Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

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Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
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            Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

                                                   Klaus Dieter Weiss

                                                   In der Konkurrenz zu Flugzeug und Auto erweisen sich Dy-
                                                   namik und Vernetzungsanspruch der Bahn nach wie vor
                                                   als bahnbrechend. Ende der Dreißigerjahre notierte ­Walter
                                                   Benjamin: „Die geschichtliche Signatur der Eisenbahn be-
                                                   steht darin, daß sie das erste – und bis auf die großen
     „Auf einer Spazierfahrt, bei der man nach     Überseedampfer wohl auch das letzte – Verkehrsmittel
      Belieben aussteigen kann, gibt es keine      darstellt, welches Massen formiert. Die Postkutsche, das
     Ankunft, bei der Eisenbahnfahrt aber wird     Auto, das Flugzeug führen Reisende nur in kleinen Grup-
      der Unterschied von Ankunft und Abfahrt      pen mit.“ 2 Nicht zuletzt war die Erfindung des dampf­
      geheimnisvoll schematisiert durch eine       getriebenen Transports auf eisernen Wegen der Katalysa-
      Operation, die sich in den Bahnhöfen,        tor der industriellen Revolution. Schließlich zogen sogar
      diesen ganz besonderen Stätten, voll-        Ballsäle und Schlemmer-Restaurants in die Bahnhöfe ein.
     zieht, die sozusagen kein Teil der Stadt      Die zentrale Markthalle war nie weit entfernt, konnte
      sind und doch die Essenz ihrer Persön-       doch nur die Eisenbahn frische Lebensmittel auch überre-
      lichkeit so deutlich enthalten wie sie auf   gional garantieren. Heute beträgt die Länge der Schienen­
      dem Signalschild ihren ­Namen tragen.“ 1     wege weltweit mit 1,37 Millionen Kilometern mehr als das
                                  Marcel Proust    34-Fache des Erdumfangs. 1 737 Hochgeschwindigkeits-
                                                   züge (Stand: 2008) sorgen auf diesem Streckennetz für
                                                   Reisegeschwindigkeiten von über 250 km/h. 60 Prozent
                                                   dieser Züge verkehren in den EU-Mitgliedsstaaten, die le-
                                                   diglich über etwa 17 Prozent der Schienenwege verfügen.
                                                   Für europäische Verhältnisse ungewöhnlich glänzt ­Japan
                                                   weit jenseits des deutschen Transrapid auf einer Test­
                                                   strecke mit einer Höchstgeschwindigkeit von 581 km/h
                                                   und im Alltagsverkehr mit einem Mittelwert der Pünktlich-
                                                   keit von 24 Sekunden Abweichung vom Fahrplan. Im Jahr
                                                   2010 lag das Verkehrsvolumen der ÖBB bei 460 Millionen
                                                   Fahrgästen und im Güterverkehr bei 133 Millionen Tonnen.

                                                                                                                Abb. 1   Luftaufnahme mit Visualisierung des Projekts
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
28   Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

           Stadtarchitektur

                                                                Die Vorgeschichte der Eisenbahn reicht zurück bis zu den
                                                                hölzernen Gleisen im englischen Bergbau zu Beginn des
                                                                16. Jahrhunderts, letztlich bis zu den Spurrillen der Straßen,
                                                                die schon in vorgeschichtlicher Zeit die Fuhrwerke schie-
                                                                nenartig führten. Dennoch erweist sich kein Verkehrsmit-
                                                                tel dieser Dimension als urbaner und komplexer, damit
                                                                aber in seinen unzähligen Bahnhöfen auch als historischer.
                                                                Bristol Temple Meads, der älteste noch betriebene Haupt-
                                                                bahnhof der Welt, ist nur 20 Jahre älter als der von Franz
                                                                Rudolf Bayer erbaute Salzburger Hauptbahnhof mit sei-
                                                                nem heute in mattem Weiß modern adaptierten, histori-
                                                                schen Eingangsgebäude mit dem Hausbahnsteig 1. So ver-
                                                                binden sich historische und moderne Elemente zu einem
                                                                atmosphärisch schlüssigen Ensemble.
                                                                     Der Bahnreisende erlebt das am besten vernetzte, die
                                                                Konkurrenz in vielen Punkten übertreffende Verkehrsmit-
                                                                tel vor allem im urbanen, stadtgeschichtlichen Stillstand.
                                                                Der Bahnhof markiert den Anfang, die Stationen und den
                                                                Endpunkt der Eisenbahnreise. Im Gegensatz zum Fluchtort
                                                                und Zwischenort Flughafen außerhalb der Stadt verkör-
                                                                pert der Bahnhof, wie von Marcel Proust 1918 formuliert,
                                                                den eigenen Wohnort oder den gewählten Zielort einer
                                                                kurzen oder auch langen Reise in einem sehr umfassen-
                                                                den Sinn: „kein Teil der Stadt und doch die Essenz ihrer
                                                                Persönlichkeit“. Das Design der Eisenbahnreise wird ganz
                                                                wesentlich bestimmt – mehr noch als durch hochmoderne
                                                                Züge oder die Uniformen des Personals – durch den gu-
                                                                ten alten Bahnhof mitten in der Stadt. In diesem Sinn ist
                                                                Bahnverkehr stets Stadtverkehr, je nach Länge der Reise
                                                                und persönlichen Vorlieben ausgefüllt durch die Lektüre
                                                                einer Zeitung, eines Buches, der Arbeit am Laptop, einem
                                                                Imbiss im Speisewagen – und natürlich: vorbeifliegenden
                                                                Landschaften, Städten und weiteren Bahnhöfen. Nur sel-
                                                                ten findet sich darunter ein architektonischer Impuls, der
                                                                die Bahnreise neu und fortschrittlich kommuniziert.

                                                                                                                                 Abb. 2   Symbiose aus historischen und dynamischen Elementen innerhalb des neu konzipierten Durchgangsbahnhofs
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
30   Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
                                                                                                                               Abb. 3   Geschwungene Bahnsteigdächer symbolisieren Mobilität und Geschwindigkeit
           Designstrategie

                                                                „Design hat noch nie so viel Geld generiert wie heute. De-
                                                                 signgetriebene Firmen wie Apple werden zum Gralshüter
                                                                  der Moderne erklärt und erzielen Gewinne in Milliarden-
                                                                  höhe.“ 3 Die Süddeutsche Zeitung zitierte dazu eine Studie
                                                                  des Rates für Formgebung, wonach produzierende Un-
                                                                 ternehmen mit einer klaren Designstrategie im Jahr 2011
                                                                  ein doppelt so starkes Umsatzwachstum erzielen konnten
                                                                 wie der Branchendurchschnitt. In den Bahnhöfen verbin-
                                                                  den sich dagegen Technologien des 19. Jahrhunderts mit
                                                                  der neuesten Elektronik. Angesichts der schnellen Erfolge
                                                                 ­eines iPad oder iPhone sind Modernisierung und Umbau
                                                                  eines Bahnhofs im laufenden Betrieb (in Salzburg ca. 750
                                                                Züge täglich) ungleich komplexer, aber letztlich auch be-
                                                                  deutender. Ganze Computer-Generationen können in Ver-
                                                                  gessenheit versinken bis, wie in Stuttgart oder Wien, aus
                                                                  einem Kopfbahnhof ein Durchgangsbahnhof wird. Erste
                                                                 Pläne für einen Durchgangsbahnhof in Salzburg gab es
                                                                 schon in den Siebzigerjahren. Aber die analoge, müh­same
                                                                  und zeitintensive Planungs- und Bauarbeit am Bahnhof
                                                                  der Stadt lohnt jeden Aufwand.
                                                                      Gerade im Medienzeitalter werden die realen Bezugs-
                                                                  punkte und Identifikationswerte einer attraktiven urbanen
                                                                 Umgebung zunehmend wichtiger. Die gesellschaftliche
                                                                 Bedeutung des Schauspiels Stadt lebt von der emotiona-
                                                                  len Qualität und Zukunftsfähigkeit ihrer zentralen urbanen
                                                                 Orte, den öffentlichen Plätzen wie dem Brennpunkt des
                                                                 Bahnhofs, die sich über lange Zeiträume herausgebildet
                                                                  haben und sich nur allmählich verändern lassen. Aufgrund
                                                                  der im Einzelfall ganz unterschiedlichen architektonischen
                                                                  und städtebaulichen Voraussetzungen kann die Vielzahl
                                                                  der historischen Bahnhöfe keine übergreifende Corporate
                                                                 Identity verkörpern. Die Gemeinsamkeit der Neuplanun-
                                                                  gen kann nur darin liegen, die individuelle Situation des
                                                                 Einzelfalls intelligent, nachhaltig, aber auch dynamisch
                                                                 fortzuschreiben.
                                                                     Von großer Bedeutung ist, dass Bahnhofsplanungen
                                                                 sehr umfassend alle verkehrstechnischen, funktionalen,
                                                                 organisatorischen, energetischen und ästhetischen Frage-
                                                                 stellungen berücksichtigen. Nur so können Bahnhöfe über
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
32   Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

                                                                                                                                                                 Abb. 5 Ästhetische Harmonie der historischen und modernen Elemente: Nach dem Vorbild historischer Bahnsteighallen wird das Gleisfeld weitgehend überdeckt.
                                                                                                                                                                 Die Raumhöhe der Halle wird durch großzügige Öffnungen zur quer verlaufenden Passage maximiert.

                        Abb. 4 Heterogene Bestandssituation zu Beginn der Umbauarbeiten mit Empfangsgebäude und dem als Kopfbahnhof angelegten Zentralperron

                                                                lange Zeiträume und weite Nutzungshorizonte nutzbar
                                                                bleiben, ohne in einer langen Reihe von Provisorien die
                                                                Überzeugungskraft ihrer architektonischen Konzeption zu
                                                                verlieren. Das ist das Ziel der Bahnhofsoffensive, eines In-
                                                                vestitionsprogramms der ÖBB, das im Jahr 1997 aufgelegt
                                                                worden ist. Der Salzburger und der neue Wiener Haupt-
                                                                bahnhof (Theo Hotz, Ernst Hoffmann, ­Albert ­Wimmer)
                                                                gehören zu den letzten Projekten dieses Programms. In
                                                                Salzburg wurde der zweistufige, gutachterliche Wettbe-
                                                                werb, der von zwölf Architektenteams bearbeitet worden
                                                                war, unter Leitung von Max Bächer und Theo Hotz im Jahr
                                                                1999 zugunsten des Entwurfs von kadawittfeldarchitektur
                                                                entschieden. Um den Bahnhof neu in die Stadt zu integ-
                                                                rieren, bestand die komplexe Aufgabe für die Architekten
                                                                nicht nur darin, die Gleisanlagen anders zu ordnen. Viel-
                                                                mehr ging es darum, den historischen Bahnhof in seiner
                                                                authentischen Erscheinungsform in eine Gesamtkonzepti-                                         lung der Güter­zug­anlagen wie der Flügelbauten des his-                   Mit Blick auf das nach dem Krieg viel zu lange vernach-
                                                                on zu integrieren, die die Stadtteile diesseits und jenseits                                   torischen Bahnhofsgebäudes wird in das Jahr 2014 fallen,                   lässigte Design der Eisenbahnreise ist bei jedem Bahn-
                                                                der Gleise über mehrere Brücken- und Passagenbauwerke                                          der eigentliche Bahnhofsbetrieb ab Ende 2013 in vollem                     hofsprojekt zu berücksichtigen, dass Funktionalität (kur-
                                                                neu verbindet. Baubeginn war Ende 2008, die Fertigstel-                                        Umfang ablaufen können.                                                    ze Wege, barrierefreies Umsteigen), Pünktlichkeit und
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
34   Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

                                                                S­ ervice allein das Stadtpublikum nicht für die aus vielen
                                                                 Gründen ohnehin vernünftige Eisenbahnreise gewinnen
                                                                 können. Vielmehr kommt es darauf an, den emotionalen
                                                                 Reiz der Eisenbahnreise schon mit dem Haltepunkt und ur-
                                                                 banen Aufenthaltsort Bahnhof zu vermitteln. Dieser atmo-
                                                                 sphärische, architektonische und gestalterische ­Anspruch
                                                                 ist in Salzburg sehr konsequent umgesetzt worden, nicht
                                                                 trotz der historischen Gegebenheiten, sondern gerade auf
                                                                 Grundlage der Integration des historischen Bestands. Der
                                                                 Bahnhof hat damit für viele Jahrzehnte sein ganz spezifi-
                                                                 sches, unverwechselbares Design gefunden.
                                                                      Der große Reiz des neuen Ansatzes liegt in der ästheti-
                                                                 schen Harmonie aller historischen und modernen Elemen-
                                                                 te. Die neuen dynamischen Bahnsteigdächer bilden mit
                                                                 den filigranen historischen Bahnsteighallen eine ebenso
                                                                 überraschende, wie für die Passagiere komfortable Groß-
                                                                 form. Denn so entsteht eine die Gleise wie die Bahnstei-
                                                                 ge insgesamt überdeckende, dabei dennoch sehr hel-
                                                                 le und transparente „Bahnsteighalle“ neuer Prägung. Die
                                                                 große Höhe historischer Bahnsteighallen, die seit der Ein-
                                                                 stellung des Verkehrs mit Dampflokomotiven funktional
                                                                 nicht mehr notwendig ist, verlagert sich in Salzburg so-
                                                                 gar in eine zweite Ebene. Die quer zu den Bahnsteigen
                                                                 geführte, über die historische Empfangshalle erschlossene,
                                                                 nach oben offene Passage unterhalb der Gleise weitet den
                                                                 Blick bis unter die historischen Tonnengewölbe. Sie gibt
                                                                 der Bahnsteighalle in Salzburg typologisch eine neue Be-
                                                                 deutung, aber auch eine ganz andere, räumlich noch dra-
                                                                 matischere Dimension.

                                                                                                                                Abb. 6   Freie Fahrt durch die beiden transparent gedeckten und neu positionierten historischen Bahnsteighallen
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
36   Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

           Gleisarchitektur                                                                                                  Vernetzung

                                                                Zur Geschichte des Salzburger Hauptbahnhofs aus dem          Grundsätzlich ging es um die schwierige städtebauliche
                                                                Jahr 1860, eines wichtigen Verkehrsknotenpunktes im          Zielsetzung, die Stadt über 18 Gleise hinweg neu zu ver-
                                                                transeuropäischen Netz mit gegenwärtig 25 000 Reisen-        netzen, verkehrstechnisch wie architektonisch. Bisher wa-
                                                                den pro Tag, gehört die ehemalige Funktion eines Grenz-      ren die angrenzenden Stadtteile im Bahnhofsbereich le-
                                                                bahnhofs, für die im Jahr 1909 der Zentralperron errich-     diglich mit einem schmalen Steg oberhalb der Gleise
                                                                tet worden war. 1931 beschrieb Georges Simenon den           verbunden gewesen. Der hoch liegende Gleiskörper und
                                                                üblichen Zollbetrieb am Beispiel des winzigen niederlän-     Lärmschutzwände verstärkten die Barrierewirkung zusätz-
                                                                dischen Bahnhofs Bad Neuschanz (Nieuweschans): „Der          lich. Die Neuplanung für die zum Ende des Jahrzehnts er-
                                                                deutsche Zug hält am einen Ende des Bahnsteigs, der hol-     warteten 35 000 Passagiere täglich sah zur Integration
                                                                ländische am anderen. Die Bahnbeamten mit der orange-        des Bahnhofs in die Urbanität der Stadt darum ­funktionale
                                                                farbenen Mütze und die in grüner oder preußischblauer        ebenso wie städtebauliche Elemente vor: eine zentrale, bis
                                                                Uniform gehen aufeinander zu und verbringen die für die      zu 20 Meter breite Passage unterhalb der Gleise und im
                                                                Zollformalitäten veranschlagte Wartezeit miteinander. […]    Westen des Bahnhofs den Austausch von drei Eisenbahn-
                                                                Die Leute setzen sich in die Bahnhofsgaststätte, die sich    Brücken, darüber hinaus den Entwurf von Neubauten am
                                                                                                                                                                                                                Abb. 7   Neue Vernetzung der Stadtteile Elisabeth-Vorstadt und Schallmoos
                                                                durch nichts von der anderer Grenzbahnhöfe unterschei-       Rand des Gleisfelds. Die 100 Jahre alten Brücken über die
                                                                det.“4 Aus dieser Situation heraus, die noch heute in der    Gabelsbergerstraße (Nelböckviadukt), Plainstraße und Rai-
                                                                Doppelfunktion des Genfer Hauptbahnhofs als Schweizer        nerstraße wurden abgetragen und durch moderne, hel-
                                                                wie als französischer Haltepunkt zu beobachten ist, war      le Neubauten mit größerer Durchfahrtshöhe ersetzt. Geh-
                                                                der Zentralperron in Salzburg als Kopfbahnsteig bezie-       und Radwege wurden verbreitert. Vom Nelböckviadukt
                                                                hungsweise Inselbahnhof angelegt worden. Auf der nord-       aus, das nun drei statt zwei Fahrbahnen breit ist, erreicht
                                                                östlichen Seite für den österreichischen Verkehr, auf der    man die Gleise der S-Bahn direkt. Der südliche Bahnhofs-
                                                                südwestlichen Seite für die Züge nach Bayern. Beide Sei-     zugang in Schallmoos wird großzügig erweitert und lässt
                                                                ten mit jeweils vier Gleisen verfügten über eigene räum­     sich über den Taxi- und Busverkehr hinaus dank einer Rad-
                                                                liche Bereiche und Fahrdienstleitungen, dazwischen ­lagen    station und Kurzzeitparkplätzen auch individuell anfahren.
                                                                Zoll und Bahnhofsrestaurant. Trotz der Beliebtheit des in-   Die von der Wettbewerbsjury besonders hervorgehobene
                                                                zwischen für einen Wiederaufbau eingelagerten Mar-           städtebauliche Qualität des von kadawittfeldarchitektur
                                                                morsaals, der Gaststätte zwischen den Gleisen, war die       vorgeschlagenen Ensembles von Hochhäusern, „das den
                                                                räumliche Situation des Zentralperrons schließlich unbe-     Bahnhofsbereich einrahmt und als Stadtraum in Erschei-
                                                                friedigend und angesichts der offenen Grenzen nach dem       nung treten ließe“, bleibt dagegen, anders als in Wien, zu-
                                                                Schengener Abkommen überflüssig geworden. Die dunk-          nächst Vision.
                                                                len unterirdischen Gleiszugänge waren ein weiterer Anlass
                                                                zum Umbau des Bahnhofs.

                                                                                                                                                                                           Abb. 8 Die großzügige, offene Passage unterhalb der Gleise ist nicht nur
                                                                                                                                                                                           Gleiserschließung. Begleitet von Läden und Service-Einrichtungen der
                                                                                                                                                                                           Bahn fungiert sie auch als stadt-strukturelle Verbindung.
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
38   Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

              Abb. 9 Grundriss Bahnsteigebene
                   A historische Empfangshalle
                             B Hausbahnsteig
                            C Inselbahnsteige
                 D historische Bahnsteighallen
                        E Zugang Schallmoos

                                                                            A

                                                                                    B

                                                                                    C

                                                                        D       D
                                                                                    C

                                                                                    C

                                                                                    C

                                                                    E
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
40   Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

           Raumzusammenhang

                                                                Die Situation des neu konzipierten Durchgangsbahnhofs         die Architekten von kadawittfeldarchitektur mit der neu-
                                                                ist schon heute, vor der Fertigstellung, eine völlig ande-    en Raumtypologie einer dynamischen Passagenführung.
                                                                re. Die jetzt durchlaufenden Gleise an im Endausbau neun      Boden und Decke bleiben nicht starre, rein konstruktive
                                                                überdachten, zum bequemeren Ein- und Aussteigen um            Elemente, sondern die Passage vermittelt in ihrer leben-
                                                                etwa einen halben Meter angehobenen Bahnsteige be-            digen Linien- und natürlichen Lichtführung das Bild eines
                                                                finden sich zwar noch in ihrer alten Höhenposition, aber      offenen, urbanen, sich aufweitenden und wieder veren-
                                                                zwischen Bahnsteigdach und quer dazu verlaufender, die        genden Straßenraums in bewegter Landschaft. Das ge-
                                                                Stadtteile Elisabeth-Vorstadt und Schallmoos verbindender     lingt auch und vor allem durch die räumliche Verknüpfung
                                                                Passage besteht immer wieder ein fast dramatischer räum-      über mehrere Ebenen und Funktionen, die Orientierungs-
                                                                licher Zusammenhang. Diese Situation überrascht den Pas-      hilfe mit den Akzenten ihrer Lichtführung bietet. Ganz un-
                                                                santen oder Passagier, sobald er sich anschickt, die in Zu-   abhängig von den Anforderungen des Bahnhofsprojekts
                                                                sammenarbeit mit der Denkmalpflege aufwendig in ihre          setzt diese Ausprägung der Passage einen beispielgeben-
                                                                Ursprungsform zurückgeführte Empfangshalle des histo-         den, neuen Maßstab.
                                                                rischen Bahnhofs, die auch an die Stadtbahn direkt an-            Für den Umbau der bestehenden Gleisanlagen ober-
                                                                gebunden ist, in Richtung Fernverkehr und Schallmoos zu       halb der Passage wurden acht, zum Teil weit gespann-         Abb. 10 Aufweitungen und Verengungen, natürliches und künstliches Tageslicht
                                                                verlassen. Dabei wird das Marmorportal mit der zentra-        te Gleistragwerke neu errichtet und auf 30 Meter tief        schaffen einen belebten, urbanen Raum.
                                                                len Uhr unterhalb der neu gefassten historischen Fenster      reichenden Pfählen gegründet. Die darin integrierte Erd-
                                                                zur Schwelle zwischen der Vergangenheit und der Zukunft       wärmeanlage deckt nahezu den gesamten Wärme- und
                                                                des Bahnhofs. Diesseits dieser Grenze sind die freigelegten   Kälte­bedarf des Bahnhofs. Versorgungstunnel gewährleis-
                                                                Fliesenbilder und rekonstruierten Messing-Hänge­lampen        ten die ­Logistik der 3 800 m2 großen Ladenflächen eben-
                                                                als Jugendstilelemente in einem modern reduzierten, his-      so wie des ÖBB-Service im Verborgenen. Komplexer und
                                                                torischen Rahmen zu bewundern – bei allen modernen In-        vernetzter ist Stadtraumqualität im Innenbereich, aber
                                                                formationssystemen, die für die schnelle Orientierung der     auch die Verknüpfung von Stadt- und Verkehrsraum heu-
                                                                Passagiere dennoch notwendig sind. Jenseits des Portals       te kaum realisierbar. Der Salzburger Bahnhof ist nicht um
                                                                wird dagegen Schritt für Schritt die moderne Dynamik          eine eindimensionale Shopping Mall ergänzt worden, die
                                                                der Bahnreise sichtbar: von der Passage, die nicht mehr       auch als Zugang zu den Gleisen dient. Stattdessen wird
                                                                eindimensionaler Tunnel, sondern landschaftlich beweg-        die Dreidimensionalität beziehungsweise Vierdimensiona-
                                                                ter und räumlich komponierter Straßenraum ist, bis zum        lität dieses urbanen Knotenpunkts, bestehend aus ganz
                                                                Crescendo der neuen, das moderne Eisenbahntempo sym-          unterschiedlichen Verkehrslinien und -formen, nicht zu-
                                                                bolisierenden Bahnsteigdächer, die sich dennoch mit den       letzt aber den Passanten und Passagieren, in einem über-
                                                                historischen Bahnsteighallen zu einer ästhetischen und        zeugenden Bild räumlich verdichtet und veranschaulicht.
                                                                funktionalen Synthese über mehr als ein Jahrhundert hin-      Die kommerziellen Angebote des Bahnhofs mit den Ausla-
                                                                weg verbinden.                                                gen und Schaufenstern sind damit, wie in jedem anderen
                                                                    Die in allen räumlichen Dimensionen sehr spezifisch ge-   Straßenraum, nicht mehr stilprägend, sondern bleiben als
                                                                führte Passage unterhalb der Gleise des Salzburger Haupt-     scheinbar beiläufiges Angebot Teil der übrigen Verlockun-
                                                                bahnhofs entwickelt dabei ein Eigenleben, das auch ohne       gen der Stadt.
                                                                den Bahnhofsbetrieb funktionieren könnte. Die schwieri-
                                                                ge Problematik der unterirdischen Gleiserschließung, die
                                                                im Wettbewerbsverfahren auch mit verschiedenen Gleis-
                                                                überbauungen beantwortet worden war, überspielten

                                                                                                                                                                                                      Abb. 11 Ausblicke bis unter die Tonnengewölbe der Bahnsteighallen dramatisieren
                                                                                                                                                                                                      das Raumerlebnis der Passage und der Bahnsteige an ihren Kreuzungspunkten.
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
42   Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg

           Dynamik

                                                                Den Ausgangspunkt der Entwurfsidee – der Verwandlung
                                                                der alten Bahnsteige in einen modernen Hauptbahnhof
                                                                mit historischem, denkmalgeschütztem Ursprung – bil-
                                                                deten die historischen Bahnsteigdächer bzw. -hallen. Der
                                                                konstruktive und logistische Aufwand für deren Instand-
                                                                setzung war beträchtlich, blieb aber im gesamten Investi-
                                                                tionsvolumen von 270  Millionen Euro mit etwa 5  Millionen
                                                                Euro angesichts der damit erreichten atmosphärischen
                                                                Wirkung des Bahnhofs eine fast bescheidene Größe. Der
                                                                Mittelbau des historischen Zentralperrons wurde abgetra-
                                                                gen und das historische, im Krieg beschädigte Bahnhofs-
                                                                restaurant mit seinem 375  m2 umfassenden Marmorsaal,
                                                                an dem die Wiener Werkstätten beteiligt waren, eingela-
                                                                gert. 30  Jahre lang war der Bahnhofsumbau in Salzburg
                                                                an der Frage gescheitert, wie man mit diesem denkmal-
                                                                geschützten Raum, der als Restaurant, aber auch als Ta-
                                                                gungsort und Tangotänzer-Treff gedient hatte, umgehen
                                                                sollte. Bei aller Wehmut über diese vorerst verlorene Epi-
                                                                sode der Bahnhofsgeschichte blockierte das Gebäude den
                                                                Umbau zum Durchgangsbahnhof.
                                                                                                                             Abb. 12   Historische und moderne Dachkonstruktionen mit Folienkissen, Membrandächern und Glas heben die Aufenthaltsqualität auf den Bahnsteigen.
                                                                    Die vernieteten, im Krieg beschädigten Stahlkonstruk-
                                                                tionen der im Scheitelpunkt heute fast 12  Meter hohen
                                                                Hallen aus dem Jahr 1908, einmalig in ganz Österreich,       hof Dresden 2006 zum Einsatz kamen, konnte in Salzburg                       sichtbar gemacht. Die Hallenhöhe nahm dabei um 30  Zen-
                                                                wurden demontiert, zerlegt, restauriert, zum Teil notge-     mit einem komplett aus Polytetrafluorethylen hergestell-                     timeter zu. Wegen der trotzdem knappen Durchfahrts­
                                                                drungen ausgetauscht, fast unsichtbar konstruktiv ver-       ten Membrandach eine bislang unerreichte Lichtdurchläs-                      höhe an den Hallenenden setzten die Architekten sogar
                                                                stärkt und in neuer, räumlich gekoppelter Formation im       sigkeit von 38 Prozent realisiert werden.                                    einen neuen, reduzierten Typ von Oberleitung ein. Ein Bei-
                                                                Abstand von 16  Metern wieder aufgebaut. Neu ist da-             Das Engagement für die Rettungsaktion der alten Hal-                     spiel dafür, wie weit integrale Planungsarbeit in diesem
                                                                mit auch ihre Position auf dem Bahnsteig. Durch ein Glas-    len lässt sich in vielen Anekdoten wiedergeben. Da auf der                   Fall von den Architekten verwirklicht wurde – bis hin zur
                                                                dach verbunden und in der neuen, historisch begründeten      Baustelle gar nicht genug Raum vorhanden war, um etwa                        Funktion des Mediators zwischen Bahn und Stadt.
                                                                mattweißen Farbgebung der gesamten Bahnsteiganlage           2 500  Stahlteile aufzuarbeiten und anzupassen, wurden                           So verbindet sich die lange historische Entwicklung
                                                                wurden sie ebenso wie die daran dynamisch anschließen-       die 300  Tonnen Stahl ausgelagert und in Polen bearbeitet.                   der Eisenbahn in Salzburg mit modernen Stahldächern,
                                                                den neuen Bahnsteigdächer zum Blickfang des Bahnhofs.        60  Tonnen Stahl wurden in filigranen Spezialprofilen, zum                   die entlang der Gleise, angetrieben von ihren die histo-
                                                                Die Hallen selbst mit ihren 48 und 36  Meter langen Ton-     Teil aus Italien, neu eingebaut, um verrostete Elemente zu                   rischen Hallen inszenierenden Lichtschaufeln, über den
                                                                nendächern sind mit einem transparenten Membrandach          ersetzen oder um die heute vorgeschriebene Schneelast-                       wartenden Passagieren zu fliegen scheinen, zu einer ar-
                                                                geschlossen, das sich im weiteren Verlauf der neuen Bahn-    tragfähigkeit aufnehmen zu können. Trotzdem wurde das                        chitektonischen Gesamtdarstellung, die Stadt und Bahn-
                                                                steigdächer über den Gleisen in pneumatischen Luftkissen     historische Erscheinungsbild beibehalten – auch das der                      hof neu interpretiert und darstellt. Ein überaus gelungener
                                                                fortsetzt. Im Vergleich zu älteren, aus Glasfasergeweben     Nieten, in denen sich tatsächlich kraftschlüssigere Schrau-                  und glücklicher Auftakt für die weitere Zukunftsarbeit die-
                                                                hergestellten, mit Teflon (PTFE) lediglich beschichteten     ben verbergen. Die gusseisernen Rollenlager der Stützen,                     ses Jahrhunderts, die ganz der Stadt, wie der Idee der Ur-
                                                                Membranen, wie sie zum Beispiel noch beim Hauptbahn-         die längst im Asphalt versunken waren, wurden wieder                         banität gewidmet sein wird.
Zum urbanen Design der Eisenbahnreise. Das Beispiel Salzburg
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                Nicht Formwille, sondern Gestaltungsabsicht …
                                                                                                                    Diskursiver Architekturstil                                    mehr zu halten war. „Man höre und plane“ ist insofern
                                                                                                                                                                                   der richtige Hinweis, um in komplexen Planungsverfahren
                                                                                                                    Das Salzburger Bahnhofsprojekt wurde im Rahmen der             als Architekt die Kompetenz eines Vermittlers an den ent-
                                                                                                                    Bahnhofsoffensive der ÖBB im Jahr 1997 ins Leben geru-         scheidenden Schnittstellen zu gewinnen. Erst auf dieser
                                                      Gerhard Wittfeld                                              fen. Auch hier wurden die Planungsentscheidungen nicht         Grundlage werden dann auch architektonische Überzeu-
                                                                                                                    starr vorgegeben, sondern auf mehreren Abstimmungs-            gungen glaubhaft und erfolgreich. Dieser Spielraum erfor-
                                                                                                                    ebenen kontinuierlich gemeinsam erarbeitet und in der          dert viel Vorarbeit, große Kompetenz, sogar vielschichtige
                                                      Diskursiver Politikstil                                       Öffentlichkeit kommuniziert – zum Beispiel sehr vorbildlich    Vorleistungen durch das Aufzeigen von Varianten, um al-
                                                                                                                    mit großem zeitlichem Vorlauf in einem Informationspavil-      len Beteiligten ergebnisoffen die Auswirkungen eines Kon-
                                                      Aus der Vernetzung von Verwaltung, Industrie und Bevöl-       lon auf dem Bahnhofsvorplatz. Diese Kultur eines ergebnis-     zepts bis zum ausführbaren Bauprojekt aufzeigen zu kön-
                                                      kerung sowie der darin begründeten Sicherheit der Inves-      und beteiligungsoffenen Austauschs zwischen der Stadt,         nen.
                                                      titionen können visionäre Langzeitplanungen entstehen,        dem Bauherrn ÖBB, der Denkmalpflege und den Architek-              Der Auslöser der Wettbewerbsaufgabe des Jahres 1999
                                                      deren Erfolge und Zwischenziele das Engagement auf al-        ten führte dazu, dass sich das Planungsprojekt Bahnhof         war im Wesentlichen der Wunsch nach einer neuen Bahn-
      Der innere Ausbau des Bahnhofs mit seinem       len Seiten immer wieder neu beflügeln. Kopenhagen hat         immer wieder veränderte und auf jeweils aktueller Grund-       steigüberdachung und nach einer funktionalen, geordne-
       mehrdimensionalen Achsenkreuz aus Bahn-        in der Frage der ökologischen Stadtentwicklung diesen         lage in neue Richtungen, neue Varianten und in neuen Di-       ten Erschließung der Bahnsteige. Für uns lag in diesem
         steighalle und Bahnhofspassage sowie der     ebenso einleuchtenden wie konsequenten Weg genom-             mensionen komplex weitergedacht wurde, ohne aber die           Teilprogramm für einen neuen Bahnhof jedoch bereits die
      neuen Verzahnung bislang getrennter Stadt-      men. Während in Deutschland um „Stuttgart  21“ noch           Qualität des Wettbewerbsentwurfs von 1999 grundsätz-           Frage nach einem neuen Baustein der Stadtentwicklung,
     teile wird sich über das historische Empfangs-   immer gerungen, um „Gorleben  21“ gekämpft und das            lich infrage zu stellen. Darin liegt für mich der große Reiz   nach dem Mehrwert für den Stadtraum insgesamt. Dar-
          gebäude hinaus städtebaulich ausprägen.     Bahnhofsprojekt „München  21“ schon bezweifelt bezie-         dieses Langzeitprojekts. Etwa war es keineswegs so, dass       aus entstand unsere Idee der Durchwegung und Verräum-
                                                      hungsweise aufgegeben wird, hat Dänemark seine Ziel-          von Anfang an die Typologie Durchgangsbahnhof im Mit-          lichung des Bahnhofs, zum einen in Gestalt einer weitge-
                                                      setzung „Energy  21“ ohne Umwege in die Tat umgesetzt.        telpunkt der Fragestellung gestanden hätte, ebenso we-         hend geschlossenen Halle über den Gleisen als moderner,
                                                      Das ökologische Stadtentwicklungskonzept des Weltmeis-        nig die städtebauliche Entwicklung rund um den Bahnhof         wie auch historischer räumlicher Kontrapunkt zur Linea-
                                                      ters in Sachen Windenergie und CO2-Steuer stammt aus          oder die Erneuerung von drei weiteren Straßenverbindun-        rität des Bahnverkehrs, zum anderen in Gestalt einer ver-
                                                      dem Jahr 1996 und ist mehrfach aktualisiert worden – mit      gen unterhalb der Gleise, um die Qualität der städtebauli-     dichteten Randverbauung auf ehemaligen Gleisflächen.
                                                      der Bevölkerung, nicht gegen sie. Der diskursive dänische     chen Verbindung zu stärken.                                    Diese städtebauliche Perspektive hat die Stadt Salzburg
                                                      Politikstil beruht auf Kooperation und Dialog. Ein Ansatz,         Die Arbeit der Architekten liegt damit nicht mehr aus-    inzwischen mit der „Planungswerkstatt Schallmoos-West“
                                                      der angesichts des regelmäßigen Scheiterns von Großpro-       schließlich in der Einmaligkeit eines unveränderlichen,        aufgegriffen. Die günstige Lage dieser Grundstücke wur-
                                                      jekten in Deutschland erst jetzt Eingang in den Politikstil   schönen Entwurfs (der allerdings immer noch notwendig          de erst mit dem Ausbau der Infrastruktur des Bahnhofs
                                                      finden soll. „Man höre und plane“ lautete der Titel des       ist, um den Wettbewerb für sich zu entscheiden), sondern       wirklich erkannt. Der zeitliche Horizont dieser Entwicklung
                                                      Leitartikels der Süddeutschen Zeitung am 29. März 2012        vor allem in der Tiefe und Kontinuität einer fachlich fun-     ist darum ein anderer, auch wenn kadawittfeldarchitektur
                                                      zu diesem Thema. Das Potenzial des Miteinander-Ent-           dierten Beratung und Moderation, die sich nicht auf ar-        dafür schon im Wettbewerb plädiert hat.
                                                      scheidens kann ungeahnte Kräfte freisetzen. Die Lösung        chitektonische Argumente beschränken darf – gerade bei             14  Jahre Planungsarbeit stecken für uns als Architekten
                                                      komplexer Zukunftsaufgaben wird so erst möglich – ein         technisch anspruchsvollen Projekten, die für wenigstens        bisher in diesem Projekt. Betrachtet man die weitere stadt-
                                                      Vorbild auch für die dichter besiedelten Stadtregionen Eu-    ein Jahrhundert angelegt werden. Das schlagende Argu-          räumliche Verortung und Vernetzung des Bahnhofs durch
                                                      ropas.                                                        ment ist selten in erster Linie die Architektur, sondern ein   die von unserem Büro vorgeschlagenen baulichen Ver-
                                                                                                                    im Vergleich zu anderen Bahnhöfen bislang unerreichter         dichtungen am Rand des Gleisfelds, ist der Abschluss der
                                                                                                                    Mehrwert oder – wie im Fall des historischen Inselbahn-        städtebaulichen Überlegungen und Konsequenzen noch
                                                                                                                    hofs – der Ausgleich widerstreitender Interessen. Auf die-     gar nicht absehbar. Der innere Ausbau des Bahnhofs mit
                                                                                                                    se Art und Weise sind die historischen Hallengewölbe ein       seinem mehrdimensionalen Achsenkreuz aus Bahnsteig-
                                                                                                                    ganz selbstverständlicher integrativer Bestandteil des neu-    halle und Bahnhofspassage sowie der neuen Verzahnung
                                                                                                                    en Bahnhofs geworden, während mit der Sinnhaftigkeit           bislang getrennter Stadtteile wird sich über das historische
                                                                                                                    des neuen Konzepts die Argumentation für die Bewah-            Empfangsgebäude hinaus städtebaulich ausprägen. Denn
                                                                                                                    rung des Marmorsaals am ursprünglichen Standort nicht          mit dem neu definierten Fokus des Bahnhofs als einem
46   Nicht Formwille, sondern Gestaltungsabsicht

                                                   öffentlichen Innenerlebnis entsteht auch in dessen unmit-
                                                   telbarem äußerem, städtebaulichem Rahmen ein dynami-
                                                   sches Entwicklungspotenzial, das nicht dem Wildwuchs
                                                   überlassen werden kann, sondern die Idee des mehrfach
                                                   erschlossenen Bahnhofskerns in den weiteren Stadtraum
                                                   tragen muss.
                                                       Das betrifft nicht zuletzt die beiden Zugangssituatio-
                                                   nen diesseits und jenseits der Gleise, die für den Stadt-
                                                   teil Schallmoos mit einer großen Fahrradstation, Kiss &
                                                   Ride und mit Bus- und Taxivorfahrt unter einem parabolo-
                                                   iden Dach bereits geplant ist und bis zur Gesamtfertigstel-
                                                   lung des Bahnhofprojekts realisiert werden soll. Eine ähnli-
                                                   che Möglichkeit, seinen Zug trockenen Fußes zu erreichen,
                                                   steht für den cityseitigen Bahnhofsvorplatz noch aus, ist
                                                   aber in einem weiteren Schritt des Ausbaus im Sinne unse-
                                                   rer Zielsetzung einer geschlossenen Mobilitäts­kette mög-
                                                   lich. Andere Eigentümer, Fördermittel und Zuständigkei-
                                                   ten erfordern auch in diesem entscheidenden Detail des
                                                   Bahnhofs ein diskursives Planungsmodell und Rückhalt auf
                                                   der strategischen Ebene des Bauherrn ÖBB wie der Stadt
                                                   Salzburg. Stark formalisierte architektonische Lösungen
                                                   bieten demgegenüber zu wenig Diskussionsspielraum für
                                                   bedenkenswerte Varianten, Ausweitungen und Fortset-
                                                   zungen des Projekts.

                                                                                                                  Abb. 1   Der Bahnhof mit seinem mehrdimensionalen Achsenkreuz
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