Haben Depressionen wirklich zugenommen - oder werden sie nur häufiger erkannt, diagnostiziert und behandelt ?
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Haben Depressionen wirklich zugenommen – oder werden sie nur häufiger erkannt, diagnostiziert und behandelt ? Hans-Ulrich Wittchen Institute of Clinical Psychology und Psychotherapy Center of Clinical Epidemiology and Longitudinal Studies (CELOS) Technische Universität Dresden, Germany
Hintergrund • Seit über 30 Jahren national und international Berichte über ansteigende Depressionsraten • In der letzten Dekade immer neue Berichte aus deutschen administrativ-statistischen Auswertungen (z.B. Krankenkassen, Rentenversicherungsträger) über deutlich ansteigende Zahlen • Diagnosenhäufigkeit • Leistungen • Kosten • Frühzeitige Berentungen
Hintergrund • Seit über 30 Jahren national und international Berichte über ansteigende Depressionsraten • In der letzten Dekade immer wiederkehrende Berichte aus deutschen administrativen Berichten (z.B. Krankenkassen, Rentenversicherungsträger) über deutlich ansteigende Zahlen • Diagnosenhäufigkeit • Leistungen • Kosten • Frühzeitige Berentungen • Ansteigende Anteile Depression an Gesamtkrankheitslast (Disability Adjusted Life years lost, DALY)
Why did we fail? Depression burden is increasing and the disability burden is substantial in the EU (2004 revised data) % of all causes Proportion of disability adjusted life years lost DALY (DALY): somatic versus mental disorders 15 disability due other 9,8 diseases 10 9,2 59% 7,8 5,2 5 mental disorders other 32% conditions 9% 0 1990 2000 2005 2030 Attributable to depression: Males: 7,1 % Revised 2008 estimates! Females 14,7% Depression burden is increasing Depression is already now Europe`s most debilitating illness accounting for 9.2% of all DALY´s. Wittchen & Jacobi. Eur Neuropsychopharmacol. 2005;15(4):357-76.
Administrative Routinediagnosen sind nicht zuverlässig und nur bedingt aussagekräftig • Z.B. Hausärzte (Wittchen et al 1994, 2002) • „übersehen 25% aller „eindeutigen“ Depressionen • Vergeben die Diagnose Depression gehäuft bei unterschwelligen Fällen • Sowie Fällen mit anderen psychischen Störungen (Angststörungen, somatoforme, Persönlichkeitsstörungen, „burn-out“) • Selbst Fachärzte/Psychotherapeuten kodieren nicht selten verlässliche Diagnosen – Vermeiden von Stigma und Nachteilen für Patienten (Anppassungsstörungen, stress-und belastungsstörungen) – Tendenz auch bei Komorbidität nur eine Hauptdiagnose zu vergeben – Abrechnungserwägungen – Andere diagnostische Gepflogenheiten (vor allem bei älteren KollegInnen)
Administrative Routinediagnosen sind nur bedingt tauglich Veränderungen der Prävalenz zu erfassen • Administrative Daten stellen eine Selektion dar – derjenigen die Hilfe suchen/ in Behandlung sind • Ärztliches Dokumentationsverhalten unterliegt - nur bedingt kontrollierbaren - Veränderungen der diagnostischen Gepflogenheiten (Klassifikationssysteme, Trends) • Verändertes Hilfesuchverhalten der Patienten • Veränderte Einstellungen auf beiden Seiten • etc
Diagnostische Herausforderung – Klinische Aspekte • Depressive Störungen können in verschiedenen Schwergraden auftreten, können episodisch (1/3), wiederkehrend (1/3) oder chronisch auftreten (1/3) age • Einzelepisode MD • Wiederkehrende MD age • Chron. MD/Dysthymie age • Komplexe Diagnostik: Major Depression, Dysthymie, Depression NOS
Die Frage nach „wahren“ Zunahme ist nur mittels epidemiologischer Studien (teuer & kompliziert) zu beantworten Gesamtbevölkerung Wiederholte, standardisierte Feststellung der Krankheitshäufigkeit in repräsentativ ausgewählten Stichproben der Bevölkerung Personen mit depressiven Symptomen Personen mit dem Vollbild einer Depression, aber unerkannt bzw. ohne Behandlung Patienten in Behandlungseinrichtungen (Behandlungsprävalenz)
Epidemiologische Messgrößen der Prävalenz Alter Person zum Zeitpunkt der Untersuchung Punktprävalenz = Anteil der Bevölkerung, der aktuell unter dem Vollbild leidet Punkt Prävalenz 12-Monatsprävalenz = Anteil, der aktuell und/oder in den letzten 12 Monaten die Störung hatte 12-Monatsprävalenz Lifetime Prävalenz=Anteil der Bevölkerung der jemals das Vollbild hatte Lifetime Prävalenz Lifetime Risiko: Geschätztes Risiko der Erkrankung bis zu einem angenommen Lebensalter Age 75 Lifetime Risiko Für episodische Erkrankungen, wie die Depression ist die 12-Monatsprävalenz ein versorgungsrelevantes Maß
Methodische Herausforderungen • Studiendesign: wiederholte Quer- und Längsschnittsuntersuchungen • Stichprobenplan: z.B. Altersspektrum, Bevölkerungsgruppen • Messmodell: 4-Wochen, Querschnitt, 1-Jahres Querschnitt, Lifetime oder Lebenszeitrisiko • Art der diagnostischen Erfassung: Interview wegen diagnostischen Ausschlusskriterien zwingend erforderlich • Kriterien/Formen: Major Depression, Dysthymie, Depression NOS • Auswertung: auswertungsobjektiv algorithmisch, gewichtet (nach Stichprobenplan und Ausschöpfung) • Zeit und Alterskohorteneffekte: z.B. Stratifizierung nach Geburtskohorten Fazit: aufgrund Methodenvarianten kann es zu artifiziellen (d.h. methodisch bedingten) Unterschieden kommen
Prävalenz Depression nach epidemiologischen Befunden seit 1980 (Bevölkerungsstudien) A. EU-Studien (24) B. Deutschland (3) Für Deutschland liegen nur drei hinreichend vergleichbare Untersuchungen vor: MFS (1988), BGS (1998) sowie die längsschnittliche EDSP (2010) Eine Vierte der DEGS wird in 2012 vorliegen
A. Internationale Datenlage: Depression in der Allgemeinbevölkerung Befunde Besonderheit Keine expliziten Diagnose- kriterien • Vor 1980: 1,5 - 4,9%; Median: 3,1% zumeist klinische Querschnitt • Wittchen 1994 (BJP) schätzung, geringe Reliabilität • 1980-1994: 2,6 - 9,1%, Median: 6,5% Einführung DSM-III, explizite Kriterien und Instrumente • Wittchen 1994 (BJP) • 1995+: 5,8 – 9,3%: Median: 7% Verbesserte Kriterien, volles Diagnosespektrum, • Wittchen & Jacobi 2005 (EJN) verbesserte Instrumente
Evidenz für Geburtskohorteneffekte - Jüngere Geburtskohorten im früher – immer öfter! Cum. Incidence % (Kaplan Maeier) 20 Geburtskohorte 18 1940 1950 16 1960 In allen industrialisierten 1970 Ländern finden wir in 14 1980 sukzessive jüngeren 12 Geburtskohorten eine früheres Ersterkankungsalter und eine 10 höhere Prävalenz 8 Der Effekt schwächt sich in den jüngeren Geburtskohorten ab. 6 4 2 0 0 10 20 30 40 50 60 Alter bei Beginn der ersten depressiven Episode Cross-National Group, JAMA 2008
Steigende Depressionsraten nach Geschlecht und Vorrücken des Ersterkrankungsalters 16 16 Birth cohort Birth cohort Females 14 1930 14 1930 1940 1940 1950 Males 1950 12 12 Standardized risk (%) 1960 1960 1970 1970 10 1980 10 1980 8 8 6 6 4 4 2 2 0 0 00 -10 -20 -30 -40 -5050 60+ 00 -10 -20 -30 -40 -50 50 60+ Age of onset Age of onset CNG JAMA 2002
Studienlage Bestätigung des Keine Bestätigung Zunahmeeffekts • UK: repeated cross-sectional British • Cross-national Group (2001) household survey (1993 vs. 2000; Singleton et al., 2001) • ICPE-Group (2003) • USA: NCS (Kessler et al., 1994) vs. Andere bestätigende Studien NCS-R (Kessler et al., 2005) • Canada: “Stirling County” study • NIH-Collaborative Depression Studies (1979-1992; Murphy et al., 2000) (family genetic, Klerman 1994) • EDSP (Wittchen et al 2001) • EDSP Family Genetic Study (Lieb et al 2004) • Meta-Analyse zu Depression (KiJU): Costello et al. (2006) • Recurrence/ suicide risk (Wittchen et al 2004) • BGS (Jacobi & Wittchen 2006) • previous comorbid disorders (Kessler et al 2004) • World Mental Health surveys (Kessler et al 2006) • No effect severe/melancholic depression (Wittchen et al 2004) • NCS-R (Kessler 2009) • no increase in elderly? (Wittchen 2010, Alonso et al 2009)
III. Are mental disorders in the EU increasing? Der Anstieg ist auf Personen zurückzuführen, die vor Ersterkrankung andere psychische Störungen hatten Komorbide sekundäre Depression Reine und primäre Depressionen cumulative lifetime probability in % cumulative lifetime probability 20 0,090 Birth cohorts 0,080 Chi-2 (df=3)= 71,6; p
Weitere konsistente Befunde bei Depression Artefakthypothesen (Erinnerungsbias, reporting bias, können diese Befunde nicht erklären) Effekte haben sich in neueren Befunden bei den jüngsten Geburtskohorten (= aktuell 20 und 30- Jährige) abgeschwächt So dass nach drei Dekaden der Zunahme eine „Sättigung“ auf hohem Niveau abzusehen ist Einzelbefunde: 60% des Anstiegs konnte auf komorbide (sekundäre) Depressionen zurückgeführt werden (Kessler et al 2004) Wiedererkrankungsrisiko hat sich bei jüngeren Kohorten vs ältere nahezu verdoppelt (Wittchen et al 2004) Die durchschnittliche Episodendauer hat sich verdoppelt (Wittchen 2010)
Depressive episodes in the elderly are mostly longer and persisting! (Wittchen et al 2010, Medicographica) Proportion (%) Recurrent depression Proportion (%) Episode Lengh 50 100 2-3 episodes 4+ episodes 90 2-5 weeks 6-21 weeks 21+ weeks 40 55% 80 35 70 67 30 30 29 30 60 23% 53 54 25 49 23 50 45 45 21 20 19 38 20 40 16 34 34 34 31 13 30 23 10 20 10 20 18 18 14 15 11 10 0 0 -10 -20 -30 -40 -50 50+ -10 -20 -30 -40 -50 50+ Years at risk for MDE Years at risk for MDE
Zusammenfasung Zunahme Evidenz für einen „wahre“ Zunahme von Depressionen seit 1980 Anstieg besonders ausgeprägt bei Frauen, sowie vor allem bei Jugendlichen und Adoleszenten Das Ersterkrankungsalter ist deutlich vorgerückt (Md:20) In Übereinstimmung mit der klinischen Literatur bei früh Erkrankten höheres Wiedererkrankungsrisiko und längere Dauer der Episoden Ausmaß Zunahme 1980-2004: 6,5% auf 11% Evidenz für Zunahme vor allem sekundärer Depressionen – nicht für (endogene) melancholische Depressionen Keine Evidenz für einen gleichermaßen ausgeprägten weiteren Anstieg oder gar eine epidemische Zunahme
Gibt es Erklärungen für die Zunahme von Depressionen? Veränderte Bereitschaft sich offenbaren? „Wahre“ Zunahme depressionsspezifischer Risikofaktoren? Vorangehende psychische (chronische somatische) Störungen Unsicherheit/Kontrollverlust (Hoffnungskeit-Hilflosigkeit)? Verminderte Resilienz bei adversen Ereignissen? Verminderte Resilienz aufgrund chronischer anderer psychischer Störungen? Neuartige Stressfaktoren in der sozialen Umwelt (Arbeitslosigkeit, Jobsicherheit, soziale und Beziehungsinstabilität)? Absinken der natürlichen sozialen Unterstützungsressourcen (Trennung, Scheidung, Netzwerke)? The maturation mismatch hypothesis? (Patton & Viner, The Lancet 2007)
Changing relation between range of menarcheal age and psychosocial transition in adulthood (Patton & Viner, The Lancet 2007) 30 Menarche Psychosocial maturation Mismatch 20 Age in years of transitions 10 0 20.000 2000 200 50 present Yrs ago yrs ago yrs ago yrs ago (hunter) (agricultural) (industrial) (mid-century)
Weitere Entwicklung und Faktoren Demografische Entwicklung Geburtskohorteneffekte lassen zukünftig höheren Interventionsbedarf erwarten (Chronizität, Rezidive) Höhere Lebenserwartung = länger leben mit Episoden und chronischer Depression = erhöhte Neuerkrankungsraten aufgrund neurologischer und somatischer Morbidität In der Summe weitere diskrete Zunahme der Prävalenz wahrscheinlich, Erhöhung des Anteils von Fällen mit schlechter Prognose sehr wahrscheinlich
Häufige Erkrankungen des hohen Lebensalters, die Risikofaktoren für Depression sind, nehmen zu Risikoerhöhung Depression bei 10 ausgewählten Erkrankungen RR Depression Risikoerhöhung 8 (Relatives Risiko) Krankheit 3 6,2 Alzheimer Demenz 1 3.2 6 Parkinsons Disease 2 3.6 4,4 Schlaganfall OR 4.6 4 2,8 Andere neurologisiche 2.9 2,5 Kardiovaskuläre 2.5 2 1,6 1 Krebserkrankung 1.9 Musculo-skeletale Erkr. 2.1 0 keine eine zwei drei vier 5+ Anzahl Erkrankungen 1 Riedel et al 2005 2 Riedel et al 2008 Pieper et al 2008; DETECT 3 Jacobi et al 2005 4 Pieper et al 2008 DETECT)
DALY Neuropsychiatric disorders (optimistic scenario= improved care) 1.282 Migraine 1.330 1.411 785 2005 2015 2030 Insomnia 780 745 706 Panic 740 757 524 Most recent EU estimations and projections OCD 540 555 -Overall little change in the optimistic sceanrio 470 PTSD 488 490 - Marked increase of neurodegenerative disorders 1.534 Drug DU 1.578 1.632 - Some increase in depression 748 Parkinson 688 657 6.495 Alzheimer/dementias 5.161 4.088 5.249 Alcohol DU 5.399 5.471 1.331 Schizophrenia 1.397 1.458 1.313 Bipolar dis 1.388 1.467 11.058 Unipolar depression 10.997 10.588 Dalys 0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000 8000 9000 10000 11000 12000 (`000)/2,1
Unser Dilemma: Bedarfsgerechte Versorgung Wir haben effektive Therapien (CBT und Medikamente); wir haben ressourcentechnisch das best-ausgebaute System Konsequent angewandt müsste dies in einer Senkung der Prävalenz (kürzere und wenigere Episoden) resultieren Aber – seit den 80er Jahren zwar Verdoppelung der Anzahl Behandelter – aber Gleichbleiben der Behandlungsrate Jedes Jahr erkranken 11% der erwachsenen Bevölkerung (5,6 Millionen) 56% hatten überhaupt einen Kontakt mit dem professionellen System Nur 16% mit dem spezialisierten Sektor (Psychiatrie, Psychotherapie) Nur 5% hatten eine formal minimal adäquate Behandlung (Med > 1 Monat + 4 Besuche, PT: 8+ Sitzungen) Nur 2% eine Psychotherapie Fast alle hatten lange Zeitabstände bis zur Erstbehandlung
Who cares for depression? Primary care is the most frequent source! Is this appropriate? Health care sector primary care 41,6 other mental health 18,8 psychologists 18,5 neurologists 11,3 psychiatrists 18,0 inpatient 11,1 grossly adeqaute tx drug tx >1 month plus > 4+ visits OR psychotherapy >8 sessions any "treatment contact" 49,1 Contact to any provider no "treatment" 50,1 0 10 20 30 40 50 60 % of all 12-month patients with treatment contact ECNP-Task Force Report 2005 : Size and burden of Mental Disorders in the EU Wittchen & Jacobi 2005
In the vast majority of cases, initiation of treatment is considerably delayed 1.0 Major Depression and Dysthymia Cumulative Lifetime Probability of 0.9 0.8 Treatment Contact 0.7 0.6 Among the few with treatment: 0.5 Few have a professional contact within 12 0.4 months after onset: 36.8% 0.3 Contact by age 50: 63,5-98,6%; 0.2 MD duration of delay: 2 years 0.1 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Years Since Onset of Disorder ECNP-Task Force Report 2011 : Size and burden of Mental Disorders in the EU
Schlussfolgerungen Es hat eine deutliche Zunahme voll ausgeprägter Depressionen gegeben Verbesserungen im System (es werden mehr Patienten diagnostiziert und behandelt) Sowie eine offensichtliche größere Bereitschaft auf seiten vieler Ärzte und Betroffener haben zwar die Gesamtlage diskret gebessert allerdings nicht zu verbesserten Behandlungsquote (1988 vs 1998 vs 2004) geführt Massive Anzeichen für eine Nebeneinander von Unter-, Mangel und Fehlversorgung (Über und Unterdiagnostizieren von Depression)
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