischen Hochland und auf den Hebrideninseln ihr First Minister und Parteichef Alexander Elliot Anderson gingen an die SNP. Salmond erhielten bei der Wahlkreisabstimmung 45,39 Pro- zent, bei den Regionallisten 44 Prozent. Die SNP gewann Die sehr fashionable, liberaldemokratisch orientierte insgesamt 23 Sitze hinzu und hat jetzt 69 Sitze. Das ist die Hauptstadt Edinburgh wurde ebenfalls zu großen Teilen absolute Mehrheit im aktuellen Scottish Parliament! „gelb“. Der Schockzustand dauert bis heute in der Scottish Im ehemaligen (Old) Labour-Land Schottland kam Labour Party, den Scottish Liberaldemocrats, den Scottish Scottish Labour auf gerade noch 31,69 Prozent (Wahlkreis- Conservatives in London/England, und nicht zuletzt auch abstimmung), während Konservative und Liberaldemokra- in der SNP, an. Am 6. Mai erklärten die schottischen ten, die in London die UK-Koalitionsregierung stellen, mit Parteichefs von Labour, Konservativen und Liberaldemo- Verlusten zwischen zwei und acht Prozent abgestraft wur- kraten ihren Rücktritt. Die Lage in den unterlegenen Par- den. Am schlimmsten erwischte es die LibDems. Vor dem teien zeigt eine Idee von Murdo Fraser, Member of Scottish 5. Mai: 17 Sitze. Nach dem 5. Mai: fünf Sitze im neuen Parliament, auf. Er will neuer Parteiführer der Konservati- Scottish Parliament.8 ven in Schottland werden, auf sehr unerwartete Art und 8 The Scottish Parliament: Election 2011. Results Analysis; http://www.scottish.parliament.uk/msp/elections/2011/11index.htm [Stand: 22.09.2011]. 162 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Im ersten schottischen Parlament stellte Scottish Labour mit Donald Dewar nicht nur Schottlands ersten Ministerprä- sidenten, sondern auch den Politiker, der sich vehement für die Einführung des Scottish Parliament und eines neuen Wahlverfahrens in Schottland eingesetzt hatte. Es ähnelt sehr stark dem deutschen Wahlsystem und sollte im Gegen- satz zum im UK üblichen („First past the post“) mehr Wahl- gerechtigkeit in Schottland garantieren.10 Es sollte aber auch Donald Dewars erklärte Ab- sicht sein, in Zukunft eine absolute Mehrheit einer Partei in Schottland zu verhindern. 1999 entstand vor diesem Hinter- grund eine Koalitionsregierung von Scottish Labour und Scottish Liberaldemocrats. Labour erhielt 56 Sitze, die SNP 35, die Konservativen 18, die Liberaldemokraten 17. Erst- mals im United Kingdom zog 1999 auch ein grüner Abge- ordneter in ein Parlament ein. Das Ausmaß des SNP-Wahlerfolgs 2011 und des Desasters für die anderen Parteien wird deutlich, wenn man sich die Verhältnisse im Scottish Parliament 2011 anschaut: SNP 69 Abgeordnete, Labour 37, Konservative 15, Liberal- demokraten fünf, Grüne zwei Sitze. In Schottland gilt derzeit, wie es ein Journalistenkollege im Scottish Parliament mit viel Scottish Humour aus- drückte: „Wenn Salmond jemals König von Schottland Murdo Fraser, Mitglied des Schottischen Parlaments (Scottish werden wollte, jetzt kann er!“ Conservative Party) Foto: ullstein bild – united archives Journalisten erinnern sich aktuell sehr oft daran, wie alles Weise. Er will die Konservativen in Schottland von den bri- begann. 2004, am Tag nach seiner Wahl zum neuen SNP- tischen Konservativen abtrennen, eine neue, nur auf Schott- Parteiführer, hatte Alex Salmond während seiner Presse- land konzentrierte neue Partei gründen, die dann die aus konferenz zum Amtsantritt in Edinburgh dieses Motto kre- Konservativen und Liberaldemokratie gestellte UK-Regie- iert: „Wir sind die einzige Partei, die niemanden in London rung unterstützt!9 fragen muss, ob und wie wir für Schottland aktiv werden Gegen First Minister und SNP-Parteichef Alex dürfen!“ Salmond anzutreten, ist offensichtlich für viele schottische Schottlands Wähler nehmen ihm offensichtlich Politiker nicht gerade ein Traumjob. Auch Schotten im weiterhin diese Überzeugung ab. In vielen persönlichen Ge- Londoner Parteien-Establishment zeigen nicht gerade sprächen wird immer wieder deutlich, wie groß der Sal- überbordendes Interesse an einem „north-of-the-border“- mond-Zuspruch bei der Wahl 2011 war. Eingefleischte Scot- Job! tish-Labour-Party-Mitglieder outeten sich, erstmals die SNP überhaupt gewählt zu haben. Lange in Schottland le- Für die schottische Labour Party bedeutet die Maiwahl bende Engländer (!) gaben ebenfalls der SNP die Stimme. 2011 ein Desaster der ganz besonderen Art. Vor 1997 Viele EU-Bürger, die seit Jahren als „residents“ in Schott- hatte sie sich eindeutig für die Wiedereröffnung des land leben und arbeiten, folgten Salmonds SNP. EU-Bürger, Scottish Parliament in Edinburgh eingesetzt und lag die Scotland residents sind, dürfen das Scottish (Regional-) damit voll auf der damaligen New-Labour-Linie von Parliament in Edinburgh wählen! Tony Blair. 9 Vgl. Alan Cochrane: Scottish Conservative Party Set to Disband, in: The Daily Telegraph v. 3. September 2011; http://www.telegraph. co.uk/news/uknews/scotland/scottish-politics/8739927/Scottish-Conservative-Party-set-to-disband.html [Stand: 22.09.2011]. 10 Zum Wahlrecht in Großbritannien s. etwa Thomas Krumm u. Thomas Noetzel: Das Regierungssystem Großbritanniens: Eine Einführung, München 2006, S. 104–137. Einsichten und Perspektiven 3 | 11 163
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit wir werden unseren Nachbarn eng verbunden bleiben, wir werden weiterhin dasselbe Land mit ihnen teilen, ebenso die Sprache und eine reichhaltige Vergangenheit und Geschich- te mit den anderen Völkern dieser Inseln. Mein größter Wunsch ist, dass Schottland und England als Gleichberech- tigte zusammenstehen. Es gibt einen Unterschied zwischen Partnerschaft und Unterordnung. Partnerschaft befördert gegenseitigen Respekt. Unterordnung schürt Feindseligkeit [....] Aber das Zeitalter der Weltreiche ist vorbei. Jetzt be- stimmen wir unsere eigene Zukunft, gegründet auf unsere Bedürfnisse. Wir kennen unseren Wert und wir sollten Stolz darüber empfinden. Lasst uns also den Worten Saltouns fol- gen und uns aufmachen ‚in die Gemeinschaft der Nationen, um unser gleichberechtigtes, unabhängiges Gewicht in die Welt einzubringen‘.“11 Seine Botschaft ist offensichtlich bei den Menschen in England und Schottland angekommen. Auf vielen Social- Media-Internetseiten diskutieren Schotten wie Engländer ihre sehr unterschiedlichen Ansichten. Es finden sich auch sehr skeptische Stimmen von Schot- ten, die mehr Zurückhaltung bei der Unabhängigkeits- frage fordern und entgegen dem Diskussions-Main- stream einen Verbleib im UK fordern. Viele gerade der Alex Salmond, Vorsitzender der Scottish National Party jungen/jüngeren Schreiber aber sehen wohl die Zukunft Foto: Udo Seiwert-Fauti des Fünf-Millionen-Einwohner-Landes im Norden der britischen Inseln eher in der Unabhängigkeit. Nach diesem immensen und unerwarteten Vertrauens- vorschuss für Schottlands First Minister Alex Salmond Frage: Spiegelt sich das auch in der „breiten Bevölkerung“ und die Scottish National Party wird zur Zeit nur eines wider? intensiv, emotional und sehr engagiert in allen Alters- Die ComRes-Umfrage vor der Mai-Wahl 2011 zu gruppen und sozialen Schichten Schottlands diskutiert: genau diesem Thema wurde von den englischen Zeitungen die Zukunftsfrage! Sie lautet einfach und doch irgend- Independent (!) on Sunday und Sunday Mirror gemeinsam wie kompliziert: Steht dieser „Overall-Majority“-SNP- veröffentlicht. Damals sprachen sich 38 Prozent der befrag- Wahlsieg gleichbedeutend mit der Aufforderung, jetzt ten Schotten für die Unabhängigkeit aus, während 46 Pro- endlich auch die endgültige Unabhängigkeit Schott- zent dagegen waren.12 lands vom UK in Angriff zu nehmen? Wenige Monate später hat sich das Bild gewandelt. Die schottische Tageszeitung The Herald veröffentlichte am Schottlands First Minister hat seine Intentionen in seiner 5. September 2011 ihre Umfrage zum Thema Unabhängig- Rede bei der Konstituierung des vierten Scottish Parliament keit: am 18. Mai 2011 sehr schottisch-diplomatisch-deutlich aus- gedrückt: „Nach der jüngsten TNS-BMRB-Umfrage, die heute „Wir sehen unsere Nation emporsteigen aus einem vom Herald veröffentlicht wurde, führen diejenigen, Sumpf von Selbstzweifel und Negativität. Veränderung die der Unabhängigkeit zustimmen würden, mit 39 zu kommt und die Menschen sind bereit dazu. [...] Welche Ver- 38 Prozent. Das letzte Mal, als die Befürworter einer änderungen auch in unserer Verfassung stattfinden mögen, Abspaltung vorne lagen, war im Frühjahr 2008.“13 11 Zit. nach Hamish Macdonell: Alex Salmond’s Holyrood Address on Being Re-elected First Minister, in: Caledonian Mercury v. 18.05.2011; http://politics.caledonianmercury.com/2011/05/18/alex-salmond%E2%80%99s-holyrood-address-on-being-re-elected-first-minister/ (Stand: 22.09.2011). 12 Jim Pickard: Poll Finds Substantial Support for Scottish Independence, in: Westminster Blog v. 14. Mai 2011; http://blogs.ft.com/westmins- ter/2011/05/poll-finds-substantial-support-for-scottish-independence/#axzz1WavdfpQh [Stand: 22.09.2011]. 164 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Ein – nicht ganz unerwartet – leicht anderes Bild der Stim- mehr darum, ob überhaupt ein neues Referendum zustande mung in Schottland zeigt eine Umfrage im Auftrag der kommt, sondern überraschenderweise ausschließlich da- schottischen Ausgabe der englischen (konservativen) Tages- rum, wie die Frage aller Fragen zu stellen sei. zeitung THE TIMES: Überschrift „Poll boost for SNP as backing for split grow“: Wieso das so plötzlich, fragen sich viele (nicht nur) Kontinentaleuropäer. Wieso dieser plötzliche Wandel „Die Zustimmung der Schotten zur Unabhängigkeit ist vom strikten „Nein“ über „Vielleicht“ zum „Jetzt ja“? in weniger als einem Jahr um beinahe 13 Prozent gestie- Es geht um Wahltaktik auf höchstem englischem und gen, aber wird immer noch nur von gut einem Drittel schottischem Niveau. der Wähler in Schottland unterstützt […]. Die Ipsos- MORI-Umfrage zeigt, dass 60 Prozent der wählenden Alex Salmond will den „Wind of Change“ voll ausnutzen Schotten, darunter mehr als ein Drittel der SNP-Wäh- und allerspätestens in der zweiten Hälfte der Wahlperiode ler, eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich nicht die Frage nach der Unabhängigkeit an das schottische Volk unterstützen würden, wenn jetzt eine Volksabstim- stellen. Das wäre 2014/15. Sagt dieses wie etwa 1999 zum mung stattfände. 35 Prozent der Schotten würden „Ja“ Scottish Parliament „Ja“, haben Salmond und die SNP ihr zur Unabhängigkeit sagen; im November letzten Jahres Ziel erreicht. Sagen die Schotten aber „Nein“, hoffen die bei waren es noch 22 Prozent.“14 der Wahl 2011 unterlegenen Parteien Scottish Labour, Scot- tish Conservatives und Scottish LibDems auf neuen Rü- In Diskussionen und Gesprächen erlebe ich derzeit diese ckenwind. Alle drei stehen – bislang – für die Union! Die Reaktionen: Die einen wollen auswandern, wenn die Unab- Unabhängigkeitsfrage mutiert damit zur Zukunftsfrage der hängigkeit kommt, die anderen sehen gerade darin eine bes- gesamten britischen Politik. Wenn in London politisch alles sere und selbstbestimmte Zukunft des Landes. Entweder einigermaßen normal verläuft, wird voraussichtlich 2014/15 oder, anderes kommt nicht in Frage. Das gilt auch für die ein neues UK-Parlament in Westminster gewählt. Ein Nein Reaktionen von „south of the border“, aus England also. in Schottland käme den Londoner Parteichefs in jeder Hin- sicht zur richtigen Zeit und sehr gelegen. Der britische Premierminister David Cameron, Conserva- tive Party, reagierte auf Salmonds Rede kämpferisch:„I will Schottland und Europa never give ground on my commitment to the United King- dom, keeping our United Kingdom together.“15 Im Moment geht die Taktik von Schottlands First Minister Mit jeder Faser seines Herzens werde er für den auf. Er bestimmt die Politik in Schottland, die anderen Par- Bestand der Union, des United Kingdoms, kämpfen, ver- teien in Schottland wie England müssen und können nur kündete PM David Cameron im Mai 2011 vor 10 Downing noch reagieren. Sein aktuelles Motto ist: „Solange wir noch Street in London. nicht unabhängig sind, sorgen wir wenigstens dafür, dass Was sich nach der Mai-Wahl 2011 ein bisschen so wir im UK mehr Macht und Selbstbestimmung bekom- anhörte, als würden schon bald die English Cameron South- men.“ lander in Richtung Norden marschieren, um gegen die wah- In seiner Rede am 15. Mai 2011 bezog Salmond klar ren Cameron Highlander (4. Regiment des Scottish Regi- Stellung: ments der Royal Army) unter ihrem Feldherrn Alex Sal- „Ich habe sechs für uns wichtige Bereiche skizziert, mond für die Union zu kämpfen, hat sich seitdem erheblich bezüglich derer, in größerem oder kleinerem Ausmaß, par- beruhigt und gewandelt. Plötzlich steht nicht mehr das lamentsübergreifende Einigkeit besteht: Kreditaufnahme, „Contra Independence“ der UK-Regierung im Vorder- Unternehmenssteuer, die Besitztümer der Krone, Ver- grund, sondern einzig und allein die Frage, wie man denn brauchssteuern, digitaler Rundfunk und ein stärkeres Mit- nun die alles entscheidende Frage stellen solle. Es geht nicht spracherecht in allen Europaangelegenheiten.“16 13 Robbie Dinwoodie: Yes Voters Take Lead in New Independence Poll, in: The Herald Scotland Edition v. 5. September 2011; http://www. heraldscotland.com/news/politics/yes-voters-take-lead-in-new-independence-poll-1.1121712 (Stand: 22.09.2011). 14 Angus Macleod u. Lorraine Davidson: Poll Boost for SNP as Backing for Split Grow, in: The Times, Scotland Edition v. 7. September 2011, S. 1. 15 Zit. nach Simon Johnson: David Cameron: 'I have bigger mandate than Salmond to rule Scotland', in: The Daily Telegraph v. 14. Mai 2010; http://www.telegraph.co.uk/news/politics/conservative/7725557/David-Cameron-I-have-bigger-mandate-than-Salmond-to-rule-Scotland. html [Stand: 22.09.2011]. 16 Zit. nach The Scottish Government: First Minister Speech to Parliament – May 18, 2011; http://www.scotland.gov.uk/News/Speeches/ FMre-election [Stand: 22.09.2011]. Einsichten und Perspektiven 3 | 11 165
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Was für Deutsche nach normalen Forderungen klingen ten mehr als 70 Prozent der Beschäftigten in der britischen mag, ist in Großbritannien „highly explosive“ Spreng- Fischereiwirtschaft, also müsse Schottland das UK bei den stoff. Laut Scotland Act von 1999 – das Gesetz regelt Fischereidiskussionen der EU vertreten und nicht die UK- die Eröffnung des Scottish Parliament, die Einrichtung Regierung. Anmerkung: Wenn Deutschland von Überfi- einer schottischen Regierung und dergleichen – fallen schung der Nordsee redet, bringt das schottische Minister diese Forderungen eindeutig in den Aufgabenbereich und die schottische Regierung auf die Palme, die um ihre der britischen Regierung in London. Alex Salmond ist Fisch- wie Wahlvolkpfründe fürchten. zu einem entscheidenden politischen Angriff auf Lon- Die aktuelle Europa- und Euro-Krisendiskussion don übergegangen. auf dem Kontinent bringt die schottische Regierung in die Bredouille. Die schottische Europaabgeordnete Catherine Als Erstes forderte er, dass in Zukunft das höchste britische Stihler, Scottish Labour Party, hat die Edinburgher SNP- Gericht (in London!) keine Befugnis mehr haben sollte, Regierung aufgefordert, endlich ihre Zukunftsvisionen vor- über höchste schottische Rechtsprechung zu urteilen. zulegen. Schottland wie England (und Wales) haben eigene, eigen- ständige und international anerkannte Rechtssysteme. So Würde nämlich Schottland aus dem UK aus- und in die fand der Lockerbie-Prozess (der Absturz des Pan-Am- EU (wieder) eintreten, wäre sie mit der Forderung nach Flugs 103 am 21. 12. 1988 über dem schottischen Grenzort einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung für die EU Lockerbie) gegen die libyschen Täter nach schottischem konfrontiert. Das, so die britische MEP, bedeute aber Recht, mit schottischen Richtern, unter Bewachung durch für Schottland die Aufgabe der wirtschaftlichen Selbst- schottische Polizei und damit in alleiniger Verantwortung bestimmung. der schottischen Regierung auf dem (neutralen) und von den USA und dem UK akzeptierten niederländischen Ex- Zudem, so Ms. Stihler, müsse sich Regierungschef Salmond US-Flughafen Camp Zeist statt. Vor diesem Hintergrund nun langsam auch zum Euro äußern. Da bislang Scottish fordert Schottlands First Minister jetzt auch den direkten Government und SNP-Führung dem Euro keineswegs ab- Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschen- lehnend gegenüberstehen, hätte die Eurokrise Auswirkun- rechte in Straßburg, der zum Europarat gehört. Ihm gehö- gen auf ein zukünftig eventuell unabhängiges Schottland. ren 47 eigenständige Mitgliedsländer an, darunter Deutsch- Zudem sei es an der Zeit, so die MEP weiter, auch zu erklä- land, die Schweiz, Russland und das Gründungsmitglied ren, wie denn die zukünftige Zusammenarbeit mit dem United Kingdom. Das UK wird im November 2011 die Pfund-Land England beziehungsweise dem Pfund-Rest- Ministerratspräsidentschaft der Straßburger Menschen- UK aussehen solle, ginge Schottland in den Euro.17 rechtsinstitution übernehmen. Jedes dieser 47 Länder stellt Am 1. September 2011 schlug Linda Urquhart, die beim Gerichtshof einen Richter. Salmonds Forderung soll Chefin des einflussreichen schottischen Wirtschaftsver- wohl bedeuten: In Zukunft soll ein schottischer Richter bandes CBI Scotland, bei dessen Jahresessen in die gleiche neben einem englischen Richter sitzen und „im großen Kerbe. Sie fand deutliche Worte in Richtung First Minister Europa“ richten. Bevor dieser Traum wahr wird, müsste Alex Salmond: Schottland vorher die volle Unabhängigkeit haben. „ […] Die schottische Regierung ist entschlossen, Auch auf EU-Ebene ist die schottische Regierung in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode eine Volks- plötzlich sehr aktiv geworden. Minister des Scottish Go- abstimmung zu Schottlands Unabhängigkeit durchzufüh- vernment reisen vermehrt nach Brüssel und Straßburg. Das ren. Das ist ihr ein Anliegen, aber für unsere Mitglieder exis- in Brüssel angesiedelte Scotland House, Schottlands EU- tiert in diesem Zusammenhang die Angst, dass die Auswir- Aushängeschild, vertritt seit Jahren schottische Politik. In kungen und Unsicherheit über den Zeitpunkt der Abstim- der Vergangenheit wurde dies von der britischen Regierung mung Schottland Schaden zufügen könnten. Das alles ist mehr oder weniger wohlwollend betrachtet. Seit die SNP in nicht gerade hilfreich. Ich denke, dass unsere Mitglieder bei Schottland das Sagen hat, ist das EU-Auftreten der Schotten dieser Zeitvorstellung einer Abstimmung dann auch ein ein- allerdings sehr viel selbstbewusster geworden. Die schotti- deutiges Ergebnis erwarten. Die Frage muss eindeutig „Un- sche Regierung hat beispielsweise durchgesetzt, dass bei abhängigkeit – ja oder nein“ lauten und nicht noch mit zu- Verhandlungen um EU-Fischereirechte in der Nordsee sätzlichen Fragen belastet werden. Auch muss klar sein, dass Schottlands Fischerei-Minister Richard Lochhead maßgeb- die Volksabstimmung rechtlich einwandfrei ist. Immerhin lich das UK vertritt. Die Begründung: In Schottland arbei- fällt die Verfassung in die Zuständigkeit der Londoner Re- 17 Vgl. Robbie Dinwoodie: Salmond Slammed for Europe Secrecy, in: The Herald, Scotland Edition v. 18. August 2011, http://www.heralds- cotland.com/news/politics/salmond-slammed-for-europe-secrecy-1.1118301 [Stand: 22.09.2011]. 166 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Alex Salmond und Nicola Sturgeon, seine Stellvertrete- rin in der SNP und in der Regierung. Foto: Udo Seiwert-Fauti gierung. Die schottische wie die Regierung des Vereinigten giges Schottland auch wirklich EU-Mitglied sein wird. Königreichs müssen zusammenarbeiten, um für rechtliche Wenn Schottland sich vom Vereinigten Königreich abspal- Gewissheit und ein eindeutiges Ergebnis zu sorgen […].“18 tet, würde der dann noch existierende Rest des UK als der Auch in der Leserbriefspalte der schottischen derzeitige EU-Mitgliedsstaat weiter bestehen, während ein Sonntagszeitung Scotland on Sunday sind der Euro und die unabhängiges Schottland die EU-Mitgliedschaft erst bean- Steuern ein Thema. Am 28. August schrieb Dr. Aileen tragen müsste.“20 McLeod, SNP-Mitglied und Abgeordneter im schottischen In den Diskussionen um Schottlands wirtschaftli- Parlament: che Zukunft geht es um viele grundlegende und bislang von „[…] Solange nicht die Länder der Eurozone die der Politik in Edinburgh tatsächlich noch nicht beantwor- Anhebung und Senkung der Unternehmenssteuern zur Be- tete Fragen: dingung für die andauernde Unterstützung dieser Länder (Griechenland, Portugal, Spanien, Anm. d. Verf.) machen, • Wird Schottland als kleines Land in der großen EU und gibt es nichts, was Deutschland oder Frankreich in dieser vielleicht sogar im Euro überleben? Angelegenheit tun können. Nach den EU-Verträgen liegt • Kommt Schottland überhaupt in die EU hinein, wenn die Zuständigkeit für direkte Steuern alleine bei den Mit- die Region Schottland aus dem EU-Mitglied Großbri- gliedsstaaten […].“19 tannien austritt und dann selbständig in der EU sein Gleich darunter meldete sich der konservative will? Geht das überhaupt – denn Schottland wäre euro- schottische Europaparlamentarier Struan Stevenson aus paweit wirklich ein Präzedenzfall? Brüssel zu Wort: • Wie liefe der Handel zukünftig ab, wenn Schottland den „Erstens: Ein unabhängiges Schottland würde ein Euro hätte und das Rest-UK das Pfund? neuer EU-Mitgliedsstaat sein und alle neuen Mitgliedsstaa- • Gibt es zukünftig gar wieder Grenzkontrollen zwischen ten müssen dem Euro beitreten. Dazu gäbe es keine Alter- England und Schottland – denn das UK ist nicht im native. Zweitens: Es gibt keine Garantie, dass ein unabhän- Schengen-Abkommen?21 18 Confederation of British Industry: Chairman’s Opening Remarks and Speech to CBI Scotland’s 2011 Annual Dinner, 1. September 2011; http://www.cbi.org.uk/pdf/chairman-scotland-annual-dinner-speech.pdf [Stand: 22.09.2011]. 19 Aileen McLeod u. Struan Stevenson: Debate, in: Scotland on Sunday v. 28. August 2011, S. 18. 20 Ebd. 21 Vgl. Matt Chorley u. Brian Brady: England Versus Scotland: A Cross-border Dispute, in: The Independent v. 3. Juli 2011; http://www. independent.co.uk/news/uk/politics/england-versus-scotland-a-crossborder-dispute-2306012.html [Stand: 22.09.2011]. Einsichten und Perspektiven 3 | 11 167
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Straßenszenerie in Edinburgh Foto: Udo Seiwert-Fauti Zwei weitere heikle Themenbereiche hat Schottlands Re- verhandelt Schottlands Regierung zur Zeit über die Neuge- gierungschef in seiner Antrittsrede angesprochen: Corpo- staltung der sogenannten Scotland Bill.22 ration tax und Broadcasting (Unternehmenssteuern und Mit diesem Gesetz sollen alle Schottland und das Medien). Beide Bereiche gehören bislang eindeutig in den UK betreffenden Regeln und Verfahrensweisen sowie die Verantwortungsbereich der britischen Regierung in Lon- Zusammenarbeit zwischen UK- und schottischer Regie- don. Noch! Mit dem überzeugenden Wahlsieg im Rücken rung neu geregelt und aktualisiert werden. Bis zum Jahres- 22 S. Parliament of the United Kingdom: Scotland Bill 2010–11; http://services.parliament.uk/bills/2010-11/scotland.html [Stand: 22.09.2011]. 168 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Ein schottisches Regiment Foto: Udo Seiwert-Fauti ende 2011 hoffen beide Seiten auf den „Royal Assent“, die Corporation Tax ist der eine, Broadcasting der andere Be- Zustimmung von H.M. Queen Elisabeth II. zum Gesetz. reich, den das Scottish Government in Edinburgh zukünf- tig ohne Einfluss und Mitwirkung der britischen Regierung Die Lesungen im UK-Parlament liegen hinter dem Ge- in London bestimmen möchte. Mit Broadcasting ist der setzentwurf, jetzt diskutieren die Mitglieder des House gesamte Bereich der elektronischen und digitalen Medien of Lords die letzte Version der Scotland Bill. Der schotti- gemeint. schen Regierung geht es vor allem darum, noch mehr Paul Henderson-Scott unterstützt dieses Vorhaben: Entscheidungsbefugnisse aus London nach Edinburgh „Ich habe bereits die nachteiligen Aspekte für unser zu holen. Selbstbewusstsein aufgezeigt, die durch einen von London kontrollierten Rundfunk entstehen und durch einen Lehr- Der Scotland Act von 1999 und die damit verbundene De- plan in vielen Schulen, der unsere eigene Geschichte und volution machen das möglich. Die Erhebung von Unter- Literatur weitgehend ignoriert und sein Bestes tut, das Scots nehmenssteuern wäre für das eigene schottische Budget auszulöschen. Der Rundfunk ist hierbei wahrscheinlich natürlich ein willkommener Machtzuwachs. Schottlands schädlicher. Er stellt einen lebenslangen Einfluss dar und für Etat – 2010/11: rund 29 Mrd. Pfund/33 Mrd. Euro – wird die meisten Menschen wohl einen großen. Es gibt durchaus alljährlich von der britischen Regierung aus deren UK- gute Programme, aber die große Mehrheit ignoriert Schott- Haushaltsmitteln zur Verfügung gestellt. Auch das ist ein land und unsere Erfahrungen und Vorstellungen [...]. Ein schottisch-englischer Dauerstreit. Die Einnahmen aus dem leitender Mitarbeiter der BBC sagte, dass dies der Klebstoff „schottischen Öl“, so die Schotten, spülten der britischen sei, der die Union zusammenhalte. Vor sicherlich diesem Regierung alljährlich weit mehr Geld in den britischen Etat Hintergrund hat Labour den Gesetzentwurf für die Ein- als Schottland von England bekomme, während viele Eng- richtung des Scottish Parliament gestaltet, der dieses Parla- länder immer weniger einsehen wollen, warum sie den ment zwar für schottische Kulturpolitik verantwortlich „unabhängigkeitssüchtigen Schotten“ „ihr Geld“ zur Ver- macht, aber es bei der Kontrolle des Rundfunks außen vor- fügung stellen sollen.23 lässt. Ausgerechnet dieses sicherlich stärkste Mittel kultu- 23 Vgl. The Scottish Government: Finance; http://www.scotland.gov.uk/Topics/Government/Finance [Stand: 22.09.2011]. Einsichten und Perspektiven 3 | 11 169
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit Symbolcharakter: Eröffnung des für 47,4 Millionen Pfund neu renovierten National Museum of Scotland Foto: Udo Seiwert-Fauti rellen Ausdrucks bleibt strikt in den Händen des West- tion BBC in Zukunft über Scottish news und current affairs, minster-Parlaments.“24 also über das schottische Leben? Obwohl sich die BBC Scotland in Glasgow seit gut Henderson-Scott spricht vielen Schotten durchaus aus drei Jahren vermehrt bemüht, schottische TV-Filme, schot- dem Herzen. Immer wieder berichten englische/briti- tische Hörspiele, auf Schottland zielende Sendungen sowie sche Radio- wie TV-KollegInnen nachweislich etwa bislang in England produzierte Nachrichtensendungen vom „britischen Gesundheitswesen NHS“, vom „briti- nach Glasgow zu holen beziehungsweise dort zu produzie- schen Schulsystem“. Beide gibt es so seit Einführung ren, steht sie zunehmend in der Kritik. der Devolution 1999 nicht mehr. England und Schott- land haben ihre eigenen Systeme und Verantwortlich- Aktuell zieht die im UK sehr beliebte und bekannte keiten. Sendung „Question Time“ von London nach Glasgow um. BBC-Star und Sendungsmoderator David Dimb- Schotten empfinden zudem die Berichterstattung in briti- leby weigert sich nach wie vor, diesem Ruf zu folgen. schen Zeitungen wie elektronischen Medien immer mehr als Die Sendung gehöre nach London und nicht nach Glas- zu london- und englandlastig. Ein selbstbewusstes Schott- gow, ist seine sehr englische Überzeugung. land mit all seinen Facetten und internationalen Beziehun- gen kommt da relativ selten vor. Auch der immer wieder ge- Viele BBC-Sendungen, darunter die „Aushängeschil- hörte Hinweis, dass die schottischen Ausgaben der engli- der“„Newsnight“ oder „Panorama“, werden von engli- schen Zeitungen, wie beispielsweise Scottish Sun oder Scot- schen BBC-Redaktionen gestaltet und ignorieren regelmä- tish Daily Mail, nahezu täglich anders aussehen als ihre eng- ßig, dass für England und Wales zutreffende Entwicklungen lischen Originale, klingt in den Ohren der Schotten nicht und Skandale in Schottland eben keine sind beziehungswei- mehr überzeugend. Zuletzt wurde beim August-Festival of se sein müssen! Politics während der „Reporting Independence“-Diskus- Vor diesem Hintergrund hat die schottische Re- sion im Scottish Parliament die „mediale Dauerfrage“ ge- gierung 2008 die Scottish Broadcasting Commission SBC stellt: Wie berichtet die BRITISH Broadcasting Corpora- eingesetzt. Ihr Vorsitzender Blair Jenkins, der ehemalige 24 Paul Henderson-Scott: Independence is the Answer, in: Scott (wie Anm. 5), S. 13–42, hier S. 37. 170 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit kanals, der nach der Neufestsetzung der Rundfunkgebühr aus dieser finanziert werden soll. Dieser muss auch die vielfältigen und innovativen Möglichkeiten des Internets nutzen können und sollte durch das OFCOM (der briti- schen Medienanstalt für unter anderem den Kommerz- funkbereich, d. Verf.) kontrolliert werden.“25 Schottland, so stellt die SBC damit fest, brauche gerade in der Zeit der Umstellung von analogem auf digitales Fern- sehen die Entwicklung ganz neuer Rahmenbedingungen, um den Zukunftsanforderungen in diesem Sektor gerecht zu werden. Das könne nur ein neu zu schaffendes Scottish Network, also ein neu zu schaffendes Rundfunk- und TV- System gewährleisten. Daher müsse baldmöglichst ein digi- taler öffentlich-rechtlicher TV-Kanal installiert werden, der selbstverständlich seine umfangreichen und innovativen Dienstleistungen und Angebote auch im Internet anbieten müsse. Finanziert werden solle das durch die für ganz Großbritannien zur Beschlussfassung anstehenden neuen Rundfunkgebührenbestimmungen. Damit nicht genug. Der SBC-Bericht stellt zudem sehr eindeutig fest, dass alle Rundfunk- und TV-Anbieter in Großbritannien umgehend damit beginnen sollten, endlich ihre Programmangebote auf die veränderte politische Lage im UK umzustellen. Sehr oft wird gerade in den politischen Rundfunk- und TV-Pro- grammen so getan, als habe es die Devolution 1999 über- haupt nicht gegeben. Soll heißen: Wenn in der Berichter- stattung so getan würde, als würde eine politische Ent- scheidung in London für ganz Großbritannien gelten, stel- le sich sehr oft bei genauer Betrachtung heraus, dass sie eben nur für England und Wales und nicht für Schottland gelte. Um das in Zukunft besser zu gewährleisten, müsse das Das Leuchtfeuer der Zukunft, übrigens baute die Familie von schottische Parlament in Edinburgh eine aktive Rolle gera- Autor Robert Louis Stevenson alle Lighthouses rund um Scot- de dann spielen, wenn es um die schottische Rundfunk- und land, so auch dieses Leuchtfeuer. Foto: Udo Seiwert-Fauti Fernseh,,landschaft“ geht. Im Edinburgher Parlament solle zukünftig all das diskutiert werden, was den Bereich BBC Scotland Head of News and Curr Affairs, präsentier- Broadcasting in Schottland anginge! te im September 2008 einen grundlegenden Report zu Diese Forderungen schlugen im britischen Rund- Schottlands zukünftigem digitalen Radio- und TV-Sektor. funk- und Medienbereich ein wie eine Bombe. Sie stellen all In diesem Bericht schlug die SBC unter anderem das in Frage, was bislang zum Beispiel zum weltweiten vor, dass ein eigener schottischer und digitaler TV-Kanal Erfolg der BBC beigetragen hat. Was aber weltweit ein einen großen Beitrag zu einer zukünftigen Schottland-Be- Erfolg und Vorbild ist, ist nach Meinung vieler Schotten richterstattung leisten könnte: längst überholungsbedürftig. Die SBC fordert daher den „Da wir feststellen, dass Schottland gerade in der Sender klar und deutlich auf, endlich seine Grundregeln für Zeit der Umstellung von analogem auf digitalem Fernsehen die Nationen, also auch für Schottland, zu ändern: neuen Herausforderungen gegenübersteht und neue Ideen „Die Kommission schlägt vor, dass der BBC- dringend braucht, empfiehlt der Bericht der Kommission: Rundfunkrat verstärkt darauf achten möge, dass eine besse- • die Bildung eines neuen schottischen Rundfunkwesens, re Informationsberichterstattung über die Regionen und das heißt eines digitalen öffentlich-rechtlichen Fernseh- ihre Institutionen stattfindet. Dies erfordert für Schottland 25 Scottish Broadcasting Commission: Commission Outlines Wealth of Opportunity for Broadcasting in Scotland, 8. September 2008; http://www.scottishbroadcastingcommission.gov.uk/news/finalreportnews.html [Stand: 22.09.2011]. Einsichten und Perspektiven 3 | 11 171
Wenn zwei Kreuze sich kreuzen ... Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit neue Angebote, die sich an den Wünschen und Anfor- szene eine sehr große Rolle. An diesem Bereich lässt sich derungen der Seher und Hörer in Schottland orientieren. erkennen, wie schnell die britische Region und Nation Eine Möglichkeit wären umfassende Nachrichten- und Schottland selbstbewusst das politische Heft in die Hand Informationsangebote aus Schottland, die Schottland-, UK- nimmt und handelt. Innerhalb von nur drei Jahren steht der und internationale Nachrichten und Informationen berück- Bereich Digitale Medien in Schottland vor einem komplet- sichtigen und beinhalten.“26 ten Umbruch. Ohne die Eröffnung des Scottish Parliament Die Unzufriedenheit mit dem bestehenden und 1999 und den erdrutschartigen Wahlsieg der SNP im Mai täglich seh- und hörbaren Sendezustand in Schottland ist 2011 wäre dies so kaum möglich gewesen. stetig gewachsen. Dies lässt sich auch an der Europa- und EU-Berichterstattung der BBC ablesen. Berichte aus dem Schottland und Deutschland EU-Parlament bedienen oft die mehr britisch-englische (Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden- Seher- und Hörerschaft und vergessen, dass Devolution zu- Württemberg ...): Bier und Windräder mindest in Schottland ganz andere Seh- und Hörerwartun- gen mit sich gebracht hat. Eine Frage: Gibt es noch Deutsche, die nicht in Schottland Was 2008 noch als SBC-Empfehlung an die Politik waren? Offensichtlich, so meine Erfahrung, verbringen für Furore sorgte, wurde 2011 Wirklichkeit. Am 16. Juni Deutsche im Sommer ihre Ferien im Süden und reisen im 2011 verschickte Fiona Hyslop, Schottlands Minister für Frühjahr oder Herbst in den Norden, gemeint ist Schott- Kultur und Medien, nach einer Debatte zum Thema Broad- land. 300.000 sind es jedes Jahr. casting im schottischen Parlament eine Pressemitteilung: „[...] Ms. Hyslop hat vorgeschlagen, dass das schot- Deutschland ist Schottlands größter europäischer tische Parlament: Tourismusmarkt, weltweit ist es die Nr. 2. Viele zehn- • in der Lage sein müsse, das öffentlich-rechtliche Scottish tausend Deutsche wohnen und leben meist schon sehr Digital Network einzurichten, das sich auf Schottland lange in Schottland. Schottland ist für sie Heimat. Man bezieht und das allen Sehern in Schottland zugänglich sein kann tatsächlich Bayer und Schotte sein. müsse; • konsultiert werden müsse, wenn es um die Rundfunk- Die einen haben Bier und Lederhose, die anderen den Kilt, gebühren geht, vor allem, wenn diese Auswirkungen auf den Rock und den Whisky. Berti Vogts war Schottlands Schottland haben; Fußball-Nationaltrainer, Stefan Klos stand von 1998–2007 • die Verantwortung – oder zumindest eine Mitwirkungs- bei den Glasgow Rangers im Tor und auch der Sportdirek- möglichkeit – haben solle, wenn es um die Einrichtung lo- tor des FC Bayern München, Christian Nerlinger, spielte kaler Fernsehanstalten in Schottland geht, die die UK- von 2001–2004 im Rangers-Blau. In Edinburgh gibt es eine Regierung einrichten und zulassen will. Jede dieser neuen deutsche evangelische Kirchengemeinde unter hessischer Stationen könnte Auswirkungen für die Arbeit schotti- Leitung. Der Chef des Edinburgher Powerhouses, des scher Mediengesellschaften haben, zum Beispiel, wenn Edinburgh International Conference Center, ist Deutscher, diese im schottischen Werbemarkt aktiv sind. 100 deutsche Firmen sind derzeit in Schottland aktiv. Seit vielen Jahren gibt es ein deutsches Generalkonsulat in Edin- Die Kultusministerin sprach auch die Möglichkeit an, dass burgh. Das deutsche Interesse an Schottlands Chancen und das Parlament in Holyrood darüber entscheiden könnte, Zukunft steigt und nimmt deutlich zu. Das Land Nord- welche Sportveranstaltungen als „Kronjuwelen“ auf der rhein-Westfalen hat seit 2003 einen Kooperations-Staats- Liste derjenigen Sportevents auftauchen, die live und free- vertrag.28 to-air, also kostenlos, im TV gezeigt werden müssten. Das …doch… was ist das alles gegen die Aktivitäten des würde auch die Qualifikationsspiele der schottischen (Män- Freistaates Bayern! Seit Jahrzehnten besteht ein reger Be- ner-) Fußballnationalmannschaft für die WM und die EM amtenaustausch zwischen der Bayerischen Staatskanzlei beinhalten […]“27 und dem FM-Office Edinburgh. Schottische Städte und Or- In den laufenden Neuverhandlungen der Scotland te haben bayerische Partnerstädte! Edinburgh ist mit Mün- Bill spielt die Neuausrichtung der schottischen Medien- chen und Glasgow mit Nürnberg verschwistert. Unweit der 26 Ebd. 27 Zit. nach The Scottish Government: Broadcasting Debate, 16. Juni 2011; http://www.scotland.gov.uk/News/Releases/2011/06/16152002 [Stand: 22.09.2011]. 28 The Scottish Government: Cooperation Between North Rhine Westphalia and the Scottish Executive, 20. Februar 2003; http://www. scotland.gov.uk/Resource/Doc/1071/0009159.pdf [Stand: 22.09.2011]. 172 Einsichten und Perspektiven 3 | 11
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