GRUNDRECHTSWIRKUNGEN IM MATERIELLEN LAUTERKEITSRECHT - JÖRN FEDDERSEN, RIBGH HAMBURG, 20. JANUAR 2020 - GRUR
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Agenda 1. Einleitung 2. Grundrechte und Zivilrecht a) Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes b) Wirkungen der EU-Grundrechtecharta c) Grundrechtssphären und justizielle Kontrolle d) Zwischenfazit 3. Grundrechtswirkungen im Lauterkeitsrecht a) Anwendbare Grundrechte b) Wertungsoffenheit der lauterkeitsrechtlichen Tatbestände c) Grundrechtliche Wertungsmaßstäbe d) Fallbeispiele 4. Fazit
Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes Art. 1 GG (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes - Mittelbare Drittwirkung ▪ BVerfGE 7, 198, 204 f. – Lüth (dazu lesenswert Rensmann in FS Fastenrath (2018), S. 55) „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. (…) Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt (…). Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich- rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden. Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften (…). Ein Streit zwischen Privaten über Rechte und Pflichten aus solchen grundrechtlich beeinflußten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts bleibt materiell und prozessual ein bürgerlicher Rechtsstreit. Ausgelegt und angewendet wird bürgerliches Recht, wenn auch seine Auslegung dem öffentlichen Recht, der Verfassung, zu folgen hat. Der Einfluß grundrechtlicher Wertmaßstäbe wird sich vor allem bei denjenigen Vorschriften des Privatrechts geltend machen, die zwingendes Recht enthalten und so einen Teil des ordre public - im weiten Sinne - bilden, d. h. der Prinzipien, die aus Gründen des gemeinen Wohls auch für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen verbindlich sein sollen und deshalb der Herrschaft des Privatwillens entzogen sind. Diese Bestimmungen haben nach ihrem Zweck eine nahe Verwandtschaft mit dem öffentlichen Recht, dem sie sich ergänzend anfügen. Das muß sie in besonderem Maße dem Einfluß des Verfassungsrechts aussetzen. Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses vor allem die "Generalklauseln", die, wie § 826 BGB, zur Beurteilung menschlichen Verhaltens auf außer-zivilrechtliche, ja zunächst überhaupt außerrechtliche Maßstäbe, wie die "guten Sitten", verweisen. Denn bei der Entscheidung darüber, was diese sozialen Gebote jeweils im Einzelfall fordern, muß in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden, die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat. Deshalb sind mit Recht die Generalklauseln als die "Einbruchstellen" der Grundrechte in das bürgerliche Recht bezeichnet worden.“
Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes - Mittelbare Drittwirkung (Forts.) ▪ BVerfGE 148, 267 Rn. 32 f. - Stadionverbot „Nach ständiger Rechtsprechung können die Grundrechte in solchen Streitigkeiten im Wege der mittelbaren Drittwirkung Wirksamkeit entfalten (...). Danach verpflichten die Grundrechte die Privaten grundsätzlich nicht unmittelbar untereinander selbst. Sie entfalten jedoch auch auf die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen Ausstrahlungswirkung und sind von den Fachgerichten, insbesondere über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen. Die Grundrechte entfalten hierbei ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und strahlen als "Richtlinien" in das Zivilrecht ein (…); die Rechtsprechung hat insoweit auch von den Grundrechten als einer "objektiven Wertordnung" gesprochen (…). Sie zielen hier nicht auf eine möglichst konsequente Minimierung von freiheitsbeschränkenden Eingriffen, sondern sind als Grundsatzentscheidungen im Ausgleich gleichberechtigter Freiheit zu entfalten. Die Freiheit der einen ist dabei mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (…). Die Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung hängt dabei von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich ist, dass die Freiheitssphären der Bürgerinnen und Bürger in einen Ausgleich gebracht werden müssen, der die in den Grundrechten liegenden Wertentscheidungen hinreichend zur Geltung bringt. Dabei können insbesondere auch die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung von bestimmten Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite eine maßgebliche Rolle spielen. (…)
Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes - Mittelbare Drittwirkung (Forts.) ▪ BVerfGE 148, 267 Rn. 40 f. – Stadionverbot (Forts.) „Allerdings enthält Art. 3 Abs. 1 GG kein objektives Verfassungsprinzip, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären. Dahingehende Anforderungen ergeben sich auch nicht aus den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung. Grundsätzlich gehört es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie wann unter welchen Bedingungen welche Verträge abschließen und wie sie hierbei auch von ihrem Eigentum Gebrauch machen will (…). Gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten können sich aus Art. 3 Abs. 1 GG jedoch für spezifische Konstellationen ergeben. Eine solche Konstellation liegt dem hier in Frage stehenden bundesweit gültigen Stadionverbot zugrunde. Maßgeblich für die mittelbare Drittwirkung des Gleichbehandlungsgebots ist dessen Charakter als einseitiger, auf das Hausrecht gestützter Ausschluss von Veranstaltungen, die aufgrund eigener Entscheidung der Veranstalter einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden und der für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheidet. Indem ein Privater eine solche Veranstaltung ins Werk setzt, erwächst ihm von Verfassungs wegen auch eine besondere rechtliche Verantwortung. Er darf seine hier aus dem Hausrecht - so wie in anderen Fällen möglicherweise aus einem Monopol oder aus struktureller Überlegenheit - resultierende Entscheidungsmacht nicht dazu nutzen, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem solchen Ereignis auszuschließen. Die verfassungsrechtliche Anerkennung des Eigentums als absolutes Recht und die daraus folgende einseitige Bestimmungsmacht des Hausrechtsinhabers ist hier, anknüpfend an die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG), mit der auch von den Gerichten zu beachtenden Ausstrahlungswirkung des Gleichbehandlungsgebots in Ausgleich zu bringen.“
Drittwirkung der Grundrechte des Grundgesetzes - Mittelbare Drittwirkung (Forts.) ▪ Kritik im Schrifttum ▪ Konstitutionalisierung des einfachen Rechts ▪ Stärkung des Einflusses der Rechtsprechung auf die Auslegung des einfachen Rechts ▪ Beeinträchtigung der Privatautonomie durch regulierende Einwirkung auf das Vertragsrecht
Wirkungen der EU-Grundrechtecharta Artikel 51 GRCh: Anwendungsbereich (1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden. (2) Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.
Wirkungen der EU-Grundrechtecharta Rechtsprechung des EuGH: Unmittelbare Drittwirkung der Diskriminierungsverbote ▪ Zur RL 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf EuGH, NJW 2018, 1869 Rn. 76 ff. - Egenberger „Das Verbot jeder Art von Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung hat als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts zwingenden Charakter. Dieses in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot verleiht schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht, das er in einem Rechtsstreit, der einen vom Unionsrecht erfassten Bereich betrifft, als solches geltend machen kann (…). Art. 21 der Charta unterscheidet sich in seiner Bindungswirkung grundsätzlich nicht von den verschiedenen Bestimmungen der Gründungsverträge, die verschiedene Formen der Diskriminierung auch dann verbieten, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultieren (…). Zum anderen ist hervorzuheben, dass Art. 47 der Charta, der das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz betrifft, ebenso wie Art. 21 der Charta aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann. Folglich wäre das nationale Gericht in dem oben in Rn. 75 genannten Fall verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus den Art. 21 und 47 der Charta erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.“
Wirkungen der EU-Grundrechtecharta Rechtsprechung des EuGH: Heranziehung der Grundrechte bei der Auslegung sekundären Unionsrechts ▪ Zur RL 2000/31/EG (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr), RL 2001/29/EG (InfoSoc-RL), RL 2004/48/EG (DurchsetzungsRL) und RL 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation EuGH, GRUR 2008, 241 Rn. 62, 68 – Pro Musicae „Das Eigentumsrecht, unter das das Recht am geistigen Eigentum fällt (…), und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf sind allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts (…). (…) Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der genannten Richtlinien darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung derselben stützen, die es ihnen erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten sicherzustellen. Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung dieser Richtlinien stützen, die mit diesen Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, kollidiert (…).“
Wirkungen der EU-Grundrechtecharta Rechtsprechung des EuGH: Heranziehung der Grundrechte bei der Auslegung sekundären Unionsrechts ▪ Zur RL 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014 – C-470/12 – Pohotovost „Die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, insbesondere deren Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 8, in Verbindung mit den Art. 38 [Verbraucherschutz] und 47 [Recht auf wirksamen Rechtsbehelf] der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass sie nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Streitbeitritt einer Verbraucherschutzvereinigung zur Unterstützung eines Verbrauchers als Vollstreckungsschuldner in einem gegen ihn betriebenen Verfahren zur Vollstreckung aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch nicht zulässig ist.“
Wirkungen der EU-Grundrechtecharta Rechtsprechung des EuGH: Heranziehung der Grundrechte bei der Auslegung sekundären Unionsrechts ▪ Zur RL 2004/48/EG (DurchsetzungsRL) EuGH, GRUR 2015, 894 Rn. 33 ff. – Coty Germany „Somit wirft das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Frage auf, wie die Erfordernisse des Schutzes verschiedener Grundrechte, nämlich zum einen des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und des Rechts des geistigen Eigentums und zum anderen des Rechts auf den Schutz personenbezogener Daten, miteinander in Einklang gebracht werden können (…). Insoweit ist erstens daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gemäß dem Unionsrecht dazu verpflichtet sind, sich bei der Umsetzung der Richtlinien auf eine Auslegung derselben zu stützen, die es erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Rechtsordnung der Union geschützten Grundrechten sicherzustellen. Sodann haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinien stützen, die mit den genannten Grundrechten oder anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert (…). Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass es in Art. 52 Abs. 1 der Charta u. a. heißt, dass jede Einschränkung der Ausübung der darin anerkannten Rechte und Freiheiten den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss, und dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Maßnahme, die zu einer qualifizierten Beeinträchtigung eines durch die Charta geschützten Rechts führt, als Missachtung des Erfordernisses einzustufen ist, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den miteinander in Einklang zu bringenden Grundrechten zu gewährleisten (…)
Wirkungen der EU-Grundrechtecharta Rechtsprechung des EuGH: Heranziehung der Grundrechte bei der Auslegung sekundären Unionsrechts ▪ Zur RL 2001/29/EG (InfoSoc-RL) EuGH, WRP 2019, 1162 Rn. 38 – Spiegel Online „Schließlich gelten (…) die in der Charta verankerten Grundsätze für die Mitgliedstaaten, wenn sie das Unionsrecht umsetzen. Die Mitgliedstaaten sind daher dazu verpflichtet, sich bei der Umsetzung der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29 genannten Ausnahmen und Beschränkungen auf eine Auslegung dieser Bestimmungen zu stützen, die es erlaubt, einen angemessenen Ausgleich zwischen den verschiedenen durch die Rechtsordnung der Union geschützten Grundrechten sicherzustellen.“
Grundrechtssphären und justizielle Kontrolle Art. 51 GRCh: „…bei der Durchführung des Rechts der Europäischen Union...“ EuGH, Urt. v. 26.2.2013 - C-617/10 NJW 2013, 1415 Rn. 19 - Åkerberg Fransson „Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert.“ BVerfG, Urt. v. 24.4.2013 - 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 Rn. 91 - Antiterrordatei Der Europäische Gerichtshof ist danach für die aufgeworfenen - ausschließlich die deutschen Grundrechte betreffenden - Fragen nicht gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 GG. Nichts anderes kann sich aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson (…) ergeben. Im Sinne eines kooperativen Miteinanders zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof (…) darf dieser Entscheidung keine Lesart unterlegt werden, nach der diese offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), dass dies die Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte (…). Insofern darf die Entscheidung nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechtecharta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche. Vielmehr führt der Europäische Gerichtshof auch in dieser Entscheidung ausdrücklich aus, dass die Europäischen Grundrechte der Charta nur in "unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden."
Grundrechtssphären und justizielle Kontrolle Vorrang des Unionsrechts - Der Vorrang des Unionsrechts bezieht sich auch auf das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten (EuGH NJW 2013, 1215 Rn. 59 – Melloni) - Lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielraum, steht es den nationalen Behörden und Gerichten frei, nationale Grundrechte anzuwenden, sofern hierdurch weder der Schutzstandard der GRCh noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden (EuGH, GRUR 2019, 929 Rn. 78 ff. – Pelham/Hütter u.a.)
Grundrechtssphären und justizielle Kontrolle Die Rechtsprechung des BVerfG: Von „Solange“ bis „Recht auf Vergessen“ Bisher: ▪ Keine Kontrolle von sekundärem Unionsrecht und Hoheitsakten der EU am Maßstab der Grundrechte des GG ▪ Keine Kontrolle der innerstaatlichen Umsetzung von Richtlinien des Unionsrechts, die den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum belassen, sondern zwingende Vorgaben machen, am Maßstab der Grundrechte des GG ▪ Aber: Kontrolle der innerstaatlichen Umsetzung von Richtlinien des Unionsrechts am Maßstab der Grundrechte des GG, soweit ein Umsetzungsspielraum besteht ▪ Ferner: Kontrolle durch das BVerfG, ▪ ob das Fachgericht einen Umsetzungsspielraum zu Recht verneint hat und ▪ ob das Fachgericht wegen Zweifeln an der Vereinbarkeit des Sekundärrechts mit Grundrechten der Charta hätte vorlegen müssen (tritt an die Seite der Kontrolle der Vorlageverpflichtung wegen Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter) ▪ BVerfGE 73, 339 – Solange II (1986, 2. Senat), BVerfGE 140, 317, 334 – Europäischer Haftbefehl (2015, 2. Senat), BVerfGE 118, 79 – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen (2007, 1. Senat), BVerfGE 129, 78, 102 f. – Le Corbusier-Möbel (2011, 1. Senat), BVerfGE 142, 74, 112 f. - Sampling (2016, 1. Senat),
Grundrechtssphären und justizielle Kontrolle Die Rechtsprechung des BVerfG: Von „Solange“ bis „Recht auf Vergessen“ Zukünftig auch: ▪ Kontrolle von unionsrechtlich nicht vollständig determiniertem innerstaatlichen Recht primär am Maßstab der Grundrechte des GG, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient ▪ Arg.: Vermutung dafür, dass das Schutzniveau der GRCh durch die Anwendung der Grundrechte des GG mitgewährleistet ist ▪ Ausnahme: konkrete und hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass dem gestaltungsoffenen Fachrecht nicht die Annahme grundrechtlicher Vielfalt zugrundeliegt oder das die Vermutung der Mitgewährleistung des Schutzniveaus der Charta widerlegt ist ▪ Kontrolle am Maßstab der Grundrechte der GRCh, soweit die Grundrechte des GG durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden (vollständige Determinierung durch das Unionsrecht) ▪ Arg.: Integrationsverantwortung des BVerfG gem. Art. 23 Abs. 1 iVm Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; andernfalls unvollständiger Grundrechtsschutz ggü. der fachgerichtlichen Rechtsanwendung ▪ Es sind allein die Unionsgrundrechte maßgeblich, soweit sie hinreichenden Schutz gewährleisten ▪ Kooperation des BVerfG mit dem EuGH; Vorlage bei (grundrechtlichen) Auslegungszweifeln ▪ BVerfG lässt offen, ob durch diese Kooperation die Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Fachgerichte in Grundrechtsfragen entfällt ▪ BVerfG, GRUR 2020, 74 - Recht auf Vergessen I , und GRUR 2020, 88 – Recht auf Vergessen II (2019, 1. Senat)
Grundrechtssphären und justizielle Kontrolle Die Rechtsprechung des BVerfG: Von „Solange“ bis „Recht auf Vergessen“ BVerfG, GRUR 2020, 74 - Recht auf Vergessen I (2019, 1. Senat) 1. a) Unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht prüft das Bundesverfassungsgericht primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. b) Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes stützt sich auf die Annahme, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten fachrechtliche Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt, sondern Grundrechtsvielfalt zulässt. Es greift dann die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist. c) Eine Ausnahme von der Annahme grundrechtlicher Vielfalt im gestaltungsoffenen Fachrecht oder eine Widerlegung der Vermutung der Mitgewährleistung des Schutzniveaus der Charta sind nur in Betracht zu ziehen, wenn hierfür konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen. (…) BVerfG, GRUR 2020, 88 – Recht auf Vergessen II (2019, 1. Senat) 1. Soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden, kontrolliert das Bundesverfassungsgericht dessen Anwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte. Das Gericht nimmt hierdurch seine Integrationsverantwortung nach Art. 23 Abs. 1 GG wahr. 2. Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind nach dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich. Der Anwendungsvorrang steht unter anderem unter dem Vorbehalt, dass der Schutz des jeweiligen Grundrechts durch die stattdessen zur Anwendung kommenden Grundrechte der Union hinreichend wirksam ist. 3. Soweit das Bundesverfassungsgericht die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof aus. Nach Maßgabe des Art. 267 Abs. 3 AEUV legt es dem Gerichtshof vor. 4. Wie die Grundrechte des Grundgesetzes gewährleisten auch die Grundrechte der Charta nicht nur Schutz im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten. Auf der Basis des maßgeblichen Fachrechts sind daher die Grundrechte der Beteiligten miteinander in Ausgleich zu bringen. Insoweit prüft das Bundesverfassungsgericht - wie bei den Grundrechten des Grundgesetzes - nicht das Fachrecht, sondern allein, ob die Fachgerichte den Grundrechten der Charta hinreichend Rechnung getragen und einen vertretbaren Ausgleich gefunden haben. (…)
Grundrechtssphären und justizielle Kontrolle Zwischenfazit - Das BVerfG stimmt ein in den Chor der Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten, die sich an der Auslegung der Unionsgrundrechte beteiligen. - Möglich erscheint eine stärkere Herausbildung von Rechtssicherheit bei der Anwendung von Unionsgrundrechten. - Es wird zu beobachten sein, ob das BVerfG in seiner Entscheidungspraxis dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts Rechnung trägt und dem Auftreten von Auslegungsdisparitäten begegnet. - Das BVerfG beseitigt die wertungsmäßig nicht gerechtfertigte verfassungsprozessuale Ungleichbehandlung von deutschen Grundrechten und Unionsgrundrechten.
Anwendbare Grundrechte - Unionsrechtliche Rechtsquellen im Lauterkeitsrecht ▪ RL 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmern gegenüber Verbrauchern ▪ Regelt das B2C-Verhältnis ▪ Vollharmonisierung ▪ Kein Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten, daher Anwendung der GRCh ▪ RL 2006/114/EG über irreführende und vergleichende Werbung ▪ Regelt (nur noch) das B2B-Verhältnis ▪ Festsetzung eines Mindeststandards für irreführende Werbung: Art. 8 Abs. 1 UAbs. 1 ▪ Es verbleibt ein Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten, insoweit Anwendung des GG ▪ Festsetzung eines Mindest- und zugleich Höchststandards für vergleichende Werbung: Art. 8 Abs. 1 UAbs. 2 ▪ Vollharmonisierung schließt einen Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten aus, daher Anwendung der GRCh - Autonomes nationales Lauterkeitsrecht ▪ Vorschriften über den Mitbewerberschutz (§ 4 UWG) ▪ Uneingeschränkte Anwendung der Grundrechte des GG
Wertungsoffenheit der lauterkeitsrechtlichen Tatbestände - „Unlauterkeit“ (zB in § 3 Abs. 1 UWG) ist auslegungsfähiges wertungsbestimmtes Tatbestandsmerkmal - Einzelne Tatbestände verfügen über weitere wertungsoffene Merkmale (zB Herabsetzung, Verunglimpfung in § 4 Nr. 1 und § 6 Abs. 2 Nr. 5; unangemessene Ausnutzung oder Beeinträchtigung der Wertschätzung in § 4 Nr. 3 Buchst. b) - Drittwirkung der Grundrechte kann hier ansetzen
Grundrechtliche Wertungsmaßstäbe Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 11 u. 13 GRCh) ▪ Kommerzielle Meinungsäußerung und reine Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat, fällt in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit (BVerfGE 107, 347 – Benetton-Werbung I; EuGH, LMuR 2016, 12 – Neptune Distribution) ▪ Eingriffe in Art. 5 Abs. 1 GG durch allgemeine Gesetze iSd Art. 5 Abs. 2 GG bedürfen einer Rechtfertigung durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Rechte und Interessen Dritter; hierzu zählen solche der Verbraucher und Mitbewerber ▪ Eingriffe in Art. 11 GRCh müssen gem. Art. 52 Abs. 1 GRCh gesetzlich vorgesehen sein und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen; Schutzniveau dürfte sich nicht wesentlich von Art. 5 Abs. 1 GG unterscheiden
Grundrechtliche Wertungsmaßstäbe Berufsfreiheit, unternehmerische Freiheit (Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 16 GRCh) ▪ In den Schutzbereich fällt das Verhalten im Wettbewerb einschließlich der Werbung (BVerfG NJW 1993, 1969; EuGH, LMuR 2016, 12 – Neptune Distribution) ▪ Im Falle von Art. 12 Abs. 1 GG ist regelmäßig nur die Berufsausübung betroffen, nicht die Berufswahl; Einschränkungen daher zulässig, sofern hinreichende Gründe des Gemeinwohls sie rechtfertigen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist ▪ EuGH: Gewährleistung der unternehmerischen Freiheit ist in Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen, so dass Gemeinwohlaspekte (Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz) bei der Grundrechtsabwägung zu berücksichtigen sind (EuGH, LMuR 2016, 12 – Neptune Distribution); relevante Abweichungen im Schutzniveau dürften nicht bestehen
Fallbeispiele BVerfG – Benetton-Werbung I BVerfG - Pharmakartell BVerfG – Zentrum für Zahmedizin BGH – Im Immobiliensumpf BGH – Werbeblocker II BGH – Knochenzement III
Fallbeispiele BVerfGE 102, 347 Rn. 61 – Benetton-Werbung I (2000, 1. Senat) [40] „Der - hier in den Schutz der Pressefreiheit eingebettete - Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erstreckt sich auch auf kommerzielle Meinungsäußerungen sowie reine Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat (…). Soweit eine Meinungsäußerung - eine Ansicht, ein Werturteil oder eine bestimmte Anschauung - in einem Bild zum Ausdruck kommt, fällt auch dieses in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. (…) [61] Insgesamt rechtfertigt allein das vom Bundesgerichtshof als Bestandteil der guten kaufmännischen Sitte bezeichnete Prinzip, dass Mitgefühl mit schwerem Leid nicht zu Werbezwecken erweckt und ausgenutzt werden dürfe, den Unterlassungsausspruch im Lichte des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht. Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Interessen Privater werden, wie gezeigt wurde, nicht berührt. Auf der anderen Seite wird die Meinungsfreiheit hier in schwerwiegender Weise beeinträchtigt. Die Anzeigen weisen auf gesellschaftlich und politisch relevante Themen hin und sind auch geeignet, diesen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Der besondere Schutz, unter den Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gerade solche Äußerungen stellt, wird nicht dadurch gemindert, dass sie, wie der Bundesgerichtshof meint, zur Auseinandersetzung über das aufgezeigte Elend nichts Wesentliches beitragen. Auch das (bloße) Anprangern eines Missstandes kann ein wesentlicher Beitrag zur freien geistigen Auseinandersetzung sein. Ob eine Äußerung weiterführend ist oder ob sie sich eines Lösungsvorschlages enthält, beeinflusst den Grundrechtsschutz aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich nicht. Dieser besteht unabhängig davon, ob eine Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird.“
Fallbeispiele BVerfG – GRUR 2008, 81 – Pharmakartell [43] Die Vorschriften des § 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 2 Nr. 5 UWG a.F. schützen nicht die guten Sitten als solche, sondern nur als Grundlage der Funktionsfähigkeit des Leistungswettbewerbs. Missbilligt werden durch die Norm im Interesse des Schutzes der Wettbewerber und der sonstigen Marktbeteiligten, allen voran der Verbraucher, Verhaltensweisen, welche die Funktionsfähigkeit des an der Leistung orientierten Wettbewerbs im wettbewerblichen Handeln einzelner Unternehmen oder als Institution stören, so zum Beispiel unlautere Einflussnahmen auf die freie Entschließung der Kunden (…). Diese Schutzgutbestimmung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Eine Einschränkung der Meinungsfreiheit im Interesse dieses Schutzguts setzt daher die eigenständige Feststellung einer Gefährdung des Leistungswettbewerbs im konkreten Fall voraus.
Fallbeispiele BVerfG – MedR 2012, 516 - Zentrum für Zahmedizin [21] „Werbebeschränkende Vorschriften in ärztlichen Berufsordnungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur verfassungsgemäß, sofern sie nicht jede, sondern lediglich die berufswidrige Werbung untersagen (…). Für interessengerechte und sachangemessene Informationen, die keinen Irrtum erregen, muss dagegen im rechtlichen und geschäftlichen Verkehr Raum bleiben (…). Daher darf einem Arzt oder Zahnarzt die Verwendung einer bestimmten Bezeichnung zur Beschreibung seiner beruflichen Tätigkeit nur verboten werden, wenn die Benutzung der Formulierung im konkreten Fall irreführend oder sachlich unangemessen ist, etwa weil sie das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gefährdet.“
Fallbeispiele BVerfG – GRUR 2015, 507 – Werbetassen [23] „Die Meinungsfreiheit findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken unter anderem in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Diese müssen für sich genommen verfassungsmäßig sein und sind ihrerseits im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen (…). [24] Bei § 43b BRAO handelt es sich um ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG. Schutzzweck der Regelung ist die Sicherung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege (…). Mit der Stellung des Rechtsanwalts ist im Interesse des rechtsuchenden Bürgers insbesondere eine Werbung nicht vereinbar, die ein reklamehaftes Anpreisen in den Vordergrund stellt, mit der eigentlichen Leistung des Anwalts nichts mehr zu tun hat und sich nicht mit dem unabdingbaren Vertrauensverhältnis im Rahmen eines Mandats vereinbaren lässt.“
BGH, Urteil vom 31. März 2016 - I ZR 160/14, GRUR 2016, 710 = WRP 2016, 843 - Im Immobiliensumpf Sachverhalt: Der Kläger ist ein mit dem Immobilienrecht befasster Rechtsanwalt und Notar in Berlin. Er verlangt von dem Beklagten, einem im Kapitalanlagerecht tätigen Berliner Rechtsanwalt, Unterlassung einer Äußerung, die in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 20. Dezember 2011 unter der Überschrift "Im Berliner Sumpf. Weitere Notare lassen wegen Beurkundung fragwürdiger Immobilien Ämter ruhen" erschienen ist.
BGH, Urteil vom 31. März 2016 - I ZR 160/14, GRUR 2016, 710 = WRP 2016, 843 - Im Immobiliensumpf Antrag: (…) es zu unterlassen, in Bezug auf den Kläger zu behaupten und/oder behaupten zu lassen und/oder zu verbreiten und/oder verbreiten zu lassen, "Ich halte das für organisierte Wirtschaftskriminalität, bei der gezielt Anleger ruiniert werden", wie gegenüber der Süddeutschen Zeitung, dort zitiert in dem Artikel "Im Berliner Sumpf" vom 20. Dezember 2011, geschehen. Instanzen: LG: Klage erfolgreich OLG: Berufung zurückgewiesen
BGH, Urteil vom 31. März 2016 - I ZR 160/14, GRUR 2016, 710 = WRP 2016, 843 - Im Immobiliensumpf - Tatsachenäußerung oder Werturteil? ▪ Tatsachen: Vorgänge oder Zustände, deren Vorliegen dem Wahrheitsbeweis zugänglich ist ▪ Werturteile: durch das Element des Wertens, Meinens und Dafürhaltens gekennzeichnet ▪ Bei Vermengung von Tatsachen und Meinungen: Äußerung durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt? ▪ Gesamtzusammenhang entscheidet; Schutz des Art. 5 I GG darf nicht dadurch verkürzt werden, dass ein tatsächliches Element aus dem Zusammenhang gerissen und isoliert betrachtet wird oder durch die Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung ihr Sinn verfälscht wird ▪ Volle revisionsrechtliche Nachprüfung
BGH, Urteil vom 31. März 2016 - I ZR 160/14, GRUR 2016, 710 = WRP 2016, 843 - Im Immobiliensumpf - Tatsachenäußerung oder Werturteil? (Forts.) ▪ Einstufung eines Vorgangs als strafrechtlich relevant: regelmäßig Werturteil; Tatsache nur dann, wenn nicht als Rechtsmeinung kenntlich gemacht, sondern beim Adressaten zugleich die Vorstellung von konkreten, in die Wertung eingekleideten Vorgängen hervorruft, die als solche dem Beweis zugänglich sind ▪ Tatsächlicher Gehalt tritt zurück, wenn nicht konkret, sondern pauschal und gänzlich substanzarm ▪ Inhaltlicher Kontext: „50 Fälle der Anfechtung, in denen Kanzlei des Kl. beurkundet hat“; „Abweichung von der Zwei-Wochen-Frist“, „Gute Kontakte zur Bank“; „Ich halte das für organisierte Wirtschaftskriminalität, bei der gezielt Anleger ruiniert werden“; „Solche Leute haben in den Kammern nichts zu suchen“ ▪ Wertender Gehalt überlagert Tatsachenkern; Betrugsvorwurf wird durch faktische Umstände nicht untermauert (Unterschreitung der Zwei-Wochen-Frist reicht nicht aus, da nicht „kriminell“; keine Kenntnis des Kl. von Wucher oder Täuschung)
BGH, Urteil vom 31. März 2016 - I ZR 160/14, GRUR 2016, 710 = WRP 2016, 843 - Im Immobiliensumpf - Tatsachenäußerung oder Werturteil? (Forts.) ▪ Mitteilung der inneren Tatsache „vorsätzlichen Handelns“? ▪ „absichtlich“ oder „bewusst“ sind komplexe Rechtsbegriffe, die wertenden Gebrauch nahelegen; ähnlich „zielgerichtet“ ▪ Hier fehlt es an der Nennung von Indiztatsachen, die auf ein vorsätzliches Handeln schließen lassen könnten ▪ Ergebnis: Werturteil
BGH, Urteil vom 31. März 2016 - I ZR 160/14, GRUR 2016, 710 = WRP 2016, 843 - Im Immobiliensumpf - Herabsetzung gem. § 4 Nr. 7 UWG aF / § 4 Nr. 1 UWG nF ▪ Tatbestand unverändert ▪ „Herabsetzung“: sachlich nicht gerechtfertigte Verringerung der Wertschätzung des Mitbewerbers durch ein abträgliches Werturteil oder eine abträgliche wahre oder unwahre Tatsachenbehauptung ▪ „Verunglimpfung“: gesteigerte Form der Herabsetzung, die darin besteht, den Mitbewerber ohne sachliche Grundlage verächtlich zu machen ▪ Gesamtwürdigung nach den Umständen des Einzelfalls (Inhalt und Form der Äußerung, Anlass, Zusammenhang, Verständnismöglichkeit des angesprochenen Verkehrs). Es entscheidet die Sicht des durchschnittlich informierten und verständigen Adressaten der Werbung
BGH, Urteil vom 31. März 2016 - I ZR 160/14, GRUR 2016, 710 = WRP 2016, 843 - Im Immobiliensumpf - Herabsetzung (Forts.) ▪ Klare Bezugnahme auf den Kl. (namentl. Nennung, Kammertätigkeit) ▪ Vorwurf kriminellen Handelns ggü. einem Rechtsanwalt und Notar wiegt besonders schwer, da die Öffentlichkeit mit diesen Berufsträgern besonderes Vertrauen und die Erwartung von Integrität und Rechtstreue verbindet (Organ der Rechtspflege, § 1 BRAO; Träger eines öffentlichen Amts, § 1 BNotO) ▪ Art. 5 I GG ▪ Anwendbar, da § 4 Nr. 1 dem Mitbewerberschutz und damit nicht der Umsetzung der UGP-RL dient ▪ Keine Schmähkritik ▪ Interessenabwägung zugunsten des Kl. ▪ Zwar öffentliches Interesse (auch wg. des politischen Hintergrunds) ▪ Keine Mitteilung tatsächlicher Umstände, die den Vorwurf des Betrugs rechtfertigen ▪ Erhebliche Beeinträchtigung ▪ Äußerung im Wettbewerb, die strenger zu bewerten ist
BGH, Urteil vom 31. März 2016 - I ZR 160/14, GRUR 2016, 710 = WRP 2016, 843 - Im Immobiliensumpf Leitsätze: 1. Nutzt ein Rechtsanwalt seine Kontakte zu Medien, um über eine Berichterstattung zu aktuellen Rechtsstreitigkeiten vorrangig potentielle Mandanten auf seine anwaltlichen Dienstleistungen aufmerksam zu machen, liegt eine geschäftliche Handlung im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG vor. 2. Zwischen einem Rechtsanwalt und einem Anwaltsnotar, die beide am selben Ort im Bereich des Immobilienrechts tätig sind, besteht ein konkretes Wettbewerbsverhältnis, wenn abträgliche Äußerungen des Rechtsanwalts über die Notartätigkeit sich nachteilhaft auch im Bereich der anwaltlichen Tätigkeit des Anwaltsnotars auswirken können. 3. Eine Tatsachenbehauptung im Sinne des § 4 Nr. 8 UWG 2008 kann ausscheiden und ein Werturteil vorliegen, wenn ein strafrechtlich relevanter Vorwurf erhoben wird, der eine komplexe rechtliche Würdigung erfordert und bei dem der wertende Gehalt der Äußerung einen etwaigen Tatsachenkern überlagert (hier: "Ich halte das für organisierte Wirtschaftskriminalität, bei der gezielt Anleger ruiniert werden"). 4. § 4 Nr. 7 UWG 2008 ist inhaltsgleich in die Neufassung des § 4 Nr. 1 UWG übernommen worden, so dass ein Verstoß gegen § 4 Nr. 7 UWG 2008 zugleich die Voraussetzungen des § 4 Nr. 1 UWG erfüllt. 5. Der gegenüber einem Rechtsanwalt und Notar in einem Zeitungsartikel von einem Rechtsanwalt erhobene Vorwurf kriminellen Handelns und einer gezielten Ruinierung von Anlegern kann besonders schwer wiegen und auch in Abwägung mit der Meinungsfreiheit einen Unterlassungsanspruch wegen Herabwürdigung eines Mitbewerbers begründen, wenn dieser Bewertung im Kontext der Äußerung eine sachliche Grundlage fehlt.
BGH, Urteil vom 7. März 2019 - I ZR 254/16, GRUR 2019, 644 = WRP 2019, 743 – Knochenzement III Sachverhalt: Die Parteien sind Wettbewerber auf dem Gebiet des Vertriebs von Knochenzementen. Die zum H.-Konzern gehörende Beklagte stellte zunächst Knochenzemente für die Klägerin her. Zum August 2005 kündigte sie die Zusammenarbeit mit der Klägerin und vertrieb seitdem eigene Knochenzemente unter der Bezeichnung "P.". Die Klägerin verkaufte im Anschluss an die Kündigung der Beklagten bis zum Jahr 2014 eigene Knochenzemente, die sie unter der Bezeichnung "R.", "B." und "O." vertrieb. Die Einstellung des Vertriebs dieser Produkte im Jahr 2014 beruhte darauf, dass die Beklagte die Klägerin und weitere mit dieser verbundene Unternehmen erfolgreich wegen der Verletzung von Betriebsgeheimnissen gerichtlich in Anspruch genommen hatte. In der Berufungsinstanz dieses Vorprozesses ist es der Klägerin durch Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 5. Juni 2014 (6 U 15/13) verboten worden, ihre Knochenzemente unter Verwertung von Spezifikationen bestimmter Inhaltsstoffe, die das Oberlandesgericht Frankfurt am Main als Betriebsgeheimnisse der Beklagten angesehen hat, herzustellen und zu vertreiben. Das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in diesem Vorprozess ist rechtskräftig geworden. Seit September 2014 vertreibt die Klägerin vom Unternehmen Z. hergestellte "H. "-Knochenzemente.
Sachverhalt (Forts.): Am 21. August 2014 veröffentlichte die Beklagte diese Pressemitteilung:
Urteil vom 7. März 2019- I ZR 254/16 – Knochenzement III Antrag: (…) es zu unterlassen, über das Urteil des OLG Frankfurt am Main vom 5. Juni 2014 (…) zu berichten, wenn und soweit als Grund für das Verbot angegeben wird, die Klägerin habe "(B)ei der Entwicklung und Herstellung des Knochenzementportfolios [...] widerrechtlich Betriebsgeheimnisse von H. verwendet" und/oder "Teile der H. gehörenden Rezepturen widerrechtlich zu Herstellung eigenen Knochenzements verwendet", wenn dies geschieht wie in der Pressemitteilung vom 21. August 2014 geschehen. LG: Klage erfolgreich OLG: Berufung zurückgewiesen BGH: Revision der Beklagten führt zur Abweisung der Klage
Urteil vom 7. März 2019- I ZR 254/16 – Knochenzement III Verstoß gegen § 6 Abs. 2 Nr. 5 UWG? - Herabsetzung oder Verunglimpfung ▪ Sachliche Erörterung oder pauschale Abwertung der Produkte oder persönlichen oder geschäftlichen Verhältnisse des Mitbewerbers? ▪ Zur negativen Werbewirkung des Vergleichs müssen besondere Umstände hinzutreten, die ihn als unangemessen abfällig, abwertend oder unsachlich erscheinen lassen ▪ Gesamtwürdigung von Inhalt, Form, Anlass, Zusammenhang der Äußerung und Verständnismöglichkeiten des angesprochenen Verkehrs
Urteil vom 7. März 2019- I ZR 254/16 – Knochenzement III Verstoß gegen § 6 Abs. 2 Nr. 5 UWG? - Berufungsgericht: ▪ Vorwurf des unrechtmäßigen Verhaltens lasse Klägerin in schlechtem Licht erscheinen ▪ Bezugnahme auf neutrale Instanz (OLG Frankfurt a.M.) wiege besonders schwer ▪ Dass der Vorwurf zutreffe, rechtfertige die Information nicht, da kein sachliches Informationsinteresse des Verkehrs bestehe; Pressemitteilung enthalte keine für die Nachfrageentscheidung maßgebliche Information
Urteil vom 7. März 2019- I ZR 254/16 – Knochenzement III Verstoß gegen § 6 Abs. 2 Nr. 5 UWG? - BGH: unzureichende Gesamtwürdigung ▪ sachlicher Ton der Pressemitteilung ▪ keine pauschale Abwertung ▪ Bezugnahme auf OLG-Urteil spricht gegen Herabsetzung, da dies eine in besonderem Maße sachbezogene und nachprüfbare Grundlage für eine informierte Nachfrageentscheidung darstellt ▪ zeitnaher Anlass wegen des wenige Monate zuvor ergangenen OLG-Urteils ▪ Information ist geeignet, geschäftliche Entscheidungen des angesprochenen Verkehrs zu beeinflussen ▪ Anderslautende tatrichterliche Würdigung hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil sie wesentliche Umstände nicht berücksichtigt hat ▪ Verkehr ist nicht allein an der Lieferbarkeit der Produkte der Klägerin interessiert, sondern - zumal in Bezug auf komplexe, besonders sicherheitssensiblen Produkte - auch an Aussagen über ihre Leistungsfähigkeit ▪ Ob ein Anbieter seine Markstellung durch eigene Entwicklungsleistungen oder durch Verletzung von Betriebsgeheimnissen eines Mitbewerbers erreicht hat, ist für den Verkehr bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Interesse ▪ Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit ist zu berücksichtigen (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 11 Abs. 1 Satz 1 EU-Grundrechtecharta)
Urteil vom 7. März 2019- I ZR 254/16 – Knochenzement III Leitsätze: 1. Die Zulässigkeit einer in Bezug auf konkrete Produkte eines Mitbewerbers erhobenen Behauptung, diese seien unter widerrechtlicher Verwendung von Rezepturen und Betriebsgeheimnissen entwickelt und hergestellt worden, bestimmt sich nach den in § 6 Abs. 2 Nr. 5 UWG aufgestellten Maßstäben. 2. Danach erfordert die Beurteilung der Frage, ob eine Werbeaussage eines Wettbewerbers einen Mitbewerber herabsetzt, eine Gesamtwürdigung, die die Umstände des Einzelfalls wie insbesondere den Inhalt und die Form der Äußerung, ihren Anlass, den Zusammenhang, in dem sie erfolgt ist, sowie die Verständnismöglichkeiten des angesprochenen Verkehrs berücksichtigt. Dabei kommt es maßgeblich auf die Sicht des durchschnittlich informierten und verständigen Adressaten der Werbung an. In die Gesamtwürdigung sind betroffene Grundrechtspositionen einzubeziehen. 3. Ein Wettbewerber kann ein schutzwürdiges Interesse an der Information seiner potentiellen Kunden haben, dass ein Mitbewerber seine Marktstellung in der Vergangenheit nicht durch eigene Leistung, sondern durch eine obergerichtlich festgestellte widerrechtliche Verwertung von dem Wettbewerber zustehenden Betriebsgeheimnissen erlangt hat.
Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 154/16 - Werbeblocker II Sachverhalt: Die Klägerin, ein Verlag, und ihre Tochtergesellschaften verlegen Zeitungen und Zeitschriften (z.B. BILD, Die Welt) und stellen ihre redaktionellen Inhalte auch im Internet zur Verfügung. Dieses Angebot finanzieren sie mit Werbeeinnahmen. Die Beklagte zu 1 vertreibt das Softwareprogramm AdBlock Plus, ein Zusatzprogramm für alle gängigen Internet- Browser, das Werbung auf Internetseiten unterdrückt. Typischerweise werden redaktionelle Inhalte des Online-Angebots von einem Content-Server der Klägerin abgerufen, Werbeinhalte hingegen von Ad-Servern. Ruft der Nutzer eine Internetseite auf, werden redaktionelle und werbliche Inhalte als einheitliches Webseitenangebot dargestellt. AdBlock Plus beeinflusst den Zugriff des Browsers des Nutzers, so dass nur noch Dateien von Content-Servern, nicht aber von Ad-Servern angezeigt werden.
Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 154/16 - Werbeblocker II Sachverhalt (Forts): AdBlock Plus blockiert Werbung nach Filterregeln, die in einer sogenannten Blacklist enthalten sind. Inländische Nutzer von AdBlock Plus verwenden standardmäßig eine internationale und eine deutsche Filterliste ("Easylist" und "Easylist Germany"). Die Beklagte bietet Unternehmen die Möglichkeit, ihre Werbung von dieser Blockade durch Aufnahme in eine sogenannte Whitelist ausnehmen zu lassen. Voraussetzung hierfür ist, dass diese Werbung die von der Beklagten gestellten Anforderungen an eine "akzeptable Werbung" erfüllt und die Unternehmen die Beklagte am Umsatz beteiligen. Bei kleineren und mittleren Unternehmen verlangt die Beklagte für die Ausnahme von der automatischen Blockade nach eigenen Angaben keine Umsatzbeteiligung. Bei der Auslieferung an den Nutzer ist AdBlock Plus so voreingestellt, dass dem Nutzer die in die Whitelist aufgenommene Werbung angezeigt wird. Der Nutzer kann diese Voreinstellung dahin ändern, dass auch von der Whitelist erfasste Werbung blockiert wird. Die Klägerin und ihre Tochtergesellschaften haben mit der Beklagten zu 1 keine Whitelisting-Vereinbarung getroffen. Daher wird sämtliche Werbung auf ihren Internetseiten beim Betrieb von AdBlock Plus blockiert.
Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 154/16 - Werbeblocker II Hauptantrag: …es zu unterlassen, ein Softwareprogramm einschließlich der "EasyList" und der "EasyList Germany" gegenüber Abrufen durch Nutzer von Internetdiensten in Deutschland anzubieten, zu bewerben, hinsichtlich bereits ausgelieferter Versionen zu pflegen oder zu vertreiben oder anbieten, bewerben, hinsichtlich bereits ausgelieferter Versionen pflegen oder vertreiben zu lassen - wie durch AdBlock Plus geschehen - , das Werbeinhalte auf [näher genannten] Internetseiten einschließlich deren mobilen Anwendungen unterdrückt Hilfsantrag: …die Beklagten wie vorstehend angegeben zu verurteilen, wenn und soweit Werbung nur nach von den Beklagten vorgegebenen Kriterien und gegen Zahlung eines Entgelts der Klägerin nicht unterdrückt wird
Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 154/16 - Werbeblocker II ▪ Gezielte Behinderung (§ 4 Nr. 4 UWG) ▪ Beeinträchtigung der wettbewerblichen Entfaltungsmöglichkeiten der Mitbewerber, die über die mit jedem Wettbewerb verbundene Beeinträchtigung hinausgeht und bestimmte Unlauterkeitsmerkmale aufweist ▪ Gezielte Verfolgung des Zwecks, Mitbewerber an ihrer Entfaltung zu hindern und sie dadurch zu verdrängen oder ▪ Behinderung führt dazu, dass die beeinträchtigten Mitbewerber ihre Leistung am Markt durch eigene Anstrengung nicht mehr in angemessener Weise zur Geltung bringen können. ▪ Prüfung erfordert Gesamtwürdigung der relevanten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Interessen der Mitbewerber, Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer sowie der Allgemeinheit
Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 154/16 - Werbeblocker II ▪ Gezielte Behinderung (Forts.) ▪ Verdrängungsabsicht der Beklagten? ▪ Unterdrückung von Werbung auf den Internetseiten der Klägerin beeinträchtigt deren Werbeeinnahmen. ▪ Allerdings steht das Programm der Erzielung von Werbeeinnahmen nicht grds. entgegen, weil es die Möglichkeit der Freischaltung von Werbung durch Aufnahme in die Whitelist eröffnet ▪ Programm setzt mithin die Funktionsfähigkeit der Internetseite der Klägerin gerade voraus ▪ Entgeltlichkeit des Angebots belegt eigenwirtschaftliches Interesse der Beklagten ▪ Interesse der Internetnutzer an der Vermeidung aufdringlicher Werbung wird befriedigt; es handelt sich also um ein marktgängiges Dienstleistungsangebot ▪ Angebot nicht in erster Linie auf Beeinträchtigung der wettbewerblichen Entfaltungsmöglichkeiten der Klägerin gerichtet
Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 154/16 - Werbeblocker II ▪ Gezielte Behinderung (Forts.) ▪ Unmittelbare Einwirkung auf Dienstleistung der Klägerin? ▪ Produktbezogene Behinderung durch unmittelbare Einwirkung auf das Produkt des Wettbewerbers kommt in Betracht, wenn dieses vernichtet, beiseite geschafft, verändert oder beschädigt wird Programm setzt mithin die Funktionsfähigkeit der Internetseite der Klägerin gerade voraus ▪ Einheit von redaktionellen und werblichen Beiträgen auf den Internetseiten der Klägerin wird aufgehoben, das Produkt also verändert. ▪ Aber: Installation und Einsatz des Programms liegen in der autonomen Entscheidung des Internetnutzers
Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 154/16 - Werbeblocker II ▪ Gezielte Behinderung (Forts.) ▪ Mittelbare Einwirkung auf Dienstleistung der Klägerin? ▪ Kann im Vertrieb von Waren oder Dienstleistungen liegen, die geeignet sind, Dritten einen unberechtigten Zugang zu einer entgeltlich angebotenen Leistung zu verschaffen ▪ Unlauter ist regelmäßig auch die Bereitstellung eines Produkts, das auf das Produkt eines Mitbewerbers einwirkt, wenn dabei eine Schutzvorkehrung unterlaufen wird, die eine solche Einwirkung auf das Produkt verhindern soll. ▪ Im Streitfall ist nicht festgestellt, dass das Programm der Beklagten gegen Werbeblocker gerichtete Schutzvorkehrungen des Internetangebots der Klägerin unterläuft ▪ Urheberrechtliche Ansprüche sind nicht Streitgegenstand
Sie können auch lesen