Zukunft der Arbeit im Zeitalter von KI - DGUV forum
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
DGUV Forum 10/2021 Schwerpunkt Künstliche Intelligenz Zukunft der Arbeit im Zeitalter von KI Key Facts Autorin • „Web 2.0“, „Internet of Things“, „Big Data“ und künstliche Intelligenz sind Prof. Dr. Doris Aschenbrenner gängige, aber unscharf definierte „Buzzwords“, die verschiedene Strömun- gen oder Aspekte der Digitalisierung beschreiben • Die Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitsleben im Kontext von künst- licher Intelligenz sind nicht isoliert zu betrachten, sondern in den Prozess des digitalen Wandels eingebettet • Arbeit muss als soziotechnisches System verstanden und technologische Neuerungen müssen in diesem Kontext untersucht und für diesen Kontext entwickelt werden Die Gesellschaft verändert sich, das betrifft auch die Arbeitswelt. Bei den Diskussionen über diese Prozesse fallen häufig Schlagworte wie digitaler Wandel, vierte industrielle Revolution, künstliche Intelligenz. Was genau steckt hinter diesen Begriffen, wo kommt es zu Überlage- rungseffekten und wie wirken sich die Entwicklungen auf unser Verhalten im Arbeitsleben aus? B ereits seit mehreren Jahren sind wir nicht dadurch statt, dass es neue Werk- analogen in eine digitale Speicherung be- als Gesellschaft mittendrin im so- zeuge gibt, sondern dadurch, dass wir – zeichnete, wird von „digitalem Wandel“ genannten „digitalen Wandel“ und oder die Gesellschaft insgesamt – auf Basis oder eben auch „Digitalisierung“ im so- jeder und jede Einzelne ist in zunehmen- dieser neuen Werkzeuge neue Verhaltens- zioökonomischen Sinn gesprochen, wenn dem Maße sowohl im Privat- als auch im muster entwickeln.[1] Zur Gestaltung die- die gesellschaftliche Adaption neuer Tech- Berufsleben auf die Kommunikation mit ser Verhaltensmuster sind insbesondere nologien und damit einhergehende Ver- digitaler Technologie angewiesen. Es wird alle gesellschaftlichen Akteurinnen und änderungen thematisiert werden.[3] Eine (insbesondere für den Bereich der Produk- A kteure aufgerufen. Vielzahl von Begriffen wird verwendet, um tionsarbeit) auch von einer vierten indus- verschiedene Strömungen oder Aspekte triellen Revolution (Industrie 4.0) gespro- Kontext digitaler Wandel und der Digitalisierung zu beschreiben, wie chen. Die globale COVID-19-Pandemie hat industrielle Revolution zum Beispiel das „Web 2.0“ (Schlagwort für den Prozess der Digitalisierung nochmals eine Reihe interaktiver und kollaborativer beschleunigt. Die notwendige gesellschaft- Im Rahmen des Fachdialogs „Mensch- Elemente des Internets), das „Internet of liche Diskussion über dieses Phänomen Technik-Interaktion – Arbeiten mit KI“ Things“ (Sammelbegriff für Technologien, und der Einfluss auf das Arbeitsleben ha- des Observatoriums Künstliche Intelligenz die es ermöglichen, physische und virtuel- ben nun eine weitere Welle erfahren, die in Arbeit und Gesellschaft (KI-Observato- le Objekte miteinander zu vernetzen), „Big unter dem Thema „künstliche Intelligenz rium) des Bundesministeriums für Arbeit Data“ (Datenmengen, die beispielsweise (KI)“ steht. Da sich hier verschiedene Effek- und Soziales (BMAS)[2] wurde viele Male zu groß, zu komplex, zu schnelllebig oder te überlagern und insbesondere in der me- eine Überlappung verschiedener Begriffe zu schwach strukturiert sind, um sie mit dialen Debatte die Begrifflichkeiten sogar und Vorstellungen identifiziert. Um die be- manuellen und herkömmlichen Methoden teilweise synonym verwendet werden, soll sonderen Auswirkungen von künstlicher der Datenverarbeitung auszuwerten) oder dieser Artikel einen Überblick geben und Intelligenz zu verstehen, muss zunächst eben jetzt auch künstliche Intelligenz (zur eine Einordnung ermöglichen. Neben dem der Kontext der Veränderung der Arbeits- Definition siehe nächster Abschnitt). Diese „Hype“ und aller Diskussion über techno- welt skizziert werden. Begriffe haben mehrere Gemeinsamkeiten: logische Unterschiede sollte allerdings im Sie bezeichnen eine große Gruppe einzel- Vordergrund stehen, was wir auch aus dem Während der Begriff Digitalisierung ur- ner Technologien, sie sind hinreichend un- privaten Umgang mit neuen Technologien sprünglich im technischen Sinne die scharf definiert und sie werden mittlerwei- wissen: Eine wirkliche „Revolution“ findet Überführung von Informationen von einer le als Marketingbegriffe verwendet (was 18
DGUV Forum 10/2021 Schwerpunkt Künstliche Intelligenz Eine wirkliche ‚Revolution‘ findet nicht dadurch statt, dass es neue Werkzeuge gibt, sondern dadurch, dass wir – oder die Gesellschaft insgesamt – auf Basis dieser neuen Werk- zeuge neue Verhaltensmuster entwickeln.“ weiter zur Unschärfe beiträgt). Verstärkt logischen Innovationspfade beschreiben, schiedliche Definitionen von „Intelligenz“ durch apokalyptische Warnungen selbst sondern komplexe, widersprüchliche und zusammen, um deutlich zu machen, dass ernannter Technikphilosophen[4] wird ein umkämpfte Entwicklungsschritte, in denen eine klare Definition „künstlicher Intelli- „Buzzword“ kreiert, das suggeriert, dass sich vielfältige wirtschaftliche und gesell- genz“ nahezu unmöglich ist. Besonders jeder Mensch, beziehungsweise insbeson- schaftliche Herausforderungen stellen“[7]. deutlich wirken sich hier die unterschied- dere jedes Unternehmen, Produkte dieses Auch die weiteren Veränderungen in Ge- lichen Ausrichtungen und Arbeitsweisen Labels unbedingt benötige und gleichzei- sellschaft und Arbeitsleben im Kontext von einzelner Fachbereiche aus. Auch die KI- tig, dass man diese – ähnlich wie beispiels- künstlicher Intelligenz sind nicht isoliert zu Strategie der Bundesregierung[9] verweist weise eine Buchhaltungssoftware – einfach betrachten, sondern in diesen Prozess des auf diesen Umstand und unterscheidet – im Paket einkaufen könne. Obwohl es sich digitalen Wandels oder der „industriellen sehr allgemein – zwischen „starker“ und vielfach um tiefgreifende Umgestaltungs- Revolution“ eingebettet. „schwacher“ KI, die „menschenähnliche prozesse handelt, steht in der öffentlichen oder höhere Intelligenz“ beziehungsweise Diskussion fälschlicherweise die Technolo- Künstliche Intelligenz ist alle anderen „niedrigeren“ Anwendungs- gie im Vordergrund und nicht der Prozess. unscharf definiert formen maschinellen Lernens bezeichnen. Die Bundesregierung sowie die Enquete- Ein weiterer prägender Begriff ist die „In- Wie bereits erwähnt, fällt der Fachwelt eine Kommission zur Künstlichen Intelligenz[10] dustrie 4.0“[5] als Bezeichnung der Auswir- eindeutige Definition sehr schwer. Zum stellen zugleich fest, dass die „starke“ KI kungen von Innovationen der Informati- Beispiel stellen Legg und Hutter[8] unter- aktuell nicht erreicht werden kann (und onstechnik im Kontext der industriellen Produktion. Dieser Gedanke einer „vierten Quelle: Bramer, 2007 industriellen Revolution“ wird mittlerweile auch international verwendet. Anstatt sich lediglich auf den Bereich der Produktion zu beziehen, wird beispielsweise auch der ge- nerelle Wandel der Arbeitswelt unter dem Einfluss der Digitalisierung zunehmend mit „Arbeit 4.0“ bezeichnet.[6] Gesellschaftliche Umbrüche, die durch technologische Neu- erungen ausgelöst wurden, gab es in der Geschichte zuhauf. Während die Durch- nummerierung der „industriellen Revolu- tionen“ bis zur aktuellen „vierten“ industri- ellen Revolution den fälschlichen Eindruck eines diskreten Stufenmodells hervorruft, ist es vielmehr so, dass sie „bei Weitem keine linearen technischen bzw. techno- Abbildung 1: Data-Mining-Schema nach Bramer[12] 19
DGUV Forum 10/2021 Schwerpunkt Künstliche Intelligenz Auch die weiteren Veränderungen in Gesellschaft und Arbeits- leben im Kontext von künstlicher Intelligenz sind nicht isoliert zu betrachten, sondern in diesen Prozess des digitalen Wandels oder der ‚industriellen Revolution‘ eingebettet.“ möglicherweise nie erreicht werden wird), nis von KI-Anwendungen hilft es, dieses an das Computerprogramm verliehen wer- sodass sich Förder- und Regelungsmaß- Schema als Blaupause zu verwenden, um den, das als erstes einen erweiterten Tu- nahmen auf die Anwendungen „schwa- sich über die verschiedenen Teile des Sys- ring-Test besteht – allerdings konnte bis- cher“ KI beschränken. Beispielsweise wird tems einen Überblick zu verschaffen. her kein Computerprogramm die nötigen der gesamte Bereich der Robotik als Teil Voraussetzungen erfüllen. von Implementierungen „schwacher“ KI Für einen intuitiveren Zugang zur Leis- beschrieben. tungsfähigkeit von Systemen künstlicher Wer ist besser – Mensch oder KI? Intelligenz sind das Selbstausprobieren Als Synthese dieser Abgrenzungen wird und dabei insbesondere das Erfahren der Die Überlegung des Turing-Tests führen meist mit „künstlicher Intelligenz“ der Ver- Grenzen der Leistungsfähigkeit der Algo- uns zu einer grundlegenden Frage: Wo such bezeichnet, bestimmte menschliche rithmen hilfreicher als abstrakte Definitio- ist die künstliche Intelligenz „besser“ als Verhaltens- oder Entscheidungsstrukturen nen. Daher ist es dringend zu empfehlen, der Mensch? Ein Grund, warum KI-Anwen- nachzubauen, sodass ein Computerpro- das umfangreiche Informationsmaterial dungen aktuell so intensiv diskutiert wer- gramm eigenständig Probleme bearbei- rund um dieses Thema selbst zu erkun- den, ist die Befürchtung, dass durch wei- ten kann. In Abbildung 1 wird dazu eine den. Als Start der Entdeckungsreise bietet tergehende Automatisierung menschliche Schemazeichnung dargestellt. Zunächst sich beispielsweise der vom Bundesminis- Arbeit ersetzt werden könnte. Zur grund- werden verschiedene Datenquellen in terium für Bildung und Forschung (BMBF) legenden Einordnung „Wer ist besser?“ einen gemeinsamen Datenspeicher inte- geförderte KI-Campus[13] an. Interaktive Bei- gibt es wiederum bereits eine lange an- griert. Nach einer Vorverarbeitung findet spiele gibt es ebenfalls eine große Menge, dauernde wissenschaftliche Diskussion. das eigentliche „Data Mining“[11] statt, in hier empfiehlt sich der Start bei Google[14] Insbesondere im Bereich der Flugassistenz- dem Muster in den Daten erkannt wer- und insbesondere mit der Anwendung systeme stellte sich nämlich eine ähnliche den – beispielsweise die Zuordnung von QuickDraw[15], die Handskizzen erkennt. Frage wie die, die wir aktuell im Kontext Datensätzen oder Teilen von Datensätzen Gerade bei „Chatbots“, also Program- des Einsatzes von künstlicher Intelligenz zu vorher feststehenden Übergruppen men, die eine automatisierte schriftliche für Produktionssteuerung oder weiteren (Klassifizierung). Mit dieser recht einfa- Kommunikation ermöglichen, realisieren anderen Anwendungen am Arbeitsplatz chen Abbildung lässt sich die Mehrzahl Nutzende sehr schnell, dass sie nicht mit diskutieren. 1950 wurde von Fitts die Par- von „KI“-Anwendungen beschreiben: Bei einem „echten Menschen“ reden. Diese Er- titionierung „Humans are better at/Machi- der Smartphone-Navigation beispielsweise fahrung entspricht dem bereits 1950 be- nes are better at“ (HABA MABA)[16] vorge- sind die Datenquellen die verschiedenen schriebenen „Turing-Test“: Hier wird in ei- stellt, in der grundlegend überlegt wurde, anderen App-Nutzenden, durch deren Ge- nem Experiment eine Chatkommunikation dass Maschinen beispielsweise schneller schwindigkeit auf manchen Autobahnen hergestellt. Wenn ein echter Mensch nicht auf Kontrollsignale reagieren können als man ableiten kann, dass es zu Verzöge- mehr unterscheiden kann, ob er mit einer Menschen und insbesondere bei sich wie- rungen oder Staus kommt. Aber auch On- Maschine oder mit einem Menschen Nach- derholenden Aufgaben effektiv eingesetzt line-Shopping-Empfehlungen („Kunden, richten hin- und herschickt, wird postu- werden können. Menschen seien dagegen die dieses Produkt kauften, interessierten liert, dass der Computer ein dem Menschen besser im Improvisieren, bei flexiblen An- sich auch für dieses Produkt“) lassen sich gleichwertiges Denkvermögen hat. Der seit wendungen und könnten (im Gegensatz zu in dieses Schema bringen. Zum Verständ- 1951 ausgeschriebene Loebner-Preis soll Maschinen, die deduktiv schließen) induk- 20
DGUV Forum 10/2021 Schwerpunkt Künstliche Intelligenz Für einen intuitiveren Zugang zur Leistungsfähigkeit von Sys- temen künstlicher Intelligenz sind das Selbstausprobieren und dabei insbesondere das Erfahren der Grenzen der Leistungsfähig- keit der Algorithmen hilfreicher als abstrakte Definitionen.“ tiv Schlüsse ziehen. Diese Sichtweise wur- Auswirkungen von KI auf die und sorgt für Zukunftsangst. Auf einer In- de lange kritisch diskutiert, ergänzt und Arbeit der Menschen ternetseite mit dem provokanten Titel „Will beispielsweise 2003 durch das Modell der robots take my job?“[22] kann man nach- Autonomiestufen[17] ersetzt, in dem es nicht Es gibt zahlreiche Einsatzszenarien für schlagen, ob der eigene Job demnächst von darum geht, wer (Mensch oder Maschine) Algorithmen und künstliche Intelligenz der künstlichen Intelligenz übernommen was macht, sondern wer was wann macht: im beruflichen Alltag. Im Versuch eines wird. Diese Seite basiert auf den sehr ein- Anstatt eine starre Aufgabenteilung zwi- kleinen Überblicks über das Themenfeld flussreichen Betrachtungen von Frey und schen Automatisierung und Mensch zu seien hier einige Themen angerissen. Osborne[23], die auch in den deutschen finden, kann das Maß der Kontrolle des Medien Widerhall gefunden haben. Die- Menschen während eines Prozesses immer Kleine Helfer se Sichtweise hat zahlreiche Kritiker und mal wieder zu- und abnehmen. Auch heute Computerprogramme sind Bestandteil Kritikerinnen – so bezieht sich das Mo- diskutieren wir beispielsweise im Kontext der meisten Arbeitsplätze und einige die- dell auf den amerikanischen Markt und von Industrie 4.0 Autonomiestufen[18] für ser Programme arbeiten aktuell bereits dabei bei näherer Betrachtung lediglich künstliche Intelligenz. Die Frage „Wer ist mit Methoden des maschinellen Lernens. auf die „Wahrscheinlichkeit der Verände- besser?“ lässt sich nämlich nur in Trivial- Insbesondere im Bereich der Texterken- rung“ durch Digitalisierung, die aber nicht fällen einfach beantworten. Natürlich ist nung und Bildverarbeitung gibt es schon notwendigerweise mit einer Ersetzung von ein Roboter schneller und stärker als ein seit Langem Hilfsmittel, die mittlerweile menschlicher Arbeit durch Roboter bezie- Mensch, und ein Computerprogramm hat auch täglich eingesetzt werden, wie bei- hungsweise künstliche Intelligenz ein- bereits 1997 den amtierenden Schachwelt- spielsweise OCR (Optical Character Recog- hergeht. Die Internetseite zusammen mit meister geschlagen. Aber bei Gesichtser- nition) zur Überführung von gescannten der Studie zeigen erneut, dass die Debat- kennung ist die Maschine vielleicht besser Dokumenten in bearbeitbaren Text oder te nicht zwischen den Auswirkungen des als ein Mensch,[19] aber noch nicht gut ge- Diktiersysteme, die menschliche Sprache digitalen Wandels und jenen der künstli- nug, um bei Gefährder-Erkennung nicht zu in Text überführen. Auch Chatbots für die chen Intelligenz trennen kann. Eine sehr viele Falschmeldungen zu produzieren[20]. Abwicklung von Servicedienstleistungen gute Relativierung und einen Überblick Beim Autofahren würde ein autonomes und Verträgen werden immer stärker als über diese verschiedenen Zukunftssze- Auto zwar weniger Verkehrsunfälle pro- Hilfsmittel eingesetzt. Diese „kleinen Hel- narien präsentieren Ittermann und Nie- duzieren, aber die Gesellschaft akzeptiert fer“ sind die Mehrzahl der KI-Programme haus[24]: Neben der bereits vorgestellten menschliches Versagen eher als maschinel- und ersetzen zwar auch menschliche Ar- dystopischen Zukunftsvision zeigen sie les Versagen[21]. Insbesondere für komple- beitskraft, werden aber in der gesellschaft- die Literatur zu weiteren möglichen Zu- xere Antworten oder Prozesse läuft es an lichen Diskussion kaum als Bedrohung kunftsszenarien auf, die aktuell diskutiert vielen Orten nicht auf eine Abwägung von wahrgenommen. werden. So gilt es vor allem das positive „Mensch oder Computer“, sondern auf eine Szenario zu erwähnen, das beispielsweise intelligente Kombination von menschlicher Beschäftigungseffekte in der Betrachtung der Boston Consulting Arbeitskraft mit Computerunterstützung Die Sichtweise „Roboter nehmen uns die Group[25] aufgespannt wird. Hier wird be- hinaus (ähnlich sieht mittlerweile auch Arbeit weg“ als Dystopie wurde nicht zu- tont, dass sich Arbeit durchaus wandeln die Praxis im Bereich der Flugassistenz- letzt aufgrund von Hollywood-Literatur wird, aber dass dies eben nicht zwangs- systeme aus). fest in Köpfen von Beschäftigten verankert weise zu einem Beschäftigungsrückgang 21
DGUV Forum 10/2021 Schwerpunkt Künstliche Intelligenz Arbeit muss als soziotechnisches System verstanden werden und technologische Neuerungen müssen in diesem Kontext untersucht und für diesen Kontext ent- wickelt werden.“ führt. Eine weitere Studie vom Zentrum für ihrer Arbeitstätigkeiten beschützt werden. diskutiert werden. Speziell in Bezug auf Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Dies muss auch im Kontext der weiteren künstliche Intelligenz wird zunehmend nimmt sogar einen Zuwachs von 560.000 technologischen Entwicklung gesehen auch eine „AI Literacy“ gefordert, also Stellen an.[26] werden – wenn beispielsweise ein Algo- das Entwickeln der grundsätzlichen Fä- rithmus die Tätigkeiten der Arbeitnehme- higkeit, die Leistungsfähigkeit von KI-Sys- Datenschutz bezüglich der Plattformen rinnen und Arbeitnehmer aufzeichnet, so temen einzuschätzen und zu bewerten. Sobald Technik Daten über Arbeitsprozesse kann gegebenenfalls mithilfe von maschi- Ein spezieller Aspekt der Bedienbarkeit und Menschen sammelt, muss der Tech- nellem Lernen eine weitere Automatisie- sei nochmals besonders hervorgehoben, nikanbieter vertrauenswürdig sein, da zu- rung (zum Beispiel bei Sachbearbeitungs- nämlich die Kontrollierbarkeit des techni- mindest theoretisch bei unverschlüsseltem vorgängen) angestrebt werden. Nicht nur schen Systems durch die Nutzenden und Datentransfer alle übertragenen Daten von der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin das Gefühl, das System auch kontrollieren der Plattform eingesehen werden können. schaut einem dann über die Schulter, son- zu können (Human Supervisory Control). Aber selbst wenn der eigentliche Inhalt ver- dern auch der Algorithmus. Gerade wenn Entscheidungsprozesse oder schlüsselt wird, lassen sich durch die soge- Teile davon durch die künstliche Intelli- nannten Metadaten (also zum Beispiel wer Bedienbarkeit genz erfolgen, muss der Mensch in der hat wie lange mit wem geschrieben) wert- Die im Rahmen des Digitaltages durch- Lage sein, diese Entscheidungsprozesse volle Informationen gewinnen. Im priva- geführte Studie von Bitkom Research[27] nachzuvollziehen (Explainable AI). ten Bereich ist diese Diskussion durch die stellt fest, dass auch über die Altersgrup- kritische Diskussion um Messengerdienste pen hinweg Digitalisierung ein fester Teil Bias im Datensatz wie WhatsApp bereits gesamtgesellschaft- des Alltags der 1.005 Befragten ist. Da- 70 bis 80 Prozent der deutschen Unter- lich angekommen. Natürlich gelten für be- bei sind die Älteren (65 Jahre und älter) nehmen nutzen laut einer Befragung des rufliche Kommunikation genau dieselben skeptischer als Jüngere. Weiterhin stellt Institute for Competitive Recruiting soge- Bedenken und es muss auch berücksichtigt die Studie fest, dass der Umgang mit tech- nannte Bewerbermanagementsysteme, werden, dass vermeintlich „private“ Mes- nischen Geräten nicht allen leichtfällt und bei denen ein Algorithmus Bewerbungen sengerdienste zunehmend im beruflichen die fehlende Nutzerorientierung als das gegen die Jobkriterien abgleicht. Das zu- Kontext eingesetzt werden. größte Hemmnis wahrgenommen wird. gespitzte Problem: Wenn der Algorithmus Das muss einerseits von Herstellerseite sich nach existierendem Führungspersonal Arbeitnehmerdatenschutz angegangen werden und bei Forschungs- in deutschen Unternehmen richten wür- Die prinzipielle Möglichkeit des Zugriffs und Entwicklungsprojekten einen (noch) de, würde er für eine neu zu besetzende gilt natürlich nicht nur für die Plattform, größeren Stellenwert erhalten. Gleich- Führungsposition lediglich die Bewerbung sondern auch für den Arbeitgeber und die zeitig muss aber auch der gesamtgesell- von Männern über 45 Jahre ohne Migrati- Arbeitgeberin. Arbeitnehmerinnen und schaftliche Anspruch der Herstellung onshintergrund akzeptieren und alle an- Arbeitnehmer müssen daher in Zeiten des einer „Digital Literacy“ (digitalen Mün- deren ablehnen. Die Diskussion, wie man covidinduzierten Digitalisierungsschubs digkeit, in Deutschland hauptsächlich allerdings Algorithmen zur Identifikation besonders vor möglichen ungewollten Zu- unter dem verkürzten Begriff Medienkom- von derartigen Bias benutzen kann, wird griffen oder Überwachungsmöglichkeiten petenz gefasst) der Gesamtbevölkerung aktuell fortgeführt[28] – schließlich ist das 22
DGUV Forum 10/2021 Schwerpunkt Künstliche Intelligenz Problem nicht der Algorithmus, sondern Wandels allgemein vermischen sich dabei Die Diskussion muss interdisziplinär und der Datensatz, auf dessen Basis die Ent- mit denen der künstlichen Intelligenz, nur mit den verschiedenen Statusgruppen ge- scheidung gelernt wird. wenige Aspekte werden in der medialen führt werden. So gibt es bereits vonseiten Diskussion trennscharf betrachtet. Wie wir der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin- Fazit aktuell in täglichem Arbeitskontext fest- nen[30] als auch vonseiten der Arbeitge- stellen, ist der Zusammenhang zwischen ber und Arbeitgeberinnen[31] erste Hand- Das „alte“ Thema der sozialwissenschaft- der Verbreitung digitaler Technologien und lungsempfehlungen für die Einführung lichen Arbeitsforschung – nämlich die Fra- ihrer sozialen Konsequenzen „keinesfalls von KI-Systemen. Ein interdisziplinärer ge nach dem Verhältnis von Technik und linear und eindeutig festgelegt zu verste- Ansatz wird aktuell vom KI-Observatori- Arbeit – hat bereits im Kontext Industrie hen“[29]. Arbeit muss als soziotechnisches um verfolgt.[32] Ein Ergebnis sind praxis- 4.0 eine Renaissance erfahren und diese System verstanden werden und techno- nahe Handreichungen[33] die die Bedeu- Debatte wird, wie oben dargestellt, durch logische Neuerungen müssen in diesem tung von Co-Designs[34] und partizipativen den Aspekt der künstlichen Intelligenz Kontext untersucht und für diesen Kontext Gestaltungsprozessen[35] in „handfesten“ noch verstärkt. Die Effekte des digitalen entwickelt werden. Ratschlägen formulieren. ← Fußnoten [19] Thales Group: Facial recognition: top 7 trends (tech, vendors, arkets, use cases and latest news), 2021 (abgerufen am 08.08.2021) m [1] Frei übersetzt von: „A revolution doesn’t happen when society [20] Hermes, J.: Gesichtserkennung und Wirrungen des BMI, 2017 adopts new tools. It happens when society adopts new behaviors.“ (abgerufen am 08.08.2021) In: Shirky, C.: Here comes everybody: The power of organizing without [21] Lance, E.: Essential Stats For Justifying And Comparing Self-Driving organizations. Penguin, 2008 Cars To Humans At The Wheel. Forbes Media LLC, 2019 (abgerufen am [2] Denkfabrik BMAS: Impulspapier zum Fachdialog „MTI – Arbeiten 08.08.2021) mit Künstlicher Intelligenz“: „Demokratische Technikgestaltung in der [22] Will robots take my job? (abgerufen am 08.08.2021) digitalen Transformation“, 2021 (abgerufen am 23.08.2021) [23] Frey, C. B., & Osborne, M. A.: The future of employment: How [3] Hess, T.: Digitalisierung. In: Gronau, N.; Becker, J.; Leimeister, J. M.: susceptible are jobs to computerisation? In: Technological forecasting Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik Online-Lexikon, 2015 (abgeru- and social change, 2017, Vol. 114, S. 254–280 fen am 23.08.2021) [24] Ittermann, P., & Niehaus, J.: Industrie 4.0 und Wandel von Indus- [4] Clifford, C.: „Elon Musk: ,Mark my words — A. I. is far more triearbeit – revisited. Forschungsstand und Trendbestimmungen. In: ’“. CNBC, 2018 (abgerufen am 08.08.2021) Digitalisierung industrieller Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft mbH & [5] Perspektivenpapier Forschungsunion. Forschungsunion Co. KG, 2018, S. 33–60 Wirtschaft – Wissenschaft, 2013; Schwab, K.: Die vierte industrielle [25] BCG Group: Report on Man and Machine in Industry 4.0: How Will Revolution. Pantheon Verlag, 2016 Technology Transform the Industrial Workforce Through 2025?, 2015 [6] Bundesministerium für Arbeit und Soziales(BMAS): Weißbuch (abgerufen am 23.08.2021) Arbeiten 4.0. Berlin, 2017 [26] Arntz, M.; Gregory, T.; Zierahn, U.; Lehmer, F. & Matthes, B.: Digita- [7] Ittermann, P., & Niehaus, J.: Industrie 4.0 und Wandel von Indus- lisierung und die Zukunft der Arbeit: Makroökonomische Auswirkungen triearbeit – revisited. Forschungsstand und Trendbestimmungen. In: auf Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Löhne von morgen. ZEW-Gut- Digitalisierung industrieller Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft mbH & achten und Forschungsberichte, 2018 (abgerufen am 23.08.2021) Co. KG, 2018, S. 36 [27] Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung: Digitaltag [8] Legg, S., & Hutter, M.: A collection of definitions of intelligence. 2020: Gemeinsam digitale Teilhabe fördern. Untersuchungsergebnisse Frontiers in Artificial Intelligence and applications, Vol. 157, 2007, S. 17 von Bitkom Research, 2020 (abgerufen am 23.08.2021) [9] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi): Strategie [28] Haeri, M. A.; Zweig, K. A.: The Crucial Role of Sensitive Attributes in Künstliche Intelligenz der Bundesregierung – Fortschreibung 2020 Fair Classification. In: IEEE Symposium Series on Computational Intelli- (abgerufen am 08.01.2021) gence (SSCI), 2020, S. 2993–3002 [10] Enquete-Kommission: Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche [29] Hirsch-Kreinsen, H.; Ittermann, P.; Niehaus, J. (Hrsg.): Digitalisie- Verantwortung und wirtschaftliche, soziale und ökologische Potenziale rung industrieller Arbeit: die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen (abgerufen am 08.08.2021) Herausforderungen. Nomos Verlag, 2018 [11] Bramer, M.: Principles of data mining. London, Springer, 2007 [30] DGB: Künstliche Intelligenz (KI) für Gute Arbeit. Ein Konzeptpapier [12] Bramer, M.: Principles of data mining. London, Springer, 2007 des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Einsatz von Künstlicher [13] KI Campus. Die Lernplattform für Künstliche Intelligenz. https:// Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt, 2020 (abgerufen am 23.08.2021) ki-campus.org, vor allem https://ki-campus.org/videos/wasistki [31] PricewaterhouseCoopers: Künstliche Intelligenz als Innovations (abgerufen am 08.08.2021) beschleuniger im Unternehmen – Zuversicht und Vertrauen in Künst- [14] Experiments with Google. AI Experiments. https://experiments. liche Intelligenz, 2018 withgoogle.com/collection/ai (abgerufen am 08.08.2021) [32] Denkfabrik BMAS: Impulspapier zum Fachdialog „MTI – Arbeiten [15] Google. Kann ein neuronales Netzwerk Zeichnungen erkennen? mit Künstlicher Intelligenz“: „Demokratische Technikgestaltung in der https://quickdraw.withgoogle.com (abgerufen am 08.08.2021) digitalen Transformation“, 2021 (abgerufen am 23.08.2021) [16] Fitts, P. M. (Hrsg.): Human engineering for an effective air-naviga- [33] https://background.tagesspiegel.de/digitalisierung/wir-alle-ko- tion and traffic-control system (HABA-MABA), 1951 ennen-die-zukunft-unserer-arbeit-mit-ki-gestalten [17] Adaptive Automation: Sharing and Trading of Control Toshiyuki [34] Jansen, S.; Pieters, M.: The 7 principles of complete co-creation. Inagaki Chapter 8 of the Handbook of Cognitive Task Design (Erik Holl- Bis Publishers. Amsterdam, 2017 nagel Ed.). LEA, 2003, S. 147–169 [35] Schubotz, D.: Participatory Research: Why and how to involve [18] Technologieszenario „Künstliche Intelligenz in der Industrie 4.0“, people in research. SAGE Publications Limited, 2019 Plattform Industrie 4.0 Working Paper 23
Sie können auch lesen