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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Epilepsie und psychiatrische Homepage: Erkrankungen www.kup.at/ Baumgartner C JNeurolNeurochirPsychiatr Lehner-Baumgartner E Online-Datenbank mit Autoren- Journal für Neurologie und Stichwortsuche Neurochirurgie und Psychiatrie 2008; 9 (1), 7-13 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Epilepsie und psychiatrische Erkrankungen Epilepsie und psychiatrische Erkrankungen C. Baumgartner1, E. Lehner-Baumgartner2 Kurzfassung: Psychiatrische Erkrankungen treten verzüglich initiiert werden, das epileptogene Poten- ing from 3–9 % in patients with well-controlled epi- bei Epilepsiepatienten signifikant häufiger auf als in tial von Antidepressiva stellt dabei ein vernach- lepsy to 20–55 % in patients with medically refrac- der Allgemeinbevölkerung und als bei Patienten mit lässigbares Risiko dar. Die Prävalenz psychotischer tory epilepsy. On the contrary, depression is a risk anderen chronischen Erkrankungen. Die Depression Störungen bei Epilepsiepatienten liegt zwischen 2 factor for the development of new-onset epilepsy. stellt die häufigste psychiatrische Begleiterkrankung und 8 %, wobei sogenannte episodische Psychosen This bidirectional relationship can be explained by bei Epilepsie dar. Die Häufigkeit von Depressionen (iktale, postiktale und Alternativpsychosen), die in common pathogenic mechanisms underlying both korreliert mit der Anfallskontrolle: Sie liegt zwischen einem zeitlichen Bezug zum Anfallsgeschehen ste- epilepsy and depression. Although depression repre- 3 und 9 % bei gut kontrollierter Epilepsie, jedoch hen, und chronische Psychosen (interiktale Psycho- sents the most important determinant of quality of zwischen 20 und 55 % bei Patienten mit therapie- sen) ohne zeitlichen Bezug zu den Anfällen, unter- life, it is under-diagnosed und under-treated in epi- resistenten Epilepsien. Umgekehrt ist bei Patienten schieden werden können. Die Prävalenz von Angst- lepsy patients. Epilepsy patients with comorbid de- mit neu diagnostizierten Epilepsien anamnestisch störungen bei Epilepsiepatienten liegt zwischen 15 pression should be treated with antidepressant signifikant häufiger eine Depression zu erheben als und 25 %. Man kann zwischen präiktaler, iktaler, drugs. The epileptogenic potential of these drugs is in einem Vergleichskollektiv. Diese bidirektionale postiktaler und interiktaler Angst unterscheiden. generally negligible. The prevalence of psychosis in Beziehung zwischen Epilepsie und Depression könn- epilepsy ranges from 2–8 %. Episodic psychosis te durch gemeinsame Pathomechanismen beider Er- (ictal, postictal, and alternative psychosis) with a krankungen erklärt werden. Obwohl das Vorliegen Abstract: Epilepsy and Psychiatric Disorders. fixed temporal relationship to epileptic seizures can und der Schweregrad einer Depression die wichtig- Psychiatric disorders occur significantly more often be distinguished from chronic psychosis (interictal sten Prädiktoren für die Lebensqualität bei Epilepsie- in epilepsy patients compared to normal controls and psychosis) with no such relationship. The prevalence patienten darstellen, werden Depressionen bei Epi- patients suffering from other chronic diseases. De- of anxiety disorders in epilepsy varies between 15 lepsiepatienten unterdiagnostiziert und unterbehan- pression represents the most frequent psychiatric and 25 %. Anxiety disorders in epilepsy can be clas- delt. Eine psychopharmakologische Behandlung soll- comorbidity in epilepsy patients. The prevalence of sified as preictal, ictal, postictal and interictal. te bei Vorliegen einer Begleitdepression deshalb un- depression is correlated with seizure control, rang- J Neurol Neurochir Psychiatr 2008; 9 (1): 7–13. Einleitung nen psychiatrische Störungen entweder in einer fixen zeitli- chen Beziehung zu den Anfällen auftreten (man unterscheidet Psychiatrische Erkrankungen treten bei Epilepsiepatienten dabei präiktale, iktale und postiktale psychiatrische Störun- signifikant häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung gen) oder sich unabhängig vom Auftreten der Anfälle mani- (Tab. 1). So findet man Depressionen in 11–55 %, Angst- festieren (interiktale psychiatrische Störung). In seltenen Fäl- störungen in 15–25 %, Psychosen in 2–8 %, ADHD („Atten- len kommt es ausschließlich in Phasen der Anfallsfreiheit zu tion Deficit Hyperactivity Disorder“) in 10–40 % und dis- psychiatrischen Störungen, während diese bei Wiederauftre- soziative Anfälle in 1–10 %. Die Suizidrate liegt bei 5–12 % ten der Anfälle remittieren (alternative psychiatrische Störung). [1–8]. Zudem ist die psychiatrische Komorbidität bei Epilep- Schließlich können psychiatrische Störungen auch durch sien signifikant höher als bei anderen chronischen Erkrankun- Antiepileptika verursacht oder verschlechtert werden [1]. gen wie z. B. bei Asthma [4]. Dies lässt auf eine gemeinsame biologische Grundlage von psychiatrischen Erkrankungen und Epilepsien schließen [9–13]. Epilepsie und Depressionen Epidemiologie Die Einteilung von psychiatrischen Störungen bei Epilepsie- patienten erfolgt gemäß ihrer zeitlichen Beziehung zu den epi- Die Depression stellt die häufigste psychiatrische Begleit- leptischen Anfällen und deren Behandlung (Abb. 1). So kön- erkrankung bei Epilepsie dar. Die Häufigkeit von Depressio- nen korreliert dabei mit der Anfallskontrolle: Sie liegt zwi- Tabelle 1: Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie (mod. nach [1]) Epilepsie- Allgemein- patienten bevölkerung Depression 11–55 % 2–4 % Angststörung 15–25 % 2,5–6,5 % Suizid 5–10 % 1–2 % Psychose 2–8 % 0,5–0,7 % dissoziative Anfälle 1–10 % 0,1–0,2 % ADHD („Attention Deficit 10–40 % 2–10 % Hyperactivity Disorder“) Aus der 1Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien und dem 2 Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie, Universität Wien Korrespondenzadresse: Univ.-Prof. DI Dr. med. Christoph Baumgartner, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien, A-1090 Wien, Abbildung 1: Zeitliche Beziehung psychiatrische Störung vs. epileptischer Anfall Währinger Gürtel 18–20; E-Mail: christoph.baumgartner@meduniwien.ac.at (mod. nach [1]) J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2008; 9 (1) 7 For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Epilepsie und psychiatrische Erkrankungen schen 3 und 9 % bei gut kontrollierter Epilepsie, jedoch zwi- [11C]WAY-100 635 in der Positronen-Emissionstomogra- schen 20 und 55 % bei Patienten mit therapieresistenten Epi- phie (PET) eine reduzierte Serotoninbindung im Hippo- lepsien [14]. Bei Epilepsiepatienten besteht eine im Vergleich kampus und Corpus amygdaloideum ipsilateral zum epi- zur Allgemeinbevölkerung 10fach erhöhte Suizidrate [2, 6]. leptischen Fokus nachgewiesen werden, und zwar auch bei normalem MRT und FDG-PET. Eine reduzierte Bindung Umgekehrt belegen mehrere Studien, dass eine positive Anam- zeigte sich auch im anterioren Gyrus cinguli, im Inselkortex nese für eine Depression einen signifikanten Risikofaktor für und im lateralen temporalen Kortex ipsilateral zum epilepti- das Neuauftreten einer Epilepsie darstellt [15, 16]. In einer schen Fokus, sowie im kontralateralen Hippokampus und in rezenten Populationsstudie konnte nachgewiesen werden, den Raphekernen, d. h. in den Projektionsgebieten des epi- dass eine positive Anamnese für eine „Major Depression“ leptischen Hippokampus. Zudem fand sich eine signifikante (MD) das Risiko für das Auftreten von unprovozierten Anfäl- negative Korrelation zwischen der Serotoninbindung im len um den Faktor 1,7 erhöht (95%iges Konfidenzintervall ipsilateralen Gyrus cinguli und den Scores der Montgomery [CI]: 1,1–2,7). Zudem hatten Patienten nach einem Suizid- Åsberg Depression Rating Scale (MADRS) [24]. versuch ein 5,1fach erhöhtes Risiko, unprovozierte Anfälle zu erleiden (95 %-CI: 2,2–11,5), dies auch nach Adjustierung für Sowohl bei Epilepsien als auch bei Depressionen finden sich die Kovariablen Alter, Geschlecht, kumulativer Alkohol- strukturelle und funktionelle Veränderungen im mesialen konsum, MD und Symptome der Depression [17]. Temporallappen, im orbitofrontalen Kortex und im Bereich subkortikaler Strukturen: • Die mesiale Temporallappenepilepsie ist die häufigste Gemeinsame Pathomechanismen von Epilepsie Epilepsieform überhaupt, das pathologisch-anatomische und Depression Substrat ist die mesiale Temporallappensklerose (MTS), Die bidirektionale Beziehung zwischen Epilepsie und De- die durch eine Hippokampusatrophie mit selektivem Pyra- pression könnte durch gemeinsame Pathomechanismen midenzellverlust im CA1-Sektor und Prosubikulum, ge- beider Erkrankungen erklärt werden. Hier sind einerseits eine folgt von einem Zellverlust im CA4-Sektor (Hilus), im veränderte serotoninerge, noradrenerge, dopaminerge und CA3-Sektor und im Gyrus dendatus charakterisiert ist, GABAerge Neurotransmission sowie andererseits strukturelle während der CA2-Sektor und das Subikulum nicht betrof- und funktionelle Veränderungen im mesialen Temporallap- fen sind [25, 26]. Patienten mit mesialer Temporallappen- pen, im orbitofrontalen Kortex und im Bereich subkortikaler epilepsie zeigen signifikant höhere Depressionsscores als Strukturen bei beiden Erkrankungen anzuführen [10]. Patienten mit neokortikalen temporalen Läsionen [27]. Bei Patienten mit rechtsseitiger mesialer Temporallappenepi- Für die Bedeutung einer veränderten serotoninergen, nor- lepsie ergab sich eine negative Korrelation zwischen dem adrenergen, dopaminergen und GABAergen Neurotransmis- Volumen des linken Hippokampus und den Depressions- sion bei Epilepsie und Depression sprechen dabei die folgen- scores, d. h. Patienten mit rechtsseitiger mesialer Tempo- den Befunde: rallappenepilepsie und Depression haben einen kleineren • Ein Tiermodell der sogenannten „Genetic Epilepsy-prone linken Hippokampus [28]. Zudem besteht eine signifikante Rats“ (GEPR-3 und GEPR-9) ist durch eine angeborene Korrelation zwischen dem Ausmaß von hippokampalen Störung der prä- und postsynaptischen serotoninergen und Veränderungen in der Proton-MR-Spektroskopie und dem noradrenergen Transmission gekennzeichnet. Klinisch be- Schweregrad einer Depression bei Patienten mit Temporal- stehen bei diesen Tieren akustisch ausgelöste generalisierte lappenepilepsie [29]. In einer rezenten Studie konnte eine tonisch-klonische Anfälle und besonders bei den GEPR-9 signifikante positive Korrelation zwischen dem Volumen ein deutlich beschleunigtes Kindling. Zudem zeigen die des Corpus amygdaloideum und dem Schweregrad einer Tiere endokrine Störungen ähnlich wie depressive Patien- begleitenden Depression bei Patienten mit Temporallap- ten (u. a. erhöhte Kortisolspiegel, mangelnde Sekretion penepilepsie nachgewiesen werden [30]. von Wachstumshormonen sowie Hypothyreose). Während • Bei Patienten mit positiver Depressionsanamnese konnten Substanzen, die die serotoninerge und noradrenerge Trans- in der Phase der Remission verminderte Volumina der Hip- mission beeinträchtigen, eine Anfallsexazerbation nach pokampusformationen nachgewiesen werden [31], wobei sich ziehen, führen Substanzen, die die serotoninerge sich eine signifikante Korrelation zwischen dem Hippo- Transmission verbessern (selektive Serotonin-Wiederauf- kampusvolumen und der Depressionsdauer zeigte [32]. Die nahmehemmer [SSRI]), zu einer Reduktion der Anfalls- Entwicklung einer Hippokampusatrophie konnte durch die frequenz [10, 18, 19]. Gabe von Antidepressiva verhindert werden, was auf einen • Verschiedene Antiepileptika (Carbamazepin, Valproin- neuroprotektiven Effekt von Antidepressiva hinweist [33]. säure, Lamotrigin) wirken auch serotoninerg. Zudem kann Als pathogenetischer Mechanismus für die Entwicklung bei GEPR der antikonvulsive Effekt von Carbamazepin einer Hippokampusatrophie bei Depressionen wird eine er- durch eine Serotonindepletion blockiert werden [20, 21]. höhte Glukokortikoid-Exposition durch exzessive Aktivie- • Der antikonvulsive Wirksamkeit der Vagusnervstimulation rung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse (VNS) wird wahrscheinlich durch eine Aktivierung von diskutiert, wie sie bei nahezu der Hälfte der Patienten mit noradrenergen Neuronen im Locus coeruleus vermittelt Depressionen gefunden wird [34]. Im Tierexperiment [22, 23]. Dieser Mechanismus dürfte auch für die antide- konnte eine Schädigung hippokampaler Neurone unter pressiven Effekte der VNS verantwortlich sein [19]. prolongierter Glukokortikoid-Exposition nachgewiesen • In klinischen Studien konnte bei Patienten mit Temporal- werden [35]. Zudem könnte die Hippokampusatrophie lappenepilepsie mittels des Serotonin-Rezeptor-Liganden auch über den „Brain Derived Neurotrophic Factor“ 8 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2008; 9 (1)
Epilepsie und psychiatrische Erkrankungen (BDNF) vermittelt werden. BDNF ist ein neuronaler 60 % der Epilepsiepatienten mit Depressionen für mehr Wachstumsfaktor, der über Protein-Tyrosin-Kinase-Rezep- als ein Jahr symptomatisch, bevor eine Behandlung initiiert toren (TrkA, TrkB, TrkC und p75) eine vermehrte Neuro- wurde [51]. Hierfür können folgende Gründe angeführt wer- genese bewirkt [19]. Akuter und chronischer Stress führen den: zu einer Konzentrationsabnahme des BDNF im Gyrus den- • Die Patienten dissimulieren ihre Depressivität aus Angst tatus, der Pyramidenzellschicht des Hippokampus, im Cor- vor weiterer Stigmatisierung. pus amygdaloideum und im Neokortex und in weiterer • Psychiatrische Symptome werden bei Epilepsiepatienten Folge zu einer Hippokampusatrophie [36]. Die chronische nicht systematisch erhoben. Gemäß einer Umfrage der Applikation von Antidepressiva kann die durch Stress ver- „American Academy of Neurology“ befragen nur 7 % der ursachte Abnahme von BDNF verhindern [37]. In Post- Neurologen ihre Epilepsiepatienten routinemäßig hinsicht- mortem-Untersuchungen konnte bei depressiven Patienten lich des Vorliegens von depressiven Symptomen [52]. unter antidepressiver Medikation eine erhöhte BDNF- • Patienten und Ärzte interpretieren die Symptome einer Immunoreaktivität im mesialen Temporallappen nachge- Depression als normale Reaktion bzw. Adaptation an eine wiesen werden [38]. chronische Erkrankung. • Patienten mit einer neu diagnostizierten Epilepsie und • Depressionen präsentieren sich bei Epilepsiepatienten oft einer positiven Anamnese für eine Depression haben eine atypisch und erfüllen nicht die Kriterien einer MD. Blumer 2,27fach geringere Chance, unter einer antiepileptischen [53] prägte hierfür den Begriff der „Interiktalen dysphori- Therapie anfallsfrei zu werden als Patienten ohne eine De- schen Störung“ (IDS), die durch ein chronisch verlaufen- pression in der Anamnese [39]. Zudem stellt eine anamne- des intermittierendes Bild wechselnder heterogener affek- stisch zu erhebende Depression einen negativen Prognose- tiver Symptomatik und die folgenden 8 Schlüsselsympto- faktor für Anfallsfreiheit nach einem epilepsiechirurgi- me gekennzeichnet ist: (1) labile depressive Symptome schen Eingriff dar [40, 41]. Diese Studien legen nahe, dass (depressive Stimmung, Anergie, Schmerzen, Insomnie), eine Depression zu einer Augmentation von neuropatho- (2) labile affektive Symptome (Phobie, Angst) sowie (3) logischen Veränderungen bei der Temporallappenepilepsie spezifische Symptome (paroxysmale Irritabilität, euphori- führt sowie negative Effekte auf den Verlauf und die Be- sche Stimmungen). Kanner [54] betonte den chronischen handelbarkeit einer Epilepsie besitzt [12]. Verlauf mit symptomfreien Intervallen und prägte den Be- • Bei Temporallappenepilepsie mit einer begleitenden De- griff der „Dysthmic-like disorder of epilepsy“. pression findet man im FDG-PET einen verminderten orbi- • Die typischen Nebenwirkungen von Antiepileptika (z. B. tofrontalen Glukosemetabolismus [42, 43]. Bei Patienten Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, Schlafstörungen etc.) mit Depression konnten in SPECT- und PET-Studien ein sowie neuropsychologische Störungen im Rahmen der Epi- verminderter regionaler zerebraler Blutfluss und ein ver- lepsie (z. B. Gedächtnisstörungen) können die Diagnose minderter Glukosemetabolismus im präfrontalen Kortex einer Depression bei Epilepsiepatienten erschweren. Des- und im anterioren Gyrus cinguli nachgewiesen werden halb wurde kürzlich ein speziell konzipierter Fragebogen [44]. Quantitative MRI-Studien zeigten bei Patienten mit zur Diagnose von Depressionen bei Epilepsiepatienten Depression signifikante Volumenverminderungen medial (Neurological Disorders Depression Inventory for Epi- orbitofrontal im Bereich des Gyrus rectus [45]. In guter lepsy [NDDI-E]) erarbeitet [55]. Übereinstimmung dazu fanden sich bei älteren depressiven • Angst vor Anfallsexazerbation durch Verabreichung von Patienten Volumenverminderungen im anterioren Gyrus Antidepressiva, wobei hier betont werden soll, dass das cinguli, im Gyrus rectus und im orbitofrontalen Kortex epileptogene Potential von Antidepressiva ein vernach- [46]. Schließlich konnte in Post-mortem-Untersuchungen lässigbares Risiko darstellt [14, 19]. bei depressiven Patienten eine verminderte Kortexdicke, ein reduziertes Volumen der Neurone, sowie verminderte neuronale und gliale Zelldichten in den Schichten II–IV Epilepsie und Psychosen des rostralen orbitofrontalen Kortex nachgewiesen werden. Epidemiologie Im kaudalen orbitofrontalen Kortex waren die gliale Zell- dichte und das Volumen der Neurone in den Schichten V–VI Die Prävalenz psychotischer Störungen bei Epilepsiepatien- vermindert. Zudem zeigte sich im dorsolateralen präfronta- ten liegt zwischen 2 und 8 %. Die Einteilung der epileptischen len Kortex eine verminderte neuronale und gliale Zell- Psychosen erfolgt gemäß ihrem zeitlichen Bezug zum epilep- dichte in den supra- und infragranulären Schichten [47]. tischen Anfall (Tab. 2). Dabei können sogenannte episodische Psychosen (iktale, postiktale und Alternativpsychosen), die in einem fixen zeitlichen Bezug zum Anfallsgeschehen stehen, Diagnostik von Depressionen bei Epilepsie- und chronische Psychosen (interiktale Psychosen) ohne zeitli- patienten chen Bezug zu den Anfällen, unterschieden werden [7, 56–59]. Das Vorliegen und der Schweregrad einer Depression sind die wichtigsten Prädiktoren für die Lebensqualität von Epilepsie- Tabelle 2: Epilepsie und Psychosen patienten und für die Lebensqualität entscheidender als die Anfallsfrequenz [48–50]. Dies unterstreicht die Notwendig- } • Iktale Psychosen • Postiktale Psychosen episodische Psychosen keit einer frühzeitigen Diagnose und Behandlung. (zeitlicher Bezug zum Anfall) • Alternativpsychosen Dennoch werden Depressionen bei Epilepsiepatienten unter- • Interiktale Psychosen ⇒ chronische Psychosen (kein zeitlicher Bezug zum Anfall) diagnostiziert und unterbehandelt: So waren in einer Studie 10 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2008; 9 (1)
Epilepsie und psychiatrische Erkrankungen Iktale Psychosen Interiktale Psychosen Iktale Psychosen stellen die klinische Manifestation eines Bei den interiktalen Psychosen, die 20 % der epileptischen nicht-konvulsiven Status epilepticus (einfach fokaler Status, Psychosen ausmachen, manifestieren sich die psychotischen komplex fokaler Status oder Absencenstatus) dar. Die Symp- Symptome zeitlich unabhängig vom Anfallsgeschehen. Nur tomatik besteht in Wahnvorstellungen, illusionären Ver- 50–70 % der Patienten erfüllen die diagnostischen Kriterien kennungen, Halluzinationen, zudem können auch affektive einer Schizophrenie, insbesondere besteht keine Negativ- Symptome wie panische Angst und depressive Verstimmun- symptomatik (Apathie, Affektverflachung, Anhedonie etc.), gen sowie fluktuierende Bewusstseinsstörungen, Automatis- die Persönlichkeit und die interpersonellen Beziehungen blei- men und Lidmyoklonien auftreten. Das EEG liefert den ent- ben erhalten. Illusionäre Verkennungen, religiöse Anmu- scheidenden diagnostischen Beitrag [56–58]. tungserlebnisse und paranoid-halluzinatorische Symptome stehen im Vordergrund. Insgesamt ist die Symptomatik milder und der Verlauf günstiger als bei einer Schizophrenie [57, 58]. Postiktale Psychosen Dies konnte auch in einer rezenten prospektiven Studie bestä- Postiktale Psychosen, die 25 % der epileptischen Psychosen tigt werden, in der Epilepsiepatienten mit interiktalen Psycho- repräsentieren, sind durch psychotische und affektive Symp- sen und Schizophreniepatienten hinsichtlich Psychopatholo- tome (paranoide Wahninhalte) charakterisiert, die nach einer, gie und Krankheitsverlauf systematisch verglichen wurden dem Anfallsereignis folgenden, längstens 7 Tage andauernden [67]. Die Epilepsiepatienten wiesen in der negativen Subskala symptomfreien Periode auftreten (luzides Intervall). Die der „Positive and Negative Syndrome Scale“ (PANSS) signifi- Symptomatik stellt dabei nicht nur eine Aggravierung des vor kant niedrigere Werte auf als die Schizophreniepatienten. Die dem Anfallsereignis bestehenden psychiatrischen Status oder Ansprech- und Remissionsraten nach einer Beobachtungszeit der Persönlichkeit dar und ist nicht durch andere medizinisch- von einem Jahr waren bei den Epilepsiepatienten höher als bei psychiatrische Ursachen erklärbar (z. B. Drogenintoxikation, den Schizophreniepatienten, ebenso waren die erforderlichen metabolische Entgleisung etc.). Das Bewusstsein ist nicht Neuroleptika-Dosen signifikant niedriger. wesentlich beeinträchtigt (wie etwa beim Delir), die Symp- tome sind zeitlich limitiert und dauern üblicherweise Tage, selten Wochen an [56–58, 60]. Angststörungen Die Prävalenz von Angststörungen bei Epilepsiepatienten liegt zwischen 15 und 25 % [1, 68]. Angststörungen bei Epi- Alternativpsychosen lepsiepatienten können wie folgt klassifiziert werden (Tab. 3): Unter Alternativpsychose (Synonyme: forcierte Normalisie- Präiktale Angst (Prodromalphase mit Angst Stunden bis Tage rung, paradoxe Normalisierung) versteht man eine inverse vor einem Anfall), iktale Angst (verursacht durch epileptische Beziehung zwischen Anfallskontrolle bzw. Normalisierung Aktivität im Corpus amygdaloideum, im anterioren Gyrus des EEGs einerseits und psychotischen Symptomen ande- cinguli, im orbitofrontalen und präfrontalen Kortex), post- rerseits. Landolt [61] beschrieb erstmals das Auftreten von iktale Angst (Angst nach einem Anfall für die Dauer von psychotischen Episoden bei Normalisierung des EEGs und Stunden bis Tagen) und interiktale Angst (Angst im Rahmen prägte hierfür den Terminus der „forcierten Normalisierung“. einer Komorbidität von Angsterkrankung und Epilepsie; Tellenbach [62] erweiterte das Konzept auf die Manifestation Angst als iatrogen verursachte Komorbidität [Nebenwirkung von Psychosen bei Anfallsfreiheit, womit die Notwendig- der antiepileptischen oder epilepsiechirurgischen Therapie]; keit einer EEG-Untersuchung umgangen wurde, und führte Angst als psychologische/psychodynamische Reaktion auf hierfür den Begriff der „Alternativpsychose“ ein. Wolf und die Tatsache, an Epilepsie erkrankt zu sein) [69–71]. Trimble [63] schlugen den Begriff „paradoxe Normalisie- rung“ vor. Risikofaktoren für Angststörungen bei Epilepsien sind neuro- biologische Faktoren (Temporallappenepilepsie, epileptogene Heute wird eine Alternativpsychose definiert durch eine Ver- haltensstörung mit akutem/subakutem Beginn begleitet von einer Denk- und Wahrnehmungsstörung, einer signifikanten Tabelle 3: Epilepsie und Angststörungen Änderung der Affektivität (Depression oder Manie), sowie • Präiktale Angst einer Angststörung mit Ich-Störung oder dissoziativen Symp- – Prodromalphase mit Angst Stunden bis Tage vor einem Anfall tomen, die im Zusammenhang mit einer 50%igen Abnahme • Iktale Angst der Zahl der interiktalen Spikes im EEG im Vergleich zum – Epileptische Aktivität im Corpus amygdaloideum, im anterioren Vorbefund oder mit einer kompletten Anfallsfreiheit von Gyrus cinguli, im orbitofrontalen und präfrontalen Kortex mindestens einer Woche (berichtet durch einen Außenstehen- – Höheres Risiko für interiktale Angststörungen den) auftritt [64, 65]. • Postiktale Angst – Angst nach einem Anfall, Dauer: Stunden bis Tage Alternativpsychosen sind selten, sie machen 1 % der epilepti- • Interiktale Angst – Angst im Rahmen einer Komorbidität von Angsterkrankung und schen Psychosen aus [58]. Die Pathomechanismen sind un- Epilepsie klar, wobei u. a. ein exzessiver Dopamineffekt verantwortlich – Angst als iatrogen verursachte Komorbidität (Nebenwirkung der gemacht wurde [66]. Andere Autoren postulieren eine Rolle antiepileptischen oder epilepsiechirurgischen Therapie) des Kindling-Phänomens in der Pathogenese von Alternativ- – Angst als psychologische/psychodynamische Reaktion auf die Tatsache an Epilepsie erkrankt zu sein psychosen [64]. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2008; 9 (1) 11
Epilepsie und psychiatrische Erkrankungen Zone im Bereich des rechten Temporallappens, hohe Anfalls- 18. Jobe PC, Mishra PK, Adams-Curtis LE, 34. Holsboer F. Stress, hypercortisolism and Deoskar VU, Ko KH, Browning RA, Dailey JW. corticosteroid receptors in depression: impli- frequenz sowie schwere Anfälle), pharmakologische Faktoren The genetically epilepsy-prone rat (GEPR). cations for therapy. J Affect Disord 2001; 62: (Beeinträchtigungen im Stoffwechsel von Norepinephrin, Ital J Neurol Sci 1995; 16: 91–9. 77–91. Dopamin, Serotonin, GABA, ACTH und Neuropeptid Y) 19. Jobe PC, Browning RA. The serotonergic 35. Sapolsky RM. Glucocorticoids and hippo- and noradrenergic effects of antidepressant campal atrophy in neuropsychiatric disorders. sowie psychosoziale Faktoren (Angst als psychologische drugs are anticonvulsant, not proconvulsant. Arch Gen Psychiatry 2000; 57: 925–35. Reaktionen auf die Anfälle und deren Unvorhersehbarkeit, Epilepsy Behav 2005; 7: 602–19. 36. 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Christoph Baumgartner 1977–1982 Studium der Technischen Mathematik, Technische Universität Wien; 1982 Graduierung zum Diplomingenieur; 1978–1984 Medizinstudium, Universität Wien; 1984 Promotion zum Doktor der gesamten Heilkunde ‘sub auspiciis praesiden- tis rei publicae’; 1984–1991 Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Universitätsklinik für Neurologie, Wien; 1987–1989 Research Fellow, Department of Neurology, University of California, Los Angeles; 1991–1992 Clinical Fellow, Department of Neurology, Cleveland Clinic Foundation, Cleveland, Ohio; 1992 Habilitation, Verleihung der Venia docendi für das Fach Neurologie; 1997 Verleihung des Amtstitels „Außerordentlicher Universitätsprofessor“; seit 1992 stationsführender Oberarzt und Leiter des Epilepsiezentrums an der Universitätsklinik für Neurologie Wien. Forschungsschwerpunkte: Klinische Epilepsieforschung, klinische Neurophysiologie, prächirurgische Epilepsiediagnostik 12 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2008; 9 (1)
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