Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
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26 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg Klaus Dieter Weiss In der Konkurrenz zu Flugzeug und Auto erweisen sich Dy- namik und Vernetzungsanspruch der Bahn nach wie vor als bahnbrechend. Ende der Dreißigerjahre notierte Walter Benjamin: „Die geschichtliche Signatur der Eisenbahn be- steht darin, daß sie das erste – und bis auf die großen „Auf einer Spazierfahrt, bei der man nach Überseedampfer wohl auch das letzte – Verkehrsmittel Belieben aussteigen kann, gibt es keine darstellt, welches Massen formiert. Die Postkutsche, das Ankunft, bei der Eisenbahnfahrt aber wird Auto, das Flugzeug führen Reisende nur in kleinen Grup- der Unterschied von Ankunft und Abfahrt pen mit.“ 2 Nicht zuletzt war die Erfindung des dampf geheimnisvoll schematisiert durch eine getriebenen Transports auf eisernen Wegen der Katalysa- Operation, die sich in den Bahnhöfen, tor der industriellen Revolution. Schließlich zogen sogar diesen ganz besonderen Stätten, voll- Ballsäle und Schlemmer-Restaurants in die Bahnhöfe ein. zieht, die sozusagen kein Teil der Stadt Die zentrale Markthalle war nie weit entfernt, konnte sind und doch die Essenz ihrer Persön- doch nur die Eisenbahn frische Lebensmittel auch überre- lichkeit so deutlich enthalten wie sie auf gional garantieren. Heute beträgt die Länge der Schienen dem Signalschild ihren Namen tragen.“ 1 wege weltweit mit 1,37 Millionen Kilometern mehr als das Marcel Proust 34-Fache des Erdumfangs. 1 737 Hochgeschwindigkeits- züge (Stand: 2008) sorgen auf diesem Streckennetz für Reisegeschwindigkeiten von über 250 km/h. 60 Prozent dieser Züge verkehren in den EU-Mitgliedsstaaten, die le- diglich über etwa 17 Prozent der Schienenwege verfügen. Für europäische Verhältnisse ungewöhnlich glänzt Japan weit jenseits des deutschen Transrapid auf einer Test strecke mit einer Höchstgeschwindigkeit von 581 km/h und im Alltagsverkehr mit einem Mittelwert der Pünktlich- keit von 24 Sekunden Abweichung vom Fahrplan. Im Jahr 2010 lag das Verkehrsvolumen der ÖBB bei 460 Millionen Fahrgästen und im Güterverkehr bei 133 Millionen Tonnen. Abb. 1 Luftaufnahme mit Visualisierung des Projekts
28 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg Stadtarchitektur Die Vorgeschichte der Eisenbahn reicht zurück bis zu den hölzernen Gleisen im englischen Bergbau zu Beginn des 16. Jahrhunderts, letztlich bis zu den Spurrillen der Straßen, die schon in vorgeschichtlicher Zeit die Fuhrwerke schie- nenartig führten. Dennoch erweist sich kein Verkehrsmit- tel dieser Dimension als urbaner und komplexer, damit aber in seinen unzähligen Bahnhöfen auch als historischer. Bristol Temple Meads, der älteste noch betriebene Haupt- bahnhof der Welt, ist nur 20 Jahre älter als der von Franz Rudolf Bayer erbaute Salzburger Hauptbahnhof mit sei- nem heute in mattem Weiß modern adaptierten, histori- schen Eingangsgebäude mit dem Hausbahnsteig 1. So ver- binden sich historische und moderne Elemente zu einem atmosphärisch schlüssigen Ensemble. Der Bahnreisende erlebt das am besten vernetzte, die Konkurrenz in vielen Punkten übertreffende Verkehrsmit- tel vor allem im urbanen, stadtgeschichtlichen Stillstand. Der Bahnhof markiert den Anfang, die Stationen und den Endpunkt der Eisenbahnreise. Im Gegensatz zum Fluchtort und Zwischenort Flughafen außerhalb der Stadt verkör- pert der Bahnhof, wie von Marcel Proust 1918 formuliert, den eigenen Wohnort oder den gewählten Zielort einer kurzen oder auch langen Reise in einem sehr umfassen- den Sinn: „kein Teil der Stadt und doch die Essenz ihrer Persönlichkeit“. Das Design der Eisenbahnreise wird ganz wesentlich bestimmt – mehr noch als durch hochmoderne Züge oder die Uniformen des Personals – durch den gu- ten alten Bahnhof mitten in der Stadt. In diesem Sinn ist Bahnverkehr stets Stadtverkehr, je nach Länge der Reise und persönlichen Vorlieben ausgefüllt durch die Lektüre einer Zeitung, eines Buches, der Arbeit am Laptop, einem Imbiss im Speisewagen – und natürlich: vorbeifliegenden Landschaften, Städten und weiteren Bahnhöfen. Nur sel- ten findet sich darunter ein architektonischer Impuls, der die Bahnreise neu und fortschrittlich kommuniziert. Abb. 2 Symbiose aus historischen und dynamischen Elementen innerhalb des neu konzipierten Durchgangsbahnhofs
30 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg Abb. 3 Geschwungene Bahnsteigdächer symbolisieren Mobilität und Geschwindigkeit Designstrategie „Design hat noch nie so viel Geld generiert wie heute. De- signgetriebene Firmen wie Apple werden zum Gralshüter der Moderne erklärt und erzielen Gewinne in Milliarden- höhe.“ 3 Die Süddeutsche Zeitung zitierte dazu eine Studie des Rates für Formgebung, wonach produzierende Un- ternehmen mit einer klaren Designstrategie im Jahr 2011 ein doppelt so starkes Umsatzwachstum erzielen konnten wie der Branchendurchschnitt. In den Bahnhöfen verbin- den sich dagegen Technologien des 19. Jahrhunderts mit der neuesten Elektronik. Angesichts der schnellen Erfolge eines iPad oder iPhone sind Modernisierung und Umbau eines Bahnhofs im laufenden Betrieb (in Salzburg ca. 750 Züge täglich) ungleich komplexer, aber letztlich auch be- deutender. Ganze Computer-Generationen können in Ver- gessenheit versinken bis, wie in Stuttgart oder Wien, aus einem Kopfbahnhof ein Durchgangsbahnhof wird. Erste Pläne für einen Durchgangsbahnhof in Salzburg gab es schon in den Siebzigerjahren. Aber die analoge, mühsame und zeitintensive Planungs- und Bauarbeit am Bahnhof der Stadt lohnt jeden Aufwand. Gerade im Medienzeitalter werden die realen Bezugs- punkte und Identifikationswerte einer attraktiven urbanen Umgebung zunehmend wichtiger. Die gesellschaftliche Bedeutung des Schauspiels Stadt lebt von der emotiona- len Qualität und Zukunftsfähigkeit ihrer zentralen urbanen Orte, den öffentlichen Plätzen wie dem Brennpunkt des Bahnhofs, die sich über lange Zeiträume herausgebildet haben und sich nur allmählich verändern lassen. Aufgrund der im Einzelfall ganz unterschiedlichen architektonischen und städtebaulichen Voraussetzungen kann die Vielzahl der historischen Bahnhöfe keine übergreifende Corporate Identity verkörpern. Die Gemeinsamkeit der Neuplanun- gen kann nur darin liegen, die individuelle Situation des Einzelfalls intelligent, nachhaltig, aber auch dynamisch fortzuschreiben. Von großer Bedeutung ist, dass Bahnhofsplanungen sehr umfassend alle verkehrstechnischen, funktionalen, organisatorischen, energetischen und ästhetischen Frage- stellungen berücksichtigen. Nur so können Bahnhöfe über
32 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg Abb. 5 Ästhetische Harmonie der historischen und modernen Elemente: Nach dem Vorbild historischer Bahnsteighallen wird das Gleisfeld weitgehend überdeckt. Die Raumhöhe der Halle wird durch großzügige Öffnungen zur quer verlaufenden Passage maximiert. Abb. 4 Heterogene Bestandssituation zu Beginn der Umbauarbeiten mit Empfangsgebäude und dem als Kopfbahnhof angelegten Zentralperron lange Zeiträume und weite Nutzungshorizonte nutzbar bleiben, ohne in einer langen Reihe von Provisorien die Überzeugungskraft ihrer architektonischen Konzeption zu verlieren. Das ist das Ziel der Bahnhofsoffensive, eines In- vestitionsprogramms der ÖBB, das im Jahr 1997 aufgelegt worden ist. Der Salzburger und der neue Wiener Haupt- bahnhof (Theo Hotz, Ernst Hoffmann, Albert Wimmer) gehören zu den letzten Projekten dieses Programms. In Salzburg wurde der zweistufige, gutachterliche Wettbe- werb, der von zwölf Architektenteams bearbeitet worden war, unter Leitung von Max Bächer und Theo Hotz im Jahr 1999 zugunsten des Entwurfs von kadawittfeldarchitektur entschieden. Um den Bahnhof neu in die Stadt zu integ- rieren, bestand die komplexe Aufgabe für die Architekten nicht nur darin, die Gleisanlagen anders zu ordnen. Viel- mehr ging es darum, den historischen Bahnhof in seiner authentischen Erscheinungsform in eine Gesamtkonzepti- lung der Güterzuganlagen wie der Flügelbauten des his- Mit Blick auf das nach dem Krieg viel zu lange vernach- on zu integrieren, die die Stadtteile diesseits und jenseits torischen Bahnhofsgebäudes wird in das Jahr 2014 fallen, lässigte Design der Eisenbahnreise ist bei jedem Bahn- der Gleise über mehrere Brücken- und Passagenbauwerke der eigentliche Bahnhofsbetrieb ab Ende 2013 in vollem hofsprojekt zu berücksichtigen, dass Funktionalität (kur- neu verbindet. Baubeginn war Ende 2008, die Fertigstel- Umfang ablaufen können. ze Wege, barrierefreies Umsteigen), Pünktlichkeit und
34 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg S ervice allein das Stadtpublikum nicht für die aus vielen Gründen ohnehin vernünftige Eisenbahnreise gewinnen können. Vielmehr kommt es darauf an, den emotionalen Reiz der Eisenbahnreise schon mit dem Haltepunkt und ur- banen Aufenthaltsort Bahnhof zu vermitteln. Dieser atmo- sphärische, architektonische und gestalterische Anspruch ist in Salzburg sehr konsequent umgesetzt worden, nicht trotz der historischen Gegebenheiten, sondern gerade auf Grundlage der Integration des historischen Bestands. Der Bahnhof hat damit für viele Jahrzehnte sein ganz spezifi- sches, unverwechselbares Design gefunden. Der große Reiz des neuen Ansatzes liegt in der ästheti- schen Harmonie aller historischen und modernen Elemen- te. Die neuen dynamischen Bahnsteigdächer bilden mit den filigranen historischen Bahnsteighallen eine ebenso überraschende, wie für die Passagiere komfortable Groß- form. Denn so entsteht eine die Gleise wie die Bahnstei- ge insgesamt überdeckende, dabei dennoch sehr hel- le und transparente „Bahnsteighalle“ neuer Prägung. Die große Höhe historischer Bahnsteighallen, die seit der Ein- stellung des Verkehrs mit Dampflokomotiven funktional nicht mehr notwendig ist, verlagert sich in Salzburg so- gar in eine zweite Ebene. Die quer zu den Bahnsteigen geführte, über die historische Empfangshalle erschlossene, nach oben offene Passage unterhalb der Gleise weitet den Blick bis unter die historischen Tonnengewölbe. Sie gibt der Bahnsteighalle in Salzburg typologisch eine neue Be- deutung, aber auch eine ganz andere, räumlich noch dra- matischere Dimension. Abb. 6 Freie Fahrt durch die beiden transparent gedeckten und neu positionierten historischen Bahnsteighallen
36 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg Gleisarchitektur Vernetzung Zur Geschichte des Salzburger Hauptbahnhofs aus dem Grundsätzlich ging es um die schwierige städtebauliche Jahr 1860, eines wichtigen Verkehrsknotenpunktes im Zielsetzung, die Stadt über 18 Gleise hinweg neu zu ver- transeuropäischen Netz mit gegenwärtig 25 000 Reisen- netzen, verkehrstechnisch wie architektonisch. Bisher wa- den pro Tag, gehört die ehemalige Funktion eines Grenz- ren die angrenzenden Stadtteile im Bahnhofsbereich le- bahnhofs, für die im Jahr 1909 der Zentralperron errich- diglich mit einem schmalen Steg oberhalb der Gleise tet worden war. 1931 beschrieb Georges Simenon den verbunden gewesen. Der hoch liegende Gleiskörper und üblichen Zollbetrieb am Beispiel des winzigen niederlän- Lärmschutzwände verstärkten die Barrierewirkung zusätz- dischen Bahnhofs Bad Neuschanz (Nieuweschans): „Der lich. Die Neuplanung für die zum Ende des Jahrzehnts er- deutsche Zug hält am einen Ende des Bahnsteigs, der hol- warteten 35 000 Passagiere täglich sah zur Integration ländische am anderen. Die Bahnbeamten mit der orange- des Bahnhofs in die Urbanität der Stadt darum funktionale farbenen Mütze und die in grüner oder preußischblauer ebenso wie städtebauliche Elemente vor: eine zentrale, bis Uniform gehen aufeinander zu und verbringen die für die zu 20 Meter breite Passage unterhalb der Gleise und im Zollformalitäten veranschlagte Wartezeit miteinander. […] Westen des Bahnhofs den Austausch von drei Eisenbahn- Die Leute setzen sich in die Bahnhofsgaststätte, die sich Brücken, darüber hinaus den Entwurf von Neubauten am Abb. 7 Neue Vernetzung der Stadtteile Elisabeth-Vorstadt und Schallmoos durch nichts von der anderer Grenzbahnhöfe unterschei- Rand des Gleisfelds. Die 100 Jahre alten Brücken über die det.“4 Aus dieser Situation heraus, die noch heute in der Gabelsbergerstraße (Nelböckviadukt), Plainstraße und Rai- Doppelfunktion des Genfer Hauptbahnhofs als Schweizer nerstraße wurden abgetragen und durch moderne, hel- wie als französischer Haltepunkt zu beobachten ist, war le Neubauten mit größerer Durchfahrtshöhe ersetzt. Geh- der Zentralperron in Salzburg als Kopfbahnsteig bezie- und Radwege wurden verbreitert. Vom Nelböckviadukt hungsweise Inselbahnhof angelegt worden. Auf der nord- aus, das nun drei statt zwei Fahrbahnen breit ist, erreicht östlichen Seite für den österreichischen Verkehr, auf der man die Gleise der S-Bahn direkt. Der südliche Bahnhofs- südwestlichen Seite für die Züge nach Bayern. Beide Sei- zugang in Schallmoos wird großzügig erweitert und lässt ten mit jeweils vier Gleisen verfügten über eigene räum sich über den Taxi- und Busverkehr hinaus dank einer Rad- liche Bereiche und Fahrdienstleitungen, dazwischen lagen station und Kurzzeitparkplätzen auch individuell anfahren. Zoll und Bahnhofsrestaurant. Trotz der Beliebtheit des in- Die von der Wettbewerbsjury besonders hervorgehobene zwischen für einen Wiederaufbau eingelagerten Mar- städtebauliche Qualität des von kadawittfeldarchitektur morsaals, der Gaststätte zwischen den Gleisen, war die vorgeschlagenen Ensembles von Hochhäusern, „das den räumliche Situation des Zentralperrons schließlich unbe- Bahnhofsbereich einrahmt und als Stadtraum in Erschei- friedigend und angesichts der offenen Grenzen nach dem nung treten ließe“, bleibt dagegen, anders als in Wien, zu- Schengener Abkommen überflüssig geworden. Die dunk- nächst Vision. len unterirdischen Gleiszugänge waren ein weiterer Anlass zum Umbau des Bahnhofs. Abb. 8 Die großzügige, offene Passage unterhalb der Gleise ist nicht nur Gleiserschließung. Begleitet von Läden und Service-Einrichtungen der Bahn fungiert sie auch als stadt-strukturelle Verbindung.
38 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg Abb. 9 Grundriss Bahnsteigebene A historische Empfangshalle B Hausbahnsteig C Inselbahnsteige D historische Bahnsteighallen E Zugang Schallmoos A B C D D C C C E
40 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg Raumzusammenhang Die Situation des neu konzipierten Durchgangsbahnhofs die Architekten von kadawittfeldarchitektur mit der neu- ist schon heute, vor der Fertigstellung, eine völlig ande- en Raumtypologie einer dynamischen Passagenführung. re. Die jetzt durchlaufenden Gleise an im Endausbau neun Boden und Decke bleiben nicht starre, rein konstruktive überdachten, zum bequemeren Ein- und Aussteigen um Elemente, sondern die Passage vermittelt in ihrer leben- etwa einen halben Meter angehobenen Bahnsteige be- digen Linien- und natürlichen Lichtführung das Bild eines finden sich zwar noch in ihrer alten Höhenposition, aber offenen, urbanen, sich aufweitenden und wieder veren- zwischen Bahnsteigdach und quer dazu verlaufender, die genden Straßenraums in bewegter Landschaft. Das ge- Stadtteile Elisabeth-Vorstadt und Schallmoos verbindender lingt auch und vor allem durch die räumliche Verknüpfung Passage besteht immer wieder ein fast dramatischer räum- über mehrere Ebenen und Funktionen, die Orientierungs- licher Zusammenhang. Diese Situation überrascht den Pas- hilfe mit den Akzenten ihrer Lichtführung bietet. Ganz un- santen oder Passagier, sobald er sich anschickt, die in Zu- abhängig von den Anforderungen des Bahnhofsprojekts sammenarbeit mit der Denkmalpflege aufwendig in ihre setzt diese Ausprägung der Passage einen beispielgeben- Ursprungsform zurückgeführte Empfangshalle des histo- den, neuen Maßstab. rischen Bahnhofs, die auch an die Stadtbahn direkt an- Für den Umbau der bestehenden Gleisanlagen ober- gebunden ist, in Richtung Fernverkehr und Schallmoos zu halb der Passage wurden acht, zum Teil weit gespann- Abb. 10 Aufweitungen und Verengungen, natürliches und künstliches Tageslicht verlassen. Dabei wird das Marmorportal mit der zentra- te Gleistragwerke neu errichtet und auf 30 Meter tief schaffen einen belebten, urbanen Raum. len Uhr unterhalb der neu gefassten historischen Fenster reichenden Pfählen gegründet. Die darin integrierte Erd- zur Schwelle zwischen der Vergangenheit und der Zukunft wärmeanlage deckt nahezu den gesamten Wärme- und des Bahnhofs. Diesseits dieser Grenze sind die freigelegten Kältebedarf des Bahnhofs. Versorgungstunnel gewährleis- Fliesenbilder und rekonstruierten Messing-Hängelampen ten die Logistik der 3 800 m2 großen Ladenflächen eben- als Jugendstilelemente in einem modern reduzierten, his- so wie des ÖBB-Service im Verborgenen. Komplexer und torischen Rahmen zu bewundern – bei allen modernen In- vernetzter ist Stadtraumqualität im Innenbereich, aber formationssystemen, die für die schnelle Orientierung der auch die Verknüpfung von Stadt- und Verkehrsraum heu- Passagiere dennoch notwendig sind. Jenseits des Portals te kaum realisierbar. Der Salzburger Bahnhof ist nicht um wird dagegen Schritt für Schritt die moderne Dynamik eine eindimensionale Shopping Mall ergänzt worden, die der Bahnreise sichtbar: von der Passage, die nicht mehr auch als Zugang zu den Gleisen dient. Stattdessen wird eindimensionaler Tunnel, sondern landschaftlich beweg- die Dreidimensionalität beziehungsweise Vierdimensiona- ter und räumlich komponierter Straßenraum ist, bis zum lität dieses urbanen Knotenpunkts, bestehend aus ganz Crescendo der neuen, das moderne Eisenbahntempo sym- unterschiedlichen Verkehrslinien und -formen, nicht zu- bolisierenden Bahnsteigdächer, die sich dennoch mit den letzt aber den Passanten und Passagieren, in einem über- historischen Bahnsteighallen zu einer ästhetischen und zeugenden Bild räumlich verdichtet und veranschaulicht. funktionalen Synthese über mehr als ein Jahrhundert hin- Die kommerziellen Angebote des Bahnhofs mit den Ausla- weg verbinden. gen und Schaufenstern sind damit, wie in jedem anderen Die in allen räumlichen Dimensionen sehr spezifisch ge- Straßenraum, nicht mehr stilprägend, sondern bleiben als führte Passage unterhalb der Gleise des Salzburger Haupt- scheinbar beiläufiges Angebot Teil der übrigen Verlockun- bahnhofs entwickelt dabei ein Eigenleben, das auch ohne gen der Stadt. den Bahnhofsbetrieb funktionieren könnte. Die schwieri- ge Problematik der unterirdischen Gleiserschließung, die im Wettbewerbsverfahren auch mit verschiedenen Gleis- überbauungen beantwortet worden war, überspielten Abb. 11 Ausblicke bis unter die Tonnengewölbe der Bahnsteighallen dramatisieren das Raumerlebnis der Passage und der Bahnsteige an ihren Kreuzungspunkten.
42 Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg Dynamik Den Ausgangspunkt der Entwurfsidee – der Verwandlung der alten Bahnsteige in einen modernen Hauptbahnhof mit historischem, denkmalgeschütztem Ursprung – bil- deten die historischen Bahnsteigdächer bzw. -hallen. Der konstruktive und logistische Aufwand für deren Instand- setzung war beträchtlich, blieb aber im gesamten Investi- tionsvolumen von 270 Millionen Euro mit etwa 5 Millionen Euro angesichts der damit erreichten atmosphärischen Wirkung des Bahnhofs eine fast bescheidene Größe. Der Mittelbau des historischen Zentralperrons wurde abgetra- gen und das historische, im Krieg beschädigte Bahnhofs- restaurant mit seinem 375 m2 umfassenden Marmorsaal, an dem die Wiener Werkstätten beteiligt waren, eingela- gert. 30 Jahre lang war der Bahnhofsumbau in Salzburg an der Frage gescheitert, wie man mit diesem denkmal- geschützten Raum, der als Restaurant, aber auch als Ta- gungsort und Tangotänzer-Treff gedient hatte, umgehen sollte. Bei aller Wehmut über diese vorerst verlorene Epi- sode der Bahnhofsgeschichte blockierte das Gebäude den Umbau zum Durchgangsbahnhof. Abb. 12 Historische und moderne Dachkonstruktionen mit Folienkissen, Membrandächern und Glas heben die Aufenthaltsqualität auf den Bahnsteigen. Die vernieteten, im Krieg beschädigten Stahlkonstruk- tionen der im Scheitelpunkt heute fast 12 Meter hohen Hallen aus dem Jahr 1908, einmalig in ganz Österreich, hof Dresden 2006 zum Einsatz kamen, konnte in Salzburg sichtbar gemacht. Die Hallenhöhe nahm dabei um 30 Zen- wurden demontiert, zerlegt, restauriert, zum Teil notge- mit einem komplett aus Polytetrafluorethylen hergestell- timeter zu. Wegen der trotzdem knappen Durchfahrts drungen ausgetauscht, fast unsichtbar konstruktiv ver- ten Membrandach eine bislang unerreichte Lichtdurchläs- höhe an den Hallenenden setzten die Architekten sogar stärkt und in neuer, räumlich gekoppelter Formation im sigkeit von 38 Prozent realisiert werden. einen neuen, reduzierten Typ von Oberleitung ein. Ein Bei- Abstand von 16 Metern wieder aufgebaut. Neu ist da- Das Engagement für die Rettungsaktion der alten Hal- spiel dafür, wie weit integrale Planungsarbeit in diesem mit auch ihre Position auf dem Bahnsteig. Durch ein Glas- len lässt sich in vielen Anekdoten wiedergeben. Da auf der Fall von den Architekten verwirklicht wurde – bis hin zur dach verbunden und in der neuen, historisch begründeten Baustelle gar nicht genug Raum vorhanden war, um etwa Funktion des Mediators zwischen Bahn und Stadt. mattweißen Farbgebung der gesamten Bahnsteiganlage 2 500 Stahlteile aufzuarbeiten und anzupassen, wurden So verbindet sich die lange historische Entwicklung wurden sie ebenso wie die daran dynamisch anschließen- die 300 Tonnen Stahl ausgelagert und in Polen bearbeitet. der Eisenbahn in Salzburg mit modernen Stahldächern, den neuen Bahnsteigdächer zum Blickfang des Bahnhofs. 60 Tonnen Stahl wurden in filigranen Spezialprofilen, zum die entlang der Gleise, angetrieben von ihren die histo- Die Hallen selbst mit ihren 48 und 36 Meter langen Ton- Teil aus Italien, neu eingebaut, um verrostete Elemente zu rischen Hallen inszenierenden Lichtschaufeln, über den nendächern sind mit einem transparenten Membrandach ersetzen oder um die heute vorgeschriebene Schneelast- wartenden Passagieren zu fliegen scheinen, zu einer ar- geschlossen, das sich im weiteren Verlauf der neuen Bahn- tragfähigkeit aufnehmen zu können. Trotzdem wurde das chitektonischen Gesamtdarstellung, die Stadt und Bahn- steigdächer über den Gleisen in pneumatischen Luftkissen historische Erscheinungsbild beibehalten – auch das der hof neu interpretiert und darstellt. Ein überaus gelungener fortsetzt. Im Vergleich zu älteren, aus Glasfasergeweben Nieten, in denen sich tatsächlich kraftschlüssigere Schrau- und glücklicher Auftakt für die weitere Zukunftsarbeit die- hergestellten, mit Teflon (PTFE) lediglich beschichteten ben verbergen. Die gusseisernen Rollenlager der Stützen, ses Jahrhunderts, die ganz der Stadt, wie der Idee der Ur- Membranen, wie sie zum Beispiel noch beim Hauptbahn- die längst im Asphalt versunken waren, wurden wieder banität gewidmet sein wird.
44 Nicht Formwille, sondern Gestaltungsabsicht … Diskursiver Architekturstil mehr zu halten war. „Man höre und plane“ ist insofern der richtige Hinweis, um in komplexen Planungsverfahren Das Salzburger Bahnhofsprojekt wurde im Rahmen der als Architekt die Kompetenz eines Vermittlers an den ent- Bahnhofsoffensive der ÖBB im Jahr 1997 ins Leben geru- scheidenden Schnittstellen zu gewinnen. Erst auf dieser Gerhard Wittfeld fen. Auch hier wurden die Planungsentscheidungen nicht Grundlage werden dann auch architektonische Überzeu- starr vorgegeben, sondern auf mehreren Abstimmungs- gungen glaubhaft und erfolgreich. Dieser Spielraum erfor- ebenen kontinuierlich gemeinsam erarbeitet und in der dert viel Vorarbeit, große Kompetenz, sogar vielschichtige Diskursiver Politikstil Öffentlichkeit kommuniziert – zum Beispiel sehr vorbildlich Vorleistungen durch das Aufzeigen von Varianten, um al- mit großem zeitlichem Vorlauf in einem Informationspavil- len Beteiligten ergebnisoffen die Auswirkungen eines Kon- Aus der Vernetzung von Verwaltung, Industrie und Bevöl- lon auf dem Bahnhofsvorplatz. Diese Kultur eines ergebnis- zepts bis zum ausführbaren Bauprojekt aufzeigen zu kön- kerung sowie der darin begründeten Sicherheit der Inves- und beteiligungsoffenen Austauschs zwischen der Stadt, nen. titionen können visionäre Langzeitplanungen entstehen, dem Bauherrn ÖBB, der Denkmalpflege und den Architek- Der Auslöser der Wettbewerbsaufgabe des Jahres 1999 deren Erfolge und Zwischenziele das Engagement auf al- ten führte dazu, dass sich das Planungsprojekt Bahnhof war im Wesentlichen der Wunsch nach einer neuen Bahn- Der innere Ausbau des Bahnhofs mit seinem len Seiten immer wieder neu beflügeln. Kopenhagen hat immer wieder veränderte und auf jeweils aktueller Grund- steigüberdachung und nach einer funktionalen, geordne- mehrdimensionalen Achsenkreuz aus Bahn- in der Frage der ökologischen Stadtentwicklung diesen lage in neue Richtungen, neue Varianten und in neuen Di- ten Erschließung der Bahnsteige. Für uns lag in diesem steighalle und Bahnhofspassage sowie der ebenso einleuchtenden wie konsequenten Weg genom- mensionen komplex weitergedacht wurde, ohne aber die Teilprogramm für einen neuen Bahnhof jedoch bereits die neuen Verzahnung bislang getrennter Stadt- men. Während in Deutschland um „Stuttgart 21“ noch Qualität des Wettbewerbsentwurfs von 1999 grundsätz- Frage nach einem neuen Baustein der Stadtentwicklung, teile wird sich über das historische Empfangs- immer gerungen, um „Gorleben 21“ gekämpft und das lich infrage zu stellen. Darin liegt für mich der große Reiz nach dem Mehrwert für den Stadtraum insgesamt. Dar- gebäude hinaus städtebaulich ausprägen. Bahnhofsprojekt „München 21“ schon bezweifelt bezie- dieses Langzeitprojekts. Etwa war es keineswegs so, dass aus entstand unsere Idee der Durchwegung und Verräum- hungsweise aufgegeben wird, hat Dänemark seine Ziel- von Anfang an die Typologie Durchgangsbahnhof im Mit- lichung des Bahnhofs, zum einen in Gestalt einer weitge- setzung „Energy 21“ ohne Umwege in die Tat umgesetzt. telpunkt der Fragestellung gestanden hätte, ebenso we- hend geschlossenen Halle über den Gleisen als moderner, Das ökologische Stadtentwicklungskonzept des Weltmeis- nig die städtebauliche Entwicklung rund um den Bahnhof wie auch historischer räumlicher Kontrapunkt zur Linea- ters in Sachen Windenergie und CO2-Steuer stammt aus oder die Erneuerung von drei weiteren Straßenverbindun- rität des Bahnverkehrs, zum anderen in Gestalt einer ver- dem Jahr 1996 und ist mehrfach aktualisiert worden – mit gen unterhalb der Gleise, um die Qualität der städtebauli- dichteten Randverbauung auf ehemaligen Gleisflächen. der Bevölkerung, nicht gegen sie. Der diskursive dänische chen Verbindung zu stärken. Diese städtebauliche Perspektive hat die Stadt Salzburg Politikstil beruht auf Kooperation und Dialog. Ein Ansatz, Die Arbeit der Architekten liegt damit nicht mehr aus- inzwischen mit der „Planungswerkstatt Schallmoos-West“ der angesichts des regelmäßigen Scheiterns von Großpro- schließlich in der Einmaligkeit eines unveränderlichen, aufgegriffen. Die günstige Lage dieser Grundstücke wur- jekten in Deutschland erst jetzt Eingang in den Politikstil schönen Entwurfs (der allerdings immer noch notwendig de erst mit dem Ausbau der Infrastruktur des Bahnhofs finden soll. „Man höre und plane“ lautete der Titel des ist, um den Wettbewerb für sich zu entscheiden), sondern wirklich erkannt. Der zeitliche Horizont dieser Entwicklung Leitartikels der Süddeutschen Zeitung am 29. März 2012 vor allem in der Tiefe und Kontinuität einer fachlich fun- ist darum ein anderer, auch wenn kadawittfeldarchitektur zu diesem Thema. Das Potenzial des Miteinander-Ent- dierten Beratung und Moderation, die sich nicht auf ar- dafür schon im Wettbewerb plädiert hat. scheidens kann ungeahnte Kräfte freisetzen. Die Lösung chitektonische Argumente beschränken darf – gerade bei 14 Jahre Planungsarbeit stecken für uns als Architekten komplexer Zukunftsaufgaben wird so erst möglich – ein technisch anspruchsvollen Projekten, die für wenigstens bisher in diesem Projekt. Betrachtet man die weitere stadt- Vorbild auch für die dichter besiedelten Stadtregionen Eu- ein Jahrhundert angelegt werden. Das schlagende Argu- räumliche Verortung und Vernetzung des Bahnhofs durch ropas. ment ist selten in erster Linie die Architektur, sondern ein die von unserem Büro vorgeschlagenen baulichen Ver- im Vergleich zu anderen Bahnhöfen bislang unerreichter dichtungen am Rand des Gleisfelds, ist der Abschluss der Mehrwert oder – wie im Fall des historischen Inselbahn- städtebaulichen Überlegungen und Konsequenzen noch hofs – der Ausgleich widerstreitender Interessen. Auf die- gar nicht absehbar. Der innere Ausbau des Bahnhofs mit se Art und Weise sind die historischen Hallengewölbe ein seinem mehrdimensionalen Achsenkreuz aus Bahnsteig- ganz selbstverständlicher integrativer Bestandteil des neu- halle und Bahnhofspassage sowie der neuen Verzahnung en Bahnhofs geworden, während mit der Sinnhaftigkeit bislang getrennter Stadtteile wird sich über das historische des neuen Konzepts die Argumentation für die Bewah- Empfangsgebäude hinaus städtebaulich ausprägen. Denn rung des Marmorsaals am ursprünglichen Standort nicht mit dem neu definierten Fokus des Bahnhofs als einem
46 Nicht Formwille, sondern Gestaltungsabsicht öffentlichen Innenerlebnis entsteht auch in dessen unmit- telbarem äußerem, städtebaulichem Rahmen ein dynami- sches Entwicklungspotenzial, das nicht dem Wildwuchs überlassen werden kann, sondern die Idee des mehrfach erschlossenen Bahnhofskerns in den weiteren Stadtraum tragen muss. Das betrifft nicht zuletzt die beiden Zugangssituatio- nen diesseits und jenseits der Gleise, die für den Stadt- teil Schallmoos mit einer großen Fahrradstation, Kiss & Ride und mit Bus- und Taxivorfahrt unter einem parabolo- iden Dach bereits geplant ist und bis zur Gesamtfertigstel- lung des Bahnhofprojekts realisiert werden soll. Eine ähnli- che Möglichkeit, seinen Zug trockenen Fußes zu erreichen, steht für den cityseitigen Bahnhofsvorplatz noch aus, ist aber in einem weiteren Schritt des Ausbaus im Sinne unse- rer Zielsetzung einer geschlossenen Mobilitätskette mög- lich. Andere Eigentümer, Fördermittel und Zuständigkei- ten erfordern auch in diesem entscheidenden Detail des Bahnhofs ein diskursives Planungsmodell und Rückhalt auf der strategischen Ebene des Bauherrn ÖBB wie der Stadt Salzburg. Stark formalisierte architektonische Lösungen bieten demgegenüber zu wenig Diskussionsspielraum für bedenkenswerte Varianten, Ausweitungen und Fortset- zungen des Projekts. Abb. 1 Der Bahnhof mit seinem mehrdimensionalen Achsenkreuz
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