Einleitung - Kritischen Agrarbericht
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Einleitung
( Schwerpunkt »Landwirtschaft für Europa«
Europa leben!
Ein Plädoyer für mehr Begegnung und Bewegung in Europa
von Hannes Lorenzen
Europa ist viel Geschichte und viel Projektion. Die Geschichte gerät in Vergessenheit, während die
Projektionen zunehmen. Unübersehbar ist, dass Ambitionen, den Zusammenhalt in Europa zu stär-
ken, aus der Mode gekommen sind. Europa erscheint bisweilen wie ein Haufen auseinanderstre-
bender Nationalstaaten und ein Gewimmel von Hoffnungen und Enttäuschungen ihrer Bürger. Die
Europäische Union ist auf der Kippe zwischen Renationalisierung und schwächelnder Auflösung.
Vor diesem Hintergrund wird die EU nur dann ein Projekt für Frieden und Zusammenhalt bleiben,
wenn sich Menschen in konkreten gemeinsamen Projekten in Europa dafür engagieren, meint der
Autor dieses Beitrags, der Berater im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung im
EU-Parlament und Gründer mehrerer europäischer Netzwerke ist. Die europäische Agrarpolitik
könnte für die Landwirtschaft und ländliche Regionen Europas ein wichtiger Pfeiler eines neuen
zivilen Projekts für Europa werden.
Kann man Europa verstehen? – Es wird uns vielfältig Europa und seine Institutionen in Der Europäische
beschrieben. Mark Twain bummelt 1878 eineinhalb Landbote und Die Hauptstadt.¹
Jahre, angeblich zu Fuß, durch Europa. Er macht sich
über die Oberflächlichkeit amerikanischer Touris- Wo liegt Europa eigentlich?
ten lustig und erlebt selbst eigentlich nur deutsche
und italienische Städte. Hans Magnus Enzensberger Das Land Europa gibt es nicht. – Schon gar nicht die
seufzt schon vor dem Fall der Berliner Mauer: Ach Vereinigten Staaten von Europa. Dafür gibt es Grün-
Europa! und prophezeit frühzeitig »ungarische Wir- de. Es gibt (noch) 28 Hauptstädte und genauso viele
rungen«. Der niederländische Schriftsteller Geert nationale Interessenvertretungen in Brüssel. Und es
Mak ist Anfang dieses Jahrhunderts ein Jahr lang gibt viele nationale Politiker, die ihre Karriere auf der
In Europa. Er besucht Paris, Wien, Berlin, London, Angst vor Europa aufbauen. Im Europäischen Parla-
St. Petersburg, Verdun, das einstige Stalingrad und ment werden vorwiegend nationale Interessen vertei-
Tschernobyl. Er konstatiert Hilflosigkeit der Euro- digt und ebenso viele Deals des Ministerrats zur Ver-
päer vor ihrer Kriegs- und Katastrophengeschichte. teidigung nationaler Interessen abgesegnet. Eine Ge-
Cees Nooteboom sitzt sehr lange Im Wartezimmer meinsame Verfassung ist 2005 daran gescheitert, dass
Europas und fragt sich Wie wird man Europäer? Und ein Referendum in Frankreich und den Niederlanden
Robert Menasse bricht in Zeiten weit verbreiteter den Bürgern die Gelegenheit bot, der eigenen Regie-
Ablehnung der EU eine Lanze nach der anderen für rung einen Denkzettel zu verpassen. Ach Europa!
8Einleitung
Schon alles vergessen? – Die europäische Eini- China streitig macht. Ist das einstige Fundament der
gung ist Weltgeschichte auf höchstem Niveau. Dass europäischen Einigung Karikatur geworden? Hat die
die einst tief verfeindeten Nationen des alten Konti- Bürokratie wirklich gewonnen und haben die Men-
nents es geschafft haben, seit fast 70 Jahren friedlich schen verloren?
und erfolgreich zusammenzuarbeiten, wird in vielen Europa verliert sich zwischen Stadt und Land. –
Regionen der Welt bewundert. Die drei Prinzipien: Die Beziehungen zwischen Land und Stadt sind in
Demokratie, Solidarität und Nachhaltigkeit haben Europa so zwiespältig wie überall auf der Welt. Die
Europa zusammengehalten, trotz vieler wirtschaftli- Stadt zieht Menschen an, das Land verliert sie. Auf
cher und politischer Übergriffe der Mächtigen – vor dem Land bleiben die Alten, die Verlierer – oder die
allem Deutschlands. Die EU gilt in Osteuropa, Asien, besonders Wettbewerbsfähigen. Wo das Land schön
Afrika und Lateinamerika immer noch als anerkann- ist, kommen Erholungsbedürftige und Rentner. Wo
te Beratungsinstanz für friedliche, grenzübergreifende nicht, wird es einsam. Der größte Teil der ländlichen
Kooperation und Integration. Ihre Anziehungskraft Regionen gilt als benachteiligt und bekommt Aus-
nährt sich im Gegensatz zu Militärbündnissen wie der gleichszahlungen aus Europa, allerdings insgesamt
NATO nicht aus Angst vor den Nachbarn, sondern viel weniger als die begünstigten Gebiete und Agrar-
vielmehr aus der Hoffnung auf demokratische und industrien an Subventionen erhalten. Für städtische
nachhaltige Entwicklung. Aus sechs Gründerstaaten Interessen ist die Regionalpolitik zuständig, für das
wurden deshalb 28, und die Liste der Beitrittskandi- Land die Agrarpolitik. Das sind zwei ungleiche Wel-
daten im Südosten ist lang. ten, die zunehmend auseinanderfallen. Zusammen-
Aber Europas Bürger mögen ihre Union nicht. – Sie halt bewirkt das nicht.
empfinden sie als bürokratisch, kalt und fern. Politi- Städte nehmen das Land in Gewahrsam. – Zuerst
ker aller Couleurs und Länder haben an diesem Image wurde Europas Landwirtschaft ein Industrialisie-
mitgewirkt. Sie können daheim mit Beifall rechnen, rungsmodell aufgezwungen, das den Böden zuneh-
wenn sie »Brüssel« als undemokratisches Monster an mend die Fruchtbarkeit nimmt, die Pflanzen von Mi-
die Wand malen und sich selbst als Opfer des Mo- neraldünger und Pestiziden abhängig macht, die Tiere
lochs. Die Distanz der Menschen zu Europa ist vor in ungesunde Leistungssysteme zwingt und Bäuerin-
allem hausgemacht. Es gibt keine europäische Öffent- nen und Bauern dem so geschaffenen Strukturwandel
lichkeit und keine wirkliche Berührung mit Europa. atemlos hinterherrennen lässt. Die Städte wachsen ins
Die nationalen Medien erzählen nationale Geschich- Land und konsumieren mit Wohnungsbau und In-
ten von Europa. Die hören sich in England ganz an- frastruktur immer mehr landwirtschaftlichen Boden.
ders an als in Frankreich oder Italien. Europa kommt Land wird auch deshalb knapp und teuer, weil Spiel-
kaum zu den Menschen nach Hause und wenn, dann geld aus den städtischen Finanzzentren sichere Lande-
meist mit warmen Worten oder bissigen Kommenta- plätze sucht und zunehmend Kapitalgesellschaften in
ren. Europa kommt nicht als Göttin auf dem Stier da- die Landwirtschaft einsteigen. Es sind die Banken, die
her, sondern meistens als hässliche ferne Stadt, aus der den Bauern Geld für den nächsten Rationalisierungs-
Unheil droht. Europäische Politik steht wenige Mona- schritt anbieten und ihnen den Betrieb abnehmen,
te vor der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 für wenn der Kredit nicht mehr bedient werden kann,
Hilflosigkeit vor »den Märkten«, zunehmendem anti- weil die Preise im Keller sind.
europäischen Populismus und einer galoppierenden Das Land verliert Menschen und Geld. – Der Anteil,
Erosion der Demokratie. den die Bauern und Bäuerinnen aus der Wertschöp-
Bleiben wir hilflos vor unserer Katastrophenge- fungskette bekommen, wird trotz stetiger Rationali-
schichte? – Ist Europa, wie die britischen Autoren sierung immer kleiner. Zuletzt im Durchschnitt noch
Brendan Simms und Benjamin Zeeb behaupten, »am 18 Prozent. Das Modernisierungsversprechen hat sich
Abgrund«?² Brauchen wir ein Manifest Für Europa! ³ immer zugunsten der Stadt ausgewirkt. Präzisions-
wie Dany Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt es vor- landwirtschaft und Digitalisierung sind die nächsten
schlagen, um die letzten aufrechten Citoyens Europé- Zauberworte. Der Anschluss an die Google-Datenau-
ens zu sammeln? Oder macht es Sinn, auch mal aufs tobahn ohne Gebrauchsanweisung für Klimawandel
Land zu schauen, wo nach diversen Wahlanalysen die und Nachhaltigkeit wird nur wenigen Rationalisie-
Ablehnung gegen »Brüssel« am radikalsten ist, und rungsrasern eine Chance bieten. Nichts gegen intel-
hier und dort wieder Blut-und-Boden-Ideologie auf ligente Traktoren. Aber wenn die damit gesammelten
dem Vormarsch ist. In Robert Menasses’ Die Haupt- Daten nur von John Deere kommerziell genutzt wer-
stadt läuft ein Schwein verloren durch die Brüsseler den dürfen und die Landwirte nur noch Anwender
Innenstadt und sorgt für viel mediales Spektakel, wäh- der neusten Pflanzenschutz-App sind, geht eigenes
rend ausgerechnet ein österreich-ungarisches Export- Können verloren und es entstehen gefährliche neue
kartell den Briten ihren Schweinefleischexport nach Abhängigkeiten.
9Der kritische Agrarbericht 2019
Unbewegliches Standbild Agrarpolitik. – Dass die von Subventionen in ländliche Entwicklungspro-
Europäische Agrarpolitik den dringenden Anforde- gramme. Angela Merkel machte 2005 ihren Deal
rungen wie Klimaschutz, Erhaltung der Biodiversität mit Tony Blair und rettete die bedingungslosen
und der Bodenfruchtbarkeit so hoffnungslos hinter- Direktzahlungen vor drastischen Kürzungen. Auch
herhinkt, liegt daran, dass die in den 50er-Jahren fest- die Vorschläge des rumänischen EU-Kommissars
gelegten Ziele bis heute unverändert geblieben sind. Dacian Cioloş, Hektarprämien an agrarökologische
Doch Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität stehen Praktiken zu knüpfen, wurden in erste Linie von der
heute in einem völlig anderen gesellschaftlichen Zu- deutschen Bundesregierung ins Wirkungslose ver-
sammenhang als damals. Als es eine Chance gab, bei dreht.
den Verträgen von Maastricht oder der gescheiterten Der Trend zur Re-Nationalisierung der Gemeinsa-
Europäischen Verfassung diese Ziele an die neuen men Agrarpolitik – ist in den neuen Reformvorschlä-
Herausforderungen anzupassen, wollte kein einziger gen zur GAP nach 2020 nun deutlich erkennbar. Zwar
Mitgliedstaat an den veralteten Zielen rühren, allen werden die Mitgliedstaaten in die Pflicht genommen,
voran blockierte dies Deutschland. im Bereich der Direktzahlungen strategische Pläne
Nationaler Egoismus. – Die bisher erfolgreiche aufzulegen, mit denen sie die speziellen Probleme
Verhinderung einer zeitgemäßen Reform der klassi- ihrer Landwirtschaft zu lösen gedenken. Sie sollen
schen Agrarpolitik beruht außerdem auf einem aus- darin den Landwirten Maßnahmen für Klimaschutz,
geprägten nationalen Egoismus der Mitgliedstaaten. Biodiversität und nachhaltige Bewirtschaftung anbie-
Die zwei großen Reformversuche der EU-Kommis- ten. Aber weder eine Verpflichtung zur Anwendung
sion sind daran gescheitert, dass die finanzstarken dieser Maßnahmen noch eine wirkungsvolle Evaluie-
Nettozahlerstaaten die sozialen und ökologischen rung ist auf EU-Ebene vorgesehen. Statt Hektarprä-
Herausforderungen ignorierten und stattdessen mien zu qualifizieren und entsprechend Fördermittel
den Forderungen des agrarindustriellen Komple- umzuverteilen, werden vor allem die Mittel für die
xes folgten. Vor allem Deutschland hat sich immer Entwicklung des ländlichen Raums und die Kohä-
wieder gegen notwendige Reformen gesperrt. Ger- sionspolitik gekürzt. Die Kommission folgt damit
hard Schröder machte 1999 mit Jaques Chirac einen dem Egoismus der Nettozahlerstaaten und zieht sich
Deal gegen den damaligen EU-Agrarkommissar weitgehend aus der Gestaltung einer Gemeinsamen
Franz Fischler und verhinderte eine Umwidmung Agrarpolitik zurück.
Ein Streifzug durch Europa
Beginnen wir in Skandinavien, wo die Demokratie eine mung und Verwaltung, mehr Arbeit am Zusammenhalt
noch weitgehend familiäre Angelegenheit zu sein scheint. in ländlichen Regionen.⁴
Von dort kam in den 1990er-Jahren der Funke für mehr In Griechenland ist nicht nur Krise und Ausverkauf.
Demokratie und Selbstbestimmung auf dem Land, die Es gibt viele kleine Inseln der Erneuerung, auch auf dem
schwedischen ländlichen Parlamente (rural parliaments). Festland. In Karditsa, einer Kleinstadt im Festland der
Alle zwei Jahre kommen seitdem ländliche Initiativen und Peleponnes, in dem der subventionierte Baumwollanbau
Projekte zusammen, die jenseits der klassischen Bauern- einst florierte, hat eine Initiative die lokale Wirtschaft und
verbände ihre Entwicklung in die Hand genommen haben. Landwirtschaft wieder in Schwung gebracht. Die Zweig-
Politiker aller Couleurs wagen es nicht mehr, dieser Bewe- stelle einer pleitegegangenen Bank wurde ohne staatliche
gung fern zu bleiben und die ländliche Zivilgesellschaft Zuschüsse übernommen und in eine Förderkooperative für
ist selbstbewusster geworden. Projekte der Region verwandelt, aus der sich unterschied-
Der Funke sprang innerhalb weniger Jahre auf Finn- liche ländliche und städtische Projekte nach dem Prinzip
land, Estland. Lettland und Litauen und später auf die der Eco-Schemes, der verbundenen Stadt-Land-Wirtschaft,
neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten über. Sogar in entwickelten. Inzwischen sind daraus zahlreiche kleine Un-
den Ländern des Westbalkans finden alle zwei Jahre na- ternehmen, Tourismusprojekte und Start-ups entstanden.⁵
tionale und regio nale ländliche Parlamente statt, ebenso In Italien bleibt trotz des Rechtsrucks und einer gras-
ein europäisches ländliches Parlament, das alle nationalen siereden Europaallergie die Slowfood-Bewegung und die
Initiativen alle zwei Jahre zusammenbringt. Wenn es eines lokale Verbindung zwischen Bauern und Bürgern ein stabi-
ländlichen Manifestes für Europa bedarf: es ist bereits da lisierender Faktor in der Landwirtschaft.
und seine Forderungen sind zumindest bis in den Diskurs Auch in Spanien sind bei lokalen Wahlen neue Verbin-
der europäischen Insti tutionen vorgedrungen: mehr In- dungen zwischen Erzeugern, Verarbeitern und Gemein-
vestitionen in die lokale Entwicklung, mehr Selbstbestim- deprojekten entstanden, mit denen die Qualität und f
10Einleitung
Dabei wäre jetzt der entscheidende Moment, Euro- gleichsweise große Vielfalt an Landwirtschafts- und
pa neu aus der Taufe zu heben – und auf die vielen Esskulturen erhalten. Statt regionale Spezialitäten im
lokalen und regionalen Initiativen der Zivilgesellschaft anonymen Markt der Marken untergehen zu lassen,
und vieler ländlicher Gemeinden und Städte aufzu- haben Ursprungsbezeichnungen die Vielfalt an Wei-
bauen, die schon längst am Umbau der Gesellschaft nen, Käsesorten und anderen vor Beliebigkeit und
arbeiten. Sie brauchen Förderung, die streng an den Entwertung geschützt. Was wäre Frankreich ohne die
Nachhaltigkeitszielen, an territorialer sozialer Siche- Geschichte des Roqueforts und die Weinkultur. Auch
rung, Zusammenhalt zwischen Stadt und Land und die biologische Landwirtschaft, der agrarökologische
demokratischer Governance gebunden ist. Für die Umbau und zahlreiche Umwelt- und Tierschutzini-
Förderung ländlicher Regionen hieße das, sich von tiativen entwickeln sich erstaunlich schnell, und Pro-
Mindeststandards, Benachteiligungsfaktoren und gramme wie die Europäischen Innovationspartner-
Ausgleich für Einkommensverluste zu verabschieden schaften (EIP) und Horizon 2020 ermöglichen neue
und stattdessen Zielgrößen im Hinblick auf Klima, Formen der Zusammenarbeit zwischen Forschern
Biodiversität und Einkommen festzulegen, die zur und Praktikern.
Grundlage von Förderungen gemacht werden. Dazu Wir leben in einer zunehmend aktiven Zivilge-
gehören Beratung, Kooperation und Infrastruktur für sellschaft, die mit Methoden und Programmen wie
lokale und regionale Versorgungssysteme, die den Leader, CLLD, URBACT und INTERREG neue
ländlichen Regionen den Mehrwert zurückgeben, der Formen der Zusammenarbeit und Solidarität auspro-
jetzt in den großen Strukturen der aufnehmenden bieren kann. Zugang zu Land für Neueinsteiger (ac-
Hand verschwindet. cess to land), Solidarische Landwirtschaftsprojekte ¹³
(community supported agriculture), Agrarbündnisse
Europas gelungene Geschichte wie Meine Landwirtschaft und Pour une autre PAC
entwickeln gemeinsame europäische Strategien und
Europa kann auch anders. – Bei aller Kritik an seinen Aktionen wie die alljährlichen Demonstrationen zur
Schwächen dürfen wir nicht die vielen gelungenen Internationalen Grünen Woche und dezentrale Aktio-
Geschichten Europas verschweigen. Wir haben uns nen wie Good Food Good Farming.
ziemlich erfolgreich gegen Hormonfleisch und Gen- Es macht Mut zu sehen, dass sich viele dieser In-
technik in der Landwirtschaft gewehrt und eine ver- itiativen über nationale und Sprachgrenzen hinweg
Preise für Lebensmittel wieder in den Fokus rücken tigen, so sind doch die Bewegungen der transition towns
(Valencia). Das Meer aus Plastik für die Export-Gemüse- and villages, community supported agriculture zusammen
produktion in Huelva kommt zunehmend unter Druck der mit der common food policy-Initiative seit dem Brexit-
öffentlichen Kritik, auch wegen der menschenunwürdigen Referendum stark geworden und in der öffentlichen
Arbeits bedingungen für Migranten und Flüchtlinge. Debatte über die Beziehungen zum alten Kontinent und
In Frankreich hat die Debatte um den sehr hohen der Zukunft der Lebensmittel sehr präsent.⁸
Einsatz von Pestiziden und den Verlust der biologischen In Irland hat die Finanzkrise von 2008 der nationalen
Vielfalt zu einer Regierungskrise unter Präsident Macron Wirtschaft besonders zugesetzt. Die Landwirtschaft dage-
geführt, als Umweltminister Hulot zurücktrat, weil ihm gen kam mit dem blauen Auge davon. Ländliche Entwick-
die Hände bei der Umsetzung der gerade erklärten ökolo- lungsinitiativen wie LEADER wurden aber eingefroren. Ob
gischen Agrarwende gebunden blieben. Aber das Niveau den Iren die Hungerkrise von 1879 immer noch in den Kno-
der Debatte um die Zukunft der Landwirtschaft ist hoch, chen steckt? Alotments, die Selbstversorgungsgärten, sind
europäisch und ruht auf der Hochachtung der Franzosen heute hoch im Kurs und vielerorts die Keimzellen neuer
für ihre Bauern und ihre Liebe zu gutem Essen.⁶ Nachbarschaftshilfen und Lebensmittelkooperativen auf
In Portugal gibt es auf dem Land eine neue Generation dem Lande und in den Städten.⁹
von gut ausgebildeten jungen Leuten, die auf die Arbeit Auch in Belgien und den Niederlanden erscheinen
ihrer Eltern und Großeltern aufbauen und Einkommens- neue dynamische Bürgerinitiativen, Bauern und Verbrau-
möglichkeiten aus Bereichen wie gesunde mediterrane cher einander näherzubringen. Dort entsteht gerade die
Ernährung, neue Formen des angepassten Tourismus und Bewegung Boeren en Buren, Bauern und Nachbarn, die
nachhaltige Nutzung der lokalen Ressourcen setzen.⁷ Direktvermarktung und politische Debatte verknüpfen,
Auch die Erhaltung traditioneller Obst- und Gemüsesorten beispielsweise über die ungerechten Erzeugerpreise, die
steht in Portugal hoch im Kurs. Macht der Supermärkte und ungewöhnliche Maßnahmen,
Auch wenn die Medien in Großbritannien sich derzeit sich von Lebensmittelketten zu befreien.¹⁰
hauptsächlich mit dem Ausstieg aus der Union beschäf- In Österreich ist die hohe Wertschätzung und Finan- f
11Der kritische Agrarbericht 2019
verständigen und zusammenwachsen. Auch neue ge- tend verankert sind, ebenso wie eine Umverteilung
meinsame politische Projekte von Wissenschaftlern der Hektarprämien zugunsten kleinerer arbeitsinten-
und Zivilgesellschaft wie IPES Food, die eine neue in- siver Betriebe.
tegrierende Politik für Landwirtschaft, Lebensmittel- Wichtig wird auch sein, Haushalt und Maßnahmen
qualität und Umweltschutz fordern, sind politisch auf für die ländliche Entwicklung gegen Kürzungen zu
dem Vormarsch. Es lohnt sich, die Vielfalt an Initia- verteidigen, damit Infrastruktur und Partnerschaften
tiven und Bewegungen jenseits der COPA-Verbände entstehen können, die der Landwirtschaft und ande-
in den Blick zu nehmen, aus denen die notwendige ren Sektoren ermöglichen, einen größeren Teil der
kritische Substanz für eine europäische Agrarwende Wertschöpfung wieder in ländliche Regionen zurück-
entstehen könnte. zuholen.
Es geht um nicht weniger als einen europaweiten
Europa geht anders Konsens, dass wir politische Rahmenbedingungen
vom Ordnungsrecht über Förderkriterien bis hin zu
Es fällt derzeit schwer, sich bei den kommenden Eu- Umverteilung der Entwicklungschancen in Europa
ropawahlen ein Ende des grassierenden Populismus zur Bedingung für alle Mitgliedstaaten machen. Nicht
vorzustellen. Demokratie und notwendige Reformen nur in Deutschland sollte deshalb die Zeit der »Sel-
werden also zunächst einmal zu Hause zu verteidigen fiestrategien« einiger Nichtregierungsorganisationen
sein, um auch in Europa Schlimmeres zu verhindern. der Vergangenheit angehören. Der sozial-ökologische
Kontakt suchen über Grenzen hinweg. – Wir müs- Umbau ist mehr als Biolandprodukte ins Lidl-Regal zu
sen dabei die Entwicklungen in anderen Mitglied- stellen oder für die Zählung der Feldlerchenpopula-
staaten und Regionen kennen und nach Verbündeten tion bezahlt werden zu wollen.
suchen, um neue Spielräume europapolitisch nutzen An einer gemeinsamen europäischen Erfahrung ar-
zu können. Die Vorschläge der EU-Kommission beiten. – Freizügigkeit und Zusammenhalt werden in
könnten solche Spielräume bieten, wenn es uns ge- Europa nur Bestand haben, wenn sie für die Menschen
lingt, gemeinsame sozialökologische Kriterien für die im Alltag erfahrbar sind. Nur wenn die Debatte über
EU-Förderung durchzusetzen. Dazu gehören Maß- die Zukunft Europas – nicht nur vor den Wahlen zum
nahmen für den Klimaschutz, die in der Förderung Europaparlament – als wirklich europäische Angele-
von Fruchtfolgen und Bodenverbesserung verpflich- genheit aller geführt wird, kann auch ein Bewusstsein
zierung der ländlichen Entwicklung und die besondere In den Ländern des westlichen Balkans, die noch nicht
Förderung für kleinstrukturierte Projekte von der neuen der EU angehören, hat sich eine sogenannte Ständige
rechtspopulistischen Regierung bisher nicht infrage Arbeitsgruppe (SWG/SEE) zusammengefunden, der sie-
gestellt worden. In der Landwirtschaft ist die Möglich keit ben Balkanstaaten angehören und die für Ministerien,
der Zusatzfinanzierung für die ersten Hektare je Betrieb Verwaltung und NGOs Beratung zu landwirtschaftlichen
ebenfalls weiterhin gültig. Allerdings will die neue Regie- und ländlichen Entwicklungsfragen anbieten. SWG sieht
rung die finanziellen Verluste, die der Brexit für die Zweite sich auch als Friedens- und Demokratisierungsprojekt
Säule mit sich bringt, keinesfalls ausgleichen. in der Region und hat Programme wie LEADER sowie
In Polen und Ungarn haben sich viele Kleinbauern mit die Förderung von Kleinbauern und lokalen Projekten
nationalistischen Parolen einfangen lassen. Die Regierung gemeinsam mit dem Balkan Rural Development Network
wertet sie politisch auf und unterstützt lokale Initiativen. voran getrieben.¹²
Die informelle und politisch oppositionelle Zivilgesell- In Deutschland gibt es wie in allen anderen Ländern
schaft dagegen ist auch auf dem Lande unter hartem Re- Europas viele lokale Projekte und Initiativen, die sich ihre
gierungsbeschuss abgetaucht oder wird direkt politisch besondere Stellung gegenüber der agrarindustriellen
verfolgt. In Ungarn ist die Lage ähnlich, wobei im ländli- Produktion über spezielle Märkte oder Vermarktungsfor-
chen Raum Korruption zur Stärkung der Fidesz-Partei von men erarbeitet haben. Politisch sind die verschiedenen
Präsident Orban an der Tagesordnung ist. Plattformen und Bündnisse sichtbar, die zu den alljähr-
In Rumänien hat die regierende Partei der Sozialisten lichen »Wir haben es satt!«-Demonstrationen anlässlich
weiterhin Rückhalt auf dem Lande, während die städtische der Grünen Woche in Berlin zusammenkommen. Einigend
Zivilgesellschaft die grassierende Korruption dieser Über- wirkt hier die Ablehnung der Massentierhaltung und der
reste des alten Regimes heftig anprangert und sich poli- industriellen Agrarwirtschaft, während es noch erhebliche
tisch neu organisiert. Auf dem Lande haben Kleinbauern strategische Unterschiede hinsichtlich der Alternativen
und Umweltorganisationen wie Eco Ruralis und Civitas und der Kooperation zu geben scheint.
einen festen Platz in diesen Bewegungen.¹¹
12Einleitung
entstehen, dass wir an vielen Enden gleichzeitig arbei- Probleme vor Ort und mögliche Lösungen aus Euro-
ten müssen. Dazu gehören vor allem neue Begegnun- pa abbilden. Es wird Brüche geben, vielleicht auch ge-
gen. Studenten werden von der EU mit dem ERAS- fährliche Verwerfungen. Aber wie Leonard Cohen so
MUS-Programm nach Europa verschickt. Wie wäre schön sagt: »There is a crack in everything, that’s how
es, dies auch für Berufsschulen und Auszubildende the light gets in.«
anzubieten oder mit einem Programm wie »FARM- Es wird nicht reichen, Europa in all seinen Schwä-
ERASMUS« Erfahrungsaustausch zwischen Europas chen und Unzulänglichkeiten immer neu zu betrau-
Bäuerinnen und Bauern zu ermöglichen? Auch ein ge- ern, oder auf die cracks zu warten, die Licht ins Dun-
meinsames Ökologisches Jahr zur Förderung europäi- kel der Abgründe bringen könnten. Aber es wird sich
scher Freiwilligendienste ist im Gespräch. In Deutsch- lohnen, nach den Menschen und Projekten zu suchen,
land halten die zuständigen Stellen dies für aufwendig die in Europa eine neue demokratische Dynamik für
und administrativ schwierig. Es wird sich lohnen, diese mehr Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit auf
Art der gemeinsamen Arbeit an Europa zu fordern. den Weg bringen. Der Kritische Agrarbericht ist seit
Europäische Nachbarschaftshilfe leisten. – Nachbar- nunmehr über 25 Jahren ein wichtiges Projekt für
schaftshilfe muss ganz besonders für die Länder an- die deutschen Bündnisse der Zivilgesellschaft und
geboten werden, die größere Nähe und Kooperation in Europa in dieser Form einzigartig. Warum sollten
mit Europa wünschen. Das gilt für die Ukraine, den wir uns nicht in ähnlicher Form auf eine Reise durch
Westlichen Balkan und die Anrainer des Schwarz- die Länder Europas machen, um neue Kontakte und
und Mittelmeers. Auch wenn die EU bei den eigenen Bündnisse zu schaffen, mit der die kritische Substanz
Bürgern kein großes Ansehen genießt, so sind unsere für wirkliche Veränderungen und Reformen der Ge-
Errungenschaften für unsere Nachbarn vorbildlich meinsamen Agrarpolitik zusammenkommen.
und erstrebenswert. Ländliche Parlamente und Lea-
der-Projekte mobilisieren die ländliche Zivilgesell-
schaft und fordern die oft unbeweglichen zentralen Anmerkungen
Verwaltungsstrukturen heraus. Wenn die EU unseren H. M. Enzensberger: Ach Europa! – Wahrnehmungen aus sieben
Ländern. Frankfurt am Main 1987. –G. Mak: In Europa. Eine Rei-
Nachbarn weiter die kalte Schulter zeigt und die Stär-
se durch das 20. Jahrhundert. München 2005. – C. Nooteboom:
kung ihrer Wirtschaft und Demokratien nicht als ihr Wie wird man Europäer? Frankfurt am Main 1993.– R. Menasse:
eigenes Interesse betrachtet, wird es an unseren Gren- Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede
zen noch viel ungemütlicher als bisher. Europas. Wien 2012. – R. Menasse: Die Hauptstadt. Frankfurt
Europäische Bildung gehört ganz nach vorn. – Bil- am Main 2017.
B. Simms und B. Zeeb: Europa am Abgrund. Plädoyer für die Ver-
dung und Ausbildung, die junge Menschen auf die einigten Staaten von Europa. München 2016.
großen Herausforderungen – nicht nur in der Land- D. Cohn-Bendit und G. Verhofstadt: Für Europa! Ein Manifest.
wirtschaft – vorbereitet, muss europäisch, wenn nicht München 2012.
global neu aufgestellt werden. Neben einer radikalen Europäisches Ländliches Manifest (www.europeanruralparlia-
ment.com/index.php/component/phocadownload/category/
Veränderung in der landwirtschaftlichen Beratung
1-erp2015?download=43:german-version-of-the-manifesto). –
muss die Bildung in den Schulen viel mehr die kon- The Venthorst Declaration (www.erp2017.eu/wp-content/
kreten Probleme angehen, die mit Klimawandel und uploads/2017/06/The-Venhorst-Declaration-FINAL.pdf).
den sozialen und ökologischen Veränderungen ein- Karditsa’s social economy – An ecosystem of collaboration
hergehen. In vielen Mitgliedstaaten sind die Entwick- (www.arc2020.eu/karditsa-field-trips/).
www.pouruneautrepac.eu.
lung und Betreuung von Schulgärten und Schulwäl- www.in-loco.org.
dern in die Curricula aufgenommen worden. Projekte www.sussex.ac.uk/spru/newsandevents/2017/publications/
wie »2000 m2« in Berlin oder Mitwirkung der Schulen food-brexit.
bei der Versorgung von öffentlichen Kantinen aus den www.allotments.ie.
www.boerenenburen.be.
»grünen Gürteln« der Städte können die Jugendlichen
www.ecoruralis.ro und www.civitas.ro.
in die konkreten Lösungsmöglichkeiten mit einbin- www.seerural.org.
den. Auch hier können Kooperationsprogramme die www.ifoam.bio/en/community-supported-agriculture-csa.
noch bestehenden sprachlichen und kulturellen Gren-
zen überwinden helfen.
Hannes Lorenzen
Für wirkliche Veränderungen in Europa zusam- Agrarsoziologe und Berater im Ausschuss für
menkommen. – Kann man Europa reloaden? Oder Landwirtschaft und ländliche Entwicklung im
können wir es neu erfinden? Es dürfte den nationalen EU-Parlament. Mitgründer zahlreicher euro-
politischen Klassen derzeit schwerfallen, sich in Zei- päischer Netzwerke und zivilgesellschaftlicher
Organisationen.
ten von Brexit & Co. für neue europäische Ziele und European Parliament, PHS 02C73
Verträge zu erwärmen. Denn sie erfahren Europa vor Rue Wiertzstraat, B-1047 Brussels
Ort so wenig wie die nationalen Medien die wirklichen hansmartin.lorenzen@europarl.europa.eu
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