EVANGELISIERUNG Reader zum diözesanen Verständnis - Andrea Keinath & Christopher Dietrich, Labor E - Erzbistum-Paderborn
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
EVANGELISIERUNG Reader zum diözesanen Verständnis Andrea Keinath & Christopher Dietrich, Labor E Stand Oktober 2019
2 Seite VORWORT • Wozu ein Reader? 03 GRUNDL AGEN • Begriffe 04 • Evangelisierung im Zukunftsbild 04 • Zwei Pole der Evangelisierung 05 • Was bedeutet Evangelisierung? 07 • Wie geschieht Evangelisierung in Wort und Tat? 08 • Dimensionen der Evangelisierung 10 • Diakonisch-Missionarische Spiritualität 12 • Was ist das Evangelium? 13 • Dynamik der Evangelisierung 16 • Kurzdefinition 19 KONTEXTE • Glaubensverlust 20 • Marktsituation 20 • Freie Wahl und Zustimmung 20 • Abwendung von Religion 21 • Religiöse Indifferenz 21 • Apatheismus 22 • Evangelisierung angesichts religiöser Indifferenz 22 • Spiritueller Klimawandel 23 • Katholische Identität 24 • Kirchenkrise in Deutschland 24 • Synodaler Weg 25 NEUAUSRICHTUNG • Neuausrichtung laut Zukunftsbild 26 • Missionarische Entscheidung 27 • Evangelisierung als Leitkriterium 28 • Eine Charta der Grundhaltungen 29
3 Wozu ein Reader? Das Zukunftsbild für das Erzbistum Paderborn, das werden auf der Homepage des Erzbistums Pader- im Oktober 2014 in Kraft gesetzt wurde, gibt unter born unter www.wir-erzbistum-paderborn.de/ anderem den Auftrag, eine diözesane Konzeption themen/evangelisierung präsentiert (im Aufbau). für Evangelisierung zu entwickeln. Auf der Basis des Readers und der „best practice“- Seit 2015 hat sich zunächst das Teilprojekt Evangeli- Beispiele soll die diözesane Verständigung über sierung und seit 2018 das „Labor E“ gründlich damit Evangelisierung systematischer und mit breiterer beschäftigt, was unter Evangelisierung zu verste- Beteiligung fortgeführt werden, um zu einem ver- hen ist und wie die Pastoral im Erzbistum Paderborn bindlichen Abschluss zu kommen. Am 13./14. No- stärker auf Evangelisierung ausgerichtet werden vember 2020 wird das zweite Diözesane Forum kann. nach der Veröffentlichung des Zukunftsbildes statt- Grundlage ist ein gemeinsames Verständnis von finden. Auf dem Weg zu diesem Forum wird es im Evangelisierung. Damit dies entstehen kann, Laufe des Jahres bereits viele Veranstaltungen und braucht es Zeit und einen breit angelegten Dialog. Begegnungen geben, bei denen Themen des Forums Im Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern behandelt oder vorbereitet werden. Die Bereitstel- der Jugendarbeit, der Verbandsarbeit und der lung des Readers online und als Arbeitsheft hat zum Caritas und in der Begegnung mit Haupt- und Ziel, die Verständigung über Evangelisierung so weit Ehrenamtlichen bei zahlreichen Veranstaltungen voranzubringen, dass zum Diözesanen Forum ein auf Gemeinde-, Dekanats- und Bistumsebene verbindlicher Stand als Ergänzung zum Zukunftsbild wurde dieser Dialog in den letzten Jahren geführt. veröffentlicht werden kann. Dabei kamen Hoffnungen und Befürchtungen, Der nun vorliegende Teil 1 des Readers umfasst motivierende und frustrierende Erfahrungen, der Grundlagen und Kontexte der Evangelisierung und Wunsch nach einem missionarischen Aufbruch und Impulse zur Neuausrichtung der Pastoral. Widerstände gegen grundlegende Neuerungen zur Teil 2 beinhaltet Ziele und Strategien der Evangeli- Sprache. All das ist in die Entwicklung der Thesen sierung und wird im März 2020 erscheinen. Bis zum und Schaubilder eingeflossen, die beim Studientag Diözesanen Forum wird es weitere Dialogveran- Evangelisierung im Juni 2017 und beim Forum Evan- staltungen geben. Auf Anfrage kommt das Labor E gelisierung im Juni 2018 präsentiert und diskutiert gerne in die Kooperationsräume und Dekanate wurden. Die mehrmalige Beratung des Themas im sowie zu Verbänden und Gremien. Diözesanpastoralrat und im Geistlichen Rat brachte Wenn es gelingt, auf der Basis des Readers ein die Konzeptentwicklung auf diözesaner Ebene vor- praxistaugliches Evangelisierungsverständnis zu an. entwickeln, das von einem möglichst großen Kon- Der Reader präsentiert nun in komprimierter Form sens getragen ist, kann Evangelisierung in der die Ergebnisse dieses Dialogs: Er beinhaltet zentrale Pastoral des Erzbistums Paderborn im Sinne eines Themen in Form von Thesen, Schaubildern und Er- Leitkriteriums wirksamer werden. läuterungen, um mit einer brauchbaren Theorie die Praxis zu inspirieren. Praxisbeispiele für Evangelisie- Andrea Keinath & Christopher Dietrich, Labor E rung, die das theoretische Verständnis illustrieren, Sie sind herzlich eingeladen, mit dem Reader und den vorgelegten Thesen zu arbeiten, persönlich und in Ihrem beruflichen Kontext. Kritik, Kommentare und Ergänzungen sind willkommen!
4 Begriffe Im Zukunftsbild ist an verschiedenen Stellen so- bei jüngeren Menschen keine negativen Assoziatio- wohl von „Evangelisierung“ als auch von „missio- nen aus. „Mission“ ist im gegenwärtigen säkularen narisch Kirche sein“ die Rede. Außerdem werden so Kontext oft neutral bis positiv besetzt: Moderne zwei unterschiedliche pastorale Handlungsfelder Unternehmen arbeiten mit einem „Mission State- bezeichnet, die einen eigenen Fokus haben: „Mis- ment“ zur Verdeutlichung ihrer Unternehmensziele, sionarisch Kirche sein – Pastorale Orte und Gele- in Videospielen geht es oft darum, eine Mission zu genheiten“ lenkt den Blick auf die Chancen, die in erfüllen und in Filmen wie „Mission impossible“ ist den (neuen) pastoralen Orten und Gelegenheiten in der, der seine Mission kennt und sie gegen alle Wi- Ergänzung zur Gemeindepastoral liegen. Im Hand- derstände ausführt, der Held der Geschichte. lungsfeld „Evangelisierung – lernen aus der Taufbe- Der neuere Begriff „Evangelisation“ oder „(Neu-) rufung zu leben“ werden grundlegende Fragen zur Evangelisierung“ wird heute vor allem im Hinblick missionarischen Ausrichtung der gesamten Pastoral auf die Neuevangelisierung der christlich gepräg- angesprochen und mit dem Stichwort der Taufbe- ten Länder des Westens verwendet. Während „Mis- rufung mehr die einzelnen Gläubigen in den Blick sion“ sprachlich das „Gesandtsein“ und das Handeln genommen. Allerdings werden im gesamten Text nach außen in den Vordergrund stellt, ist der Begriff des Zukunftsbildes die Begriffe „Evangelisierung/ „Evangelisierung“ von „Evangelium“ abgeleitet. Da- evangelisierend“ und „missionarisch sein“ nicht in mit steht bei der Evangelisierung ein Programm im programmatischer Unterscheidung, sondern gleich- Mittelpunkt, das sowohl die Erneuerung von innen bedeutend und pragmatisch verwendet. Als Begriff her („Selbstevangelisierung“) als auch die Aktivitä- kommt „Mission“ nicht vor. ten nach außen hin („Das Evangelium ins Spiel brin- Kirchengeschichtlich betrachtet, ist „Mission“ der gen“) umfasst. In diesem Sinne wird im Kontext des ältere und belastetere Begriff. Denn ohne Zweifel Zukunftsbildes „Evangelisierung“ gegenüber „Mis- kennt die Missionsgeschichte sowohl Licht- als auch sion“ bevorzugt. Doch ist auch weiterhin darauf zu Schattenseiten. Es gibt viele Beispiele einer gewalt- achten, dass die Fehler und Fehlhaltungen der Mis- samen Missionierung ohne Respekt vor der Freiheit sionsgeschichte nicht unter neuem Etikett wieder- des Einzelnen. Allerdings löst der Begriff vor allem holt werden. Evangelisierung im Zukunftsbild Das Zukunftsbild (ZB) fragt danach, „wie Menschen Christen bleiben können (ZB 42)“, und zielt auf eine heute zu Christen werden, als Christen leben und evangelisierende Ausrichtung der Pastoral. Es geht darum, „das Taufbewusstsein als Zu- unseren Breiten wird nur dann gelingen, wenn sage eines Lebens aus der Kraft des Heiligen er in den Herzen und im Alltagsleben der Chris- Geistes zu entdecken, neue Zugänge zum ten lebendig bleibt und neu wird. Verständnis der Taufwürde zu finden, in der Alle sollen die reale Möglichkeit haben, Gott Freundschaft und Vertrautheit mit Jesus Chris- erstmalig kennenzulernen oder ihren bereits tus zu wachsen und die lebenspraktische Be- grundgelegten Gottglauben vertiefen und er- deutung der Entscheidung für ein Leben mit neuern zu können. Jesus Christus einzuüben. Auch die Förderung Die Verkündigung an jene, die Christus noch des Gebetslebens und der Gottesdienstkultur nicht kennen oder die sich selbst in einiger werden zu bedeutsamen Akzenten pastoralen Distanz zu ihm verstehen, ist ‚die erste Aufga- Handelns. Neu ausrichten wird sich in dieser be der Kirche‘ und derzeit wohl auch ‚die größte Hinsicht auch die Sakramentenpastoral, die Herausforderung für die Kirche‘ (Evangelii Gau- dabei helfen soll, als Christ und Christin zu le- dium 15). Bislang sind zu wenige Christinnen ben und aus der Nähe des Herrn Stärkung zu und Christen in der Lage, Auskunft über ihren erfahren.“ (ZB 42) Glauben und ihre christliche Hoffnung zu geben. Das ‚Weiterleben‘ des christlichen Glaubens in (ZB 87f.)
5 Zwei Pole der Evangelisierung Evangelisierung hat laut Zukunftsbild also die Auf- Glauben wächst. Die Bedeutung einer Entscheidung gabe, Anfänger im Glauben zu begleiten, distan- für ein Leben mit Jesus Christus soll in einer christ- zierte Gläubige die Freude am Glauben wieder ent- lichen Lebenspraxis eingeübt und konkretisiert wer- decken zu lassen und Menschen, die Gott noch gar den und die Sakramente sollen als Stärkung erfah- nicht kennen, eine Möglichkeit zu geben, ihn ken- ren werden können. nenzulernen. Das folgende Schaubild setzt diese Aussagen mitei- Das Zukunftsbild benennt aber auch Anliegen der nander in Beziehung und stellt Aufgaben der Evan- sogenannten Selbstevangelisierung, z.B. dass der gelisierung und der Selbstevangelisierung einander bereits grundgelegte Glaube vertieft und erneuert gegenüber. wird und die Auskunftsfähigkeit über den eigenen EVANGELISIERUNG Anfänger im Glauben Distanzierte sollen die Alle sollen die reale Mög- sollen beim Christwerden Freude am Glauben wieder lichkeit haben, Gott erst- begleitet werden. entdecken können. malig kennenzulernen. Auskunft über den eigenen Die lebenspraktische Be- Die Sakramente als Nähe Glauben geben können. deutung der Entscheidung des Herrn und Stärkung im Den bereits grundgelegten für ein Leben mit Jesus Glauben erfahren. Gottglauben vertiefen und Christus einüben. erneuern. SELBSTEVANGELISIERUNG Die Aufgaben der Evangelisierung und der Selbst- den Austausch bereichert wird. Wenn Distanzierte evangelisierung hängen innerlich zusammen: Wer die Freude am Glauben wieder entdecken sollen, Anfänger im Glauben beim Christwerden begleiten braucht es Christinnen und Christen, die Freude an will, wird herausgefordert, Auskunft über den eige- ihrem Glauben haben und das auch ausstrahlen. nen Glauben zu geben. Viele Christinnen und Chris- Diese Ausrichtung der Evangelisierung nach „innen ten haben z.B. in den vergangenen Jahren Geflüch- und außen“ steht zusätzlich in der Spannung zwi- tete auf dem Weg zur Taufe begleitet und dabei schen zwei Polen. erfahren, wie der eigene Glaube gestärkt und durch
6 EVANGELISIERUNG Anfänger im Glauben Distanzierte sollen die Alle sollen die reale Mög- sollen beim Christwerden Freude am Glauben wieder lichkeit haben, Gott erst- begleitet werden. entdecken können. malig kennenzulernen. In der Freundschaft In der Freundschaft wachsen mit denen, die und Vertrautheit mit Gott nicht kennen, und Jesus Christus wachsen. mit ihrer Perspektive ver- traut werden. Auskunft über den eigenen Die lebenspraktische Be- Die Sakramente als Nähe Glauben geben können. deutung der Entscheidung des Herrn und Stärkung im Den bereits grundgelegten für ein Leben mit Jesus Glauben erfahren. Gottglauben vertiefen und Christus einüben. erneuern. SELBSTEVANGELISIERUNG Der erste Pol zielt auf die Vertiefung und Erneue- es eine enorme Herausforderung, zu einer Minder- rung des Glaubens als Basis der Evangelisierung und heit zu werden. Und noch größer ist die Herausfor- lautet: „In der Freundschaft und Vertrautheit mit Je- derung, zugleich Verständnis und Interesse aufzu- sus Christus wachsen“. Diese Formulierung aus dem bringen für die wachsende Gruppe derer, die nicht Zukunftsbild ist eher ungewöhnlich und durchaus an Gott glauben, einer anderen Religion angehören herausfordernd. Sie zeigt aber zurecht an, dass eine oder zu Glaube und Kirche auf Distanz gehen. Mit Erneuerung des Glaubens nur über eine lebendige solchen Menschen Freundschaften zu pflegen und persönliche Gottesbeziehung gelingen kann. Christ- aus deren Perspektive das Leben, die Kirche und den sein wurzelt darin, in der Freundschaft mit Jesus christlichen Glauben betrachten zu lernen, ist ein Christus durchs Leben zu gehen. Mit der Zeit kann wesentliches Übungsfeld für Evangelisierung. so die Vertrautheit mit der Person Jesu wachsen und Sich in der persönlichen Christusbeziehung zu ver- christliches Engagement kann daraus immer wieder ankern und zugleich den freundschaftlichen Kon- neue Kraft gewinnen. takt mit nichtglaubenden und distanzierten Men- Der zweite Pol ist dem ersten Pol nachempfunden schen zu suchen – in beide Richtungen gilt es Zeit und zielt auf die verstärkte Hinwendung zu den und Energie zu investieren. Denn beides ist in der Distanzierten und Nichtglaubenden: „In der Freund- gegenwärtigen Pastoral nicht unbedingt selbstver- schaft wachsen mit denen, die Gott nicht kennen, ständlich. Die Orientierung an diesen beiden Polen und mit ihrer Perspektive vertraut werden.“ Für kann sowohl im Bereich der Evangelisierung als auch Christinnen und Christen, die es bisher gewohnt wa- im Bereich der Selbstevangelisierung für Tiefgang ren, zur gesellschaftlichen Mehrheit zu gehören, ist sorgen.
7 Was bedeutet Evangelisierung? Das Apostolische Schreiben „Evangelii Nuntiandi“ prägendsten kirchlichen Dokumente zur Evangeli- (Die Verkündigung des Evangeliums) von Papst Paul sierung und ist mit seinen Aussagen zu Zielen und VI. aus dem Jahr 1975 ist zweifelsohne eines der Inhalten der Evangelisierung nach wie vor aktuell. Das Evangelium verkünden und es überzeu- Es gibt aber keine neue Menschheit, wenn es gend, im Geiste der Freiheit und wirksam in das nicht zuerst neue Menschen gibt durch die Er- Herz des Menschen einsenken. … Das ist mehr neuerung aus der Taufe und ein Leben nach als Predigt, als Katechese, als Spendung der dem Evangelium. (EN 18) Taufe und anderer Sakramente. (EN 4/17) Die Verkündigung erhält in der Tat ihre volle Di- Evangelisieren besagt für die Kirche, die Froh- mension nur, wenn sie gehört, aufgenommen botschaft in alle Bereiche der Menschheit zu und angeeignet wird und die Zustimmung des tragen und sie durch deren Einfluss von innen Herzens bewirkt: her umzuwandeln und die Menschheit selbst Zustimmung zu geoffenbarten Wahrheiten zu erneuern. … und Zustimmung zum Lebensprogramm eines nunmehr verwandelten Lebens. (EN 23) In seinem Schreiben fordert Paul VI. eine überzeu- Die „volle Dimension der Verkündigung“ umfasst gende und zugleich die Freiheit achtende Verkündi- nach Evangelii Nuntiandi die Schritte des Hörens, gung des Evangeliums. Er bringt die Dimension der Aufnehmens und Sich Aneignens und sie bewirkt Wirksamkeit „im Herzen des Menschen“ ins Spiel, die „Zustimmung des Herzens“. Diese Zustimmung wobei die Formulierung „in das Herz des Menschen bezieht sich sowohl auf die „geoffenbarten Wahr- einsenken“ heutzutage als zu direktiv und geradezu heiten“ als auch auf das „Lebensprogramm eines freiheitsverletzend empfunden werden kann. verwandelten Lebens“. Im großen Kontext der „Um- Die klassischen Wege der Verkündigung stellt er in wandlung der Menschheit“ soll ausgehend vom ein- den weiteren Horizont und in den Dienst der Um- zelnen Menschen die verwandelnde Kraft des Evan- wandlung der gesamten Menschheit von innen geliums erkennbar werden. her. Die Erneuerung des Einzelnen durch die Taufe Eine Evangelisierung, die nach Paul VI. mehr ist als und ein Leben nach dem Evangelium sieht er als Ur- Predigt, Katechese und Sakramentenspendung, ist sprung dieser gesamten Umwandlung. also auf die Erneuerung und das Wohl der ganzen Menschheit ausgerichtet und achtet auf die Wirk- samkeit des Evangeliums im Herzen und Leben der Getauften.
8 Wie geschieht Evangelisierung in Wort und Tat? Doch ist dieses Zeugnis niemals ausrei- chend … (und) erweist sich auf die Dau- er als unwirksam, wenn es nicht erklärt, „Die Verkündigung muss vor allem durch ein begründet … und durch eine klare und Zeugnis erfolgen“: durch gelebte Solidarität, eindeutige Verkündigung des Herrn Je- durch den Glauben an Werte, durch die Hoff- sus Christus entfaltet wird. Die Frohbot- nung auf etwas, das man nicht sieht. „In der schaft, die durch das Zeugnis des Lebens Tat, ein solches Zeugnis ist bereits stille, aber verkündet wird, wird also früher oder spä- sehr kraftvolle und wirksame Verkündigung ter durch das Wort des Lebens verkündet der Frohbotschaft. Es handelt sich hier um eine werden müssen. Es gibt keine wirkliche Anfangsstufe der Evangelisierung. (EN 21) Evangelisierung, wenn nicht der Name, die Lehre, das Leben, die Verheißungen, das Reich, das Geheimnis von Jesus von Nazareth, des Sohnes Gottes, verkündet werden. (EN 22) „früher Zeugnis des Lebens ohne Worte oder Zeugnis des Wortes später“ ? Das Verhältnis von Wort und Tat bzw. vom „Zeug- diges persönliches und institutionelles Zeugnis und nis des Wortes“ und „Zeugnis des Lebens“ ist der wirkt der Gefahr einer übergriffigen Missionierung häufigste Anlass für Auseinandersetzungen und Ab- entgegen. Allerdings überschätzen Christen oft grenzungen, wenn es in einer kirchlichen Einrichtung die Strahlkraft ihres persönlichen Lebenszeugnis- oder in einem pastoralen Handlungsfeld um den ses, während Mitmenschen meist deutlich dessen Auftrag zur Evangelisierung geht. Evangelii Nunti- Schwächen und Widersprüche wahrnehmen. Auch andi fordert, dass die ausdrückliche Verkündigung die institutionelle Diakonie wie die größtenteils re- des Evangeliums „früher oder später“ zum „Zeugnis finanzierte und damit unter dem Zwang der Wirt- des Lebens“ dazukommen muss. Diese Forderung ist schaftlichkeit stehende Caritas wird häufig - auch bezogen auf die Gesamtheit der kirchlichen Verkün- von den eigenen Mitarbeitenden - nicht ausdrück- digung zwar richtig, legt aber einen zeitlichen Zu- lich im Zusammenhang mit dem Evangelium wahr- sammenhang zwischen dem Lebenszeugnis und der genommen, so dass die Frage nach der erkennbaren Wortverkündigung in jeder Situation nahe. Der Ge- missionarischen Dimension der Diakonie berechtigt danke einer zeitlichen Abfolge taugt aber nicht für erscheint. die unterschiedlichen Situationen, in denen sich das „So leben und handeln, dass man nach dem Glau- konkrete kirchliche Handeln nun einmal vollzieht – ben gefragt wird“ ist eine Haltung, die in den letzten sei es auf individueller oder institutioneller Ebene. Es Jahrzehnten stark betont wurde und in der Praxis besteht die Gefahr, dass das persönliche christliche vertraut und eingeübt ist. Die ausdrückliche Verkün- Lebenszeugnis und das institutionelle diakonische digung jenseits der klassischen Formen in Predigt Handeln abgewertet bzw. als unvollständig dekla- und (Sakramenten-)Katechese ist dagegen weniger riert werden, obwohl beides – wie auch Evangelii vertraut. In vielen Gemeinden lässt sich zudem be- Nuntiandi betont – schon eine stille, wirksame und obachten, dass das „Zeugnis des Lebens“ eher den unverzichtbare Verkündigung der Frohbotschaft ist. Ehrenamtlichen und das „Zeugnis des Wortes“ eher Faktisch werden diese beiden Wege der Evangeli- den Hauptamtlichen zugeschrieben bzw. an sie de- sierung in der Praxis meist so ins Verhältnis gesetzt: legiert wird. Das kann kein zukunftsfähiges Modell „So leben und handeln, dass man nach dem Glauben sein, wenn das Zukunftsbild und viele Gläubige gefragt wird.“ Diese Haltung setzt auf ein glaubwür- selbst eine größere Sprachfähigkeit im Glauben an-
9 streben. Diese sollte in Zukunft stärker eingeübt und Vollzüge Platz finden kann. praktiziert werden, indem Gelegenheiten gesucht Beide Wege der Evangelisierung sollten nicht gegen- und geschaffen werden, um in eigenen Worten einander ausgespielt, sondern als gleichwertig be- Zeugnis vom Glauben zu geben. Auch in kirchlichen trachtet werden, auch wenn sie nicht in der Logik Einrichtungen darf die Frage gestellt werden, unter einer zeitlichen Abfolge stehen und auch nicht im- welchen Bedingungen das ausdrückliche Glaubens- mer gleichzeitig realisiert werden können. zeugnis jenseits liturgischer bzw. katechetischer Evangelisierung – diakonisch und missionarisch Wie einleitend schon erwähnt, werden im Zukunftsbild wie in anderen kirchlichen Dokumenten die Be- griffe Mission bzw. missionarisch und Evangelisierung bzw. evangelisierend gleichbedeutend und ohne weitere Wertung verwendet. Das Zukunftsbild spricht z.B. von „missionarisch Kirche sein“ und zugleich von der „evangelisierenden Ausrichtung der Pastoral“. Allerdings sind in diesem Kontext bestimmte Wortkombinationen geläufiger als andere, in der Regel ist z.B. nur von „missionarischer Pastoral“ und von „missionarischer Spiritualität“ die Rede. Im Laufe des diözesanen Dialogprozesses hat sich gezeigt, dass innerkirchlich eine programmatische Unterscheidung hilfreich sein kann. Wie schon gesagt, ist Evangelisierung der neuere und weniger be- lastete Begriff. Er kann als Oberbegriff für ein ganzheitliches Verständnis von Evangelisierung stehen, das die diakonische und missionarische Dimension gleichermaßen umfasst. Der Ausdruck „missiona- risch“ steht in diesem Verständnis dann ausschließlich für das ausdrückliche Glaubenszeugnis. „Evangelisierung“ bzw. „evangelisierend“ steht also immer für beide Dimensionen, die diakonische und die missionarische. In diesem Sinne werden im Reader die Begriffe „diakonisch-missionarische Spiritu- alität“ bzw. „diakonisch-missionarische Pastoral“ eingeführt und verwendet, um auch im Bereich der Spiritualität und der pastoralen Planung anzuzeigen, dass eine ganzheitliche Evangelisierung immer beide Dimensionen umfasst.
10 Dimensionen der Evangelisierung Wie können Wort und Tat im Bezeugen des Evan- kann? Das folgende Schaubild versucht eine prakti- geliums in ein angemessenes und fruchtbares Ver- kable Verhältnisbestimmung und bezieht dabei die hältnis gebracht werden? Wie sieht eine „Hand- spirituelle Dimension allen pastoralen Handelns ein. lungstheorie“ aus, die dem diakonischen und missionarischen Handeln zugrunde gelegt werden Setting Setting „Zeugnis ohne Worte“ „Zeugnis des Wortes“ Dienst am Leben Dienst am Glauben Um die Fronten zwischen einer ausschließlich dia- die in der Regel einem diakonischen oder missionari- konischen und einer ausschließlich missionarischen schen Setting zuzuordnen ist. Einrichtungen der Ju- Ausrichtung aufzubrechen, ist zunächst eine Unter- gendsozialarbeit z.B. haben ein diakonisches Setting scheidung zwischen verschiedenen „Settings“ (ge- („Dienst am Leben“), Gottesdienste und Katechese strichelter Innenkreis) hilfreich: konkretes Handeln gehören zur ausdrücklichen Verkündigung („Dienst findet immer in einer bestimmten Situation statt, am Glauben“). he Dime narische Dime onisc ns io ns k i ss ia on D io i M n Setting Setting „Zeugnis ohne Worte“ „Zeugnis des Wortes“ Dienst am Leben Dienst am Glauben Die Sehnsucht nach dem Evangelium Sich von der Not anderer erkennen und davon berühren lassen sprechen und handeln Eine ganzheitliche Evangelisierung umfasst aber chen wird oder werden darf. In Liturgie und Kateche- immer beide Dimensionen, die diakonische und die se stehen Glaube und Kirche im Vordergrund, aber missionarische, so dass die jeweiligen Settings of- ebenso wenig darf hier der Blick für die Nöte von fen bleiben sollten für die jeweils andere Dimension Menschen außen vor bleiben. Jedes Setting legt zu- (blaue Kreisfläche). Das diakonische Setting sollte nächst einen Schwerpunkt nahe, bleibt aber durch- also nicht zur Folge haben, dass in solchen Einrich- lässig für die jeweils andere Dimension. tungen nicht über Gott und den Glauben gespro-
11 Wirken des Geistes narische Dime onisc he Dime ns io ns k i ss ia on io D i M „Wann ist was n in welcher Setting Form dran?“ Setting „Zeugnis ohne Worte“ Die Liebe weiß, „Zeugnis des Wortes“ Dienst am Leben wann sie reden und Dienst am Glauben wann sie schweigen soll. nach Benedikt XVI. in Die Sehnsucht nach dem Evangelium Sich von der Not anderer erkennen und davon Deus caritas est berühren lassen sprechen und handeln Diakonisch-Missionarische Spiritualität Wann und in welcher Form die jeweils andere Di- Pfeile an: durch das „Wirken des Heiligen Geistes“ mension zum Tragen kommt, ist eine Frage geist- und durch die Pflege einer „Diakonisch-Missionari- licher Unterscheidung. Dabei kommen sowohl die schen Spiritualität“. Denn nach Evangelii Nuntiandi Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse von Menschen ist der Geist Gottes der eigentlich Handelnde (vgl. EN als auch die Leidenschaft für das Evangelium zum 75), der in allen Situationen wirken kann und diese Tragen. „Die Liebe weiß, wann sie reden und wann öffnet für das Zeugnis des Glaubens mit oder ohne sie schweigen soll.“ Dieses Unterscheidungskrite- Worte. Christinnen und Christen, die aus einer dia- rium ist angelehnt an eine von Benedikt XVI. in der konischen und missionarischen Spiritualität heraus Enzyklika „Deus caritas est“ formulierte Aussage: leben, werden die Offenheit für dieses Wirken des „Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu re- Heiligen Geistes immer mehr einüben, um besser den, und wann es recht ist, von ihm zu schweigen erkennen zu können, wann etwas in welcher Form und nur einfach die Liebe reden zu lassen.“ (DC 31) dran ist. Wodurch eine solche diakonisch-missionari- Die Verhältnisbestimmung von Wort und Tat muss sche Spiritualität gekennzeichnet ist, beschreibt das also vom Unterscheidungskriterium der Liebe her folgende Zitat. Es stammt aus der Enzyklika „Evan- immer wieder neu vorgenommen werden und hat gelii Gaudium“ (EG), die 2013 von Papst Franziskus damit nichts Statisches. Wodurch diese geistliche als Aufruf zu einer neuen Evangelisierung veröffent- Unterscheidung genährt wird, zeigen die beiden licht wurde.
12 Diakonisch-Missionarische Spiritualität Evangelisierende mit Geist sind Verkünder des Die Kirche braucht dringend die Lunge des Evangeliums, die beten und arbeiten. Vom Gebets, und ich freue mich sehr, dass in allen Gesichtspunkt der Evangelisierung aus nüt- kirchlichen Einrichtungen die Gebetsgruppen, zen weder mystische Angebote ohne ein star- die Gruppen des Fürbittgebets und der beten- kes soziales und missionarisches Engagement den Schriftlesung sowie die ewige eucharisti- noch soziales oder pastorales Reden und Han- sche Anbetung mehr werden. deln ohne eine Spiritualität, die das Herz ver- Zugleich ‚gilt [es], die Versuchung einer inti- wandelt. Diese aufspaltenden Teilangebote mistischen und individualistischen Spiritualität erreichen nur kleine Gruppen und haben keine zurückzuweisen, die sich nicht nur mit den For- weitreichende Durchschlagskraft, da sie das derungen der Liebe, sondern auch mit der Logik Evangelium verstümmeln. der Inkarnation … schwer in Einklang bringe Immer ist es notwendig, einen inneren Raum ließe.‘ zu pflegen, der dem Engagement und der Tä- Es besteht die Gefahr, dass einige Zeiten des tigkeit einen christlichen Sinn verleiht. Ohne Gebets zur Ausrede werden, sein Leben nicht längere Zeiten der Anbetung, der betenden der Mission zu widmen, denn die Privatisierung Begegnung mit dem Wort Gottes, des auf- des Lebensstils kann die Christen dazu führen, richtigen Gesprächs mit dem Herrn verlieren zu einer falschen Spiritualität Zuflucht zu neh- die Aufgaben leicht ihren Sinn, werden wir vor men. (EG 262) Müdigkeit und Schwierigkeiten schwächer und erlischt der Eifer.
13 Was ist das Evangelium? Von der sprachlichen Wurzel her bedeutet Evange- Glaubwürdigkeitskrise der Kirche tritt die eigentli- lisierung ganz einfach die Verkündigung des Evan- che Botschaft noch mehr in den Hintergrund. geliums und Evangelium bedeutet „frohmachende Zur Zeit gibt es viele kirchliche Einzelthemen und oft Botschaft“ oder „gute Nachricht“. ist die theologische Sprache so kompliziert, dass sich Was aber sind die Inhalte des Evangeliums, die ver- das Evangelium in der Tat nicht so leicht erkennen kündet werden sollen, und was ist die Botschaft, die lässt. Auch viele Gläubige tun sich damit schwer, den Freude auslöst? Kern des christlichen Glaubens für säkulare Zeitge- Nach knapp zweitausend Jahren Christentum gibt nossen auf den Punkt zu bringen. Wenn aber das es vieles, das Menschen heutzutage – positiv wie Evangelium in einem säkularen Kontext wahrge- negativ – mit dem Glauben und der Kirche in Ver- nommen werden soll, kommt es umso mehr darauf bindung bringen. In der öffentlichen Wahrnehmung an, dass das entscheidend Christliche einfach und stehen meist kirchenpolitische und moralische Fra- prägnant zum Ausdruck kommt. gestellungen im Vordergrund. Durch die aktuelle Versuchen Sie es selbst! Das Evangelium in drei Sätzen – wie würden Sie es formulieren? 1. 2. 3. Die folgende Übersicht präsentiert die Inhalte des Aus den Zitaten (links) wird jeweils ein zentrales Evangeliums, wie sie in Evangelii Nuntiandi und Stichwort (rechts) festgehalten. Evangelii Gaudium vorgestellt werden.
14 Was ist das Evangelium? nach Evangelii Nuntiandi Jesus selbst, Frohbotschaft Gottes. (EN 7) • Jesus selbst Christus verkündet an erster Stelle das Reich Gottes … • Reich Gottes Der Herr liebt es, unter vielen verschiedenen Formen das Glück zu beschreiben, diesem Reich anzugehören. (EN 8) Evangelisieren besagt zuallererst, auf einfache und direkte Weise • Gott Zeugnis zu geben von Gott, der sich durch Jesus Christus geof- • Offenbarung fenbart hat im Heiligen Geist. Zeugnis davon zu geben, dass er • Jesus Christus in seinem Sohn die Welt geliebt hat; dass er in seinem mensch- • Heiliger Geist gewordenen Wort allen Dingen das Dasein gegeben und die • Ursprung des Daseins Menschen zum ewigen Leben berufen hat. (EN 26) • Ewiges Leben Es wird aber erst zur wirklichen Evangelisierung, wenn aufgezeigt • Schöpfer wird, dass der Schöpfer für den Menschen keine anonyme und • Gott als Vater ferne Macht ist: er ist der Vater. Also sind wir untereinander • Menschen als Kinder Gottes Brüder in Gott. (EN 26) • und Geschwister Als Mittelpunkt seiner Frohbotschaft verkündet Christus das • Heil Heil, dieses große Gottesgeschenk, das in der Befreiung von • Befreiung von Unterdrückung allem besteht, was den Menschen niederdrückt, vor allem aber und von Sünde und Bösem in der Befreiung von der Sünde und vom Bösen, in der Freude, • Freude Gott zu erkennen und von ihm erkannt zu werden, ihn zu schau- • Gott erkennen und en und ihm anzugehören. (EN 9) ihm angehören Die Evangelisierung wird auch immer klar verkünden müssen, • Menschwerdung dass in Jesus Christus, dem menschgewordenen, gestorbenen • Tod und Auferstehung Jesu und auferstandenen Sohne Gottes, das Heil einem jeden Men- schen angeboten ist. (EN 27) Die Verkündigung der Liebe Gottes zu uns und unserer Liebe zu • Liebe Gottes zu uns Gott; die Verkündigung der Bruderliebe zu allen Menschen. • unsere Liebe zu Gott (EN 28) • Geschwisterliebe
15 Was ist das Evangelium? nach Evangelii Gaudium „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss • Begegnung mit Ereignis oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, • Begegnung mit Person mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und • neuer Lebenshorizont damit seine entscheidende Richtung gibt.“ (EG 7) • Richtungsentscheidung Allein dank dieser Begegnung – oder Wiederbegegnung – mit der • Begegnung mit der Liebe Gottes, die zu einer glücklichen Freundschaft wird, werden Liebe Gottes wir von unserer abgeschotteten Geisteshaltung und aus unserer • Freundschaft Selbstbezogenheit erlöst. (EG 7) • Erlösung Jesus, der Evangelisierende schlechthin und das Evangelium in • Jesus - das Evanglium in Person Person. (EG 209) Aus einer Lektüre der Schrift geht außerdem klar hervor, dass das • Persönliche Beziehung zu Gott Angebot des Evangeliums nicht nur in einer persönlichen Bezie- und hung zu Gott besteht. … Das Angebot ist das Reich Gottes (vgl. • Einsatz für das Reich Gottes Lk 4,43); es geht darum, Gott zu lieben, der in der Welt herrscht. In dem Maß, in dem er unter uns herrschen kann, wird das Gesell- schaftsleben für alle ein Raum der Brüderlichkeit, der Gerechtig- keit, des Friedens und der Würde sein. (EG 180) Mitunter verlieren wir die Begeisterung für die Mission, wenn wir • Antwort auf Bedürfnisse vergessen, dass das Evangelium auf die tiefsten Bedürfnisse der • Freundschaft mit Jesus und Menschen antwortet. Denn wir alle wurden für das erschaffen, geschwisterliche Liebe was das Evangelium uns anbietet: die Freundschaft mit Jesus und die brüderliche Liebe. Wenn es gelingt, den wesentlichen Inhalt des Evangeliums angemessen und schön zum Ausdruck zu brin- gen, wird diese Botschaft sicher zu den tiefsten Sehnsüchten der Herzen sprechen. (EG 265) Angesichts der vielen Inhalte drängt sich nun die Was ist der Kern und was ist die inhaltliche Linie, die Frage auf, was der wesentliche Inhalt des Evange- der Evangelisierung Dynamik und Profil verleihen liums ist. können?
16 Dynamik der Evangelisierung Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott über alle erhöht und ihm den Namen ver- Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich liehen, der größer ist als alle Namen, damit alle und wurde wie ein Sklave und den Menschen im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2,6-10) In seinem Brief an die Gemeinde in Philippi beschreibt Die Dynamik der Evangelisierung geht also der Apostel Paulus die grundlegende Dynamik des ursprünglich und bleibend von Gott aus, der in Jesus Evangeliums: Gott selbst macht sich auf den Weg zu den Menschen aufsucht, um Begegnung mit ihm zu den Menschen, um ihnen einen Weg zum Himmel feiern. zu eröffnen. Jesus teilt das menschliche Leben, um es zu erlösen. Das folgende Schaubild baut sich in drei Schritten Im zweiten Schritt werden die wesentlichen Inhalte auf und verknüpft die Dynamik der Evangelisierung des Evangeliums in Stichworten diesem Weg mit den Inhalten des Evangeliums. Im ersten Schritt zugeordnet. wird Gottes Weg zum Menschen in einem Satz Abschließend fügen sich Stichworte, die die Antwort zusammengefasst. des Menschen umschreiben, in die Dynamik ein. GOTT LEBEN IN FÜLLE teilt unser Leben, MENSCH
17 Dynamik der Evangelisierung … mit den Inhalten des Evangeliums… GOTT LEBEN IN FÜLLE Schöpfer …wird …das in die Ewiges Leben Mensch ewige Gemein- schaft mit ihm mündet. Vater Reich Gottes teilt unser …und für Jesus Leben, andere, geschwister- liche Liebe Liebe Gottes MENSCH um uns zu suchen zu einem Leben unsere Liebe zu uns mit ihm… zu Gott uns zu befreien… Heiliger Geist Freude Heil Freundschaft Erlösung durch Kreuz mit Jesus und Auferstehung Für Theorie und Praxis der Evangelisierung ist ent- schaft an. Das ist die erste und wichtigste Botschaft, scheidend, dass die einzelnen Inhalte des Evange- die alle weiteren Inhalte durchdringen muss, um sie liums immer dieser grundlegenden Dynamik zuge- in das Gesamtgeschehen einzuordnen und ins rech- ordnet werden: Gott geht selbst auf die Menschen te Licht zu rücken. zu und bietet ihnen Gemeinschaft, ja sogar Freund- Dynamik der Evangelisierung …mit der Antwort des Menschen. GOTT LEBEN IN FÜLLE Schöpfer …wird Begegnung mit einer Person neuer Lebenshorizont …das in die Ewiges Leben Mensch ewige Gemein- schaft mit ihm mündet. Vater Gott erkennen Richtungsentscheidung Reich Gottes teilt unser …und für Jesus Leben, andere, geschwister- Zustimmung des Herzens liche Liebe Liebe Gottes MENSCH um uns zu suchen zu einem Leben unsere Liebe zu uns mit ihm… zu Gott uns zu befreien… Heiliger Geist Freude Heil Freundschaft Erlösung durch Kreuz mit Jesus und Auferstehung
18 Dynamik der Evangelisierung Dass am Anfang des Christseins die Begegnung mit Richtung gibt, unterstreicht noch einmal das folgen- einem Ereignis bzw. einer Person steht, die dem Le- de Zitat aus Evangelii Gaudium: ben einen neuen Horizont und seine entscheidende Man kann eine hingebungsvolle Evangelisierung nicht mit Ausdauer betreiben, wenn man nicht aus eigener Erfahrung davon überzeugt ist, dass es nicht das Gleiche ist, Jesus kennen gelernt zu haben oder ihn nicht zu kennen, dass es nicht das Gleiche ist, mit ihm zu gehen oder im Dunkeln zu tappen, dass es nicht das Gleiche ist, auf ihn hören zu können oder sein Wort nicht zu kennen, dass es nicht das Gleiche ist, ihn betrachten, anbeten und in ihm ruhen zu können oder es nicht tun zu können. … Wir wissen sehr wohl, dass das Leben mit ihm viel erfüllter wird und dass es mit ihm leichter ist, in allem einen Sinn zu finden. Deswegen verkünden wir das Evangelium. (EG 266) Die Freude, Gott zu kennen und mit ihm durchs Le- verzweckte Begegnung mit ihren Mitmenschen ein- ben gehen zu können, lässt bei den Glaubenden die lassen, die auf echtem Interesse an der Geschichte Dynamik entstehen, dieses Glück mit anderen teilen der anderen basiert und offen ist für das Wirken des zu wollen. Geistes. Evangelisieren bedeutet dann, einzutreten in diese Schon der Apostel Paulus betont gegenüber den Dynamik von Gott her und mit Leidenschaft und Ge- Gläubigen in Philippi, dass er als Verkündiger des lassenheit mitzuwirken an dieser Geschichte Gottes Evangeliums noch nicht am Ziel ist und noch nicht mit den Menschen und mit der gesamten Mensch- alles vom Glauben begriffen hat, sondern vor allem heit - situationsgerecht mit oder ohne Worte, offen- jemand ist, der von Jesus Christus ergriffen worden siver oder zurückhaltender. ist (vgl. Phil 3,12). Wer evangelisiert, tritt also nicht Diese Dynamik qualifiziert auch die Art und Weise wie ein Wissender oder Besitzender auf, sondern der Evangelisierung: man kann nach Papst Franzis- wie jemand, der etwas erfahren hat und davon er- kus „nicht vom Balkon herunter“ evangelisieren. Es zählen möchte. Wer evangelisiert, ist zugleich auf- geht darum, die Position der (moralischen) Überle- merksam dafür, welches Zeugnis in welcher Situati- genheit oder des (Besser-)Wissens zu verlassen und on angebracht und gefragt ist. Wer das Evangelium „unbewaffnet“ auf andere Menschen zu zugehen. in einer Begegnung in Wort oder Tat bezeugen will, Wie Gott, der sich in Jesus auf das menschliche Le- sollte aber auch immer bereit sein, sich selbst durch ben mit seinen Höhen und Tiefen eingelassen hat, andere evangelisieren zu lassen. so sollen sich Christinnen und Christen auf eine un-
19 Kurzdefinition EVANGELISIERUNG zielt auf • die Umwandlung der Menschen nach dem Bild Christi • und die Umwandlung der Welt hin zum Reich Gottes • durch das Wirken des Geistes • im Bezeugen des Evangeliums, • nämlich der Liebe Gottes zu uns und unserer Liebe zu Gott • und der geschwisterlichen Liebe zu allen Menschen. Erläuterungen Diese Kurzdefinition vereint verschiedene Aussagen der zuvor zitierten kirchlichen Dokumente und versucht, das Profil der Evangelisierung angesichts aktueller Herausforderungen zum Ausdruck zu bringen: • Es geht und ging schon immer um Verwandlung und Erneuerung als Ziel der Verkündigung – umso mehr in Zeiten starker gesellschaftlicher und kirchlicher Veränderungen. • Jede/r Einzelne ist auf einen persönlichen Umkehrweg gerufen und hat zugleich den Auftrag zur Veränderung der Welt und der sozialen Verhältnisse. • Der Geist Gottes ist der eigentlich Handelnde, der wirksam wird im Zeugnis von Menschen in Wort und Tat. • Die Liebe Gottes zu uns fragt nach unserer Liebe zu Gott und zu allen Menschen. • Mit der Person Jesu ist jedem Christen eine starke persönliche Vision geschenkt und mit dem Reich Gottes hat die Kirche eine starke globale Vision.
20 Christinnen und Christen sind immer in einem kon- heute leben. Aus dem Zukunftsbild stammen die kreten gesellschaftlichen Umfeld unter konkreten ersten drei Zitate. Demnach müssen Gläubige er- gesellschaftlichen Bedingungen dazu berufen, das leben, dass viele gewohnte Traditionen abbrechen Evangelium zu bezeugen. Ein wichtiger Schritt der und sich der christliche Glaube im Wettbewerb mit Evangelisierung ist daher auch, die Wirklichkeit an- anderen Angeboten befindet. zuerkennen. Die folgenden Zitate sollen dabei hel- fen, besser zu verstehen, in welchen Kontexten wir Teilen Sie die folgenden Einschätzungen? Glaubensverlust Die Wirklichkeit wahrnehmen und anerken- fällt auch vielen Christinnen und Christen im- nen mer schwerer. ... Der christliche Glaube verliert schleichend Die Kenntnis anderer religiöser Traditionen auch bei getauften Christen zunehmend seine und Überzeugungen wächst und mit ihr die selbstverständliche Akzeptanz und Plausibili- Tendenz, verschiedene religiöse Traditionen in- tät. dividuell zu vermischen. Ein beispielloser Tradi- Die Annahme eines transzendenten, lebendi- tionsabbruch prägt alle Bereiche des pastora- gen, mit den Menschen in Beziehung stehen- len Handelns heute und führt häufig zu einem den und für die Menschen handelnden Gottes Gefühl des Ausgeliefertseins. (ZB 22f.) Marktsituation Nach ihrem eigenen Selbstverständnis ist es Zugleich bringt das Erzbistum Paderborn den Auftrag der Kirche, die Wahrheit des Evange- Anspruch des Evangeliums mutig zur Geltung. liums zu verkünden. Die Vorstellung, dabei in Dies ist immer verbunden mit dem Ruf zum einem Wettbewerb mit anderen Anbietern auf Umdenken und zum Neuanfang, mit dem An- dem Markt zu sein, ist hiermit schwer verein- gebot von evangeliumsgemäßen Lebenswe- bar. Doch gerade um der Wahrheit des Evange- gen, mit klaren Orientierungspunkten, worin liums willen muss die heutige ‚Marktsituation‘ das entscheidend Christliche besteht und wo ernst genommen und auf eine hohe Qualität das unterscheidend Christliche gefordert ist. der Angebote und Dienste geachtet werden. (ZB 32) (ZB 24f.) Freie Wahl und Zustimmung Das Denken vieler Christen in den Kategorien So ist von einem ‚permanenten Zustimmungs- von Angebot und Nachfrage und die freie Wahl vorbehalt der Gläubigen‘ gegenüber der Kirche des Abstandes zur ‚offiziellen‘ Kirche sowie der und ihren Angeboten auszugehen. Die größ- nur gelegentliche Zugriff auf ihre ‚Angebote‘ te Zahl der Getauften scheint ohne eine feste sind in allen Bereichen der Pastoral selbstver- Bindung im Kontakt mit der Kirche bleiben zu ständlich geworden und werden es wohl künf- wollen. (ZB 24) tig bleiben.
21 Dass Menschen heute frei auswählen und ihre Zu- (religions)soziologische Analyse der Postmoderne stimmung nicht unüberlegt geben, hat auch positi- präsentiert. Die folgenden drei Zitate sind von ihm ve Effekte. Schon in Evangelii Nuntiandi findet die – zusammengestellt und beschreiben gut, wie sich bereits erwähnte – „Zustimmung des Herzens“ eine die gegenwärtige Abwendung vieler Menschen von positive Würdigung und ist ein zentraler Aspekt der Religion vollzieht. Bei den meisten Menschen kann vollen Wirksamkeit der Evangelisierung. Mit dem man heute von einer religiösen „Indifferenz“ gegen- Herzen kann jedenfalls nur zustimmen, wer in inne- über der Gottesfrage sprechen, was bedeutet, dass rer Freiheit lebt. sie die Frage nach Gott einfach offen lassen. In den vergangenen Jahren hat Jan Loffeld, Professor für Praktische Theologie in Utrecht, bei verschiede- Wie erleben Sie dieses Phänomen in Ihrem Umfeld nen Veranstaltungen im Erzbistum Paderborn eine und was löst das bei Ihnen aus? Abwendung von Religion Oft steht hinter der Abwendung von Religion so weit gehen, dass dem Einzelnen der Gottes- und Kirche nicht eine bewusst vollzogene in- dienstbesuch schließlich gleichgültig wird und dividuelle Wahl, sondern lediglich eine Auf- er über einen möglichen Kirchbesuch gar nicht merksamkeitsverschiebung. Wenn der Einzelne mehr nachdenkt. … . Handeln ist eben nicht im- nicht am Gottesdienst teilnimmt, wägt er oft mer motivational begründet oder das Ergebnis gar nicht ab. Vielmehr hat er … einfach anderes einer rationalen Wahl, sondern läuft Motiven, zu tun. Gute kircheninterne Gründe, dem Got- guten Gründen, Einstellungen zuweilen sogar tesdienst fernzubleiben, etwa schlechte Predig- voraus und steht daher zu ihnen nicht selten in ten oder störender Gesang, spielen für ihn keine einem spannungsvollen Verhältnis. Die Abwen- zentrale Rolle. Ausschlaggebend ist es, dass es dung von der Kirche vollzieht sich hier nicht als für ihn etwas Wichtigeres als den Gottesdienst Ergebnis einer rationalen Kosten/Nutzen-Ab- gibt. Die mit der Konzentration auf anderes ver- wägung, sondern praktisch, lautlos, unreflek- bundene Aufmerksamkeitsverschiebung kann tiert und geradezu automatisch. Detlef Pollack / Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a.M. 2015, 466. Religiöse Indifferenz Über 70% der Bevölkerung verstehen sich we- Bezüge aufgewachsen (‚konfessionsfrei‘). … der als engagierte Glaubende noch als bewuss- Indifferenz folgt ihren eigenen Gesetzen und te Atheisten; sie sind irgendwo dazwischen, Interessen, öffnet ihre Türen dort, wo sie es will, lassen die Gottesfrage offen, weil sie davon lässt sich auf Beziehungen ein zu ihren Bedin- kaum betroffen sind, wollen wenig oder keine gungen. Sie entzieht sich einer ihr überflüssig Kirchenbindung, weil sie deren Relevanz nicht erscheinenden Kirche, sie sucht jedoch nach sehen. … Viele sind Kirchenmitglieder, ohne in- Relevanz in einer komplexen Welt. Was Be- tensiver am Leben der Gemeinden teilzuneh- deutung hat, was sich als wichtig erweist, das men (‚kirchendistanziert‘), manche sind ausge- findet Interesse, bekommt Gehör, erhält Raum. tretene Getaufte (‚konfessionslos‘), andere seit Generationen ohne irgendwelche religiösen Hans-Hermann Pompe: Unbestimmt und offen. Indifferenz als theologische Herausforderung, in: Ders. / Daniel Hörsch (Hg.): Indifferent? Ich bin normal. Indifferenz als Irritation für kirchliches Denken und Handeln (Kirche im Aufbruch, Bd. 23), Leipzig 2017, 19f.; 25.
22 „Apatheismus“ Die Apatheisten sind der Religion gegenüber gen, die sich als Atheisten bezeichnen. Bei ehe- apathisch, gleichgültig – und zwar nicht nur maligen Christen ist ihre Empörung ein Beweis gegenüber religiösen Antworten, sondern auch dafür, dass ihnen die Kirche noch immer nicht gegenüber den Fragen, die der Glaube stellt. gleichgültig ist. Wenn ein Apatheist negative Ein Apatheist lässt sich nicht vom Glauben und Äußerungen über die Kirche wiederholt, tut er von den Überlegungen zum Thema Religion dies meist ohne Erbitterung, weil sie sich eher behelligen, er verliert nicht einmal Zeit damit, auf ein übernommenes Klischee beziehen, über gegen den Glauben zu polemisieren … . das er nicht mehr nachdenkt – Gott, die Kirche Empörte Kritiker der Kirche finden sich sowohl und die Religion gehören nicht zu den Themen, unter den Gläubigen als auch unter denjeni- denen er seine Aufmerksamkeit schenkt. Tomáš Halík, Mit der Hypothese Gott – oder ohne sie, in: Ders. / Anselm Grün / Winfried Nonhoff: Gott los werden?Wenn Glaube und Unglaube sich um- armen, Münsterschwarzach 22016, 57-59. Evangelisierung angesichts religiöser Indifferenz Der angezeigte pastorale und habituelle Paradigmenwechsel angesichts dieser Phänomene wäre: Gott ist nicht notwendig, aber möglich! Religion als anthropologisches Potential, nicht als zwingendes Existential. Die These von Loffeld hat vor allem eine praktische Menschen von der frohen Botschaft ansprechen las- Bedeutung. Auch wenn es theologisch richtig ist, sen, gilt es, unsere gesellschaftliche Realität ernst zu von der Notwendigkeit Gottes zu sprechen, hat die nehmen. Ausgehend von dem Paradigmenwechsel Gottesfrage praktisch kaum noch Auswirkungen auf stellt Loffeld daher die Frage, was sich durch die rea- die Lebensweise der meisten Menschen. In unserer le Möglichkeit Gottes ändert. „apatheistischen“ Gesellschaft spielen Glaubensfra- gen eine immer kleinere Rolle. Der angedachte Para- Macht Gott einen Unterschied und wenn ja, digmenwechsel knüpft hier an: Religion ist für viele welchen? heute nicht mehr zwingend notwendig, sondern Probieren Sie es aus und nehmen sich einmal Zeit möglich, sie ist ein Potential. für die folgenden Fragen. Wenn es unser Anliegen ist, dass sich auch heute
23 Wesentliche Fragen sind zu stellen – ohne in die Abwertung anderer zu verfallen: • Was bedeutet es, einen Gott zu haben und: keinen Gott zu haben? • Welchen heilsamen und von daher relevanten Unterschiede kann der Glaube machen? ?? • Welche andere, gelassenere oder optimistischere Perspektive auf die Wirklichkeit ist für uns nur aus dem Glauben an Gott heraus möglich? • Wie/wo ist es dieser Glaube, der über menschliche Möglichkeiten hinaus oder genau in ihnen Befreiung, Entlastung, (Er-)Lösung schenkt? • Wie/wo werden Erfahrungen im Glauben gemacht/geschenkt, hinter die jemand nicht mehr zurückmöchte? nach Jan Loffeld Um den gesellschaftlichen Kontext von Evangeli- Daten zur religiösen Identität allgemein und zur ka- sierung noch besser zu verstehen, sind empirische tholischen Identität im Besonderen sehr aufschluss- reich. Spiritueller Klimawandel Religiöse Identität allgemein ist weltweit nicht mehr Todesfälle sowie Ein- und Austritte. Die US-amerika- stabil, sondern sehr fluide. Alle größeren Religions- nische Theologin Sherry Weddell forscht seit Jahren gemeinschaften verlieren und gewinnen gleichzei- zur Identität und Praxis von erwachsenen Katholi- tig eine beachtliche Zahl an Mitgliedern. Auch bei ken. den christlichen Kirchen gibt es zeitgleich große Nachfolgend einige Daten, mit denen sie arbeitet: Zugewinne und große Verluste über Geburten und • 53% der erwachsenen US-Amerikaner haben den Glauben ihrer Kindheit abgelegt; 9% haben sich ab- gewandt, sind aber später wieder zurückgekehrt. • Die am stärksten wachsende Gruppe ist die der „religiös ungebundenen“, was nicht gleichbedeutend ist mit „nichtgläubig“; 30% der „religiös ungebundenen“ gehören formal einer Religionsgemeinschaft an; 30% würden einer Religion beitreten, „haben aber die richtige noch nicht gefunden“; • 54% der US-Amerikaner, die ohne Glauben aufgewachsen sind, entscheiden sich als Erwachsene für eine Religion. Vgl. Sherry A. Weddell: Forming Intentional Disciples. The Path to Knowing and Following Jesus, Huntington 2012, 19-21. Das Buch wird bei D&D Medien im Januar 2020 auf Deutsch erscheinen.
24 Auch wenn die religiöse Landschaft in den USA viel- der Glaube der Kindheit meist nicht mehr durch, fältiger und gesellschaftlich stärker präsent ist, las- andererseits hindert das Aufwachsen ohne Glaube sen sich aus den dort erhobenen Daten Trends und nicht daran, später zu einer religiösen Identität zu Erkenntnisse für Westeuropa ableiten. finden. Dass in der wachsenden Gruppe der „religiös Diese Daten belegen zunächst, dass eine stabile, das ungebundenen“ die (bewusste) Entscheidung für Leben durchgehend prägende religiöse Identität und eine Religion verstärkt im Erwachsenenalter fällt, Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht zeigt, welche neuen Möglichkeiten für Evangelisie- mehr der erwartbare Normalfall ist. Einerseits trägt rung aus dieser Situation erwachsen. Katholische Identität • 30% aller US-Amerikaner, die katholisch aufgewachsen sind, sind immer noch „praktizierend“ (d.h. Messbesuch wenigstens einmal im Monat). • 38% verstehen sich als katholisch, besuchen aber selten oder nie die Messe. • 32% verstehen sich als Erwachsene nicht mehr als Katholiken. Davon gehören 3% nun einer nichtchrist- lichen Religion und 15 % einer protestantischen Tradition an; 14 % betrachten sich als „religiös unge- bunden“. • Nur 60% aller Katholiken glauben an einen persönlichen Gott, 29% glauben an Gott als eine „unpersön- liche Macht“, 8% glauben, dass Gott „anders“ ist und 1 % glaubt an gar keinen Gott. • Nur 48% der Katholiken glauben daran, dass auch eine persönliche Beziehung mit diesem Gott möglich ist. Vgl. Sherry A. Weddell: Forming Intentional Disciples. The Path to Knowing and Following Jesus, Huntington 2012, 24f.; 43f. Zwei Drittel der US-Amerikaner, die katholisch auf- Dass die Möglichkeit einer persönlichen Gottes- gewachsen sind, verstehen sich im Erwachsenenal- beziehung für die Mehrheit nicht selbstverständ- ter immer noch als Katholiken, auch wenn die Praxis lich zum katholischen Glaubensverständnis gehört, unterschiedlich ist. Hält man sich vor Augen, dass im stellt die Art und Weise der Verkündigung in Frage. Zentrum des Evangeliums eine Person steht, ist es Man kann hier zurecht von einer Krise des Glaubens sehr irritierend, dass nur zwei Drittel aller Katholi- sprechen. ken an einen persönlichen Gott glauben. Kirchenkrise in Deutschland Seit Jahrzehnten ist in Deutschland von einer Glau- gemeinschaft ein bislang ungeahntes Ausmaß von bens- oder Kirchenkrise die Rede. Bis zum Jahr 2010 Versagen und Schuld in ihren eigenen Reihen offen- standen dabei die rückläufige Zahl der Priesterberu- bart und mit diesem Versagen außerdem nicht evan- fungen und der Gläubigen im Fokus. Seither und ak- geliumsgemäß umgeht? tuell ist die Missbrauchskrise der Kontext, in dem sich Auch viele Getaufte sehen sich veranlasst, sich nun auch das Thema der Evangelisierung in deutschen endgültig von dieser Kirche zu distanzieren, so dass Diözesen und in der Weltkirche bewegt. Zur Glau- sich die seit Jahren relativ hohen Austrittzahlen wohl benskrise ist eine Glaubwürdigkeitskrise hinzugekom- weiter erhöhen werden. Wenn in den Grundlagen zur men, die die Bemühungen um Evangelisierung ins Evangelisierung bisher von „distanzierten Getauften“ Herz trifft. Wer soll dem Evangelium der Gottes- und die Rede ist, sind in erster Linie diejenigen gemeint, die Nächstenliebe und der Botschaft von Umkehr, Verge- zwar Distanz, aber immer noch losen Kontakt halten bung und neuem Leben glauben, wenn die Glaubens- wollen.
Sie können auch lesen