Zukunft der Arbeit im Zeitalter von KI - DGUV forum

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DGUV Forum 10/2021         Schwerpunkt Künstliche Intelligenz

Zukunft der Arbeit im Zeitalter von KI
Key Facts                                                                                     Autorin

•    „Web 2.0“, „Internet of Things“, „Big Data“ und künstliche Intelligenz sind                Prof. Dr. Doris Aschenbrenner
     gängige, aber unscharf definierte „Buzzwords“, die verschiedene Strömun-
     gen oder Aspekte der Digitalisierung beschreiben
•    Die Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitsleben im Kontext von künst-
     licher Intelligenz sind nicht isoliert zu betrachten, sondern in den Prozess
     des digitalen Wandels eingebettet
•    Arbeit muss als soziotechnisches System verstanden und technologische
     Neuerungen müssen in diesem Kontext untersucht und für diesen Kontext
     entwickelt werden

Die Gesellschaft verändert sich, das betrifft auch die Arbeitswelt. Bei den Diskussionen über
diese Prozesse fallen häufig Schlagworte wie digitaler Wandel, vierte industrielle Revolution,
künstliche Intelligenz. Was genau steckt hinter diesen Begriffen, wo kommt es zu Überlage-
rungseffekten und wie wirken sich die Entwicklungen auf unser Verhalten im Arbeitsleben aus?

B
         ereits seit mehreren Jahren sind wir   nicht dadurch statt, dass es neue Werk-       analogen in eine digitale Speicherung be-
         als Gesellschaft mittendrin im so-     zeuge gibt, sondern dadurch, dass wir –       zeichnete, wird von „digitalem Wandel“
         genannten „digitalen Wandel“ und       oder die Gesellschaft insgesamt – auf Basis   oder eben auch „Digitalisierung“ im so-
jeder und jede Einzelne ist in zunehmen-        dieser neuen Werkzeuge neue Verhaltens-       zioökonomischen Sinn gesprochen, wenn
dem Maße sowohl im Privat- als auch im          muster entwickeln.[1] Zur Gestaltung die-     die gesellschaftliche Adaption neuer Tech-
Berufsleben auf die Kommunikation mit           ser Verhaltensmuster sind insbesondere        nologien und damit einhergehende Ver-
digitaler Technologie angewiesen. Es wird       alle gesellschaftlichen Akteurinnen und       änderungen thematisiert werden.[3] Eine
(insbesondere für den Bereich der Produk-       A
                                                ­ kteure aufgerufen.                          Vielzahl von Begriffen wird verwendet, um
tionsarbeit) auch von einer vierten indus-                                                    verschiedene Strömungen oder Aspekte
triellen Revolution (Industrie 4.0) gespro-     Kontext digitaler Wandel und                  der Digitalisierung zu beschreiben, wie
chen. Die globale COVID-19-Pandemie hat         ­industrielle Revolution                      zum Beispiel das „Web 2.0“ (Schlagwort für
den Prozess der Digitalisierung nochmals                                                      eine Reihe interaktiver und kollaborativer
beschleunigt. Die notwendige gesellschaft-      Im Rahmen des Fachdialogs „Mensch-            Elemente des Internets), das „Internet of
liche Diskussion über dieses Phänomen           Technik-Interaktion – Arbeiten mit KI“        Things“ (Sammelbegriff für Technologien,
und der Einfluss auf das Arbeitsleben ha-       des Observatoriums Künstliche Intelligenz     die es ermöglichen, physische und virtuel-
ben nun eine weitere Welle erfahren, die        in Arbeit und Gesellschaft (KI-Observato-     le Objekte miteinander zu vernetzen), „Big
unter dem Thema „künstliche Intelligenz         rium) des Bundesministeriums für Arbeit       Data“ (Datenmengen, die beispielsweise
(KI)“ steht. Da sich hier verschiedene Effek-   und Soziales (BMAS)[2] wurde viele Male       zu groß, zu komplex, zu schnelllebig oder
te überlagern und insbesondere in der me-       eine Überlappung verschiedener Begriffe       zu schwach strukturiert sind, um sie mit
dialen Debatte die Begrifflichkeiten sogar      und Vorstellungen identifiziert. Um die be-   manuellen und herkömmlichen Methoden
teilweise synonym verwendet werden, soll        sonderen Auswirkungen von künstlicher         der Datenverarbeitung auszuwerten) oder
dieser Artikel einen Überblick geben und        Intelligenz zu verstehen, muss zunächst       eben jetzt auch künstliche Intelligenz (zur
eine Einordnung ermöglichen. Neben dem          der Kontext der Veränderung der Arbeits-      Definition siehe nächster Abschnitt). Diese
„Hype“ und aller Diskussion über techno-        welt skizziert werden.                        Begriffe haben mehrere Gemeinsamkeiten:
logische Unterschiede sollte allerdings im                                                    Sie bezeichnen eine große Gruppe einzel-
Vordergrund stehen, was wir auch aus dem        Während der Begriff Digitalisierung ur-       ner Technologien, sie sind hinreichend un-
privaten Umgang mit neuen Technologien          sprünglich im technischen Sinne die           scharf definiert und sie werden mittlerwei-
wissen: Eine wirkliche „Revolution“ findet      Überführung von Informationen von einer       le als Marketingbegriffe verwendet (was

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         Eine wirkliche ‚Revolution‘ findet nicht dadurch statt, dass
         es neue Werkzeuge gibt, sondern dadurch, dass wir – oder
         die Gesellschaft insgesamt – auf Basis dieser neuen Werk-
         zeuge neue Verhaltensmuster entwickeln.“

weiter zur Unschärfe beiträgt). Verstärkt       logischen Innovationspfade beschreiben,          schiedliche Definitionen von „Intelligenz“
durch apokalyptische Warnungen selbst           sondern komplexe, widersprüchliche und           zusammen, um deutlich zu machen, dass
ernannter Technikphilosophen[4] wird ein        umkämpfte Entwicklungsschritte, in denen         eine klare Definition „künstlicher Intelli-
„Buzzword“ kreiert, das suggeriert, dass        sich vielfältige wirtschaftliche und gesell-     genz“ nahezu unmöglich ist. Besonders
jeder Mensch, beziehungsweise insbeson-         schaftliche Herausforderungen stellen“[7].       deutlich wirken sich hier die unterschied-
dere jedes Unternehmen, Produkte dieses         Auch die weiteren Veränderungen in Ge-           lichen Ausrichtungen und Arbeitsweisen
Labels unbedingt benötige und gleichzei-        sellschaft und Arbeitsleben im Kontext von       einzelner Fachbereiche aus. Auch die KI-
tig, dass man diese – ähnlich wie beispiels-    künstlicher Intelligenz sind nicht isoliert zu   Strategie der Bundesregierung[9] verweist
weise eine Buchhaltungssoftware – einfach       betrachten, sondern in diesen Prozess des        auf diesen Umstand und unterscheidet –
im Paket einkaufen könne. Obwohl es sich        digitalen Wandels oder der „industriellen        sehr allgemein – zwischen „starker“ und
vielfach um tiefgreifende Umgestaltungs-        Revolution“ eingebettet.                         „schwacher“ KI, die „menschenähnliche
prozesse handelt, steht in der öffentlichen                                                      oder höhere Intelligenz“ beziehungsweise
Diskussion fälschlicherweise die Technolo-      Künstliche Intelligenz ist                       alle anderen „niedrigeren“ Anwendungs-
gie im Vordergrund und nicht der Prozess.       ­unscharf definiert                              formen maschinellen Lernens bezeichnen.
                                                                                                 Die Bundesregierung sowie die Enquete-
Ein weiterer prägender Begriff ist die „In-     Wie bereits erwähnt, fällt der Fachwelt eine     Kommission zur Künstlichen Intelligenz[10]
dustrie 4.0“[5] als Bezeichnung der Auswir-     eindeutige Definition sehr schwer. Zum           stellen zugleich fest, dass die „starke“ KI
kungen von Innovationen der Informati-          Beispiel stellen Legg und Hutter[8] unter-       aktuell nicht erreicht werden kann (und
onstechnik im Kontext der industriellen
Produktion. Dieser Gedanke einer „vierten
                                                                                                                                               Quelle: Bramer, 2007

industriellen Revolution“ wird mittlerweile
auch international verwendet. Anstatt sich
lediglich auf den Bereich der Produktion zu
beziehen, wird beispielsweise auch der ge-
nerelle Wandel der Arbeitswelt unter dem
Einfluss der Digitalisierung zunehmend mit
„Arbeit 4.0“ bezeichnet.[6] Gesellschaftliche
Umbrüche, die durch technologische Neu-
erungen ausgelöst wurden, gab es in der
Geschichte zuhauf. Während die Durch-
nummerierung der „industriellen Revolu-
tionen“ bis zur aktuellen „vierten“ industri-
ellen Revolution den fälschlichen Eindruck
eines diskreten Stufenmodells hervorruft,
ist es vielmehr so, dass sie „bei Weitem
keine linearen technischen bzw. techno-         Abbildung 1: Data-Mining-Schema nach Bramer[12]

                                                                                                                                         19
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     Auch die weiteren Veränderungen in Gesellschaft und Arbeits-
     leben im Kontext von künstlicher Intelligenz sind nicht isoliert
     zu betrachten, sondern in diesen Prozess des digitalen Wandels
     oder der ‚industriellen Revolution‘ eingebettet.“

möglicherweise nie erreicht werden wird),      nis von KI-Anwendungen hilft es, dieses         an das Computerprogramm verliehen wer-
sodass sich Förder- und Regelungsmaß-          Schema als Blaupause zu verwenden, um           den, das als erstes einen erweiterten Tu-
nahmen auf die Anwendungen „schwa-             sich über die verschiedenen Teile des Sys-      ring-Test besteht – allerdings konnte bis-
cher“ KI beschränken. Beispielsweise wird      tems einen Überblick zu verschaffen.            her kein Computerprogramm die nötigen
der gesamte Bereich der Robotik als Teil                                                       Voraussetzungen erfüllen.
von Implementierungen „schwacher“ KI           Für einen intuitiveren Zugang zur Leis-
beschrieben.                                   tungsfähigkeit von Systemen künstlicher         Wer ist besser – Mensch oder KI?
                                               Intelligenz sind das Selbstausprobieren
Als Synthese dieser Abgrenzungen wird          und dabei insbesondere das Erfahren der         Die Überlegung des Turing-Tests führen
meist mit „künstlicher Intelligenz“ der Ver-   Grenzen der Leistungsfähigkeit der Algo-        uns zu einer grundlegenden Frage: Wo
such bezeichnet, bestimmte menschliche         rithmen hilfreicher als abstrakte Definitio-    ist die künstliche Intelligenz „besser“ als
Verhaltens- oder Entscheidungsstrukturen       nen. Daher ist es dringend zu empfehlen,        der Mensch? Ein Grund, warum KI-Anwen-
nachzubauen, sodass ein Computerpro-           das umfangreiche Informationsmaterial           dungen aktuell so intensiv diskutiert wer-
gramm eigenständig Probleme bearbei-           rund um dieses Thema selbst zu erkun-           den, ist die Befürchtung, dass durch wei-
ten kann. In Abbildung 1 wird dazu eine        den. Als Start der Entdeckungsreise bietet      tergehende Automatisierung menschliche
Schemazeichnung dargestellt. Zunächst          sich beispielsweise der vom Bundesminis-        Arbeit ersetzt werden könnte. Zur grund-
werden verschiedene Datenquellen in            terium für Bildung und Forschung (BMBF)         legenden Einordnung „Wer ist besser?“
einen gemeinsamen Datenspeicher inte-          geförderte KI-Campus[13] an. Interaktive Bei-   gibt es wiederum bereits eine lange an-
griert. Nach einer Vorverarbeitung findet      spiele gibt es ebenfalls eine große Menge,      dauernde wissenschaftliche Diskussion.
das eigentliche „Data Mining“[11] statt, in    hier empfiehlt sich der Start bei Google[14]    Insbesondere im Bereich der Flugassistenz-
dem Muster in den Daten erkannt wer-           und insbesondere mit der Anwendung              systeme stellte sich nämlich eine ähnliche
den – beispielsweise die Zuordnung von         QuickDraw[15], die Handskizzen erkennt.         Frage wie die, die wir aktuell im Kontext
Datensätzen oder Teilen von Datensätzen        Gerade bei „Chatbots“, also Program-            des Einsatzes von künstlicher Intelligenz
zu vorher feststehenden Übergruppen            men, die eine automatisierte schriftliche       für Produktionssteuerung oder weiteren
(Klassifizierung). Mit dieser recht einfa-     Kommunikation ermöglichen, realisieren          anderen Anwendungen am Arbeitsplatz
chen Abbildung lässt sich die Mehrzahl         Nutzende sehr schnell, dass sie nicht mit       diskutieren. 1950 wurde von Fitts die Par-
von „KI“-Anwendungen beschreiben: Bei          einem „echten Menschen“ reden. Diese Er-        titionierung „Humans are better at/Machi-
der Smartphone-Navigation beispielsweise       fahrung entspricht dem bereits 1950 be-         nes are better at“ (HABA MABA)[16] vorge-
sind die Datenquellen die verschiedenen        schriebenen „Turing-Test“: Hier wird in ei-     stellt, in der grundlegend überlegt wurde,
anderen App-Nutzenden, durch deren Ge-         nem Experiment eine Chatkommunikation           dass Maschinen beispielsweise schneller
schwindigkeit auf manchen Autobahnen           hergestellt. Wenn ein echter Mensch nicht       auf Kontrollsignale reagieren können als
man ableiten kann, dass es zu Verzöge-         mehr unterscheiden kann, ob er mit einer        Menschen und insbesondere bei sich wie-
rungen oder Staus kommt. Aber auch On-         Maschine oder mit einem Menschen Nach-          derholenden Aufgaben effektiv eingesetzt
line-Shopping-Empfehlungen („Kunden,           richten hin- und herschickt, wird postu-        werden können. Menschen seien dagegen
die dieses Produkt kauften, interessierten     liert, dass der Computer ein dem Menschen       besser im Improvisieren, bei flexiblen An-
sich auch für dieses Produkt“) lassen sich     gleichwertiges Denkvermögen hat. Der seit       wendungen und könnten (im Gegensatz zu
in dieses Schema bringen. Zum Verständ-        1951 ausgeschriebene ­Loebner-Preis soll        Maschinen, die deduktiv schließen) induk-

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   Für einen intuitiveren Zugang zur Leistungsfähigkeit von Sys-
   temen künstlicher Intelligenz sind das Selbstausprobieren und
   dabei insbesondere das Erfahren der Grenzen der Leistungsfähig-
   keit der Algorithmen hilfreicher als abstrakte Definitionen.“

tiv Schlüsse ziehen. Diese Sichtweise wur-     Auswirkungen von KI auf die                    und sorgt für Zukunftsangst. Auf einer In-
de lange kritisch diskutiert, ergänzt und      Arbeit der Menschen                            ternetseite mit dem provokanten Titel „Will
beispielsweise 2003 durch das Modell der                                                      robots take my job?“[22] kann man nach-
Autonomiestufen[17] ersetzt, in dem es nicht   Es gibt zahlreiche Einsatzszenarien für        schlagen, ob der eigene Job demnächst von
darum geht, wer (Mensch oder Maschine)         ­Algorithmen und künstliche Intelligenz        der künstlichen Intelligenz übernommen
was macht, sondern wer was wann macht:          im beruflichen Alltag. Im Versuch eines       wird. Diese Seite basiert auf den sehr ein-
Anstatt eine starre Aufgabenteilung zwi-        kleinen Überblicks über das Themenfeld        flussreichen Betrachtungen von Frey und
schen Automatisierung und Mensch zu             seien hier einige Themen angerissen.          Osborne[23], die auch in den deutschen
finden, kann das Maß der Kontrolle des                                                        Medien Widerhall gefunden haben. Die-
Menschen während eines Prozesses immer         Kleine Helfer                                  se Sichtweise hat zahlreiche Kritiker und
mal wieder zu- und abnehmen. Auch heute        Computerprogramme sind Bestandteil             Kritikerinnen – so bezieht sich das Mo-
diskutieren wir beispielsweise im Kontext      der meisten Arbeitsplätze und einige die-      dell auf den amerikanischen Markt und
von Industrie 4.0 Autonomiestufen[18] für      ser Programme arbeiten aktuell bereits         dabei bei näherer Betrachtung lediglich
künstliche Intelligenz. Die Frage „Wer ist     mit Methoden des maschinellen Lernens.         auf die „Wahrscheinlichkeit der Verände-
besser?“ lässt sich nämlich nur in Trivial-    Insbesondere im Bereich der Texterken-         rung“ durch Digitalisierung, die aber nicht
fällen einfach beantworten. Natürlich ist      nung und Bildverarbeitung gibt es schon        notwendigerweise mit einer Ersetzung von
ein Roboter schneller und stärker als ein      seit Langem Hilfsmittel, die mittlerweile      menschlicher Arbeit durch Roboter bezie-
Mensch, und ein Computerprogramm hat           auch täglich eingesetzt werden, wie bei-       hungsweise künstliche Intelligenz ein-
bereits 1997 den amtierenden Schachwelt-       spielsweise OCR (Optical Character Recog-      hergeht. Die Internetseite zusammen mit
meister geschlagen. Aber bei Gesichtser-       nition) zur Überführung von gescannten         der Studie zeigen erneut, dass die Debat-
kennung ist die Maschine vielleicht besser     Dokumenten in bearbeitbaren Text oder          te nicht zwischen den Auswirkungen des
als ein Mensch,[19] aber noch nicht gut ge-    Diktiersysteme, die menschliche Sprache        digitalen Wandels und jenen der künstli-
nug, um bei Gefährder-Erkennung nicht zu       in Text überführen. Auch Chatbots für die      chen Intelligenz trennen kann. Eine sehr
viele Falschmeldungen zu produzieren[20].      Abwicklung von Servicedienstleistungen         gute Relativierung und einen Überblick
Beim Autofahren würde ein autonomes            und Verträgen werden immer stärker als         über diese verschiedenen Zukunftssze-
Auto zwar weniger Verkehrsunfälle pro-         Hilfsmittel eingesetzt. Diese „kleinen Hel-    narien präsentieren Ittermann und Nie-
duzieren, aber die Gesellschaft akzeptiert     fer“ sind die Mehrzahl der KI-Programme        haus[24]: Neben der bereits vorgestellten
menschliches Versagen eher als maschinel-      und ersetzen zwar auch menschliche Ar-         dystopischen Zukunftsvision zeigen sie
les Versagen[21]. Insbesondere für komple-     beitskraft, werden aber in der gesellschaft-   die Literatur zu weiteren möglichen Zu-
xere Antworten oder Prozesse läuft es an       lichen Diskussion kaum als Bedrohung           kunftsszenarien auf, die aktuell diskutiert
vielen Orten nicht auf eine Abwägung von       wahrgenommen.                                  werden. So gilt es vor allem das positive
„Mensch oder Computer“, sondern auf eine                                                      Szenario zu erwähnen, das beispielsweise
intelligente Kombination von menschlicher      Beschäftigungseffekte                          in der Betrachtung der Boston Consulting
Arbeitskraft mit Computerunterstützung         Die Sichtweise „Roboter nehmen uns die         Group[25] aufgespannt wird. Hier wird be-
hinaus (ähnlich sieht mittlerweile auch        Arbeit weg“ als Dystopie wurde nicht zu-       tont, dass sich Arbeit durchaus wandeln
die Praxis im Bereich der Flugassistenz-       letzt aufgrund von Hollywood-Literatur         wird, aber dass dies eben nicht zwangs-
systeme aus).                                  fest in Köpfen von Beschäftigten ­verankert    weise zu einem Beschäftigungsrückgang

                                                                                                                                      21
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             Arbeit muss als soziotechnisches System verstanden
             werden und technologische Neuerungen müssen in
             diesem Kontext untersucht und für diesen Kontext ent-
             wickelt werden.“

führt. Eine weitere Studie vom Zentrum für     ihrer Arbeitstätigkeiten beschützt werden.    diskutiert werden. Speziell in Bezug auf
Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)         Dies muss auch im Kontext der weiteren        künstliche Intelligenz wird zunehmend
nimmt sogar einen Zuwachs von 560.000          technologischen Entwicklung gesehen           auch eine „AI Literacy“ gefordert, also
Stellen an.[26]                                werden – wenn beispielsweise ein Algo-        das Entwickeln der grundsätzlichen Fä-
                                               rithmus die Tätigkeiten der Arbeitnehme-      higkeit, die Leistungsfähigkeit von KI-Sys-
Datenschutz bezüglich der Plattformen          rinnen und Arbeitnehmer aufzeichnet, so       temen einzuschätzen und zu bewerten.
Sobald Technik Daten über Arbeitsprozesse      kann gegebenenfalls mithilfe von maschi-      Ein spezieller Aspekt der Bedienbarkeit
und Menschen sammelt, muss der Tech-           nellem Lernen eine weitere Automatisie-       sei nochmals besonders hervorgehoben,
nikanbieter vertrauenswürdig sein, da zu-      rung (zum Beispiel bei Sachbearbeitungs-      nämlich die Kontrollierbarkeit des techni-
mindest theoretisch bei unverschlüsseltem      vorgängen) angestrebt werden. Nicht nur       schen Systems durch die Nutzenden und
Datentransfer alle übertragenen Daten von      der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin        das Gefühl, das System auch kontrollieren
der Plattform eingesehen werden können.        schaut einem dann über die Schulter, son-     zu können (Human Supervisory Control).
Aber selbst wenn der eigentliche Inhalt ver-   dern auch der Algorithmus.                    Gerade wenn Entscheidungsprozesse oder
schlüsselt wird, lassen sich durch die soge-                                                 Teile davon durch die künstliche Intelli-
nannten Metadaten (also zum Beispiel wer       Bedienbarkeit                                 genz erfolgen, muss der Mensch in der
hat wie lange mit wem geschrieben) wert-       Die im Rahmen des Digitaltages durch-         Lage sein, diese Entscheidungsprozesse
volle Informationen gewinnen. Im priva-        geführte Studie von Bitkom Research[27]       nachzuvollziehen (Explainable AI).
ten Bereich ist diese Diskussion durch die     stellt fest, dass auch über die Altersgrup-
kritische Diskussion um Messengerdienste       pen hinweg Digitalisierung ein fester Teil    Bias im Datensatz
wie WhatsApp bereits gesamtgesellschaft-       des Alltags der 1.005 Befragten ist. Da-      70 bis 80 Prozent der deutschen Unter-
lich angekommen. Natürlich gelten für be-      bei sind die Älteren (65 Jahre und älter)     nehmen nutzen laut einer Befragung des
rufliche Kommunikation genau dieselben         skeptischer als Jüngere. Weiterhin stellt     Institute for Competitive Recruiting soge-
Bedenken und es muss auch berücksichtigt       die Studie fest, dass der Umgang mit tech-    nannte Bewerbermanagementsysteme,
werden, dass vermeintlich „private“ Mes-       nischen Geräten nicht allen leichtfällt und   bei denen ein Algorithmus Bewerbungen
sengerdienste zunehmend im beruflichen         die fehlende Nutzerorientierung als das       gegen die Jobkriterien abgleicht. Das zu-
Kontext eingesetzt werden.                     größte Hemmnis wahrgenommen wird.             gespitzte Problem: Wenn der Algorithmus
                                               Das muss einerseits von Herstellerseite       sich nach existierendem Führungspersonal
Arbeitnehmerdatenschutz                        angegangen werden und bei Forschungs-         in deutschen Unternehmen richten wür-
Die prinzipielle Möglichkeit des Zugriffs      und Entwicklungsprojekten einen (noch)        de, würde er für eine neu zu besetzende
gilt natürlich nicht nur für die Plattform,    größeren Stellenwert erhalten. Gleich-        Führungsposition lediglich die Bewerbung
sondern auch für den Arbeitgeber und die       zeitig muss aber auch der gesamtgesell-       von Männern über 45 Jahre ohne Migrati-
Arbeitgeberin. Arbeitnehmerinnen und           schaftliche Anspruch der Herstellung          onshintergrund akzeptieren und alle an-
­Arbeitnehmer müssen daher in Zeiten des       einer „Digital Literacy“ (digitalen Mün-      deren ablehnen. Die Diskussion, wie man
 covidinduzierten Digitalisierungsschubs       digkeit, in Deutschland hauptsächlich         allerdings Algorithmen zur Identifikation
 besonders vor möglichen ungewollten Zu-       unter dem verkürzten Begriff Medienkom-       von derartigen Bias benutzen kann, wird
 griffen oder Überwachungsmöglichkeiten        petenz gefasst) der Gesamtbevölkerung         aktuell fortgeführt[28] – schließlich ist das

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DGUV Forum 10/2021            Schwerpunkt Künstliche Intelligenz

Problem nicht der Algorithmus, sondern               Wandels allgemein vermischen sich dabei                Die Diskussion muss interdisziplinär und
der Datensatz, auf dessen Basis die Ent-             mit denen der künstlichen Intelligenz, nur             mit den verschiedenen Statusgruppen ge-
scheidung gelernt wird.                              wenige Aspekte werden in der medialen                  führt werden. So gibt es bereits vonseiten
                                                     Diskussion trennscharf betrachtet. Wie wir             der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin-
Fazit                                                aktuell in täglichem Arbeitskontext fest-              nen[30] als auch vonseiten der Arbeitge-
                                                     stellen, ist der Zusammenhang zwischen                 ber und Arbeitgeberinnen[31] erste Hand-
Das „alte“ Thema der sozialwissenschaft-             der Verbreitung digitaler Technologien und             lungsempfehlungen für die Einführung
lichen Arbeitsforschung – nämlich die Fra-           ihrer sozialen Konsequenzen „keinesfalls               von KI-Systemen. Ein interdisziplinärer
ge nach dem Verhältnis von Technik und               linear und eindeutig festgelegt zu verste-             Ansatz wird aktuell vom KI-Observatori-
Arbeit – hat bereits im Kontext Industrie            hen“[29]. Arbeit muss als soziotechnisches             um verfolgt.[32] Ein Ergebnis sind praxis-
4.0 eine Renaissance erfahren und diese              System verstanden werden und techno-                   nahe Handreichungen[33] die die Bedeu-
Debatte wird, wie oben dargestellt, durch            logische Neuerungen müssen in diesem                   tung von Co-Designs[34] und partizipativen
den Aspekt der künstlichen Intelligenz               Kontext untersucht und für diesen Kontext             ­Gestaltungsprozessen[35] in „handfesten“
noch verstärkt. Die Effekte des digitalen            entwickelt werden.                                     Ratschlägen formulieren.               ←

Fußnoten                                                                          [19] Thales Group: Facial recognition: top 7 trends (tech, vendors,
                                                                                ­ arkets, use cases and latest news), 2021 (abgerufen am 08.08.2021)
                                                                                m
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 [11] Bramer, M.: Principles of data mining. London, Springer, 2007               [30] DGB: Künstliche Intelligenz (KI) für Gute Arbeit. Ein Konzeptpapier
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  [15] Google. Kann ein neuronales Netzwerk Zeichnungen erkennen?                 mit Künstlicher Intelligenz“: „Demokratische Technikgestaltung in der
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  [18] Technologieszenario „Künstliche Intelligenz in der Industrie 4.0“,         people in research. SAGE Publications Limited, 2019
  Plattform Industrie 4.0 Working Paper

                                                                                                                                                          23
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