Konsensus Statement - Österreichische Gesellschaft für ...

 
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Konsensus Statement - Österreichische Gesellschaft für ...
Unter der Patronanz der Österreichischen
Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie                                                Konsensus
                                                                                         Statement
und Biologische Psychiatrie (ÖGPB)

Neurologie & Psychiatrie
Stellungnahmen und fundierte Meinungen zu aktuellen medizinischen Fachthemen
  © iStockphoto.com/cosmin4000

                                                                               STATE OF THE ART 2021

                                                                               Therapieresistente
                                                                               Depression:
                                                                               Diagnose und
                                                                               Behandlung
Konsensus Statement - Österreichische Gesellschaft für ...
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KONSENSUS STATEMENT

                                                                          Vorwort
                                        © MedUni Wien, Felicitas Matern
                                                                          der Herausgeber
                                                                             Das Nichtansprechen auf eine antidepressive Therapie ist ein relevan-
                                                                          tes klinisches Problem und eine therapeutische Herausforderung für jede
                                                                          behandelnde Ärztin und jeden behandelnden Arzt.
                                                                             Es wird zurzeit zwischen unterschiedlichen Formen des Ansprechens
   em. O. Univ.-Prof. Dr. h. c. mult.                                     auf eine antidepressive Therapie unterschieden. Neben dem ungenügen-
   Dr. med. Siegfried Kasper                                              den Ansprechen auf eine Therapie kann prinzipiell zusätzlich eine thera-
   Emeritierter Vorstand der                                              pieresistente Depression und in weiterer Folge eine therapierefraktäre
   Universitätsklinik für                                                 bzw. auch eine chronische Depression unterschieden werden.
   Psychiatrie und                                                           In dem vorliegenden Konsensus-Statement werden die verschiedenen
   Psychotherapie, MedUni Wien                                            Begrifflichkeiten dargestellt und in diesem Zusammenhang auch die
                                                                          Rolle der biologischen Grundlagen besprochen. Besonderes Augenmerk
                                                                          wird auf die therapeutischen Optionen sowohl in der medikamentösen
                                                                          als auch in der nicht medikamentösen Behandlung der therapieresisten-
                                                                          ten Depression gelegt. Die Therapie dieses komplexen Zustandsbilds kann
                                                                          auf verschiedene Arten erfolgen, wobei Algorithmen eine Hilfestellung
                                                                          geben und auch nicht pharmakologische Therapieverfahren einen fixen
                                                                          Stellenwert haben. Das partnerschaftliche, offene Gespräch zwischen
                                                                          Ärztin oder Arzt und Patientin oder Patient ist dabei besonders wichtig
                                                                          – nicht zuletzt um die Therapietreue, die sogenannte Adhärenz, aufrecht-
                                                                          zuerhalten. Den Besonderheiten im Kindes- und Jugendalter und beim
                                                                          älteren Menschen wird in zwei weiteren Kapiteln spezielle Aufmerksam-
   Prim. Priv.-Doz. Dr. med.                                              keit geschenkt.
   Andreas Erfurth                                                           Wir hoffen, dass das vorliegende Konsensus-Statement Ihre tägliche
   1. Abteilung für Psychiatrie                                           Arbeit bereichert und die dabei aufgeworfenen Gedanken und Empfeh-
   und Psychotherapeutische                                               lungen Ihre Arbeit unterstützen. Mit Freude sehen wir Ihren Rückmel-
   Medizin, Klinik Hietzing                                               dungen entgegen.
                                        © MedUni Wien, Felicitas Matern

                                                                             In diesem Sinne zeichnen

                                                                          em. O. Univ.-Prof. Dr. h. c. mult. DDr.   Prim. Priv.-Doz. Dr.   Ao. Univ.-Prof. DDr.
                                                                            Dr. med. Siegfried Kasper                Andreas Erfurth        Gabriele Sachs

   Ao. Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil.
   Gabriele Sachs
   Präsidentin der ÖGPB
   MedUni Wien

   Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Um die Lesbarkeit der Informationen zu erleichtern, wird bei Personenbezeichnungen in der Regel die männliche
   Form verwendet. Es sind jedoch jeweils männliche und weibliche Personen gemeint.
   Zitierung der Arbeit wie folgt:
   Kasper S, Erfurth A, Sachs G, Aichhorn W, Bartova L, Bengesser S, Buchmayer F, Deisenhammer E, Di Pauli J, Dold M, Falkai P, Frey R, Glück K,
   Hofer A, Holsboer-Trachsler E, Kautzky A, Konstantinidis A, Kraus C, Lehofer M, Marksteiner J, Mitschek M, Mörkl S, Oberlerchner H, Plener P,
   Psota G, Rados C, Rainer M, Schosser A, Seifritz E, Silberbauer C, Winkler D, Wunsch C, Zwanzger P: Therapieresistente Depression: Diagnose und
   Behandlung, Konsensus-Statement. Sonderheft JATROS Neurologie & Psychiatrie, März 2021

Neurologie & Psychiatrie 2021                                                                                                                                    3
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KONSENSUS STATEMENT

Editorial
Board:
                                                              © Michael Baumgartner / KiTO

                                                                                                                    © Foto Weinwurm GmbH
                       © SALK

                                                                                                                                                                                                     © tirol kliniken
                                                                                                                                                                © Mang Stefan
Wolfgang Aichhorn                         Lucie Bartova                                      Susanne Bengesser                             Florian Buchmayer                    Eberhard Deisenhammer
Universitätsklink für Psy­                Universitätsklinik für                             Universitätsklinik für Psy­                   Abteilung für Psychiatrie            Universi­tätsklinik für
chiatrie, Psychotherapie                  Psy­chiatrie und Psycho­                           chiatrie und Psychothera­                     und Psychotherapie, Barm­            Psychiatrie, Medizinische
und Psychosomatik,                        therapie, Medizinische                             peutische Medizin,                            herzige Brüder, Kranken­             Universität Innsbruck
Uniklinikum Salzburg/CDK                  Universität Wien                                   Med Uni Graz                                  haus Eisenstadt
                                                              © Fotostudio Fischerlehner

Richard Frey                              Katharina Glück                                    Alex Hofer                                    Alexander Kautzky                    Anastasios Konstantinidis
Universitätsklinik für                    Abteilung für Psychiatrie                          Universitätsklinik für                        Universitätsklinik für               Zentren für seelische
Psy­chiatrie und Psycho­                  und Psychotherapeutische                           Psychiatrie I, Tirol Kliniken,                Psy­chiatrie und Psycho­             Gesundheit, BBRZ-Med
therapie, Medizinische                    Medizin, Klinikum Wels-                            Innsbruck                                     therapie, Medizinische               Wien
Universität Wien                          Grieskirchen                                                                                     Universität Wien
                                                              © P. C. Swoboda

                                                                                                                                                                © Rosin Karin

                                                                                                                                                                                                     © MedUni Wien
                                                                                                                    © Opernfoto/Graz
                       © tirol kliniken

Josef Marksteiner                         Marleen Mitschek                                   Sabrina Mörkl                                 Herwig Oberlerchner                  Plener Plener
Abteilung für Psychiatrie                 Universitätsklinik für                             Universitätsklinik für Psy­                   Abteilung für Psychiatrie            Universitätsklinik für
und Psychotherapie A,                     Psy­chiatrie und Psycho­                           chiatrie und Psychothera­                     und Psychotherapie,                  Kinder- und Jugendpsy­
Landeskrankenhaus Hall                    therapie, Medizinische                             peutische Medizin,                            Klinikum Klagenfurt am               chiatrie, Medizinische
                                          Universität Wien                                   Med Uni Graz                                  Wörthersee                           Universität Wien
                                                              © Franz Pfluegl

Michael Rainer                            Alexandra Schosser                                 Christoph Silberbauer                         Dietmar Winkler                      Christian Wunsch
Zentrum für geistige                      Zentren für seelische                              Abteilung für Psychiatrie                     Universitätsklinik für               Abteilung für Psychiatrie
Gesundheit Wien                           Gesundheit, BBRZ-Med                               und Psychotherapeutische                      Psy­chiatrie und Psycho­             und Psychotherapeutische
                                          Wien                                               Medizin, Salzkammergut                        therapie, Medizinische               Medizin, Landesklinikum
                                                                                             Klinikum Vöcklabruck                          Universität Wien                     Neunkirchen

4                                                                                                                                                                              Neurologie & Psychiatrie 2021
KONSENSUS STATEMENT

                                                                                   Internationaler
                                                                                   Beirat:

                                                                                                                                                 © Psychiatrische Uniklink Basel
                    © Karin Nussbaumer

                                                                                                        © Fotostudio Sauter
Jan Di Pauli                             Markus Dold                               Peter Falkai                               Edith Holsboer-Trachsler
Erwachsenen­psychiatrie,                 Universitätsklinik für                    Klinik für Psychiatrie und                 Universität Basel
Landeskrankenhaus                        Psy­chiatrie und Psycho-                  Psychotherapie, Klinikum
Rankweil                                 therapie, Medizinische                    der Universität München
                                         Universität Wien
                    © Stefan Serringer

                                                             © LKH Graz Süd-West

                                                                                                                                                    © Pressestelle kbo
                                                                                                        © Daniel Ammann

Christoph Kraus                          Michael Lehofer                           Erich Seifritz                             Peter Zwanzger
Universitätsklinik für                   Abteilung für Psychiatrie                 Klinik für Psychiatrie, Psy-               Abteilung für Allgemein-
Psy­chiatrie und Psycho-                 und Psychotherapie,                       chotherapie und Psycho-                    psychiatrie und Psychoso-
therapie, Medizinische                   Landeskrankenhaus Graz                    somatik, Universitätsklinik                matik, kbo-Inn-Salzach-
Universität Wien                                                                   Zürich                                     Klinikum
                    © feel image

                                                             © Sissi Furgler

Georg Psota                              Christa Rados
Kuratorium für                           Abteilung für Psychiatrie
Psychosoziale Dienste                    und Psychotherapeutische
Wien                                     Medizin, Landeskranken-
                                         haus Villach

         Neurologie & Psychiatrie 2021                                                                                                                                            5
KONSENSUS STATEMENT

               Inhalt
               1	Einleitung                                                   7               8	Nichtpharmakologische, biologisch                           21
                                                                                                      orientierte Interventionen
               2	Definitionen                                                 7                    8.1	Elektrokonvulsionstherapie
                                                                                                      8.2	Transkranielle Magnetstimulation
               3	Ist die TRD eine eigenständige                                8                    8.3	Vagusnervstimulation (VNS)
                   Krankheitsentität?                                                                 8.4	Deep Brain Stimulation

               4	Klinische Charakteristika der TRD,                            9               9	Psychotherapie bei TRD                                      23
                   Ergebnisse der europäischen
                   Verbundstudie (GSRD)                                                          10	Behandlungsalgorithmus                                     25

               5	Genetik und Epigenetik                                     10                11	TRD bei älteren Patienten                                  26
               	5.1. Kandidatengenuntersuchungen                                                    11.1 Depression bei Demenz
               	5.2. Genomweite Assoziationsstudien                                                 11.2	Nichtpharmakologische Strategien bei
               	5.3. Epigenetik                                                                           TRD im Alter
               	5.4. Multifaktorielle Genuntersuchungen
                                                                                                 12	TRD im Kindes- und Jugendalter                              27
               6	Plasmaspiegel und                                            11
                   Arzneimittelinteraktionen                                                     13	Zusammenfassung                                             28

               7	Psychopharmakotherapie der TRD                             13
                  7.1	Psychopharmakotherapie mit Antidepressiva
                  7.2	Augmentationstherapie mit Antipsychotika
                       der neuen Generation und Lithium
               		     7.2.1	Augmentationstherapie mit Anti­
                              psychotika der neuen Generation
               		     7.2.2	Augmentationstherapie mit Lithium
                  7.3	Kombinationstherapie von Antidepressiva
                  7.4	Dosiseskalation
                  7.5	Wechsel der Medikation (Switching)
                  7.6	Weitere Add-on-Strategien bei TRD
               		     7.6.1	Augmentation antidepressiver
                              Therapie mit Nutraceuticals/
                              Supplementen
                  7.7	Benzodiazepine bei TRD
                  7.8	Intranasale Anwendung von Esketamin

 Impressum
 Herausgeber: Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie (ÖGPB). Verleger: Universimed Cross Media Content GmbH, Markgraf-Rüdi-
 ger-Straße 6–8, 1150 Wien. office@universimed.com. Geschäftsführung: Dr. med. Bartosz Chłap, MBA. Tel.: +43 1 876 79 56. Fax: DW 20. Chefredaktion: Dr. Gabriele Senti. E-Mail: ga-
 briele.senti@universimed.com. ­Projektleitung: Mag. Manuela Moya. Grafik: Amir Taheri. Lektorat: DI Gerlinde Hinterhölzl, Dr. Patrizia Maurer, Mag. Sabine Wawerda. Druck: Print Al-
liance HAV Produktions GmbH, 2540 Bad Vöslau. Gerichtsstand: Wien. Offenlegung: Universimed Cross Media Content GmbH (100 %ige Tochter der Universimed Holding GmbH).
­Eigentümer und M­ edieninhaber: Universimed Holding GmbH. Copyright: Alle Rechte, insbesondere auch hinsichtlich sämtlicher Artikel, Grafiken und Fotos, liegen bei Universimed.
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 unterstützenden Firmen hatten keinen Einfluss auf den Inhalt dieses Konsensus-Statements.

6                                                                                                                                                    Neurologie & Psychiatrie 2021
KONSENSUS STATEMENT

Therapieresistente Depression:
Diagnose und Behandlung
1 Einleitung                                    sche Faktoren), manchmal ein bewusster          ten Fall tatsächlich eine TRD vorliegt,
                                                oder auch unbewusster Widerstand des            zumal ein mangelnder Behandlungser-
   Der Begriff „Depression“ stellt eigentlich   Patienten.                                      folg auch die Folge der sogenannten
keine Diagnose dar, sondern bezeichnet ein         Da nun neue Behandlungsoptionen, wie         „Pseudoresistenz“ sein kann (Dold und
Syndrom, das im Rahmen vieler verschie-         die Augmentation einer existierenden an-        Kasper 2017; Abb. 1).
dener psychiatrischer Diagnosen – depres-       tidepressiven Therapie mit Antipsychotika          Von Pseudoresistenz spricht man,
siver Anpassungsstörung, organischer de-        der neuen Generation bzw. der Add-on-           wenn ein mangelnder Behandlungserfolg
pressiver Störung, substanzinduzierter          Therapie mit Esketamin-Nasenspray, ver-         seine Ursache in einer (noch) zu kurzen
depressiver Störung, uni- bzw. bipolarer        fügbar sind, wundert es nicht, dass das         Behandlungsdauer oder einer unzurei-
affektiver Störung u. a. – auftreten kann.      Charakteristikum der TRD in der psychia-        chenden Dosierung der eingesetzten Me-
Depressive Episoden im Rahmen von affek-        trischen Literatur in letzter Zeit großes       dikation hat. Weiters können mangelnde
tiven Störungen sind in der Mehrzahl phar-      Interesse erfahren hat, was sich etwa in        Adhärenz, individuelle Unterschiede der
makologisch sowie mit nichtmedikamentö-         der aktuellen Zahl von über 1200 Einträ-        Metabolisierung (resultierend in zu nied-
sen Strategien gut behandelbar, sodass in       gen bei einer PubMed-Suche mit dem              rigen Plasmaspiegeln der eingesetzten
vielen Fällen durch das erste Antidepressi-     Begriff „treatment-resistant depression         Wirkstoffe), unerwünschte Arzneimittel-
vum eine zumindest weitgehende Remissi-         [Title]“ widerspiegelt. Dieses Konsensus-       wirkungen (UAW), psychiatrische und/
on der Symptomatik erreicht werden kann.        Statement soll das Verständnis der TRD          oder somatische Komorbiditäten sowie
   Depressive Episoden, die nur unzurei-        sowie deren vielfältige therapeutische          psychosoziale Faktoren hinter dem Auf-
chend oder gar nicht auf therapeutische         Strategien in komprimierter Form und pra-       treten von Pseudoresistenz stehen. Die
Interventionen ansprechen, bedeuten für         xisnah beleuchten.                              genaue psychi­ atrische Exploration und
Patienten eine oft deutliche Verlängerung                                                       Untersuchung kann diese Faktoren aufde-
ihrer Leidensdauer und stellen Behandler        2 Definitionen                                  cken und soll daher am Anfang jeder me-
vor eine Reihe von Herausforderungen. Bei                                                       dikamentösen Therapie stehen.
ausbleibender Wirkung von zumindest                Eine unzureichende Response auf die             Die Bestimmung der Medikamentenspie-
zwei medikamentösen Therapieversuchen           initiale antidepressive Medikation ist          gel im Blut (Therapeutic Drug Monitoring,
in ausreichender Dauer und Dosierung            häufig und betrifft rund 60 % aller Pati-       TDM) (Hiemke et al. 2018) erlaubt Aussa-
sprechen wir von „therapieresistenter De-       enten, die an einer Depression erkrankt         gen zur Metabolisierung der eingesetzten
pression“ (TRD). In der Literatur wird da-      sind (Dold und Kasper 2017). Dies bedeu-        Medikamente und lässt Rückschlüsse auf
für auch der Begriff „difficult to treat de-    tet allerdings noch nicht, dass im konkre-      Enzymvarianten (v. a. im Cytochrom-P450-
pression“ gebraucht (McAllister et al.
2020). Daneben existieren auch andere
Begriffe wie „therapierefraktäre Depressi-
                                                          Eine Fehldiagnose der zugrunde liegenden Erkrankung
on“ oder „chronische“ bzw. „chronifizierte
Depression“, die davon abzugrenzen sind                   Inadäquate Dosierung oder Behandlungsdauer
(Tab. 1).
   Die Wirksamkeit einer medikamentösen                   Fehlende Adhärenz des Patienten
Therapie wird von einer Vielzahl von Fak-
toren bestimmt, die in dem behandelten                    Komorbide psychiatrische und somatische Erkrankung
Patienten, dem Pharmakon und dem die
Beziehung zwischen den beiden vermit-                     Pharmakokinetische/-dynamische Interaktionen
telnden Arzt begründet und pharmakody-
namischer, pharmakokinetischer sowie                      Iatrogene Gründe
psychologischer Natur sein können.
Manchmal ist es nicht die richtige Subs-
                                                          Kompromittierte Absorption
tanz, manchmal eine Dosierungsfrage,
manchmal eine unvollständige Diagnostik         Abb. 1: Mögliche Gründe für das Ausbleiben einer Response oder für eine schwache Response
(somatische, Komorbiditäts- oder neuroti-       (Pseudo-Therapieresistenz) auf eine Therapie (nach Malhi und Bell 2020)

       Neurologie & Psychiatrie 2021                                                                                                       7
KONSENSUS STATEMENT

System der Leber) zu, die zu hohe oder zu               Jahre milde bis mittelgradige depressive       hängig vom Wirkmechanismus der einge­
niedrige Plasmaspiegel bedingen können.                 Symptome), Double-Depression (Dysthy­          setzten Medikation verwendet (GSRD;
   Nach Ausschluss von Pseudoresistenz                  mie mit zusätzlichen depressiven Episo­        Souery et al. 2011, Bartova et al. 2019).
sollte die unzureichende Therapieresponse               den), chronische schwere depressive Stö­       Damit wurden ältere Definitionen von
genauer definiert und quantifiziert wer­                rung (Kriterien einer schweren depressi­       Therapieresistenz verlassen, die geschei­
den. Wie dies in der Praxis aussehen kann               ven Episode sind über zwei Jahre durch­        terte Medikationsversuche mit Antidepres­
bzw. welche Formen der insuffizienten                   gängig erfüllt). Auch rezidivierende schwe­    siva aus verschiedenen Substanzklassen
Therapieresponse unterschieden werden                   re depressive Episoden ohne vollständige       voraussetzen (Thase und Rush 1997), wo­
können, wurde im Jahr 2013 beschrieben                  Remission werden zur chronischen Depres­       mit eine Eskalation der medikamentösen
(Kasper und Akimova 2013). Dabei kom­                   sion gezählt. Die genaue Abgrenzung der        Therapie auf Basis der unterschiedlichen
men vier Begriffe ins Spiel (Tab. 1):                   genannten Formen der Depression ist nicht      Wirksamkeit verschiedener Substanzklas­
                                                        nur von akademischer, sondern auch von         sen impliziert wurde (Thase und Rush
• Inadäquate Response                                   hoher praktischer Relevanz, da sie die Vo­     1997). So sollen nach Thase und Rush z. B.
   Sie liegt vor, wenn ein Patient auf eine             raussetzung für den gezielten Einsatz der      Mono­aminoxidase-Hemmer (MAO-I) prin­
adäquate antidepressive Therapie nur un­                heute verfügbaren Behandlungsoptionen          zipiell effektiver sein als trizyklische An­
zureichend anspricht (Teilremission). Eine              und damit für eine individualisierte The­      tidepressiva, die wiederum wirksamer als
adäquate antidepressive Therapie ist bei                rapie darstellt. Allerdings wird fälschli­     SSRI sein sollen (Thase und Rush 1997).
ausreichender Tagesdosis des verordneten                cherweise in der Praxis der Terminus „the­     Dieses Konzept wurde unter anderem
Antidepressivums und ausreichender Be­                  rapieresistente Depression“ häufig als         durch die Arbeiten des europäischen For­
handlungsdauer von mindestens vier Wo­                  Synonym für alle oben genannten klini­         schungskonsortiums „European Group for
chen gegeben.                                           schen Zustandsbilder verwendet.                the Study of Resistant Depression“ (GSRD;
                                                                                                       Souery et al. 2011) infrage gestellt. Auf­
• Therapieresistente Depression                            Response kann anhand validierter            grund der Arbeiten der GSRD-Gruppe ist
   Sie ist durch eine ungenügende Response              Scores definiert werden, wie dies in den       ein Patient als therapieresistent anzuse­
auf zwei adäquate antidepressive Thera­                 von internationalen psychiatrischen Fach­      hen, wenn er auf mindestens zwei hinter­
pien mit gleich oder unterschiedlich wir­               gesellschaften wie der World Federation of     einanderfolgende adäquate pharmakolo­
kenden Antidepressiva definiert.                        Societies of Biological Psychiatry (WFSBP)     gische Behandlungsmaßnahmen nicht
                                                        erstellten Kriterien (Bauer et al. 2017) für   ausreichend angesprochen hat (Bartova et
• Therapierefraktäre Depression                         die Therapieresponse gefordert wird. Da­       al. 2019).
   Sie besteht, wenn ein Patient auf meh­               bei können die Montgomery-Åsberg-De­
rere unterschiedliche adäquate antidepres­              pressionsskala (MADRS) (Montgomery             3 Ist die TRD eine eigenständige
sive Therapieoptionen, inklusive Elektro­               and Asberg 1979) und/oder die Hamilton-        Krankheitsentität?
konvulsionstherapie (EKT), nur unzurei­                 Depressionsskala (HAMD) (Hamilton
chend anspricht.                                        1960) zum Einsatz kommen: Remission ist           Das komplexe Krankheitsgeschehen ei­
                                                        dabei definiert durch das Erreichen eines      ner TRD ist zu Recht Ziel besonderer –
• Chronische Depression                                 HAMD-Gesamtscores von ≤ 7. Eine Respon­        auch nosologischer – Bemühungen. Eine
   Sie besteht, wenn ein Patient trotz ad­              se liegt bei einer Reduktion der Symptom­      sich im späteren Verlauf als therapieresis­
äquater therapeutischer Interventionen                  schwere von ≥ 50 % vor, eine partielle Res­    tent herausstellende depressive Episode ist
seit mindestens zwei Jahren unter einer                 ponse bei einer Reduktion der depressiven      zunächst einmal bei Beginn der Beschwer­
depressiven Episode leidet. Dabei muss die              Symptomatik von 26–49 %. Bei einer Sym­        den eine „normale“ depressive Episode.
Symptomatik einer Major Depression min­                 ptomreduktion von ≤ 25 % besteht Non-          Diese Episode erweist sich dann durch die
destens zur Hälfte aller Tage bestehen.                 Response.                                      mangelhafte Response auf adäquate The­
Eine weitere diagnostische Differenzie­                    In der Regel wird der Begriff „Therapie­    rapien als therapieresistent und bei weite­
rung ist möglich und sinnvoll. Unterschie­              resistenz“ heute nach dem Scheitern von        rer unzureichender Behandlung als zuneh­
den werden: Dysthymie (mindestens zwei                  zwei adäquaten Therapieversuchen unab­         mend chronifizierend. Der biochemische
                                                                                                       oder auch lebensgeschichtliche „Ursprung“
                                                                                                       der sich später als therapieresistent her­
 Inadäquate Response              Ungenügende Response auf eine adäquate antidepressive                ausstellenden Episode kann zurzeit noch
                                  Therapie                                                             nicht eindeutig von einer zunächst gut re­
 Therapieresistente               Ungenügende Response auf zwei adäquate antidepressive                spondierenden und dann remittierenden
 Depression                       Therapien                                                            Episode abgegrenzt werden. Eine eigen­
                                                                                                       ständige Krankheitsentität (so wie z. B.
 Therapierefraktäre               Ungenügende Response auf mehrere adäquate antidepressive             eine Lewy-Körper-Demenz eine eigenstän­
 Depression                       Therapien                                                            dige Krankheitsentität im Vergleich zu ei­
 Chronische Depression            Depressive Episode mit Dauer über 2 Jahre                            ner Parkinsondemenz darstellt) bildet die
                                                                                                       TRD daher zurzeit noch nicht, wenngleich
 nach Kasper und Akimova 2013; Kasper und Frazer 2019
                                                                                                       mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus­
Tab. 1: Definitionen für die Beurteilung einer ungenügenden Therapieresponse                           gegangen werden kann, dass die TRD im

8                                                                                                                         Neurologie & Psychiatrie 2021
KONSENSUS STATEMENT

Vergleich zu der breiten Gruppe depressi-
ver Erkrankungen eine auch biologisch zu
charakterisierende Subgruppe darstellt.
Verschiedene internationale Klassifikati-
onssysteme beschreiben eine TRD nicht
als separates Krankheitsbild, interessan-                   Mehr
                                                        Komorbiditäten
                                                                                                                2x            36% längerer            7-fache
terweise vergeben jedoch Zulassungsbe-                                                                     höhere               durchschnittlicher    Zunahme der
                                                         (z.B. Bluthochdruck,                       Hospitalisierungsrateb      Spitalsaufenthaltb     Suizidratec
hörden wie die FDA (Food and Drug                       Diabetes, Herzinfarkt)a
Administration) und die EMA (European
                                                   a Amos et al. 2016; b Amos et al. 2018; c Feldmann et al. 2013
Medicines Agency) die Zulassung einer
Medikation für die Indikation der TRD,          Abb. 2: Konsequenzen bei Ausbleiben einer Response auf zwei oder mehr Therapieoptionen
wenn entsprechende Studien vorliegen,
wie z. B. bei der nun verfügbaren therapeu-
tischen Option des Esketamin-Nasensprays           Große klinische Studien wie von Souery                                    schen Studien breit angewendet wird (z. B.
(http://www.ema.europa.eu). Eine Zulas-         et al. 2007 und von Perugi et al. 2019                                       Wajs et al. 2020). Somit wird die TRD aktu-
sung für Major Depressive Disorder (MDD)        (Letztere hat die besondere Bedeutung der                                    ell als fehlende Response auf zumindest
bedeutet daher nicht gleichzeitig, dass         bipolaren Diathese für die Entwicklung                                       zwei konsekutive Behandlungen mit Anti-
auch Daten zur Wirksamkeit bei Patienten        einer Therapieresistenz herausgearbeitet)                                    depressiva gleicher oder unterschiedlicher
mit TRD vorliegen.                              sowie die Verwendung von maschinellem                                        Wirkstoffklassen definiert, welche über ei-
    Es ist lohnend, die TRD nicht nur be-       Lernen (Kautzky et al. 2018 und 2019)                                        nen ausreichenden Behandlungszeitraum
züglich ihrer offensichtlich schwierigeren      konnten die Prädiktion von Therapieresis-                                    (> 4 Wochen) und in einer ausreichenden
Behandlung besonders zu beleuchten, son-        tenz deutlich präzisieren, wie aus Abbil-                                    Tagesdosis bei therapieadhärenten Patien-
dern auch bezüglich ihrer möglichen spe-        dung 3 entnommen werden kann und un-                                         ten verabreicht wurden.
ziellen Charakteristika. Hier liegt auch die    ter Kapitel 4 für den weltweit größten                                           Darüber hinaus konnten die Ergebnisse
besondere Bedeutung der Suche nach Prä-         Datensatz von TRD-Patienten der GSRD-                                        der etwa 80 bisher veröffentlichten GSRD-
diktoren (biologischen, genetischen, psy-       Gruppe dargestellt wird.                                                     Studien, die bei 2762 depressiven Patien-
chopathologischen Prädiktoren): Je früher                                                                                    ten durchgeführt wurden, das gegenwär-
das Risiko für eine mögliche Therapiere-        4 Klinische Charakteristika der TRD:                                         tige Verständnis von der klinischen Mani-
sistenz erkannt wird, desto besser kann         Ergebnisse der europäischen                                                  festation der TRD zunehmend festigen
man einer Chronifizierung der Depression        Verbundstudie (GSRD)                                                         (Bartova et al. 2019). Im Einklang mit
zuvorkommen. Bereits im Jahr 1993 wur-                                                                                       sonstigen internationalen Forschungser-
den als negative Prädiktoren eines medi-            Der klinische Phänotyp der Therapiere-                                   gebnissen (zur Übersicht: Kraus et al.
kamentösen Behandlungserfolges „neuro-          sistenz wurde bisher in zahlreichen interna-                                 2019) zeichnet sich die TRD wie in Abbil-
tische Persönlichkeitszüge“, häufige Pha-       tionalen Studien untersucht. Hierbei sind die                                dung 3 dargestellt sehr häufig durch einen
sen in der Vorgeschichte sowie depressive       Ergebnisse der „European Group for the                                       höheren Schweregrad der depressiven
Wahninhalte beschrieben (Schmauß und            Study of Resistant Depression“ (GSRD) be-                                    Symptomatik (Souery et al. 2007; Balestri
Erfurth 1993). Die Definition solcher Risi-     sonders hervorzuheben, eines internationa-                                   et al. 2016; Kautzky et al. 2019) und einen
kofaktoren ermöglicht frühzeitig die Zu-        len Forschungskonsortiums, welches seit                                      chronifizierten Verlauf aus, wobei beim
weisung zu speziellen Therapien (Erfurth        mehr als zwei Jahrzehnten in insgesamt acht                                  Letzteren die Anzahl der früheren depres-
und Möller 2000) einschließlich einer           Ländern (Österreich, Italien, Deutschland,                                   siven Episoden (Souery et al. 2007; Kautz­
Kombinationsbehandlung (Schmauß und             Schweiz, Belgien, Frankreich, Griechenland,                                  ky et al. 2019) sowie der bisherigen psych-
Erfurth 1996).                                  Israel) sowohl klinische als auch biologische                                iatrischen stationären Behandlungen (Sou-
    Risikofaktoren, die zur Entstehung und      Korrelate der TRD und deren Behandlungs-                                     ery et al. 2007; Zaninotto et al. 2013) und
Aufrechterhaltung häufiger Komorbiditä-         möglichkeiten systematisch untersucht (zur                                   die Dauer der aktuellen depressiven Episo-
ten wie Bluthochdruck, Diabetes und Herz-       Übersicht: Bartova et al. 2019).                                             de (Zaninotto et al. 2013; Balestri et al.
infarkt bei depressiven Patienten beitragen         Im Laufe der intensiven zwanzigjährigen                                  2016; Kautzky et al. 2019) ausschlagge-
sind mangelnde Bewegung und/oder ein            Forschung wurde u. a. das GSRD-Staging-                                      bend sind. Außerdem wurde das Vorhan-
nachteiliger Ernährungsstil im Sinne einer      Modell für die Beurteilung der Response auf                                  densein von Suizidalität (Souery et al.
„western diet“ (reich an gesättigten Fetten,    eine antidepressive Behandlung entwickelt,                                   2007; Zaninotto et al. 2013; Balestri et al.
Zucker und verarbeiteten Lebensmitteln)         das die aktuelle Schwere der depressiven                                     2016; Dold et al. 2018a; Kautzky et al.
(Teasdale et al. 2019, Jacka et al. 2017). In   Symptome sowie die angewendeten psycho-                                      2019), zusätzlichen melancholischen (Sou-
diesem Zusammenhang ist hervorzuheben,          pharmakotherapeutischen Strategien be-                                       ery et al. 2007; Zaninotto et al. 2013) und
dass TRD-Patienten neben den genannten          rücksichtigt. Dieses Modell führte letztend-                                 psychotischen Symptomen (Zaninotto et
metabolischen Komorbiditäten eine etwa          lich dazu, dass die European Medicines                                       al. 2013; Kautzky et al. 2019; Dold et al.
doppelt so hohe Hospitalisierungsrate, ei-      Agency (EMA) die Definition der TRD nach                                     2019) sowie von komorbiden Angststörun-
nen etwa 36 % längeren durchschnittli-          den Ergebnissen der GSRD adaptierte                                          gen (Souery et al. 2007; Zaninotto et al.
chen Spitalsaufenthalt und eine siebenfach      (http://www.ema.europa.eu), die derzeit                                      2013; Dold et al. 2017b; Kautzky et al.
erhöhte Suizidrate aufwiesen (Abb. 2).          international anerkannt und z. B. in klini-                                  2019) und Persönlichkeitsstörungen (Sou-

       Neurologie & Psychiatrie 2021                                                                                                                                  9
KONSENSUS STATEMENT

                                                                                                   der Psychiatrie-Genetik-Forschung. Interes-
          Prominente Risikofaktoren                         Weitere Risikofaktoren                 santerweise zeigte eine vor Kurzem erschie-
                                                                                                   nene Arbeit der GSRD-Gruppe, dass der
                                                                                                   PRS für Schizophrenie im Zusammenhang
                                                             Psychotische Symptome                 mit der TRD zu stehen scheint, was u. a. die
                  Suizidalität                                                                     augmentative Wirkung der sogenannten
             Schwere der Symptome                             Größere Anzahl bisher                atypischen Antipsychotika erklären würde
                                                           eingesetzter Antidepressiva             (Fanelli et al. 2020). Allerdings wird derzeit
           Größere Anzahl depressiver
               Episoden über die
                                                                                                   eine individuelle Risikoprädiktion noch
                 Lebensspanne                            Längere Dauer der gegenwärtigen
                                                                                                   nicht von der International Society of Psy-
                                                               depressiven Episode                 chiatric Genetics empfohlen (Lazaro-Munoz
                  Komorbide
                Angsterkrankung                                                                    et al. 2019). Nichtsdestotrotz sind PRS ex-
                                                                                                   zellente Tools für die moderne, hypothesen-
                                                              Stationäre Behandlung
                                                                                                   geleitete Erforschung der genetischen
                                                                                                   Grundlagen von affektiven Störungen so-
                                                                                                   wie der Therapieresponse (Bengesser und
Abb. 3: Klinische Merkmale von TRD-Patienten, die als Prädiktoren und für den Behandlungsverlauf   Reininghaus 2018). Ebenso konnten frühe
herangezogen werden können und in der Routine leicht zu erheben sind (nach Kautzky et al. 2019)    Kandidatengen-basierte Assoziationsstudi-
                                                                                                   en bereits erste Hinweise auf den geneti-
                                                                                                   schen Bauplan der Depression geben (siehe
ery et al. 2007) mit einer insuffizienten        einem höheren Einsatz psychopharmako-             Kapitel 5.1). Allerdings führte erst die Ära
Response bzw. der TRD vergesellschaftet.         therapeutischer Maßnahmen assoziiert              der genomweiten Assoziationsstudien
    Sehr häufig ging die Notwendigkeit           war (Fugger et al. 2018, 2019a, 2019b und         (GWAS) zu den aktuellen bahnbrechenden
komplexer psychopharmakotherapeuti-              2020).                                            Ergebnissen (siehe Kapitel 5.2).
scher Maßnahmen mit einem unzureichen-
den Outcome einher (Dold et al. 2016 und         5 Genetik und Epigenetik                          5.1 Kandidatengenuntersuchungen
2018c). Entsprechende Assoziationen wur-                                                               Als Kandidatengene für hypothesenge-
den für die Add-on-Therapie mit Antipsy-             Genetische Faktoren sind nicht nur an         leitete Studien bieten sich Gene an, die in
chotika der neuen Generation bzw. Lithi-         der Entstehung der Depression maßgeblich          Zusammenhang mit Neurotransmittersys-
um (Dold et al. 2018b) und/oder Benzodia­        beteiligt, sondern beeinflussen auch die          temen oder mit Prozessen stehen, von de-
zepinen (Dold et al. 2020a) sowie für die        Response auf Psychopharmaka. Dies zei-            nen Krankheitsrelevanz angenommen
Anzahl der eingenommenen Antidepressi-           gen klinische Studien, Familien- und Zwil-        wird – wie zum Beispiel Neuroplastizität.
va (Kautzky et al. 2019) beobachtet. Wei-        lingsstudien, Arbeiten im Tiermodell sowie        Hypothesengeleitete Genassoziationsstu-
ters waren ein niedrigeres Alter bei Erster-     die Grundlagenforschung (Schulze und              dien und psychopharmakologische Assozi-
krankung (Souery et al. 2007), der hohe          McMahon 2018; Bousman et al. 2021). Ge-           ationsstudien fokussierten unter anderem
berufliche Beschäftigungsgrad (Mandelli          netik bzw. Pharmakogenetik (PGx) beein-           auf genetische Polymorphismen des sero-
et al. 2016; Mandelli et al. 2019), eine po-     flussen neben der Therapieresponse auch           tonergen Systems wie den Längenpolymor-
sitive Familienanamnese für affektive Er-        das Auftreten von UAW sowie das Risiko            phismus des Serotonintransportergens
krankungen sowie auch das Auftreten von          durch Arzneimittel hervorgerufener uner-          (5-HTTLPR in SLC6A4) oder einen funkti-
UAW mit einer fehlenden Rsponse bzw.             wünschter Ereignisse (Adverse Drug Reac-          onalen Polymorphismus des Serotoninre-
TRD assoziiert (Balestri et al. 2016).           tions, ADR) – diesbezüglich wird auf die          zeptor-1A-Gens (rs6295 in 5HTR1A). Auch
    In einer rezenten Replikationsstudie,        Ausführungen zum Thema „Pharmakoki-               für den Serotoninabbau verantwortliche
die bei 916 GSRD-Patienten durchgeführt          netische Interaktionen“ (siehe Kapitel 6)         Gene wie COMT wurden intensiv be-
wurde, zeigten sich der höhere Schwere-          sowie die umfassende, rezente Experten-           forscht. Eine Assoziation mit der Depressi-
grad der depressiven Symptomatik, Suizi-         Konsensus-Übersichtsarbeit „Review and            on im Allgemeinen wurde unter den für
dalität, die höhere Anzahl früherer depres-      Consensus on Pharmacogenomic Testing in           Neuroplastizität und Transkriptionsregu-
siver Episoden und die komorbide Angst-          Psychiatry“ der International Society of          lierung verantwortlichen Genen insbeson-
störung als besonders robuste Risikofakto-       Psychiatric Genetics (Bousman et al. 2021)        dere für BDNF, CREB1 und MAPK1 gefun-
ren für die Entwicklung einer TRD (Kautz­        verwiesen.                                        den (Schosser et al. 2012).
ky et al. 2019; Abb. 3).                             Genetische Merkmale wurden auch wie-
    Ergänzend ist zu erwähnen, dass die          derholt als prädiktive Biomarker zur Er-          5.2 Genomweite Assoziationsstudien
internationale Evidenz auch belastende           leichterung der Diagnostik und Verlaufs­             Durch große, internationale Psychiatrie-
Lebensereignisse und somatische Komor-           prognose der depressiven Störung vorge-           Genetik-Konsortien, etwa das Psychiatric
biditäten mit einer unzureichenden Thera-        schlagen (Fabbri et al. 2019a und 2020).          Genomics Consortium (PGC), STAR*D, GEN-
pieresponse bzw. der TRD in Verbindung           Derzeit sind sogenannte „Polygenic Risk           DEP, MARS und GSRD, konnte die Genetik
bringt (zur Übersicht: Kraus et al. 2019),       Scores“ (PRS), vereinfacht gesagt Sum-            der Depression und Therapieresponse weiter
wobei das Letztere in den GSRD-Studien           menscores von mit Depression assoziierten         entschlüsselt werden. Durch moderne Micro-
nur teilweise beobachtet wurde bzw. mit          Genvarianten, unter anderem Gegenstand            Array-Technologie konnten durch genom-

10                                                                                                                     Neurologie & Psychiatrie 2021
KONSENSUS STATEMENT

weite Assoziationsstudien (GWAS), welche         einer depressiven Episode ist, sind Gen-                      torielle Modelle gelegt, die genetische und
hypothesenfrei Millionen von Genvarianten        Umwelt-Interaktionen wichtige Puzzleteile                     andere Prädiktoren in ein komplementäres
(SNP, „single nucleotide polymorphisms“)         in der molekularbiologischen Pathogenese                      System integrieren und Interaktionen bes-
zwischen Studienteilnehmern mit Depressi-        der Depression und TRD. Epigenetische                         ser berücksichtigen sollen. Heute versucht
on oder TRD und gesunden Kontrollen ver-         Prozesse, wie etwa die Methylierung von                       man, auch der integrativen Vernetzung
gleichen, genomweit assoziierte Risikogen-       Cytosinen in regulatorischen Elementen                        verschiedenster molekularbiologischer We-
varianten für Depression entschlüsselt wer-      des Promotors von Genen, können die                           ge in der Therapieresponse-Forschung bei
den. Ein Meilenstein der Psychiatrie-Genetik     Transkription, also das Ablesen des Gens,                     Depression durch das Anwenden von Ma-
war etwa die Präsentation von über hundert       stilllegen. Ergebnisse von hypothesengelei-                   chine Learning (ML) gerecht zu werden
mit Depression assoziierten Genvarianten         teten Methylierungsanalysen zeigten wie-                      (Maciukiewicz et al. 2018).
durch David Howard am World Congress of          derholt epigenetische Veränderungen in                           Zusammenfassend kann festgehalten
Psychiatric Genetics (WCPG) in Glasgow           Kandidatengenen der serotonergen Neuro-                       werden, dass erste Ergebnisse genomwei-
2019. Howard et al. zeigten in einer Meta-       transmission und Neuroplastizität. Erste                      ter und multifaktorieller Studien ein Po-
analyse der GWAS-Daten von 807 553 Perso-        EWAS („epigenome wide association stu-                        tenzial genetischer Marker für Präzisions-
nen (246 363 Fälle mit Depression und            dies“) zeigten erst wenige Methylierungs-                     diagnostik und Therapievorhersage erken-
561 190 Kontrollen), dass 102 unabhängige        stellen, welche nach Bonferroni-Korrektur                     nen lassen. Die Charakterisierung geneti-
Genvarianten und 15 Gengruppen mit der           weiterhin mit der Depression assoziiert                       scher Marker der TRD stellt einen notwen-
Depression assoziiert sind. Diese Gene spie-     waren. EWAS im Bereich der TRD stecken                        digen Schwerpunkt der Depressionsfor-
len unter anderem in der synaptischen            leider derzeit noch in den Anfängen (Men-                     schung dar.
Struktur und der Neurotransmission eine          ke und Binder 2014).
Rolle. Die Ergebnisse wurden in einer unab-                                                                    6 Plasmaspiegel und
hängigen       Replikationsstichprobe     von    5.4 Multifaktorielle Genuntersuchungen                        Arzneimittelinteraktionen
1 306 354 Personen (414 055 Fälle mit De-           Letztlich scheint die Interaktion einer
pression und 892 299 Kontrollen) repliziert,     Vielzahl genetischer, epigenetischer, klini-                     Therapeutic Drug Monitoring (TDM)
wobei 87 der 102 assoziierten Varianten          scher und soziodemografischer Faktoren                        und individualisierte Psychopharmako-
nach strenger Korrektur für multiples Testen     mit der Pathogenese der TRD und der The-                      therapie sind besonders bei TRD-Patien-
signifikant blieben (Howard et al. 2019). Die-   rapieresponse assoziiert zu sein. Folglich                    ten anzuraten (Hiemke et al. 2018). Dies
se Ergebnisse erweitern unser Verständnis        wurde in den vergangenen Jahren ein                           bedeutet unter anderem Dosisoptimierun-
von der komplexen, polygenen genetischen         Schwerpunkt der Forschung auf multifak-                       gen anhand der Quantifizierung von
Architektur von Depressionen und bieten
verschiedene Möglichkeiten für die Zukunft,       Inhibitor wird zu einem             Erhöhung des Plasmaspiegels des Substrates (dadurch kann es
um die Ätiologie zu verstehen und neue Be-        Substrat hinzugefügt                zur Toxizität kommen).
handlungsansätze zu entwickeln. Im Ver-
gleich konnten bei TRD-GWAS kaum genom-           Substrat wird zum                   Bei Auftitrierung des Substrates nach üblichem Therapieplan
weit signifikante Genvarianten identifiziert      Inhibitor hinzugefügt               kommt es zu rascher deutlicher Steigerung des Plasmaspiegels
werden (z. B. rs150245813) (Li et al. 2020;                                           des Substrates und eventuell unerwünschten Arzneimittelwir­
Fabbri et al. 2019b). Die meisten mit TRD                                             kungen (UAW).
nominal assoziierten Genvarianten überleb-        Induktor wird zu einem              Verminderung des Plasmaspiegels des Substrates. Dadurch
ten die strenge Bonferroni-Korrektur nicht.       Substrat hinzugefügt                eventuell Wirkverlust des Substrates.
Enrichment-Analysen geben jedoch Hinwei-
                                                  Substrat wird zu einem              Trotz Adhärenz zum üblichen Aufdosierungsschema kommt es zu
se auf eine Rolle der Zytoskelettregulation,
                                                  Induktor hinzugefügt                einem nur geringen oder keinem therapeutischen Effekt, da der
Transkriptionsmodulation und Kalziumsig-
                                                                                      Plasmaspiegel des Substrats zu niedrig ist.
nalwege bei der TRD (Fabbri et al. 2019b).
Allerdings ist anzumerken, dass die TRD-          Entfall eines Inhibitors            Das betroffene Isoenzym erlangt seine Normalfunktion; dadurch
GWAS-Samples derzeit noch relativ klein                                               kommt es zu einer Reduktion des Plasmaspiegels eines Substra­
sind und durch Erweiterung der Datensätze                                             tes für dieses Isoenzym und gleichzeitig zu einer Erhöhung der
in den nächsten Jahren wichtige Ergebnisse                                            Metaboliten des Substrates.
zu erwarten sind. Nichtsdestotrotz helfen die
                                                  Entfall eines Induktors             Das betroffene Isoenzym wird in seiner Funktion gedrosselt.
bereits vorhandenen genomischen Daten zu
                                                                                      Dadurch kommt es zu einer Erhöhung des Plasmaspiegels
TRD, neue mögliche pharmakologische Op-
                                                                                      des Substrates und zu einer Reduktion des Metaboliten des
tionen für TRD mit modernen In-silico-Me-
                                                                                      Substrates.
thoden zu identifizieren, z. B. Ketamin oder
Lithium (Fabbri et al. 2021).                     Wichtige Begriffe
                                                  Substrat: Substanz, welche durch das jeweilige Isoenzym metabolisiert wird
                                                  Inhibitor: S ubstanz, welche das jeweilige Isoenzym in seiner Funktion behindert/blockiert
5.3 Epigenetik                                    Induktor: Substanz, welche das jeweilige Isoenzym in seiner Funktion fördert
   Da der genetische Bauplan entspre-
                                                  nach Sandson et al. 2003
chend dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell
nicht alleine maßgebend für das Entstehen        Tab. 2: Mögliche Szenarien für eine medikamentöse Interaktion im CYP450-Enzymsystem

        Neurologie & Psychiatrie 2021                                                                                                                  11
KONSENSUS STATEMENT

                                                                                                                   kamente zu. Daraus ergeben sich bei einer
 Substanz                         CYP450-Metabolisierung                               Therapeutischer
                                                                                                                   Kombinationstherapie mit fünf Medika-
                                                                                       Referenzbereich
                                                                                                                   menten zehn mögliche Interaktionen, wäh-
 Agomelatin                       CYP1A2, CYP2C19, CYP3A4                          7–300 ng/ml (1–2 h nach         rend bei zehn Medikamenten bereits 45
                                                                                    Einnahme von 50 mg)            Interaktionen möglich sind. Allerdings
 Aripiprazol                      CYP2D6, CYP3A4                                        100–350 ng/ml              sind nicht alle potenziellen Arzneimittel-
                                                                                                                   interaktionen auch klinisch relevant.
 Bupropion                        CYP2C19, CYP2B6                                      850–1500 ng/ml                 Von einer pharmakodynamischen In-
 (und Hydroxybupropion)                                                                                            teraktion spricht man, wenn ein Medika-
 Citalopram/Escitalopram          CYP2C19, CYP2D6, CYP3A4                         50–110 ng/ml/15–80 ng/ml         ment durch ein anderes Medikament in
                                                                                                                   seiner Wirkung (synergistisch oder anta-
 Esketamin                        CYP2D6, CYP3A4, CYP2C19,                               40–90 ng/ml*
                                                                                                                   gonistisch) unmittelbar beeinflusst wird.
                                  CYP2C9
                                                                                                                   Pharmakodynamische Interaktionen kön-
 Duloxetin                        CYP1A2, CYP2D6                                         30–120 ng/ml              nen in der klinischen Praxis zu sehr rele-
                                                                                                                   vanten Phänomenen führen. In der Psych-
 Fluoxetin                        CYP2B6, CYP2C9, CYP2C19,                              120–500 ng/ml
                                                                                                                   iatrie sind das unter anderem: Hypertonie/
 (und Norfluoxetin)               CYP2D6
                                                                                                                   hypertensive Krisen, Serotonin-Syndrom,
 Mirtazapin                       CYP3A4, CYP1A2, CYP2D6                                 30–80 ng/ml               Sedierung, extrapyramidale Symptomatik,
 Olanzapin                        CYP1A2, CYP2D6                                         20–80 ng/ml               Arrhythmien oder QTc-Zeit-Verlängerung
                                                                                                                   (Gören und Tewksbury 2013).
 Paroxetin                        CYP2D6, CYP3A4                                         20–65 ng/ml                  Pharmakokinetische Interaktionen
 Quetiapin                        CYP3A4, CYP2D6                                        100–500 ng/ml              liegen vor, wenn sich zwei gleichzeitig ein-
                                                                                                                   genommene Medikamente in ihrer Aufnah-
 Risperidon                       CYP2D6, CYP3A4                                         20–60 ng/ml
                                                                                                                   me, Verteilung, Metabolisierung oder Aus-
 (und Hydroxyrisperidon)
                                                                                                                   scheidung gegenseitig so beeinflussen, dass
 Sertralin                        CYP2B6, CYP2C19, CYP2C9,                               10–150 ng/ml              es zu einer Veränderung der Konzentration
                                  CYP2D6, CYP3A4                                                                   von einem der beiden Medikamente kommt
 Trazodon                         CYP3A4, CYP2D6                                       700–1000 ng/ml              (Cascorbi 2012). Konsequenzen der verän-
                                                                                                                   derten Wirkstoffkonzentration können der
 Venlafaxin                       CYP2C19, CYP2D6, CYP2C9,                              100–400 ng/ml              Verlust der Wirkung oder eine UAW sein.
 (und O-Desmethylven­             CYP3A4                                                                              Für die Metabolisierung der meisten
 lafaxin)                                                                                                          Psychopharmaka sind Isoenzyme des Cy-
 Vortioxetin                      CYP2D6, CYP3A4, CYP2A6, CYP2C9                          10–40 ng/ml              tochrom-P450(CYP450)-Systems verant-
                                                                                                                   wortlich. Hier können pharmakokinetische
 Ziprasidon                       CYP3A4                                                 50–200 ng/ml
                                                                                                                   Interaktionen eine Veränderung des Plas-
 Wenn Enzyme, die fett gedruckt sind, in ihrer Aktivität durch einen Inhibitor oder Induktor vermindert oder       maspiegels der jeweiligen Substanz bewir-
 gesteigert sind, so kommt es zu einem möglicherweise klinisch relevanten Anstieg oder Abfall der Plasmakonzent-   ken. Tabelle 2 listet alle sechs möglichen
 ration der entsprechenden Substanz (nach Hiemke et al. 2018); * bei Tmax
                                                                                                                   Szenarien einer pharmakokinetischen In-
Tab. 3: CYP450-Isoenzym-Beteiligung und therapeutischer Bereich einiger Psychopharmaka                             teraktion am CYP450-Enzymsystem auf.
                                                                                                                   Die wichtigsten CYP450-Isoenzyme sind:
                                                                                                                   CYP1A2, CYP2B6, CYP2C8, CYP2C9,
Wirkstoffkonzentrationen im Blutserum                      in den meisten Fällen eine Plasmaspiegel-               CYP2C19, CYP2D6, CYP2E1 und CYP3A4/5
oder -plasma.                                              messung erst eine Woche nach Erreichen                  (Hiemke et al. 2018). Duloxetin, Fluoxetin
   Plasmaspiegelmessungen sind heutzuta-                   einer stabilen täglichen Dosierung und un-              (und Norfluoxetin) sowie Paroxetin sind
ge für die meisten Psychopharmaka routi-                   mittelbar vor Einnahme der morgendlichen                starke Inhibitoren für CYP2D6. Dagegen ist
nemäßig verfügbar. Das Unter- oder Über-                   Dosis sinnvoll und aussagekräftig ist.                  Johanniskraut ein Induktor für CYP2C19,
schreiten der angestrebten Spiegel kann                    Kommt es zu UAW, kann eine Plasmaspie-                  CYP3A4; Carbamazepin ist ein Induktor für
eine unzureichende Response auf die Me-                    gelbestimmung allerdings zu jedem Zeit-                 CYP1A2, CYP2B6, CYP2C9 sowie CYP3A4.
dikation oder eine schlechte Verträglichkeit               punkt sinnvoll sein. Für die Interpretation             In Tabelle 3 sind einige Psychopharmaka
der Medikation erklären. Als Ursachen                      der Ergebnisse muss in solchen Fällen aller-            sowie deren Metabolisierung ersichtlich.
kommen Non-Adhärenz des Patienten so-                      dings das Dosierungsschema einbezogen                      Zusätzlich können genetisch bedingte
wie das mögliche Vorliegen eines geneti-                   werden (Hiemke et al. 2018).                            Polymorphismen, welche in ihrer Häufig-
schen Polymorphismus oder einer relevan-                      An Interaktionen zwischen den einzel-                keit auch deutliche ethnizitätsspezifische
ten pharmakokinetischen Interaktion infra-                 nen Substanzen muss grundsätzlich bei                   Unterschiede zeigen, zu einer großen Va-
ge. Die Bewertung der Spiegel wird in der                  allen Kombinationen von Medikamenten                    riabilität in der Ausstattung und Leistungs-
Regel anhand von Talspiegelmessungen                       gedacht werden. Dabei nimmt die Anzahl                  fähigkeit der CYP-Enzyme bei den einzel-
unter Steady-State-Bedingungen vorge-                      der möglichen Interaktionen exponentiell                nen Personen führen (Müller et al. 2018).
nommen. Das bedeutet in der Praxis, dass                   mit der Anzahl der eingenommenen Medi-                  In diesem Zusammenhang werden auch

12                                                                                                                                    Neurologie & Psychiatrie 2021
KONSENSUS STATEMENT

die Begriffe „poor“, „intermediate“, „exten­     ABCB1-Test, welcher am Max-Planck-Insti­        te bei der TRD – ähnlich wie bei vielen an­
sive“ oder „ultrarapid metabolizer“ benutzt      tut in München entwickelt wurde, können         deren medizinischen Krankheitsbildern
(Stingl et al. 2013). Pharmakogenetische         die DNA-Sequenzvarianten im ABCB1-Gen           wie z. B. der arteriellen Hypertonie – die
Testungen können über das Vorliegen von          gemessen werden, welche die medikamen­          medikamentöse Behandlung als Basisthe­
möglichen Polymorphismen Auskunft ge­            töse Behandlung der Depression erschwe­         rapie dienen (Kranz und Kasper 2019; Bar­
ben. „Poor metabolizer“ für ein bestimmtes       ren. Dadurch können Patienten identifiziert     tova et al. 2020). Die medikamentöse Ba­
Isoenzym weisen höhere Plasmaspiegel für         werden, bei denen Antidepressiva aufgrund       sistherapie sollte in erster Linie Antidepres­
Substrate des betroffenen Isoenzyms auf,         von Polymorphismen die Blut-Hirn-Schran­        siva umfassen, wobei die Evaluierung der
während „ultrarapid metabolizer“ einen           ke weniger leicht passieren können und die      Effektivität der initialen antidepressiven
niedrigen Plasmaspiegel für Substrate des        deshalb ungenügend auf die Therapie an­         Behandlung in der Regel zwei bis vier Wo­
betroffenen Isoenzyms aufweisen.                 sprechen. Die ABCB1-Diagnostik ist nur          chen nach Erreichen der Zieldosis erfolgen
    Man kann aufgrund erster Analysen der        einmal im Leben erforderlich und erlaubt        sollte (DGPPN et al. 2015; Bauer et al. 2017;
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psy­      es, die Therapie mit Antidepressiva auf den     Kasper et al. 2019). Eine fehlende Respon­
chotherapie in Wien annehmen, dass im            individuellen ABCB1-Genotyp abzustim­           se auf die Therapie kann bereits nach zwei
stationären Setting etwa 8–10 % der de­          men. Die Messung bietet eine Hilfe bei der      Wochen als Prädiktor für eine weitere un­
pressiven Patienten pharmakokinetische           Wahl der Behandlungoptionen bei Teil- und       zureichende Response gewertet werden.
Besonderheiten, meist ein „ultra rapid me­       Non-Response bezüglich Bestätigung der          Eine Anpassung der antidepressiven The­
tabolizing“, aufweisen und dadurch z. B.         Wahl des verordneten Antidepressivums,          rapie wird daher bei mangelnder Response
die Notwendigkeit besteht, höhere orale          Dosissteigerung, Augmentationsstrategien        bereits nach zwei Wochen empfohlen (Bau­
Medikationsdosen zu verabreichen.                oder Medikamentenwechsel, wie in den            er et al. 2017).
    Veränderungen der Enzymaktivität im          Schweizer Therapieempfehlungen ver­                 Bei einer inadäquaten Response auf die
Laufe des Lebens sind möglich. Als Ursachen      merkt (Holsboer-Trachsler et al. 2016).         antidepressive Therapie ist zunächst die im
kommen eine im Alter sinkende Enzym­                                                             Kapitel 2 beschriebene Pseudoresistenz (sie­
aktivität oder auch Nieren- oder Leberer­        7 Psychopharmakotherapie der                    he auch Abb. 1) auszuschließen. Kann diese
krankungen infrage. Auch Rauchen kann zu         TRD                                             nicht als Ursache der mangelnden Therapie­
relevanten Interaktionen führen. Beim Ver­                                                       response identifiziert werden, so stehen in
brennen von Tabak entstehen zahlreiche               Die Behandlung der TRD wird häufig          hierarchischer Reihenfolge folgende Schrit­
Substanzen, die die pharmakokinetischen          als herausfordernd bezeichnet. Um best­         te der Therapieoptimierung an:
und pharmakodynamischen Eigenschaften            mögliche Resultate zu erzielen, sollte sich
von Pharmaka beeinflussen können: Die            die Therapie an den individuellen Bedürf­       1. Eine Optimierung der bestehenden an­
polyzyklischen aromatischen Kohlenwasser­        nissen der Betroffenen orientieren und             tidepressiven Behandlung
stoffe im Tabakrauch (Benzpyren, Anthra­         neben der Psychopharmakotherapie auch
cen, Phenantren etc.) sind metabolische In­      nichtpharmakologische und soziale Inter­        2. Eine Augmentationstherapie (Verabrei­
duktoren von CYP1A1 und CYP1A2, wäh­             ventionen umfassen (Dodd et al. 2020).             chung einer zusätzlichen Substanz zur
rend Kohlenmonoxid CYP2D6 induziert.             Diese werden in den folgenden Kapiteln             laufenden Pharmakotherapie mit einem
Eine bis fünf, sechs bis zehn bzw. mehr als      näher umrissen. Der Psychoedukation                Antidepressivum). Antipsychotika der
zehn Zigaretten am Tag erhöhen die Isoen­        kommt dabei ein hoher Stellenwert zu. Ei­          neuen Generation bzw. Lithium haben
zymaktivität jeweils um das 1,2-, 1,5- bzw.      ne funktionierende Arzt-Patienten-Bezie­           sich in dieser Indikation als sehr effek­
1,7-Fache (Hiemke et al. 2018). Dadurch          hung wirkt sich positiv auf den Therapie­          tiv erwiesen (DGPPN et al. 2015; Bauer
führt Rauchen bei Medikamenten, welche           erfolg aus und ist daher von eminenter             et al. 2017; Dold und Kasper 2017; Dold
als Substrat für dieses Isoenzym fungieren       Bedeutung (Bartova et al. 2017).                   et al. 2018b und 2018c; Taylor et al.
(z. B. Clozapin, Duloxetin oder Olanzapin),          Die Optimierung der Therapieresponse           2020). Seit Kurzem steht auch der Eske­
zu einer Reduktion von dessen Plasmaspie­        und des gesamten Behandlungsprozesses              tamin-Nasenspray als wirksame Add-
gel (Tab. 2 und 3). Klinisch relevant ist auch   war in den letzten Jahren Gegenstand in­           on-Therapie zur Verfügung (zur Über­
die Deinduktion, also das Ansteigen der          tensiver Forschung. Ergebnisse waren The­          sicht: Kasper et al. 2020).
Plasmaspiegel bei der Reduktion von Tabak­       rapiealgorithmen, die von internationalen
rauch, etwa auch bei der Umstellung auf          psychiatrischen Fachgesellschaften wie          3. Eine Kombinationstherapie von Antide­
„elektrische Zigaretten“ oder auf Nikotin­       der World Federation of Societies of Biolo­        pressiva mit sich unterscheidenden
pflaster.                                        gical Psychiatry (WFSBP) (Bauer et al.             Wirkmechanismen. Infrage kommen
    Für die Wirksamkeit von Antidepressiva       2017) sowie internationalen Forschungs­            z. B. selektive Serotonin-Wiederaufnah­
ist die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-           konsortien wie z. B. der GSRD (Bartova et          me-Hemmer (SSRI) bzw. Serotonin-
Schranke ein wesentlicher Einflussfaktor.        al. 2019) erstellt wurden (Dold und Kasper         Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hem­
Das in den Blutgefäßen lokalisierte „Wäch­       2017; Kasper et al. 2019; Kraus et al. 2019).      mer (SNRI) in Kombination mit Mirta­
termolekül“ P-Glykoprotein, welches vom          Die aktuell empfohlenen Behandlungs­               zapin bzw. ­Trazodon (Dold et al. 2016;
ABCB1-Gen codiert wird, bindet ca. 70 %          schritte in der medikamentösen Therapie            Bauer et al. 2017).
aller gängigen Antidepressiva und kann           der unipolaren Depression sind in Tabelle
damit den Eintritt der Medikamente ins           4 und Abbildung 5 angeführt.                       Andere im klinischen Alltag häufig ein­
Hirngewebe erschweren. Mit dem neuen                 Im Sinne einer optimalen Therapie soll­     gesetzte Strategien, wie zum Beispiel Do­

        Neurologie & Psychiatrie 2021                                                                                                      13
KONSENSUS STATEMENT

siseskalation (d.h. Dosisoptimierung) bei        7.1 Psychopharmakotherapie mit                   Verträglichkeit) sollten im Rahmen einer
Antidepressiva aus den Substanzgruppen           Antidepressiva                                   präzisen Diagnostik erhoben und bei der
der Wiederaufnahme-Hemmer (Dold et al.               Antidepressiva stellen die Therapieoption    Auswahl des Antidepressivums im Sinne
2017a) oder Switching (Umstellung der            der ersten Wahl in der Behandlung der uni-       einer individualisierten Therapie berück-
Monotherapie mit einem Antidepressivum           polaren Depression dar (DGPPN et al. 2015;       sichtigt werden (Bauer et al. 2017).
auf eine Monotherapie mit einem anderen          Holsboer-Trachsler et al. 2016; Bauer et al.        Außerdem sollte ein besonderer Fokus
Antidepressivum) (Souery et al. 2011),           2017; Dold und Kasper 2017). Ihre Wirk-          auf die Nebenwirkungsprofile der jeweili-
stellen kein generelles evidenzbasiertes         samkeit konnte in zahlreichen international      gen Substanzen und in diesem Zusammen-
Vorgehen in der Behandlung der TRD dar           durchgeführten klinischen Studien und Me-        hang auf das gezielte Ansprechen der sub-
und sollten daher nur unter genau defi-          taanalysen gezeigt werden (Cipriani et al.       jektiven Lebensqualität und das Auftreten
nierten Umständen, welche in den folgen-         2018). Die aktuell am häufigsten eingesetz-      von UAW gelegt werden (Bartova und
den Subkapiteln 7.4 und 7.5 beschrieben          te Substanzgruppe unter den Antidepressiva       Winkler 2019). Dies ist z. B. im Zusammen-
sind, angewendet werden (Dold und Kas-           sind in Europa und in den USA die SSRI,          hang mit den häufig nicht thematisierten
per 2017).                                       gefolgt von SNRI. Weitere in Verwendung          sexuellen Funktionsstörungen oder uner-
   Nachdem die rasch einsetzende und             befindliche Substanzgruppen sind die nor-        wünschten metabolischen Wirkungen von
potente antidepressive Wirksamkeit von           adrenergen und spezifisch serotonergen           Bedeutung, welche einen erheblichen Lei-
Esketamin intranasal in mehreren inter-          Antidepressiva (NaSSA), Noradrenalin-Do-         densdruck verursachen können. Dieser
nationalen Studien bestätigt wurde (Pop-         pamin-Wiederaufnahme-Hemmer (NDRI),              kann folglich zur insuffizienten Therapie-
ova et al. 2019, Wajs et al. 2020; Ionescu       Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer und              adhärenz und letztendlich auch zur TRD
et al. 2021, zur Übersicht: Kasper et al.        Rezeptoranta­gonisten­ (SARI), Noradrena-        führen, welche durch eine geeignete und
2020) und eine rezente Metaanalyse eine          lin-Wiederaufnahme-Hemmer (NARI), re-            durch regelmäßige Psychoedukation ge-
Überlegenheit gegenüber Antipsychotika           versible und irreversible MAO-I, Trizyklika      stützte Psychopharmakotherapie bzw.
der neuen Generation zeigte (Dold et al.         (TZA) sowie das serotonerg-melatonerge           durch eine adäquate Therapiemodifikation
2020b; Carter et al. 2020), sollte diese         Antidepressivum Agomelatin, der Gluta-           vermeidbar bzw. gut behandelbar ist (Bar-
innovative Add-on-Therapie-Option, die           mat-Modulator Tianeptin und der multimo-         tova und Winkler 2019).
in Österreich nun offiziell zugelassen ist,      dale Serotonin-Modulator Vortioxetin.               SSRI sind effektive, sichere und thera-
bei TRD-Patienten erwogen werden (zur                Die klinische Symptomatik, Komorbidi-        peutisch breit einsetzbare Antidepressiva
Übersicht: Kasper et al. 2020) (Tab. 4,          täten, Präferenzen sowie die bisherige The-      und im Vergleich zu den älteren TZA gut
Abb. 4).                                         rapieerfahrung des Patienten (Response,          verträglich. Antidepressiva mit sedieren-

 1. O
     ptimierung der aktuellen antidepressiven Behandlung   • Ausreichende Behandlungsdauer
    und Ausschluss einer Pseudoresistenz                    • Ausreichende Dosierung
                                                            • Erweiterte Laboruntersuchung (inkl. Blutbild, metabolischen Screenings, Eisensta-
                                                              tus, Vitamin D, Folsäure, Vitamin B12, Schilddrüsenfunktion, hs-CRP)
                                                            • Bestimmung der medikamentösen Plasmaspiegel und eventuell des Metabolisie-
                                                              rungsstatus im Blut
                                                            • Evaluierung von Therapieadhärenz
                                                            • Exploration hinsichtlich möglicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen, Komorbi-
                                                              ditäten, nachteiliger Lifestylefaktoren und psychosozialer Belastungen

 2. Augmentationstherapie (Verabreichung einer              • Antipsychotika der neuen Generation
    zusätzlichen Substanz zur laufenden antidepressiven     • Lithium
    Therapie) oder eine Add-on-Therapie mit Esketamin-      • Esketamin-Nasenspray (in Kombination mit einem SSRI bzw. SNRI bei ausblei-
    Nasenspray                                                bender Response auf mindestens zwei unterschiedliche Therapien mit Antide-
                                                              pressiva)

 3. Kombinationstherapie (gleichzeitige Verordnung von      • Vorzugsweise 2 Antidepressiva mit verschiedenen Wirkungsprofilen (z. B. selektive
    zwei oder mehreren Antidepressiva)                        Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer bzw. Serotonin-Noradrenalin-Wiederauf-
                                                              nahme-Hemmer in Kombination mit Mirtazapin bzw. Trazodon)

 4. Dosiseskalation (Hochdosistherapie)                     • Bei Patienten mit nachgewiesenen Polymorphismen im Cytochrom-P450-Enzym-
                                                              system („rapid“ bzw. „ultrarapid“ Metabolisierung)
                                                            • Sonst vor allem bei Trizyklika und MAO-Inhibitoren beschrieben.

 5. Switching (Umstellung eines Antidepressivums auf ein    • Z. B. bei Auftreten von relevanten unerwünschten Arzneimittelwirkungen bzw. bei
    anderes im Rahmen einer Monotherapie)                     Non-Response
 nach Bartova et al. 2017

Tab. 4: Empfohlene Behandlungsschritte in der medikamentösen Therapie der unipolaren Depression (siehe auch Behandlungsalgorithmus in Abb. 5)

14                                                                                                                      Neurologie & Psychiatrie 2021
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