Enthinderung à la Grimm - RefRat HU Berlin
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Zeitung der studentischen Selbstverwaltung Humboldt-Universität collected highlights no. 63 Januar 2010 Enth i n d e r u n g à l a G r i m m Barriere-Uni 75,5 Millionen Euro für Berlins modernste Bibliothek und nicht für 5 Cent nachgedacht. Beim Bau ihres Jakob Wilhelm Grimm Zentrums ignoriert die HU Jahrzehnte politischer Diskurse um Inklusion und Enthinderung. Seiten 3-4 Gar nicht Grimm Keine Prinzessin, kein Prinz. Einfach nur ein Kinderbuch ohne normativen Mist. Wie das geht, verraten die Autor_innen von ‚Unsa Haus‘ im Interview auf den Seiten 14-16 (Eine) deutsche Geschichte Geschichtswissenschaften sind ja sooo objektiv. Auch von NS-WissenschaftlerInnen ge- prägte Begriffe können hier neutral gebraucht werden. Sehr irritierend das alles. Seiten 6-8 Bild: GettysGirl auf flickr.com
Seite 2 HUch! 63 – Januar 2010 editorial Ständische Vertretung Auch im neuen Jahr möchte sich Hans das Glück – Neues aus StuPa und RefRat – noch immer als alleiniges Anrecht einheimsen. Ob nun von den Macher_innen des Grimm Zentrums oder vom RCDS; Märchen werden gern Eine Ehe auf Zeit. Die alljährlichen Wahlen des Student_innenparlaments erzählt. Dass die Arbeit der kleinen Geißlein (StuPa) finden dieses Jahr am 19. und 20. Januar statt. Die Studieren- im Referent_innenRat dabei mehr selbstvertei- den der Humboldt-Universität zu Berlin können auch dieses Mal ihre digend als „extremistisch“ ist, zeigt nicht nur Stimme an eine Person richten, die sie gerne auf den insgesamt 60 zu die Notwendigkeit so manches Studierenden, vergebenen Sitzen sehen würden. Feierlich wird es, wenn mensch sich sich ins Studium einklagen zu müssen - 250 „(i)n dem Bewusstsein, sich konsequent in demokratische studentische Studierwilligen konnte das Referat für Lehre und und universitäre Traditionen einbinden zu wollen, und mit den Erfah- Studium zum Thema Studien-Einklagen im Win- rungen studentischer Selbstvertretung seit dem Herbst 1989, gewillt, zu tersemester 2009/10 beratend zur Seite stehen – studentischen und hochschulpolitischen Belangen konstruktiv Stellung sondern auch der Versuch des RCDS im jahres- zu nehmen und sich an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen zu abschließenden StuPa am 14. Dezember 2009, beteiligen (...)“ zur Wahl begibt. Auch die zu wählenden Menschen sollen sechs von dreizehn Referate kürzen, beziehungs- sich laut Satzung der StudentInnenschaft „ (...) dem Ziel [verpflichten], weise zusammenlegen zu wollen. Wer dabei im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrages eine offene und solidarische wegfallen sollte? Alle die, die nicht Hans heißen, Gesellschaft zu verwirklichen, die die Würde und Freiheit des Einzelnen Weiß und männlich sind und heteronormativen und zugleich Aller sichert“. Dass dabei nicht, wie in der Präambel der Dünnschiss verbreiten. Aus diesem und vielerlei Satzung der Student_innenschaft der HU geschrieben steht, immer und anderen Anlässen geben (selbst-)kritische Stu- von allen Vertreter_innen der Studierendenschaft „die Gleichstellung dent_innen in dieser Ausgabe ihre alternativen der Geschlechter“ sowie der Schutz unserer natürlichen Umwelt im Vorschläge zum Student_innen-Dasein zum Be- Vordergrund stehen, zeigten etliche und schmerzhaft lange Redebeiträge sten. Ganz besonders möchte sich die Redaktion im Amtsjahr 2009. Hoffen wir auf Besserung – ob durch Einsicht oder mit Kristina Voigt bedanken, die unerschütterlich Abwahl. Studierende, die das Ergebnis ihres Kugelschreiber-Einsatzes für enthinderte Zugänge im Grimm-Zentrum live betrachten wollen, sind herzlich zum (sachbezogenen) politischen kämpft und sich weder von Bürokratie noch durch Diskurs in die nächste StuPa-Sitzung am 29. Januar 2010 eingeladen. patriarchalischen In-den-rosaroten-Himmel-Gu- Und noch ein paar gute Nachrichten: Die Berliner S-Bahn hat auf Druck ckern aufhalten lässt! In diesem Sinne wünschen der Studierendenvertretungen der Berliner und Potsdamer Univer- auch wir allen ein frohes Neues und Mut zur Tat! sitäten und Fachhochschulen auch den Student_innen endlich eine Rückzahlung in Höhe von 26,44 Euro an Studierende des derzeitigen HUch! Wintersemesters angeboten. Momentan kann noch nichts ausgezahlt werden, weil die Übernahme der anfallenden Verwaltungskosten noch immer nicht geklärt wurde. Wir werden euch in jedem Fall auf der Homepage des Referent_innenRats und über Aushänge updaten. inhalt 3 Barrieren im Märchenland Grimm-Zentrum mit Hindernissen 5 AntiRa-Referat VV und Neubesetzung 6 Geschichten aus der Geschichte ‚Nazi-Ideologen‘ und ‚Innovatoren‘ 8 FrauenLesbenTrans*Tresen Selbstdarstellung 10 Demokratie und Zensur PM: Das UnRecht zur Kritik 12 Bildungsstreik Erfolg und soziale Herkunft 13 Viele Wege führen nach... Bildungssystem und Rassismus 14 Unsa Haus Alle Bilder in diesem Heft sind Teil des nicht normativen Kinderbuches Unsa Haus. Wir bedanken uns dafür herzlichst bei dem Anti-Discrimination Future Project. Das Ein nicht normatives Kinderbuch Interview zum Buch und zum Projekt selbst findet ihr auf den Seiten 14-16.
Seite 3 Barrieren im Märchenland Auch im neuen Jahr geht der Kampf um Barrierefreiheit im Jacob-und-Wilhelm-Grimm- Zentrum weiter. Warum dem HU Präsidenten, Christoph Markschies, das Lachen vergangen ist und Ewald Schwalgin, Leiter der Technischen Abteilung, sich das neue Jahr anders vorgestellt hat, erklären Kristina Voigt und Anett Zeidler. S chon die Gebrüder Grimm wussten es: Weiße Steine leuchten nur, weils Dunkel drum herum ist. Dieser Trick half schon Hänsel und Gretel aus dem dunklen Wald wieder herauszufinden. In diesem Sinne stehen die weißen Marmortreppen des ‚modernen‘ und nen der HU-Berlin als auch denen 75,5 Millionen teuren „Schatzbaus“ stellvertretend für der Senatsverwaltung für Stadtent- das Bewusstsein der Macher_innen: Notwendigkeiten wicklung und des Architektenbü- werden als Mängel neben anderen deklariert, schweiß- ros „Max Dudler“, das zufriedene Lächeln treibend errungene Einsichten unter ‚Sonderbehandlung‘ über den „Schatzbau“, der bereits mit dem abgestempelt. Die einheitliche, normativ gesunde Masse Architekturpreis 2009 ausgezeichnet wurde, ohne Kontraste reproduziert sich selbst bis in den letzten an diesem Samstagabend aus dem Gesicht Winkel. Stufenvorderkantenmarkierungen? Es herrscht getrieben haben. Verzicht auf ganzer Linie. Nicht nur für Menschen mit einer Rest-Sehfähigkeit besteht hohe Sturzgefahr. Selbstbestimmung statt Fürsorge Es war einmal... Entgegen der Behauptung von Edwald Schwalgin, Leiter der technischen Abtei- Am 12.Oktober 2009 wurden die Türen des Grimm- lung der HU Berlin, es sei behinderten- Zentrums erstmals für Studierende und Interessierte gerecht geplant und gebaut worden, ist deutlich geöffnet. Zirka 2,5 Millionen Bücher, 1250 Arbeitsplätze, erkennbar, dass dies eben nicht der Fall ist. Im Be- ein PC-Pool, Videokonferenzräume, Schulungs- und hindertengleichstellungsgesetz (BGG) § 4 wird Barriere Versammlungsräume, ein Forschungslesesaal, Multime- freiheit wie folgt definiert: „Barrierefrei sind bauliche diaarbeitsplätze, Gruppenarbeitsräume, Einzelarbeits- und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Ge- kabinen, ein Eltern-Kind-Bereich, Lese- und Lümmel- brauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbei- sofas, drahtlose Netzanbindung, Kopier-, Druck- und tung, akustische und visuelle Informationsquellen und Scanservice - all das lässt sich im neuen Bibliotheksbau Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete finden. Laut HU Berlin würde das Grimm Zentrum zu- Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in sammen mit dem Erwin-Schrödinger-Zentrum auf dem der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwer- Campus Adlershof und den dezentralen Einrichtungen nis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich die Informations- und Kommunikationsversorgung und nutzbar sind.“ Im BGG, das am 1. Mai 2002 in Kraft einer hervorragenden Universität für das 21. Jahrhundert getreten ist, kommt der Paradigmenwechsel bundesweit sicherstellen. und konsequent zum Ausdruck - „Selbstbestimmung Nach einer Begehung des Grimm-Zentrums am 28. statt Fürsorge“ ist seitdem der Leitgedanke. Im Grimm- Oktober durch die Architekten Peter Woltersdorf und Zentrum wurden aber nicht nur einfache Planungs- und Klaus-Dieter Wüstermann sowie durch die Studentin Ausführungsfehler gemacht, die zum Teil schnell und Kristina Voigt wurden hingegen ungewöhnlich viele kostengünstig behoben werden könnten, sondern es Barrieren für einen Neubau gefunden. Resultat: Eine wurde sogar gegen das Baurecht verstoßen, wie sich sechs-seitige Mängelliste. am Beispiel der gänzlich fehlenden Handläufe an der zentralen Treppenanlage nachweisen lässt. Laut Berliner … ein Samstag im Dezember Bauordnung § 34 und § 51: sind „Für Treppen Hand- läufe auf beiden Seiten [...] vorzusehen“ und „Treppen Gut einen Monat ist es her, da wurde in der rbb-Abend- müssen an beiden Seiten Handläufe erhalten, die über schau am 12.12. 2009 ein Beitrag mit dem Titel „Stress Treppenabsätze und Fensteröffnungen sowie über die durch Barrieren“ ausgestrahlt. Thematisiert wurde letzten Stufen zu führen sind.“ Damit wurde im Grimm- die Barrierevielfalt des Jacob-und-Wilhelm-Grimm- Zentrum ordnungswidrig gehandelt (BauO Bln § 83 (1)). Zentrums. Jürgen Schneider, der Berliner Landesbeauf- Des Weiteren lassen sich an mehreren Stellen Diskrimi- tragte für Menschen mit Behinderung und Studiogast an nierungstatbestände finden, die ebenfalls zeitnah und diesem Abend, zeigte auf, dass es in der Bibliothek der fachgerecht ausgeräumt werden müssen! Humboldt-Universität zu Berlin „erhebliche Verstöße gegen die Berliner Bauordnung“ gibt, die als „Ord- Gedankenlosigkeit, Inkompetenz... nungswidrigkeiten“ eingestuft und mit „Bußgeldern bis zu 500.000 Euro“ belegt werden können. Zudem Gleich zu Beginn der intuitiven Erschließung des Ge- spricht die Moderatorin, Cathrin Böhme davon, dass der bäudes fällt auf, dass auf die allgemein üblichen – und „Behinderten-Verband den Bauherrn verklagen“ will. in Fachkreisen grundsätzlich geforderten Leit- und Ori- Dieser Beitrag dürfte den Verantwortlichen, sowohl de- entierungssysteme – verzichtet wurde. Bereits auf dem
Seite 4 HUch! 63 – Januar 2010 Vorplatz, anschließend im Foyer und letztendlich im Fortsetzung folgt... gesicherten Bibliotheksbereich können sich Menschen mit Einschränkungen der sensorischen und kognitiven In der Sitzung des Akademischen Senats der HU Berlin Fähigkeiten nur mit fremder Hilfe orientieren. Taktile, vom 08.12.2009 wurde einstimmig die Einrichtung einer kontrastreiche, leicht verständliche und intuitiv zu fin- Kommission für Barrierefreiheit beschlossen. NACH der dende Informationen zur selbstbestimmten Nutzung des Ausstrahlung der rbb-Abendschau vom 12.12.2009 zeigte Gebäudes sucht mensch vergebens. sich Ewald Schwalgin einsichtig und räumte ein, dass die Auch Rollstuhlfahrer_innen finden sich in diesem Zentrale Universitätsbibliothek Mängel im Hinblick auf Bau in der weit verbreiteten Rollenzuschreibung des eine barrierefreie Nutzung aufweist. Auch der Präsi- Sonderlings wieder. Sonderzugänge, Sondergarderobe, dent der HU, Christoph Markschies, bedauerte nach Sondertoilette - Sonderbehandlung! An der Gebäudesei- einer gemeinsamen Begehung und der nachfolgenden te zur Planckstraße zum Beispiel führt eine verwinkelte Medienberichterstattung zusammen mit weiteren Ver- Rampe zu einem separierten Eingang, der momentan antwortlichen die unzureichende Situation und sicherte nur für Mitarbeiter_innen mit Ausweis zugänglich ist. mündlich wie schriftlich zu, dass es nun auf eine schnel- Nach langen Wegen auf dem Vorplatz, der mit archi- le, koordinierte und kompetente Behebung der bereits tektonisch ‚wertvollen‘ Stufen statt mit funktionalen vorhandenen, aber auch noch ergänzend zu erstellenden Schrägen versehen wurde, findet sich der Haupteingang Mängellisten ankomme. Ende Dezember wurde zudem mit zwei Karussell-Türen. Die sind allerdings so schmal, eine Zusammenarbeit mit von Planung und Bau unab- dass sie nur von einer Person zu nutzen sind und auch hängigen Kompetenzpersonen gesucht. keinen Platz für Rollstuhlfahrer_innen bieten. Folglich Ein Anfang wurde gemacht und weitere Schritte wer- gibt es auch an dieser Stelle wieder eine Sonderlösung. den (hoffentlich!) folgen. Auch wenn drei Monate nach Eine Drehflügeltür mit Automatik und Türöffner (Ta- Semesterbeginn und damit drei Monate nach erstma- ster). Letzterer wurde allerdings nicht nach Vorschrift liger Toresöffnung des Grimm-Zentrums der Eindruck und auch nicht nach Logik angebracht, sondern so, dass erweckt wird, die Gefahr sei erkannt und damit gebannt, er nicht ohne fremde Hilfe betätigt werden kann. so muss an dieser Stelle relativierend gesagt werden, dass diese Entwicklung kein Selbstläufer war. Von mehreren Und wenn sie nicht... Seiten wurden im Vorfeld, erstmalig im März 2009 auf einer Sitzung der Senatsverwaltung für Stadtentwick- Allein zwei Tische von 1250 Lese- und Computerarbeits- lung, auf die diskriminierenden Zustände aufmerksam plätzen sind elektrisch höhenverstellbar. Leider befin- gemacht. Auf Verständnis und Eingeständnis seitens den sie sich ausschließlich im Erdgeschoss und lassen der Verantwortlichen stößt mensch erst jetzt – nach sich noch dazu nicht so weit absenken, dass sie von zeitintensivem und nervenzehrendem Einsatz von Men- Menschen mit Kleinwuchs nutzbar wären. Im zweiten schen, die das Gebäude selbstbestimmt nutzen möchten Obergeschoss wurden die mietbaren Arbeitskabinen und von Menschen, die es nicht akzeptieren können, für Doktorand_innen und Examenskandidat_innen dass unsichtbare Barrieren in den Köpfen auch noch eingeplant. Zwei davon sind für “behinderte” Nutzer_in- zu sichtbaren in der Gesellschaft werden. Bis zum 12.12. nen gekennzeichnet. Seltsamerweise wurde ausgerechnet 2009 wurden Anregungen und Mängelbenennungen auf dieser Etage auf einen großflächigen Sanitärbereich von Herrn Schwalgin, Herrn Bulaty und Herrn Wilke verzichtet. So müssen Rollstuhlnutzer_innen lange Wege belächelt und abgewiesen. Ob sie heute, öffentlich der mit zum Teil nicht funktionierenden Tastern und über- Inkompetenz überführt, immer noch lächeln, ist nicht belegten Aufzügen in Kauf nehmen. bekannt.
Seite 5 Neubesetzung des AntiRa-Referates AusländerInnen Vollversammlung Es ist mal wieder soweit. Die 8. Sitzung des 17. StuPas steht an und das AntiRa-Referat ist neu zu besetzen. Chamberlin Wandji, der sich für den Posten bewirbt, stellt sich in einem Interview mit der derzeitigen AntiRaReferentin Fathiyeh Naghibzadeh vor. W ie bei den anderen Referaten auch üblich, weiß, dass Du in dem Bereich sehr viel Erfahrung hast. kann das Referat für AntiRassismus von einer oder von zwei Personen geführt werden. Der/ Chamberlin: Seit Januar 2007 habe ich mit acht ande- die ReferentInnen werden vom StudentenInnenparla- ren MitstreiterInnen die „Afrika-Initiative“ gegründet ment bei der Wahl am 29. Januar 2010 bestimmt. Da mit dem Ziel, allen AfrikanerInnen, die in Deutschland wir eine möglichst große Beteiligung von MigrantInnen leben, einen Raum zu geben, in dem sie sich selbst mit sicherstellen wollen, gibt es davor eine AusländerInnen– ihren Alltagsproblemen (Abschiebung, Residenzpflicht, Vollversammlung. Dort können sich alle interessierten, Rassismus, Diskriminierung, Aufenthalt, Bildung, u.a.) ausländischen Studierenden als KandidatInnen vorstel- beschäftigen können. Diese Zielsetzung ist nur möglich, len oder sich einfach an der Diskussion beteiligen. Wenn wenn wir uns an andere ausländische Communities möglich, soll diese Vollversammlung eine Empfehlung annähern können, denn Austausch und Netzwerkarbeit an das StuPa bezüglich der KandidatInnen ausspre- sind Kernsache unserer politischen Arbeit. chen. Das AntiRa-Referat braucht den Input und die Ich bin seit 2005 sehr mit den Fällen Oury Jalloh und Unterstützung der ausländischen Studierenden: Welche Dominique Koumadjio beschäftigt. Diese zwei Men- Wünsche habt Ihr an die Arbeit des AntiRa-Referats? schen wurden von PolizistInnen in Dessau bzw. in Was sind eurer Meinung nach seine wichtigsten Aufga- Dortmund ermordet und bis heute kämpfe ich immer ben? Und welche Aussenwirkung soll das AntiRa-Referat mit anderen AktivistInnen um Gerechtigkeit. Seit haben? Wir hoffen auf eine möglichst zahlreiche Beteili- Dezember 2005 organisiere ich mit anderen Flücht- gung von Euch. Ort und Zeit erfahrt ihr in Kürze auf der lingen aus verschiedenen Organisationen eine Gegen- Homepage des RefRats. Innenministerkonferenz innerhalb der BRD für die Der Schwerpunkt der derzeitigen AntiRa-Referentin Rechte der Flüchtlinge. Nachdem ich im Februar 2006 Fatiyeh lag darin, Informationen zur iranischen Studen- in Cottbus von zehn jungen Leuten aus der rechten tInnenbewegung zusammenzustellen und besonders Szene angegriffen wurde, habe ich in dieser Stadt eine die Rolle der Frauen in dieser Bewegung zu reflektieren intensive Kampagne gegen Rassismus und alle Formen und in Artikeln und Veranstaltungen Informationen, an der Diskriminierung eingeführt und zahlreiche Demos denen ein großer Bedarf besteht, an die Studierenden und Aktionen zur Sensibilisierung der Bevölkerung und die Gesellschaft in Deutschland weiterzugeben. veranstaltet. Diese verschiedenen Aktionen sahen die Chamberlin Wandji möchte sich nun mit eigenen Ideen Mitwirkung beziehungsweise die aktive Unterstützung und Zielen für dieses Amt bewerben und hofft auf eine von PolitikerInnen und Prominenten aus Cottbus, wie Zusammenarbeit mit einer weiteren Person. Welche zum Beispiel den Bürgermeister, den Polizeipräsidenten Wege er in seiner Amtszeit gehen möchte und welche und die Oberrichterin vor. Erfahrungen und Wünsche er mitbringt, erzählt er uns in einem Interview. Fathiyeh: Warum möchtest Du AntiRa Referent werden? Was willst Du als AntiRa-Referent machen? Fathiyeh: Was studierst du? Chamberlin: Seit Anfang meines Studiums interessiere Chamberlin: Ich bin Chamberlin Wandji und ich ich mich für die Hochschulpolitik und bin dabei auch studiere Agrarwissenschaft in der LGF der Humboldt sehr aktiv. So bin ich im Januar 2009 als Mitglied des Universität. StuPa gewählt worden. Jetzt will ich, aufgrund meiner Erfahrung, für das AusländerInnenreferat kandidieren. Fathiyeh: Was für einen kulturellen Hintergrund hast Du? An dieser Stelle würde ich mehr Engagement in der Wie lange bist Du hier in Deutschland? Hochschulpolitik einbringen und vor allem mich für die Interessen der ausländischen Studierenden einsetzen. Chamberlin: Ich komme aus Kamerun. Ich bin seit fünf Meine Motivation kommt dadurch, dass viele Entschei- Jahren in Deutschland, als Flüchtling angekommen und dungen innerhalb der Uni getroffen werden, ohne dass bin seit meiner Ankunft in verschiedenen Flüchtlings- ausländische Studierende beteiligt sind. Ich möchte organisationen u.a. FIB (Flüchtlingsinitiative Branden- genau an dieser Stelle eine Mobilisierung und Sensibi- burg), JOG (Jugendliche Ohne Grenzen), Oury Jalloh lisierungsarbeit in die Richtung der ausländischen Stu- Initiative und Black-African-Community sehr aktiv. dierenden machen um ihre Teilnahme beziehungsweise Mitwirkung in der Hochschulpolitik zu fördern. Fathiyeh: Kannst Du uns bitte kurz über deine Aktivitäten im Bereich Menschenrechtsorganisationen erzählen? Ich Vielen Dank!
Seite 6 HUch! 63 – Januar 2010 'Nazi-Ideologen' und 'Wissenschaftliche Innovatoren' Das 'Volk' – ein innovativer Begriff? Wie durch Loyalität zur Weiß/deutschen Geschichtswissenschaft eine Neudeutung rassistischer Begriffe vollzogen wird. Von Enrique Martino. D ieses Wintersemester hielt ich in einem Haupt- seminar zu Reinhard Koselleck ein Referat zum ‚Volksboden‘ nach dem Versailler Vertag zu legitimieren, Thema ‚Nazi-Volksgeschichte‘. Ich behauptete, wird darauf beharrt, dass sich im Kern dieser Forschung dass der Begriff ‚Volk‘ noch heute ähnliche rassifizie- eine Grundlage des Fortschritts der wissenschaftlichen rende und hierarchisierende Fantasiekonstruktionen Methoden der Geschichtszunft finde. Grund für das hervorriefe wie im Nationalsozialismus. Daraufhin un- Zurückgreifen auf die Volksgeschichte schien unter terbrach mich Professor Doktor Thomas Mergel brüsk anderem der Versuch zu sein, eine ‚eigene‘ deutsche mit einem „Stimmt nicht!“. Mergel argumentierte im Sozialgeschichtswurzel nachzuzeichnen. Dieses wissen- Seminar explizit für die ‚Wandelbarkeit der Begriffe‘ und schaftsgeschichtliche Vorhaben diente im Grunde dazu, deutete die Möglichkeit einer Neudeutung des Wortes Theorieverflechtungen mit der “Geschichte von Unten” ‚Volk‘ an: “(D)er Nationalsozialismus und der Zweite der britischen Kommunisten und der französischen Weltkrieg haben diese Kategorie wohl ein für alle Mal Annales-Schule zu umgehen, die zwar auch Statistiken desavouiert; grundsätzlich hätte der Volksbegriff weiter- benutzten, aber das Manko hatten, nicht deutsche faschi- leben können.”1 Als ich dies las, musste ich erst lachen, stische Intellektuelle gewesen zu sein. Die Verteidigung dann sprach ich das Wort aus und versuchte, in Worte des unideologischen Charakters der reinen Wissenschaft zu fassen, was genau an dem Wort im Halse stecken über das ‚Volk‘ heute, deutet auf eine derzeitige Re- blieb: Die Annahme, das Wort ‚Volk‘ könne ‘objektiv’ flexreaktion auf das Eindringen der ‚beliebigen Trends‘ benutzt werden, indem angegeben wird, es bezöge sich (wie Poststrukturalismus und Cultural Studies) in die nicht auf ihren ideologisierenden Gebrauch während des deutsche Universitätslandschaft hin. Wenn schon darauf NS-Regimes, ist gelinde gesagt unaufrichtig. Doch gerade bestanden wird, dass etwas von den Nazihistorikern zu das Interesse an einer objektiven Operationalisierung des lernen sei, dann sollten deren Methoden als diskursive Volksbegriffs ist in der deutschen Sozialwissenschaftsge- Legitimierungsmittel der NS-Politik studiert werden, 1 Thomas Mergel: Kulturgeschich- schichte weit verbreitet. wie es mehrere jüngste, die Disziplin aufarbeitende te - die neue „große Erzählung“? Wissenssoziologische Bemerkungen Dissertationen tun.3 Die Objektivität ihrer Methoden zu zur Konzeptualisierung sozialer Wirk- Die ‚wissenschaftliche‘ Debatte fetischisieren, erinnert an das Symptom jener, die – auf lichkeit in der Geschichtswissenschaft. die Weisheit der Väter bestehend – nicht gegen ihre Na- In: Wolfgang Hardtwig, Hans-Ulrich Das Wort ‚Volk‘ ‘objektiv’ heranzuziehen, verschleiert zieltern rebellierten - aus Angst französisiert zu werden. Wehler (Hg.) 1996: Kulturgeschichte nicht nur seine ideologischen, rassifizierenden Implika- heute. Göttingen. S.52. tionen im gegenwärtigen Deutschland. Auch wird von … und was noch mitschwingt Mergel und vielen anderen bekannten Historiker_innen 2 Mergel, ibid 51. behauptet, dass sich die Kategorie ‚Volk‘ der 30er Jahre Inzwischen habe ich das Seminar verlassen, was es dank der wissenschaftlichen Methoden der Volkshi- mir erlaubt, meine frustrierte Ungläubigkeit über jene 3 Ingo Haar and Michael Fahlbusch storiker durch soziologische Objektivität auszeichne. Situationen, die sich im Seminar und in anschließenden (Hg.) 2005: German scholars and ethnic cleansing 1919-1945. Berghahn Diese Kontroverse um den Status der Nazihistoriker, Konversationen zugetragen haben, mitzuteilen. Warum Books. die als Vorväter und Gründer der Sozialgeschichte der ist die Maskerade des ‚unideologischen‘, sogar ‚wissen- Adenauer-Zeit gelten, wird seit den 90er Jahren im Kern schaftlichen‘ Werts des Begriffs ‚Volk‘ so erschütternd? der deutschen Geschichtswissenschaften geführt. Mergel Und inwiefern strukturiert nationales Denken die Wis- räsonierte zum wissenschaftlichen Wert des Volksbe- senschaftsgeschichte der heutigen deutschen Geschichts- griffs der Volksgeschichte der Nazizeit wie folgt: „Auch zunft? wenn es heute die ideologischen Barrieren erschweren, Zusammengefügt oder pluralisiert, wie in ‚Volks- darin eine tatsächliche wissenschaftliche Innovation republik China‘ oder in die ‚Völker Lateinamerikas‘, zu sehen, handelte es sich doch um den ernsthaften trägt das Wort andere Konnotationen. Zwar sind diese Versuch, einen neuen Metabegriff zu etablieren.“2 Die Beispiele immer noch unangemessene Übersetzungen, Volkshistoriker seien also ‚innovativ‘ gewesen, da sie da die sprachliche Vorstellungswelt dabei der koloni- Statistiken und Soziologie nutzten, um Kategorien wie alen und nationalistischen Form einer ‚vormodernen Familie und Grundbesitz der ‚Volksdeutschen im Osten‘ und organischen‘ ethnischen Homogenität verhaftet zu analysieren. Obwohl dieses Wissen gezielt dafür bleibt. Im Singular und auf Deutsch ist ‚das Volk‘ jedoch produziert wurde, einen territorialen Anspruch auf den unverkennbar und stellt schwerlich das von Mergel
Seite 7 behauptete deutschsprachige Äquivalent zu „plebs“, the people oder den nicht-adligen dar. Die Geschichtlichkeit des Wortklangs wird – durch archivierte, auditive und auf angebrachte Schlüsselbegriffe wie ‚Definitionsmacht‘ visuelle Technologien zur unendlichen Wiedergabe ge- und Theorien wie denen von Gayatri Chakravorty speichert – in Schulen, Museen oder Dokumentarfilmen Spivak verwiesen hatte, schrieb mir Mergel eine per- in das Allgemeingedächtnis eingeschrieben. Auditive sönliche E-Mail. Um auch diesem Artikel ein bisschen Medien verleihen der auf Tonband archivierten neuesten (im Seminarraum ungewollten) Humor hinzuzufügen, Geschichte eine gespenstische Unsterblichkeit: Das Ge- soll seine Email an mich an dieser Stelle direkt zitiert sicht verzerrt sich als Effekt der gespeicherten Geschichte werden: „Wenn Sie in der Wissenschaftlergemeinde, des Wortes; die Aussprache der Wortgeräusche wird in der Sie sich hier befinden, kommunizieren wollen, sofort mit der Frequenz der 30er Jahre kurzgeschlossen. dann ist es sinnlos, die Selbstverständlichkeiten, die wir Was dabei durch das wiederholte Aufgreifen des Wortes haben, in Frage zu stellen und gleichzeitig Ihre eigenen ‚Volk‘ und in die Porosität des Wortes selbst hinein unbefragt als „wahre“ zu inszenieren.... Erstens versteht sickert, sind die Aufnahmen von Getöse und virulenten sich der Wissenschaftsbegriff, den Sie voraussetzen, als Stimmen. Die Behauptung ‚Volk‘ in einem neuen, gar selbstverständlich und immer politisch. Wie sehr er aber unideologischen Kontext, umdeuten zu können, beruht selbst interessiert ist und politischen Bias hat, reflektie- auf einer naiven und linearen Sicht der Zeit und auf der ren Sie nicht - jedenfalls nicht öffentlich. Zweitens steckt Annahme von Wissenschaft als objektive Ebene, die der darin immer eine emphatische Selbstzuschreibung als Macht der Sprache und dem gespenstisch-realen der „Sprache der Subalternen“ (oder wie man das immer fas- Geschichte entkommen könnte. Traumata wirken so ein- sen möchte). Gleichzeitig ist sie so hochabstrahiert, oft dringlich, weil Zeit gerade nicht als jeweils ‚neue Etappe‘ formelhaft und hermetisch, dass jedenfalls die Subalter- verläuft, was es erlauben würde, sich durch eine Neudeu- nen nicht so sprechen. Die Sprache ist auch bei Ihnen ein tung aus der Vergangenheit des Wortes herauszuwinden. Herrschaftsinstrument“. Die Vergangenheit bleibt in der Gegenwart. Einige Tage später, in einem Konferenzvortag zu Kosellecks Buch Kritik und Krise und anderen Themen, ‚Selbstverständlich‘ Subaltern verkündete Mergel dem Publikum, er neige nun dazu, „Kritik“ durch das Wort „Irritation“ zu ersetzen. Was Die von Mergel instrumentalisierte Seminarraum-Har- bestenfalls in manchen Seminarräumen ankommt, ist monie bedingte eine leichte Irritation; mitunter indem dann die Rolle der Irritierenden, die als unerklärlich sie es geradezu forderte, ein anderes, unverzichtbares unangenehme Geste gegen bestimmte unkritischen Vokabular einzubringen. Nachdem ich in der Diskussion Harmonien agitieren.
Seite 8 HUch! 63 – Januar 2010 Frauen_Lesben_Trans* Tresen – über uns, unser Konzept und mehr – Seit dem Sommersemester 2009 findet jeden Dienstag in der Krähe im Ostflügel der HU ein Frauen_Lesben_Trans* Tresen statt. Hiermit möchten wir unser Konzept vorstellen und Transparenz schaffen. Vom FLT*-Tresen W ir sind eine lose zusammenhängende Gruppe entsprechen zu müssen. Ich sollte also schlank, attraktiv von Studierenden an der HU, die sich und ‚weiblich‘ sein. Auf keinen Fall darf ich so aussehen, zusammengefunden hat, um dem hetero- dass Menschen mich nicht mehr eindeutig als ‚Frau‘ er- normativen Alltag im Allgemeinen und besonders an kennen können. Und auf keinen Fall sollte ich ein breites der Uni etwas entgegen zu setzen. Heteronormativität, Kreuz haben und Power, mit der ich locker allen meinen Homophobie und Transphobie (und vieles mehr) sind ‚männlichen‘ Freunden ein schickes Veilchen verpassen gesamtgesellschaftliche, strukturelle Probleme, die sich kann. Ich sollte sanft und einfühlsam sein. Ganz einfach in allen Bereichen des Lebens wiederfinden und auch an eben ‚weiblich‘. Wir aber wollen alles sein und das nicht der Uni-Tür nicht Halt machen. Momentan gibt es an gekoppelt an gender oder sex! der HU – neben ein paar wenigen emanzipatorischen – keinerlei Strukturen, die sich bewusst darum bemühen, Du darfst hier nicht rein! einen Raum zu schaffen, innerhalb dessen Heteronor- mativität explizit Thema oder eben nicht Thema ist. Derzeit sehen wir uns als „Organisator_innen“ des Wir sehen es als eine Notwendigkeit an, diese Situa- Frauen_Lesben_Trans* Tresens besonders mit zwei tion zu verändern und einen Raum zu schaffen, in dem Problemen konfrontiert: Auf der einen Seite ergibt sich sich Frauen_Lesben_Trans* wohl fühlen und entspannt durch unsere Entscheidung, die Krähe am Dienstag nur abhängen können, ohne sich durch „Rumgemackere“ für Frauen_Lesben_Trans* zu öffnen, das Problem, und/oder ähnliches gestört, genervt und/oder belästigt dass sich so mancher Hetero-Macker stark diskrimi- zu fühlen. niert und ausgeschlossen fühlt. Sehr häufig kommt es dazu, dass eben diese Leute (bewusst) provozierend die Die heteronormative Vorstellungswelt Krähe aufsuchen, um ihren Unmut über diese „Unver- schämtheit“ und „Diskriminierung“ kundzutun. An Heteronormativität bedeutet für uns, sich für eines der dieser Stelle kämpfen wir immer wieder mit langen und ‚beiden‘ Geschlechter, also ‚Frau‘ oder ‚Mann‘, entschei- besonders auch langweiligen bis wahnsinnig anstren- den zu müssen – oder, dass diese Entscheidung ohne genden Diskussionen. Diese nervigen Diskussionen unsere Meinung bereits getroffen wurde. Heteronorma- führen dazu, dass wir uns manchmal überfordert, tivität bedeutet, heterosexuell sein zu müssen und als gereizt, genervt, verzweifelt und gelangweilt fühlen. Auf ‚Frau‘ den gegenwärtig ‚weiblichen‘ Schönheitsidealen der anderen Seite möchten wir ein offener Raum für
Seite 9 Definitionsmacht zu definieren, was den Freiraum einer Person einschränkt Definitionsmacht ist ein vielseitiger Begriff, der in verschie- und was nicht. Jede_r setzt sich individuell Grenzen, die für denen linken Kontexten gebraucht wird, um zu hinterfra- niemanden als solche zur Debatte stehen und auch nicht gen, wer aus welcher Position heraus die Macht inne hat, am Tresen oder im Plenum hinterfragt werden [dürfen]. Zusammenhänge, Subjekte, Identitäten, Sachverhalte etc. Kommt es also zu sexualisierter Gewalt und die_der zu definieren. Damit sollen Herrschafts- und Unterdrü- Betroffene wendet sich auf der Suche nach Unterstützung ckungsverhält- an andere und macht die Grenzüberschrei- nisse transpa- tung [be- dingt] öffentlich, stehen rent gemacht Fragen nach der genauen werden und Situati- on oder dem Verhältnis zum Beispiel zwischen der_dem der bürgerlichen Betroffe_nen und Justiz etwas entge- dem_der Täter_in gengesetzt werden, im Gegensatz zur das den Betroffenen individuellen De- den Status von politischen finitionsmacht und Akteur_innen zuspricht. widersprechen ihr. Im Konkreten bezieht sich dieses Es spielt dabei auch Konzept auf den Umgang mit sexua- keine Rolle, ob der_die lisierter Gewalt auch (und vor allem) in Täter_in „eigentlich der eigenen Szene, Gruppe oder Beziehung. ein_e ganz Liebe_r“ Statt sexueller Gewalt verwenden wir den Begriff ist und „einfach nur sexualisierte Gewalt. Letzterer weist darauf hin, zu viel getrunken“ hat. All dies dass es bei solchen Situationen nicht primär um schützt den_die Täter_in. Um den_die Sexualität, sondern vielmehr um die Aufrecht- Betroffene_n zu schützen und sie nicht länger erhaltung und Herstellung von [patriarchalen] der Gefahr auszusetzen, dass sie dem_der Machtverhältnissen geht. Dabei wird Sexualität Täter_in wieder begegnen muss, ist es sinnvoll als Mittel gebraucht, um das Selbst-bestim- den_die Täter_in des Raumes, der Party oder mungsrecht einer Person über ihren eigenen des Plenums zu verweisen. Dies geschieht Körper auszuhebeln. Sexualität und sexuelle Be- mindestens so lange, bis der_die Betroffene friedigung stehen also nicht im Vordergrund. Viel- - sofern sie_er das ausdrücklich wünscht und mehr dienen sie als Mittel zum Zweck der Gewalt. sonst nicht - wieder in der Lage ist, die Anwe- Sexualisierte Gewalt macht auch nicht vor linken senheit des_der Täter_in zu akzeptieren. oder emanzipatorischen Zusammenhängen halt: Allerdings muss sich sexualisierte Gewalt Auf dem wöchentlichen Plenum, im Hausprojekt, gar nicht an einzelnen Situationen festma- auf der Soliparty oder im Freund_innenkreis kann es chen lassen: Patriarchale und sexistische zu sexistischen Übergriffen oder Grenzüberschreitungen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse kommen. Dabei muss der_die Täter_in gar nicht mal über- können auch im Redeverhalten oder in Benennungs- griffig werden. Oftmals genügen dumme Sprüche, nervige praktiken zum Ausdruck kommen. Auch hier gilt: Jede_r Blicke oder Gegröle, die als ätzend empfunden werden. Es setzt sich seine_ihre Grenzen selbst! Verhandelt nicht mit ist also nicht möglich, formal oder gar vermeintlich objektiv dem_der Täter_in, es gibt hier keinen Minimalkonsens! Frauen_Lesben_Trans* sein und wollen eigentlich keine und immer wieder die angelernte Scheiße, wie Sexismus, Türsteher_innen-Politik. Gerade deshalb, weil wir keine Rassismus, Antisemitismus und vieles andere. Daher ist Menschen definieren wollen und uns eigentlich wün- es uns wichtig, auch unsere eigenen Sprechpositionen zu schen, dass alle selber entscheiden, ob sie sich irgendwie markieren. Das bedeutet für uns, zu sehen, dass wir alle als Frauen_Lesben_Trans* fühlen oder eben nicht. weiß sind und beispielsweise alle Student_innen sind. Da- Diese zwei Punkte (provozierende Hetero-Macker und mit versuchen wir reflektiert umzugehen und suchen dazu Einlass-Politik) ergeben in der Praxis immer wieder ein eine Auseinandersetzung. Wie an allen anderen Tagen Konfliktfeld und bergen die Gefahr, dass dieser Kon- auch, kann es natürlich auch am Dienstag zu Grenzver- flikt besonders Trans*Menschen bei der Einlasspolitik letzungen und Grenzüberschreitungen kommen. Daher Zum Weiterlesen: zulasten fällt. ist für uns das Stichwort Definitionsmacht eine wichtige Damit stecken wir in einer altbekannten Zwickmühle: theoretische wie auch praktische Grundlage, auf der unser re.ACTion Readergruppe für eman- Obwohl wir heteronormative Geschlechterkonstruk- Handeln basiert. Wir fühlen uns als Tresen-Leute dafür zipatorische Aktion: Antisexismus tionen aufbrechen wollen, reproduzieren wie diese in verantwortlich, dass sich alle wohl fühlen und es zu keinen reloaded. Zum Umgang mit sexua- gewisser Weise und die daran geknüpften Vorstellungen, Grenzverletzungen kommt. Es ist jedoch wichtig, dass lisierter Gewalt – ein Handbuch für die politische Praxis. Unrast. 2007. indem wir den Zugang zum Dienstag anhand der Kate- sich alle dafür verantwortlich fühlen und sich Einmischen gorie Geschlecht definieren. Besonders virulent wird die und Handeln, wenn etwas passiert! Für Alternativen und http://www.a-camps.net/ Türsteher_innen-Politik bei Menschen, die sich zwar bessere Handhabe bezüglich der Einlass-Politik sind wir AST/definitionsmacht.html nicht als Frauen_Lesben_Trans* definieren würden, sich offen und sehr dankbar! Wir wünschen uns mehr Trans- aber dennoch mit Heterosexismus auseinandergesetzt parenz zu schaffen, mehr Menschen über „den Dienstag“ http://www.jpberlin.de/ haben und einen antisexistischen und feministischen zu informieren und dass es mit der Zeit immer weniger antifa-pankow/defmacht/ Anspruch vertreten. zu Konflikten und nervigen Auseinandersetzungen mit index.php?section=campaign beschriebener Spezies „Hetero-Macker“ kommen wird. Einmischen und Handeln Ansonsten soll der Raum fast so sein wie immer: abhän- http://asbb.blogsport.de/ gen, lesen, quatschen, schlafen, rumalbern... . Darüber Wir sind uns bewusst, dass durch einen Frauen_Lesben_ hinaus wollen wir uns aber auch vernetzen und eventuell Trans* Tresen nicht automatisch alle gesellschaftlichen auch mal ein paar Veranstaltungen organisieren. Gerne Probleme überwunden werden. Wir sind als Teil dieser könnt ihr bei uns auch Plenen oder Veranstaltungen or- Gesellschaft sozialisiert und (re-)produzieren permanent ganisieren. Wir freuen uns über zahlreiches Erscheinen!
Seite 10 HUch! 63 – Januar 2010 Demokratie und Zensur Das UnRecht zur Kritik Demokratie lebt vom Diskurs, sowohl inhaltlich als auch in der Art und Weise wie dieser geführt wird und geführt werden kann. Darum ist die Begrenzungen des politischen Mandats an der Uni auf ‚sachbezogene‘ (aka. hochschulpolitische) Themen hochgradig kritikwürdig. Gedanken zum politischen Mandat von Marie Melior, Referentin für politisches Mandat und Datenschutz. Kritik erwünscht? Der Begriff „politisches Mandat“ ist ohne Frage ein Reiz- wort in studentischen Kreisen. Es geht darum, ob stu- dentische Vertretungen politische Meinungen ausdrü- cken dürfen, die keinen eindeutigen Bezug zu Universität durch die studentischen Vertretungen, jedenfalls gemäß und Studium haben. Was für die einen unmittelbar mit eines irgendwie demokratischen Grundverständnisses der Forderung nach Meinungsfreiheit verbunden ist, und insbesondere angesichts der Erkenntnis, welch assoziieren andere mit Kompetenzüberschreitung und hohen Grad an Organisation es bedarf, um überhaupt in Bevormundung durch die gewählte studentische Ver- der Öffentlichkeit hörbar zu sein. Wer die Vorstellung tretung. Die Reaktionen von studentischer Seite auf die von Hochschule als Ort gesellschaftlicher Auseinan- Begrenzung des politischen Mandats durch die Gerichte dersetzungen teilt, aber dennoch glaubt, es gäbe eine auf rein hochschulpolitische Äußerungen reichen von irgendwie mögliche neutrale Position der Diskursbetei- kritiklosem Hinnehmen über neugieriges Interesse an ligten, beispielsweise der Gruppe der Studierenden, der/ der Thematik bis zu genervter Frustration über die ewige die verkennt, dass „unpolitsch“ nicht weniger als die Selbstzensur. Was für einige Studierende sofort wider- politische Affirmation von Bestehendem ist. Als Hinweis sprüchlich anmutet, weil es in politischer Organisation darauf kann auch die Tatsache verstanden werden, dass sinnlos erscheint, ein Mandat extra als „politisch“ zu das politische Mandat juristisch erst Ende der 50er charakterisieren, ist für andere das anerkannte juristische Jahre angezweifelt wurde, als die Verlautbarungen der Mittel der eigenen Abgrenzung gegen jegliches Poli- studentischen Vertretungen die herrschende Politik zu tische. Wieder andere nehmen diesen Begriff in ihrer ge- kritisieren begannen. samten Studienzeit kein einziges Mal als Problem wahr. Die herrschende Meinung Nur eine Frage der Betrachtung? Nach der juristisch herrschenden Meinung wird zwar Zugegeben, die Konfrontation mit dem Phänomen der Uni durchaus große gesellschaftliche Bedeutung politisches Mandat hängt sehr stark davon ab, welches beigemessen, damit aber nicht notwendigerweise der Verständnis mensch vom Verhältnis zur eigenen Uni Gruppe der Studierenden eine Beteiligung am Diskurs mitbringt. Wird diese lediglich als Bildungsdienstlei- zugestanden. Dementsprechend stellt sich die Argumen- sterin verstanden, wo mensch kritiklos mitnimmt, was tation juristisch wie folgt dar: Studierende werden durch gerade angeboten wird, sinkt die Beteiligung an ihrer Immatrikulation automatisch Mitglieder der Teilkörper- Ausgestaltung gen Null und damit auch das Interesse an schaft Studierendenschaft. Diese hat eigene Finanzho- politischer Mitbestimmung. Besteht jedoch der An- heit und darf Beiträge erheben. Sie ist parlamentarisch spruch, an Entscheidungen der Hochschule mitzuwirken organisiert, indem alle Studierenden das Studierenden- und dies nicht kritiklos zu tun, wird die Sache virulent. parlament (StuPa) wählen und dieses wiederum den Denn Studienalltag und Bildungskonzepte nicht als fest- Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA, an der HU: gesetzte Tatsachen zu akzeptieren, heißt sich alternative RefRat). Dieses Verfahren ist gesetzlich im jeweiligen Wege einfallen zu lassen und sich um deren Umsetzung Hochschulgesetz des Landes geregelt - für die HU im zu bemühen. Sobald solchen Bildungseinrichtungen Berliner Hochschulgesetz (§§ 18-20 BerlHG) - und im ´ wie den Hochschulen nicht nur der grobe Einfluss auf Detail in den Satzungen der jeweiligen Studierenden- den Bildungsgrad einer Gesellschaft, sondern auch die schaft. Weil damit quasi Pflichtmitgliedschaft für jede_n umfangreiche Prägung gesellschaftlicher Diskurse zuge- Studierende_n bestehe, bedürfe es eines zumindest von sprochen wird, ist die Frage, wer genau in welcher Form der Rechtsprechung zugesprochenen Abwehrrechts an der Universität aktiv ist bzw. sein kann, gesamtgesell- gegenüber dem „Zwangsverband“. Zumindest insoweit, schaftlich politisch relevant. Genauso wie nach diesem dass dieser gesetzlich zugewiesene Kompetenzen nicht Verständnis die Frage wichtig ist, wer die gesellschaft- überschreitet. lichen Verhältnisse, in deren Abhängigkeit sich die Uni Soweit, so gut. Das Berliner Hochschulgesetz spricht zweifelsohne befindet, hörbar problematisieren kann. der Studierendenschaft jedoch auch tatsächlich die Genau genommen steigt also mit der Relevanz der Wahrnehmung eines konkreten politischen Mandates im Hochschule für den gesellschaftlichen Diskurs auch die Namen ihrer Mitglieder zu. Diese Kompetenz ist gesetz- Relevanz der Wahrnehmung eines politischen Mandates lich zugewiesen. Genauso wie auch die Aufgaben um-
Seite 11 Art zu ermöglichen (§ 18 Abs. 2 Satz 5 BerlHG), wodurch diese letztlich ihre durch das Grundgesetz garantierte Studier- und Lernfreiheit ausüben können sollen. An der HU waren von dieser Beschränkung durch die bloße Zurechnung von Meinungen studentischer AutorInnen schon diverse studentische Medien betroffen (darun- ter die Zeitschrift HUch! und die früher noch kritisch berichtende UnAufgefordert). So entschied das Verwal- tungsgericht 2002 den Streit um studentische Artikel, die sich unter anderem kritisch mit dem Kosovo-Krieg auseinandersetzten, im Sinne der herrschenden Meinung und verbot damit eine derartige Meinungsäußerung. Ein Student der HU fasste dies mit dem Kommentar zusammen: „StudentInnen ist es in Berlin nicht mög- lich kritisch über den Krieg zu schreiben, nicht einmal wenn genau auf das Militär Bezug genommen wird, das im Luftraum über der HU verkehrt. Erst wenn eine der Maschinen direkt über der HU abstürzt, dann darf ein Artikel dazu in einem studentischen Medium veröffent- licht werden.“ Gehört wird, wer‘s Maul aufmachen kann... Der Effekt dieser Politik von Ein- und Ausgrenzung ist eindeutig: Die Chance wird immer geringer, dass Stimmen – ohne rein affirmative Haltung gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen in ihrer aktuellen fangreich ausformuliert sind, die neben vielem anderen Form – Niederschlag in den politischen Entscheidungen auch die Förderung politischer Bildung, des staatsbür- finden, die sich genauso wie die jeweiligen Verhältnisse gerlichen Verantwortungsbewusstseins und das Eintre- auf die Hochschulen auswirken. Demokratisch beteiligt ten für die Grund- und Menschenrechte einbeziehen. ist de facto nur, wer auch die Erlaubnis hat sich am ge- Doch bei der Auslegung der Gerichte über die Reichwei- sellschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Der immer stärker te des politischen Mandats wird dieses wiederum als rein beschränkte Zugang zur Universität führt ohnehin schon hochschulpolitisches Mandat eingegrenzt. Dafür wird zu der Tatsache, dass nur noch begrenzt verschiedene „politisch“ entsprechend des Sachzusammenhanges, also studentische Positionen an der Uni vertreten werden der Hochschule, definiert. Die kulanteste, jedoch längst können, weil ein freier Zugang zu Bildung und der nicht herrschende, Auslegung, durch das OVG (Ober- gesellschaftlichen Einrichtung Hochschule gerade nicht verwaltungsgericht) Münster, erlaubt gerade noch einen für alle besteht. Durch die Beschränkung der Äußerungs- Brückenschlag von hochschulpolitischen zu allgemein- freiheit der gewählten studentischen Vertretungen und politischen Themen, wenn der Bezug zur Hochschule die weitreichende Begrenzung möglicher studentischer noch unverkennbar ist (Beschluss vom 24.07.1996). Frei Foren findet diese stark sozial ausgrenzende Politik noch nach dem Motto: Was nicht sein soll, darf auch nicht eine zusätzliche Verankerung. Und so sieht Demo- möglich gemacht werden. Die studentische Vertretung kratie am Ende auch aus: Das Wort erhält, wer wird damit weiterhin zur Behörde degradiert. Sämtliche ohnehin schon Gehör gefunden hat. Und wer politische Fragen nach dem Inhalt und dem Wie der das unerhört findet, dem_der bleibt nichts Durchsetzung studentischer Interessen werden zur rein anderes übrig als dennoch das Maul aufzu- juristischen Kompetenzfrage. Jegliche Unterstützung machen. eines auch nur irgendwie gearteten Über-den-Teller- Rand-Schauens wird damit enorm erschwert und ohne jede Hemmung die Form studentischer Selbstorganisa- tion bestimmt. Zuwiderhandlungen werden mit saftigen Ordnungsgeldern bestraft. Studentische Interessen Diese Form der Beschränkung reicht bis zu dem Grad, dass beispielsweise die Veröffentlichung einzelner Artikel von Studierenden nicht in studentischen Publikationen erfolgen kann, weil die Meinungen der AutorInnen aus- nahmslos der Studierendenschaft zugerechnet werden würden - und das selbst, wenn sie sich eine Abgrenzung dazu explizit vorbehalten. Wird ein solcher Artikel dennoch abgedruckt, riskiert die Studierendenschaft als Verantwortliche die Belegung mit immer weiter stei- genden Ordnungsgeldern. Sie wird sanktioniert, obwohl sie im Grunde nur ihrer gesetzlichen Aufgabe nachkom- mt, Studierenden die Diskussion und Veröffentlichung zu allgemeinen gesellschaftlichen Fragen in Medien aller
Seite 12 HUch! 63 – Januar 2010 Der Bildungserfolg darf nicht von der sozialen Herkunft abhängen! Eine Gesellschaft, die sich dem Prinzip der Chancengleichheit verpflichtet, kann es sich nicht erlauben, einen großen Teil ihrer Mitglieder durch das Bildungssystem zu benachteiligen und auszugrenzen. In diesem Sinne stellen die Bildungsproteste nicht nur eine Kritik am Hochschulsystem dar. Alternative Konzeptionen von der AG Gesellschaftskritik “Bildung für alle.” Chancengleichheit und Leistungsprinzip Das Recht auf Bildung, wie es in Artikel 26 der Erklärung Das Argument, das Leistungsprinzip führe zu Chancen- der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankert gleichheit, wird oft zur Rechtfertigung für das dreiglied- ist, muss in vollem Umfang umgesetzt werden. Es müs- rige Schulsystem verwendet. Tatsächlich ist nicht nur sen gleiche Bildungschancen für alle geschaffen werden, das Leistungsprinzip Kriterium für den Bildungserfolg, unabhängig von sozialer Herkunft, Migrationshinter- sondern auch die soziale Herkunft. grund, Geschlecht, Alter und sogenannter Behinderung. Die Auslese nach Leistung wird bei Kindern aus Der Zugang zum höchstmöglichen Bildungsabschluss unteren Schichten ungleich schärfer angewandt als bei muss für alle gewährleistet werden. Das dreigliedrige Kindern von Akademiker_innen. So sind beispielsweise Schulsystem benachteiligt vor allem Kinder von soge- die Chancen von Kindern aus höheren Dienstleistungs- Zum Weiterlesen: nannten Geringqualifizierten, Alleinerziehenden und schichten, ein Gymnasium zu besuchen, bei gleichen Migrant_innen erheblich. Nur eines von fünf Kindern kognitiven Fähigkeiten fast vier Mal höher als bei Bundesministerium für Bildung von Nichtakademiker_innen schafft den Sprung an die Kindern von Arbeiter_innen. (vgl. Geißler 2006: 296) und Forschung (2007): Die Hochschule, wohingegen vier von fünf Kindern von Das Leistungspotential der Kinder aus unteren sozialen wirtschaftliche und soziale Lage Akademiker_innen ein Studium aufnehmen. Schichten wird nicht ausgeschöpft. der Studierenden in der Bun- Die soziale Selektion beginnt nicht erst beim Über- Nach Beendigung der Grundschule entscheiden die desrepublik Deutschland 2006. gang von der Schule in die nachschulische Ausbildung, Bildungsempfehlungen der Lehrer_innen darüber, 18. Sozialerhebung des Deut- sondern schon wesentlich früher. Die PISA-Studie der welchen weiterführenden Schultyp die Schüler_innen schen Studentenwerks durch- OECD (Organization for Economic Cooperation and besuchen. Abgesehen davon, dass die Notwendigkeit von geführt durch HIS Hochschul- Development) aus dem Jahr 2006 verdeutlicht, dass die Bildungsempfehlungen kritisch zu hinterfragen ist, sind Informations-System. Berlin. Abhängigkeit zwischen sozialer Herkunft und Bil- viele falsch. Wird ein Kind auf Grund einer Fehleinschät- In: http://www.bmbf.de/pub/ wsldsl_2006_kurzfassung.pdf dungserfolg in der Bundesrepublik im internationalen zung auf ein Gymnasium geschickt, wird dieser Fehler Vergleich auffallend stark ausgeprägt ist. Die erste große in der Regel korrigiert. Wird jedoch ein Kind aufgrund Geißler, Rainer (2006): Die Hürde ist der Übergang von der Grundschule in die Se- einer Fehleinschätzung auf eine Hauptschule geschickt, Sozialstruktur Deutschlands. kundarstufe I (meist 5.-10. Klasse). Besonders augenfällig wird dieser Fehler in der Regel nicht korrigiert. Die Zur gesellschaftlichen Ent- ist die Selektion in Bayern. Die Ergebnisse der PISA- Durchlässigkeit zwischen den Schultypen ist vor allem wicklung mit einer Bilanz zur Studie von 2006 zeigen, dass in Bayern gerade einmal eine Durchlässigkeit nach unten. 77 Prozent der Schul- Vereinigung. Wiesbaden. acht Prozent der Kinder ungelernter oder angelernter typenwechsel sind Abstiege (vgl. PH-Weingarten 2007). Arbeiter_innen ein Gymnasium besuchen (PISA-Studie Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie aus dem Jahr Pädagogische Hochschule Wein- 2006: 17). 2000 widerlegen das Argument, gemeinsames Lernen garten (Hrsg.) 2007: Säulen des leistungsstärkerer und leistungsschwächerer Schüler_in- dreigliedrigen Schulsystems sind Chancenungleichheit trotz Bildungsexpansion nen müsse mit Niveauverlusten erkauft werden. Die veraltet, ungerecht, zukunftsfeind- meisten OECD-Staaten, die im Gesamtergebnis über- lich und schöpfen die Potentiale Trotz der sogenannten Bildungsexpansion, die in den durchschnittlich gut abschnitten, selektieren ihre Schü- der Kinder und Jugendlichen nicht 1970er Jahren eingeleitet wurde (d.h. dass immer mehr ler_innen nicht, da sie kein mehrgliedriges Schulsystem aus. Weingarten. In: http://www. Menschen höhere Bildungsabschlüsse erwerben und haben. Während sich durch gemeinsamen Unterricht laenger-gemeinsam-lernen-bw. länger im Bildungssystem verweilen, vgl. Geißler 2006: leistungsschwächere Schüler_innen deutlich verbessern, de/bilder/schule_bw_PH%20 274), hat sich die Chancenungleichheit zwischen den sind bei leistungsstärkeren Schüler_innen keine Niveau- Wgt%20Stellungnahme%20 sozialen Gruppen nicht vermindert. Bei Schüler_innen, verluste zu verzeichnen (PISA-Studie: 2000). Schulsystem%20.pdf die nach dem Jahr 2000 eingeschult wurden, hat sie sich Die UNO kritisiert in ihrem Bildungsbericht aus dem sogar vergrößert. Die Hauptverlierer_innen der Bil- Jahr 2006 einmal mehr die vom deutschen Bildungssy- dungsexpansion sind Kinder von Arbeiter_innen, deren stem hervorgerufenen sozialen Benachteiligungen von Bildungschancen sich im Vergleich zu allen anderen Schüler_innen. Wir teilen diese Kritik und solidarisie- Schichten seit 1970 erheblich verschlechtert haben (vgl. ren uns mit den Schüler_innen und mit allen von der Geißler 2006: 285ff). Bildungsmisere Betroffenen.
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