Elektronische post - Dr. med. Ulrich Paschen
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IQ Institut für Qualität-Systeme in Medizin und Wissenschaft GmbH, Hamburg elektronische post Beiträge zur Guten Praxis in Medizin und Wissenschaft Sendung 4 Hamburg, den 02. August 2001 Dr. med. Ulrich Paschen Stabsstelle Medizinische Qualitätssicherung Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Menschliches Versagen? Bemerkungen zum Umgang mit unerwünschten Ereignissen Komplikationen mit bleibenden kör- Einleitung perlichen Schäden oder gar Tod erlei- Welchen Anteil hat menschliches Ver- den, auf 0,15 % schätzen - mit Unter- sagen an Fehlern, die ein Arzt bei der schieden in den medizinischen Fä- Behandlung macht? Schon die Frage chern und Behandlungszentren. Da- klingt nach Ausrede: beruht medizini- von soll die Hälfte bei genauerem Hin- sche Behandlung doch wie keine an- sehen durchaus vermeidbar gewesen dere Tätigkeit auf ganz persönlichem sein. Das rechne man sich bitte einmal Können und Verantwortungsbewusst- hoch: Eine Universitätsklinik mit sein. Laien und Öffentlichkeit, aber 50.000 Behandlungsfällen pro Jahr auch die lieben ärztlichen Kollegen, lebt mit den Risiko, sich ca. 75 mal im können sich bei bedauerlichen Unfäl- Jahr fragen lassen zu müssen, ob alles len kaum eine andere Ursache denken, mit rechten Dingen zugegangen ist. als mangelndes Können oder gar un- Wenn wieder eine Horror-Story durch ethisches Verhalten. Die bange Frage, die Presse geht, scheucht das jeden ob sich so etwas wiederholen könne, Arzt und jedes Krankenhaus auf. Wir wird mit der Suche nach dem Schuldi- wissen, das hätte auch uns passieren gen und seiner Ächtung und Bestra- können. fung beantwortet. Fehler in der Medi- zin sind ein Problem von Ärzten, die Mit Fehlern umgehen unfähig, unmoralisch und arrogant Das Problem beim Umgang mit Feh- sind. lern ist, dass sie sofort zu persönlicher Die empörten Kritiker machen sich das Schuld werden. Sie werden als Haf- wahre Ausmaß gar nicht klar. So etwas tungsfall oder gar Strafsache behan- dürfe einfach nicht passieren, heißt es. delt. Wo über Fehler offen diskutiert Von wegen: Nicht erst seit gestern (1;2) werden müsste, raten Rechtsanwälte weiß man um die Risiken, die unsere und Versicherer zum Schweigen. Wo Mediziner täglich eingehen. Über den Fehler die berufliche Laufbahn zerstö- Daumen gepeilt muss man den Anteil ren können, hält man sich selbst hinter derer, die im Krankenhaus schwere geschlossenen Türen einer Kompli-
Menschliches Versagen? Seite 2 kationskonferenz bedeckt. Haftung des Starchirurgen oder „international und Strafe sind noch das wenigste. Sie anerkannten Spezialisten“ verklärt ereilen den Täter erst nach sorgfältiger wird. Je mehr hoch-technologische Untersuchung. Die Presse macht sich Verfahren angewandt werden, um so diese Mühe nicht. Mit einer Über- kooperativer wird Medizin. Man kann schrift wird ein mutiger, aber vom das beklagen, doch man muss sich dem Glück verlassener Arzt zum ehrlosen Problem stellen. Die Forschung hat Delinquenten. sich in der Medizin schon längst mit Uns fehlt eine Strategie zum klügeren dem Faktor „Mensch“ bei der Fehler- Umgang mit unseren Fehlern. Wohl je- entstehung intensiv beschäftigt. Man der Arzt wird mindestens einmal in sei- weiß um die Bedeutung der Verhal- ner Berufslaufbahn davon eingeholt. tensweisen eines OP-Teams (3), des Notorische Wiederholung (wie sie zur Führungsstil der Chirurgen (4), der absichtlich begangenen Untat gehört) Auswirkungen neuer Technologien auf spielt praktisch keine Rolle. Wir müs- die Leistungsfähigkeit (5), der Organi- sen nicht schlechten Ärzten in den Arm sation von Intensivstationen (6) oder fallen, weil sie ihre Patienten quälen, der Auswahl von Arzneimitteln (7). sondern die guten Ärzte davor schüt- Das Institute of Medicine hat die Er- zen, ihre Patienten zu verletzen. kenntnisse vor zwei Jahren in einem Bericht an den amerikanischen Kon- Fehler sind immer unerwünschte Er- gress zusammengefasst (2). Die er- eignisse - keiner hat sie gewollt. Und schreckende Häufung von Todesfällen doch sind sie passiert. Die medizini- in der Kinderherzchirurgie am Kran- schen Qualitätssicherer haben sich frü- kenhaus Bristol hat im Vereinigten Kö- her mit den kleinen statistischen Un- nigreich eine umfassende Untersu- terschieden herumgeplagt. In den letz- chung veranlasst, wie das Versagen ten zehn Jahren haben sie aber von ih- Einzelner und die Verantwortung der ren Kollegen in anderen Branchen eine Leitung zusammenhängen (8). Die Er- neue Sichtweise gelernt. Dort weiß eignisse in Bristol haben dem Land ei- man längst, dass bei Fehlern andere nen Stoß versetzt, sich mit den Defizi- Ursachen als menschliches Versagen ten in der Gesundheitsversorgung neu, eine nicht unerhebliche Rolle spielen also offener auseinander zu setzen. können. Die Frage nach der persönli- chen Schuld hat, so die Überzeugung, Medizin ist - nicht nur in der Kinder- den Umgang mit unerwünschten Er- herzchirurgie - immer ein gefährliches eignissen behindert, statt zu ihrer Ver- Unterfangen. Wir werden noch lange meidung beizutragen. Spektakuläre weit weg sein von einer Nullfehler-Me- Ereignisse geben willkommenen An- dizin. Illusionslos sollten wir zugeben, lass, von Konzepten zu lernen, die an- dass wir ihn niemals erreichen werden. derswo entwickelt wurden und Überle- Damit werden wir aber nur leben kön- gungen anzustellen, ob und wie sie nen, wenn wir Fehler immer zum An- auch in der Medizin genutzt werden lass einer sorgfältigen Überprüfung können. der Ursachen nehmen, nicht als schicksalhaftes Unglück verharmlo- Wie entstehen Fehler? sen. So nüchtern haben sich jedenfalls die Ingenieure dem Fehler-Problem Medizin ist längst nicht mehr nur die genähert. Leistung Einzelner, die zum Mythos
Menschliches Versagen? Seite 3 Aus dem Buch „Human Error“ des bri- Patienten zugeschrieben werden, die tischen Psychologen James Reason (9, Schwere ihrer Erkrankung oder Be- 10) kann man ein Konzept der Ursa- gleitleiden, die für statistische Auswer- chenforschung lernen, das auch uns tungen oft viel zu geringe Anzahl und weiterhelfen wird. Reason unterschei- die ungleichen Dokumentationsweisen det zwischen aktivem Versagen und la- lösen mehr Diskussionen zur Verteidi- tenten Gefahren. Aktives Versagen ent- gung aus als aktive Eingriffe in den Ab- steht bei denen, die in einem System lauf. Am schwersten wiegt jedoch, dass die Leistung erbringen - Piloten, eine die Daten viel zu spät ausgewertet wer- Schiffsbesatzung, Kontrollpersonal o- den. Die Fehler werden erst erkennbar, der eben Chirurgen in einem OP. La- wenn sie in Serie aufgetreten sind. tente Gefahren drohen aus fehlerhaf- Wieder folgen nur Schuldzuweisung ten Entscheidungen der Leitung, unzu- und Bloßstellung persönlichen Versa- reichender Ausstattung, überarbeite- gens. tem Personal, zeitlichem Druck, Kom- Fehler sollen selten bleiben, so selten, munikationsfehlern und dem Einsatz dass sie sich der Wahrnehmung durch wenig robuster Verfahren. die Statistik entziehen. Wir dürfen das Latente Gefahren decken die Schwä- Unglück nicht so oft zuschlagen lassen, chen einer Organisation auf. Nichts da- bis wir endlich eine statistisch signifi- von ist allein oder direkt für ein Unfall- kante Datenlage haben. ereignis ursächlich. Die Mängel erhö- hen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Jeder Fehler ein Schatz unerwünschtes Ereignis eintritt. Ein In hoch-technologischen Industrie- Zug entgleist, weil mehrfach Sicherun- zweigen wie Nuklearanlagen, Luft- gen den Zugführer passieren ließen. fahrt, Chemiewerken und bei der Ei- Organisationslücken kommen plötz- senbahn stützt man sich auf Einzelfall- lich in Deckung. Ein einziger kleiner berichte. Jedem Fehler wird nachge- Fehler schlüpft durch und führt zur gangen, auch dann, wenn er keine Katastrophe. ernsthaften Konsequenzen hatte. So- Glücklicherweise passiert das selten. gar nach bloß denkbaren Fehlermög- Gerade bei seltenen Vorkommnissen lichkeiten gräbt man wie nach einem spielt der Zufall mit. Nur bei großen Schatz. Jede Idee kann wertvoll sein. Stückzahlen wie in der industriellen Jeder Beinahunfall ist so ernst wie der Fertigung stößt man mit der Statistik Unfall selbst. Nach einem Flugzeugab- auf Fehlerursachen. Deswegen hat die sturz schwärmt eine unabhängige statistische Qualitätskontrolle in den Kommission aus, die nicht den Haf- kleinen Ereignisräumen des Kranken- tungs- oder Schuldfragen nachgeht, hauses auch keine tiefen Einsichten ge- sondern nach den Lehren fragt, die für bracht. Es schien so einfach, mit den alle ähnlich gelagerten Fälle zu ziehen Daten der externen Qualitätssicherung sind. schlechte Qualität aufspüren zu kön- Auch in der Medizin ist dieses Vorge- nen und durch Beratung die Abweich- hen nicht völlig neu. Bei der Zulassung ler zurück auf den Pfad der Tugend zu eines Arzneimittels sind unsere Kennt- führen. Das Instrument ist einfach nisse über die Sicherheit des Arznei- nicht sensitiv genug. Weitere Nachteile mittels eher spärlich. Die Zahl der kon- nähren den Zweifel an seiner Wirk- trolliert untersuchten Behandlungs- samkeit: die Unterschiede, die den
Menschliches Versagen? Seite 4 fälle ist viel zu klein, dass seltene Ne- funktioniert, ist es nicht robust genug, benwirkungen vorgekommen sind o- es ist nicht alltagstauglich. Es wird der aufgefallen wären. Man erwartet nicht lange dauern, bis irgendetwas vom pharmazeutischen Unternehmer, schiefgeht. ab Markteinführung alle schwerwie- Fehler folgen einer eigenen Gesetzmä- genden unerwünschten Ereignisse bei ßigkeit, die erforscht werden kann. Die der Anwendung dem Amt zur Kenntnis Methode dafür ist die Fallanalyse. Die zu geben und ihnen nachzugehen. Be- Bedingungen des unerwünschten Er- richte über Nebenwirkungen werden eignisses können im Gedankenexperi- weltweit gesammelt und ausgewertet ment herausgearbeitet und auf Wie- (drug surveillance). Die Ärzte sind zur derholwahrscheinlichkeit geprüft wer- Meldung verpflichtet, ohne mit einer den. So findet man Fehlermöglichkei- Schere im Kopf die wegzuschneiden, ten, die ausgeschaltet werden können, bei denen ihnen das Arzneimittel als bevor sie überhaupt aufgetreten sind. Ursache „unwahrscheinlich“ erscheint Statt immer neue Risikostatistiken – alle seltenen Ursachen sind unwahr- aufzustellen, sollten wir uns lieber mit scheinlich. dem Instrument der Analyse der Feh- Bei der Anwendung von Medizinpro- lermöglichkeiten und -einflüsse dukten ist eine Meldung von Vor- (FMEA) beschäftigen. Fehler sollen ja kommnissen und Beinahevorkomm- verhindert, nicht nur gezählt werden. nissen an das Bundesinstitut für Arz- Die Qualitätssicherer ordnen die Feh- neimittel und Medizinprodukte gesetz- ler in Kategorien ein: Fehler, die durch lich vorgeschrieben. Dasselbe gilt für technisches Versagen (Mängel in der den Umgang mit Blut, biologischen Ar- Ausstattung, Versagen von Gerät oder beitsstoffen und einigem mehr. Die Software, Konstruktionsfehler), Orga- Frage nach einem ursächlichen Zu- nisationsversagen (fehlende Einwei- sammenhang wird bei der Meldung be- sung, unzureichende Ablauforganisa- wusst zurückgestellt. Sie zu beantwor- tion, Mängel im Materialfluss, Störun- ten, bleibt einer unvoreingenommenen gen in Kommunikation und Koopera- Prüfung überlassen. Jedes Ereignis, tion) und eben durch menschliches das so nicht beabsichtigt war, also un- Versagen entstehen - wo ein Mensch erwünscht eingetreten ist, soll regis- eine Aufgabe hatte, der er nicht ge- triert und nachgeprüft werden. wachsen war. Auch das ist dann ein Sollten wir in der medizinischen Be- Versagen des Systems Krankenhaus. handlung nicht auch die Chancen nut- Langsam dämmert den Krankenhaus- zen, die sich durch solchen Umgang leitungen, wie weit ihre Verantwort- mit unerwünschten Ereignissen eröff- lichkeit inzwischen reicht: bis hoch nen? Man wird so auf Unfallsequenzen hinauf zu den Abteilungsdirektoren. aufmerksam, an die vorher keiner ge- Die Leitung wird dafür in die Pflicht dacht hat. Man deckt Schwächen in ei- genommen, wie ein Chefarzt seine ner Konstruktion oder einer Prozedur Strahlentherapie konfiguriert oder ob auf, die lange durch glückliche Bedin- er den Anforderungen seiner Tätigkeit gungen kompensiert wurden. Schwä- gesundheitlich gewachsen ist. chen können immer auch beim Men- schen liegen - gerade damit muss der Konstrukteur rechnen. Wenn ein Ver- fahren nur in der Hand des Erfinders
Menschliches Versagen? Seite 5 Sicherheitskonzept von den disziplinarischen Konsequen- zen zu trennen, werden sie offen be- Ein Sicherheitskonzept, das sich auf sprochen. Weitgehend erfüllt sind Einzelfallberichterstattung stützt, diese Bedingungen bei der Erörterung kann funktionieren, weil zwar vieles auf einer abteilungsinternen Kompli- schief gehen kann, die Möglichkeiten kationskonferenz. Die Türen sind zu. aber nicht unendlich sind. Man widmet Wer Dinge hinausträgt, verliert zu sich einfach den häufigsten Ereignis- Recht das Vertrauen der Kollegen. sen. Sind diese beseitigt, werden an- Wir brauchen wohl auch die Möglich- dere Fehler die häufigsten sein. Ir- keit, anonym an eine loyale, aber unab- gendwann werden selbst die häufigs- hängige Stelle zu berichten. Die Quali- ten nur noch sehr selten auftreten - tätssicherungsgruppe ist so eine Stelle. ganz los wird man sie aber nie. So eine Dort können Fehlerberichte systema- schlichte Logik hat den Reiz des tisch gesammelt und nach Lehren schnellen Erfolges. Wenn man den er- durchforstet werden, die für alle gel- zielt hat, darf man über die Kosten der ten. Speziell trainierte Analysten kön- Vermeidung nachdenken und Wahr- nen die Szenarien entwerfen, die einer scheinlichkeiten abwägen. Wer sich Wiederholung entgegengestellt wer- dafür interessiert, beschaffe sich die den müssen. Sie können offen an die Literatur, die sich anschließt an die Leitung berichten, ohne dass die am bahnbrechende Studie eines Ingeni- Ereignis Beteiligten Schaden nehmen. eurs, der schon 1978 den Anästhesisten Das ganze Krankenhaus kann so aus ei- im Massachusetts General Hospital bei nem Fehler lernen, statt sich auf die ihrem gefährlichen Tun auf die Finger Suche nach dem Schuldigen zu bege- geschaut hat (11). Solche wissenschaft- ben. lich-technischen Analysen haben die Anästhesie so sicher gemacht - nicht Das National Health System will noch moralische Empörungen der Presse o- einen Schritt weiter gehen und die Feh- der Drohungen der Juristen. lermeldungen in einer zentralen Ein- richtung sammeln (12). Warten wir ab, Das Sicherheitskonzept der Einzelfall- was daraus wird. In Deutschland ist an berichterstattung kann aber nur funk- eine solche Behörde ohnehin nicht zu tionieren, wenn wir eine Kultur des denken, da wir kein einheitliches Ge- Umganges mit unerwünschten Ereig- sundheitswesen mehr haben wollen. nissen entwickeln, die sich deutlich Bei uns sind die Verantwortlichkeiten von der heute üblichen unterscheidet. anders gelagert. Möglicherweise wird Wir können nur dann mit Bereitschaft sich das eher positiv auswirken. Trotz- zu Berichten über Vorkommnisse oder dem wird man sich über die anonymen Beinahvorkommnisse rechnen, wenn Berichte austauschen. An Schreckens- Offenheit und Ehrlichkeit den Bericht- meldungen mangelt es uns ja nicht. erstatter nicht schädigen. Wer über Wir brauchen das Bekenntnis, dass wir seine Fehler sprechen will, muss sicher bisher nur verschont geblieben sind, sein, dass seine Darlegung vertraulich weil wir Glück hatten. behandelt wird, unvoreingenommen und unabhängig, also objektiv bewer- Fehlerkultur tet wird und nicht als Munition im Gra- benkampf um Reputation und Stellung Neu an der Fehlerkultur muss auch dient. Erst wenn es uns gelingt, Fehler sein, Schäden nicht sofort als
Menschliches Versagen? Seite 6 krankheitsbedingte oder technisch un- Arzneimittelwirkungen, Vergiftungen vermeidbare Komplikationen zu inter- und Vorkommnisse bei der Gerätean- pretieren, sie also abzuwehren, statt wendung gehören ohnehin dazu. sich ihrer anzunehmen. „Wir haben auf Statt die Berichterstattung auf nicht so Nebenwirkungen und Risiken hinge- ernste Ereignisse auszudehnen, sollten wiesen...“ lautet die häufigste Ent- wir besser die Beinah-Unfälle einbezie- schuldigung. Ärzte aber sind keine hen – auch ein Teil der neuen Fehler- Handwerker, die sich Abbedingungs- kultur: Nicht nur der Schaden zählt als verträge unterschreiben lassen. Wir Fehler, sondern alles ist ein Fehler, was haften immer - nicht für den Erfolg, zu einem Schaden hätte führen kön- aber für die ordnungsgemäße Durch- nen. führung. Was schicksalhaft und was Die Berichte lassen sich nur mit Erfolg ein Fehler war, müssen wir der sorgfäl- auswerten, wenn wir sie ähnlich struk- tigen Prüfung überlassen. Zunächst turieren wie die Berichte über Arznei- einmal ist alles, was nicht so gelaufen mittel oder Medizinprodukte. Ein mi- ist wie geplant, ein „unerwünschtes Er- nimaler Datensatz muss ausreichen, eignis“. Niemand will Komplikationen, um zu entscheiden, ob weitere Nach- auch wenn wir immer mit ihnen rech- forschungen nötig sind oder nicht. nen müssen. Jede infizierte Totalen- Mehr muss der Bericht nicht hergeben. doprothese ist ein unerwünschtes Er- eignis, dem nachzugehen ist. Keiner Bearbeitung operiert ja mit dem Ziel, eine statis- tisch festgestellte Infektionsrate einzu- von Meldungen halten. Man erkennt, wie hinderlich Die Bearbeitung der Meldungen setzt die Schuldfrage schon bei der Wahr- sich aus der Analyse der Fehlerbedin- nehmung von Fehlern sein kann. gungen und der Umsetzung der Um die unabhängige interne Qualitäts- Schlussfolgerungen zusammen. Auch sicherungseinheit nicht mit einem das sollte man nicht der spontanen Haufen von Berichten zuzuschütten, Selbstregelung überlassen. Wir brau- muss die Berichterstattung auf die chen medizinische Fehleranalysten, schwerwiegenden unerwünschten Er- die strukturiert vorgehen. Wie eine sol- eignisse beschränkt werden. Nur Fälle, che Struktur aussehen kann, muss er- die zu ernsten Konsequenzen führen forscht werden, kann aber in groben können, sollen berichtet werden. Zwei- Zügen nicht anders aussehen als bei fellos gehören dazu der unerwartete weit komplexeren Systemen wie Flug- Herz- und Atemstillstand, der Narko- zeugen oder technischen Großanlagen. sezwischenfall, der Exitus in Tabula, Zur Analyse braucht man möglicher- die profuse Blutung mit notfallmäßiger weise eher Unvoreingenommenheit, Transfusion, die ungeplante Rückkehr Abstand, Fähigkeit zur loyalen Kritik in den OP, die Rückkehr zur extrakor- und eine kognitive Intelligenz als lang- poralen Zirkulation in der Herzchirur- jährige Erfahrung oder umfassendes gie, unerwarteter plötzlicher Tod unter Wissen. Ersteres muss der Praktiker der Behandlung, insbesondere bei nicht haben, das zweite finden wir Pneumonie, tiefer Venenthrombose reichlich bei ihm. Dort kann man es ab- mit Lungenembolie und jede fehlge- holen. schlagene Wiederbelebung. Transfusi- Die Techniker halten die häufigste onszwischenfälle, unerwünschte Schadensursache - den Menschen - aus
Menschliches Versagen? Seite 7 ihren Konstruktionen so weit wie mög- Hälfte sind sie ganz normale Men- lich heraus. Das brauchen wir in der schen. Medizin gar nicht erst zu versuchen. Wenn das aber nicht möglich ist, müs- Literatur sen wir uns auf unerwünschte Ereig- (1) Leape LI, Brennan TA, Laird NM, nisse besser vorbereiten. Wann traten Lawthers AG, Localio AR, Barmnes (rückblickend) die ersten bedrohlichen BA et al. The nature of adverse events Zeichen auf? An welcher Stelle hätte in hospitalized patients. Results of the die Situation noch beherrscht werden Harvard medical practice study II New können? Wenn man die Häufigkeit be- Engl J Med 1991; 324:377-384 drohlicher Situationen nicht mehr ab- (2) Institute of Medicine. To err is human: senken kann, lassen sich doch fast im- building a safer health system, Wash- ington DC, National Academy Press mer die Maßnahmen verbessern, mit 2000 denen wir sie bewältigen. Waren die (3) Schaefer HG, Helmreich RL, nötigen Gegenmaßnahmen bekannt? Scheidegger D. Safety in the operating Wie wurden sie umgesetzt? Wo eine theatre - Part 1: interpersonal relation- Komplikation den Operateur zwingt, ships and team performance. Curr vom normalen Ablauf abzuweichen, Anesth Crit Care 1995;6:48-53 kommt seine Erfahrung zum Tragen: (4) Helmreich RL, Merritt AC. Culture at der Erfahrene weiß sich zu helfen, der work in aviation and medicine. Na- Unerfahrene läuft sehenden Auges in tional, organisational and professional influences. Aldershot, UK: Ashgate die Katastrophe. Wir müssen helfen, Publishing Ltd, 1998 nicht erst aus Schaden klug zu werden. (5) Cook RI, Woods DD. Adapting to new Das scheint mir eine Aufgabe der Lei- technology in the operating room. tung zu sein, die sie mit einem ausge- Hum Factors 1996;38:593-613. klügelten System der Einzelfallbericht- (6) Zimmerman JE, Shortell SM, erstattung erfüllen kann. Rousseau DM, et al. Improving inten- Dafür muss die Leitung eine „no blame sive care: observations based on or- culture“ einführen (13, 14) und Ver- ganizational case studies in nine inten- sive care units: A prospective, multi- ständnis dafür entwickeln, dass Fehler centre Study. Crit Care Med meistens durch den Ablauf und die or- 1993;21:1443-1451 ganisatorischen Bedingungen verur- (7) Anderson BJ, Ellis JE. Common errors sacht werden, die menschlichem Ver- in drug administration in infants. sagen erst Raum geben. Damit verbun- Causes and avoidance. Paediatr Drugs den ist das Eingeständnis, für viel 1999;1:93-107 mehr verantwortlich zu sein als bisher (8) Secretary of State for Health Learning angenommen. Man wehrt sich vergeb- from Bristol. Report of the public in- lich gegen diese Last. Sie wird eher grö- quiry into children´s heart surgery at the Bristol Royal Infirmary 1984- ßer werden, wenn wir nur klagen, statt 1995, presented to Parliament by the neue Lösungswege zu einzuschlagen. Secretary of State for Health by Com- Denn Fehler werden Menschen auch in mand of Her Majesty July 2001 Zukunft machen, wir müssen nur ver- www.bristol-inquiry.org.uk/ hindern, dass daraus schwerwiegende (9) Reason JT. Human error. Cambridge, unerwünschte Ereignisse werden. Statt United Kingdom: Cambridge Univer- nach Schuldigen zu suchen, sollten wir sity Press, 1990 unsere Abläufe sicherer machen. Ärzte sind nur Halbgötter - zur anderen
Menschliches Versagen? Seite 8 (10)Reason JT. Managing the risks of or- reporting systems: lessons from the ganizational accidents. Aldershot, UK: NASA Aviation Safety Reporting Sys- Ashgate Publishing Ltd, 1997 tem (ASRS), Arch Pathol Med (11)Cooper, Jeffrey Preventable Anesthe- 1998;122:214-5 sia Mishaps: A Study of Human Fac- (14)Carthey J, de Leval MR, Reason JT. tors The human factor in cardiac surgery: (12)Massachusetts General Hospital, errors and near misses in a high tech- 1978Department of Health. A com- nology medical domain, Ann Thorac mitment to Quality, a Quest for Ex- Surg 2001;72:300-305 cellence im Juli 2001www.doh.gov.uk/whatsnew/in- Zuerst vorgelegt Wissenschaftsausschuß der dex.html Hamburger Bürgerschaft Juli 2001 (13)Billings CE. Some hopes, and con- Publiziert in: Hamburger Ärzteblatt 9/2002 cerns, regarding medical event Nachdruck © U. Paschen 2021 Nachdruck unter Quellenangabe und Abgabe eines Belegexemplars erlaubt. elektronische post gibt´s unregelmäßig von Dr. U. Paschen QM-Beratung in Medizin und Wissenschaft Dorfstr. 38 24857 Fahrdorf Telefon. 04621 4216208 Mobile 0177 2125058 E-Mail upaschen@web.de Verantwortlich: Dr. med. Ulrich Paschen
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