Familiengerechtigkeit in den Sozialversicherungen - Ein Diskussionsbeitrag Essay des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim ...

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Familiengerechtigkeit in
den Sozialversicherungen
Ein Diskussionsbeitrag

Essay des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen
beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend
Familiengerechtigkeit in
den Sozialversicherungen
Ein Diskussionsbeitrag

Essay des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen
beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend

Miriam Beblo, Heiner Fangerau, Irene Gerlach, Notburga Ott,
Margarete Schuler-Harms, Martin Werding und der Wissenschaftliche
Beirat für Familienfragen
Inhalt

Inhalt

1    Einleitung                                                         4

2    Die Veränderung der Lebenssituation von Familien                   6
     2.1   Weniger Geburten                                             6
     2.2   Weniger und instabilere Ehen                                 7
     2.3   Andere Familienformen                                        8
     2.4   Veränderte Rollenbilder und Arbeitsteilung                   9
     2.5   Fürsorge-Arbeit                                             10

3    Merkmale der Sozialversicherungen                                 11
     3.1   Zugrunde liegende Gerechtigkeitskonzeptionen                11
     3.2   Finanzierung im Umlageverfahren                             15
     3.3   Ausgestaltung der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV)     17
     3.4   Ausgestaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)    18
     3.5   Ausgestaltung der Sozialen Pflegeversicherung (SPV)         20

4    Diskussion                                                        23
     4.1 Arbeitsteilung in verschiedenen Familienphasen                24
         a) GRV                                                        25
         b) GKV                                                        28
         c) SPV                                                        30
     4.2 Lastverteilung zwischen den Generationen                      32

5    Fazit                                                             36

Literatur                                                              42

Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen           50

                                                                                 3
1                    Einleitung

Ziel dieses Beitrags ist es zu prüfen, ob das deut-                          Allerdings passen die Sozialversicherungen in
sche Sozialversicherungssystem – fast 140 Jahre                              ihrer historisch gewachsenen Form auch nicht
nach seiner Entstehung und 70 Jahre nach seiner                              ohne Weiteres zu (Kern-)Familien herkömmlichen
Wiedererrichtung bei Gründung der Bundesrepu-                                Typs. Nach wie vor knüpfen sie eng an den Er-
blik – auf der Höhe der Zeit ist, was die Belange                            werbsstatus ihrer Versicherten an, obwohl sie für
und Probleme heutiger Familien betrifft, mit                                 ihre langfristige Finanzierbarkeit, im Bereich der
denen sich der Wissenschaftliche Beirat für Fami-                            Pflege sogar für die Erbringung laufender Leistun-
lienfragen beim Bundesministerium für Familie,                               gen, zugleich stark von vielen Formen familiärer
Senioren, Frauen und Jugend in seiner Arbeit                                 Fürsorge-Arbeit abhängig sind. Ihr Versicherten-
laufend befasst. Entsprechen die Sozialversiche-                             kreis schließt neben den beitragspflichtigen Mit-
rungen der Lebenswirklichkeit von Familien? Wie                              gliedern oft weitere Familienangehörige ein, und
beeinflussen sie deren wirtschaftliche und soziale                           sie gewähren ihnen – mittelbar und auch unmit-
Situation in verschiedenen Phasen des Familien-                              telbar – diverse Leistungen. Trotzdem stellt sich
zyklus? Passen sie überhaupt zu einem zeitgemä-                              die Frage, ob es dabei zu Sicherungslücken, Fehl-
ßen Familienbegriff, der sich mit der Zeit erweitert                         anreizen oder Gerechtigkeitsproblemen kommt,
hat – von einer engen Anwendung allein auf ge-                               die Familien in spezieller Weise treffen.
mischtgeschlechtliche Ehepaare mit Kindern,
neben denen andere Familienformen bestenfalls                                Die Überlegungen des Beirats konzentrieren sich
am Rande wahrgenommen wurden, hin zu einer                                   auf drei der fünf Zweige des Sozialversicherungs-
rechtlichen Anerkennung von fortgesetzten oder                               systems: auf die gesetzliche Rentenversicherung
erweiterten Familien nach Scheidung oder Tren-                               (GRV), die gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
nung der Eltern, Familien mit alleinerziehendem                              und die soziale Pflegeversicherung (SPV), nicht auf
Elternteil, nicht ehelichen Lebensgemeinschaften                             die Arbeitslosen- und die Unfallversicherung.
mit Kindern sowie Familien mit gleichgeschlecht-                             Grund für diese Auswahl ist, dass es in den drei
lichen Eltern?1                                                              hier betrachteten Zweigen überwiegend – gemes-

1   Den vorerst letzten Schritt einer rechtlichen Anerkennung faktischer Familienkonstellationen stellt der Entwurf für ein neues soziales Entschädi-
    gungsrecht dar, der 2022 Gesetz werden soll (vergleiche den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales , online unter
    https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Referentenentwuerfe/ref-gesetz-zur-regelung-des-sozialen-
    entschaedigungsrechts.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Bearbeitungsstand: 20.11.2018; zuletzt überprüft am 31.07.2019).

4
1 Einleitung

sen zum Beispiel an den Ausgaben, die auf ver-                              folgerungen ausdiskutiert werden. Alles in allem
schiedene Leistungen entfallen – um die Deckung                             stellt der vorliegende Text einen Diskussionsbei-
von Risiken geht, die sich nicht auf die Erwerbs-                           trag dar, verfasst aus einer bestimmten Perspekti-
phase beschränken und mit dem Alter stark                                   ve und mit einem bestimmten Anliegen, nämlich
variieren. Daher übernehmen diese drei Zweige                               die Lebenssituation von Familien und die dort
auch Funktionen, die vor Entstehung der Sozial-                             sichtbar werdenden Auswirkungen mit in den
versicherungen zu einem großen Teil in Familien                             Blick zu nehmen, wenn angesichts aktueller Her-
selbst erfüllt wurden – soweit diese dazu in der                            ausforderungen durch demografischen, techni-
Lage waren. In den Überlegungen dazu, wie sich                              schen, wirtschaftlichen sowie sozialen Wandel
dieses Nebeneinander aus heutiger Sicht darstellt,                          auf breiterer Basis über die Fortentwicklung des
werden Gemeinsamkeiten, aber auch die Beson-                                deutschen Sozialversicherungssystems nachge-
derheiten jedes der drei Zweige beachtet. Die                               dacht wird.
Koexistenz mit Sondersystemen für bestimmte
Gruppen Erwerbstätiger (Selbständige, Beamtin-                              Der Diskussionsbeitrag beginnt damit, kurz
nen und Beamte) wird dabei fallweise berücksich-                            wesentliche Veränderungen der Lebenssituation
tigt, diese Systeme werden aber nicht im Detail                             von Familien während der vergangenen Jahrzehn-
behandelt. Auch die besondere Situation von                                 te zu rekapitulieren, die vor allem ihre Größe
Familien mit Mitgliedern mit Behinderungen,                                 und Struktur, aber auch die Rollen und Aktivitä-
insbesondere behinderten Kindern, wird hier                                 ten ihrer Mitglieder betreffen (Abschnitt 2). Es
nicht betrachtet.2 Effektiv erfassen die GRV, die                           folgt ein Überblick über Merkmale der betrachte-
GKV und die SPV im Lebenslauf jeweils über                                  ten Sozialversicherungen – sowohl gemeinsame
90 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands,                              Züge als auch Eigenarten in der Ausgestaltung der
und sie bieten mit Blick auf die Interessen und                             betrachteten Zweige –, die für die Auswirkungen
Kompetenzen des Beirats für sich genommen                                   des Systems auf Familien als besonders wichtig
Diskussionsstoff genug.                                                     erscheinen (Abschnitt 3). Vor diesem Hintergrund
                                                                            wird dann eingehender diskutiert, welche Auswir-
Trotz dieses immer noch sehr weiten Themen-                                 kungen sich im Kontext der einzelnen Sozialver-
feldes ist der Beitrag auf Kürze angelegt. Er soll                          sicherungszweige auf die familiäre Arbeitsteilung
Probleme aufzeigen und erläutern, die aus Sicht                             ergeben und welche Effekte sie insgesamt für die
des Beirats bedenkenswert sind, und damit auch                              Lastverteilung zwischen den Generationen der
zum Nachdenken über Lösungen anregen. In                                    Gesellschaft haben, die zugleich in Familien zu-
manchen Fällen werden auch Hinweise auf mög-                                sammenleben (Abschnitt 4). Der Beitrag schließt
liche Lösungsansätze oder -wege gegeben, über                               mit einem Fazit, das die aus Sicht des Beirats wich-
die der Beirat – gelegentlich kontrovers – nachge-                          tigsten Beobachtungen und Probleme knapp
dacht hat, allerdings ohne dass diese hier bis hin                          zusammenfasst (Abschnitt 5).
zu eindeutigen, politisch-praktischen Schluss-

2   Gerade solche Familien leisten erhebliche Fürsorge-Arbeit und sind dabei spezifischen Belastungen ausgesetzt. Staatliche Unterstützungs- und
    Sicherungsleistungen fallen teilweise zwar in den Bereich der Kranken- und vor allem der Pflegeversicherung. Besonderheiten dieser Familien
    sowie das Zusammenwirken der Sozialversicherungen mit den Regelungen des SGB IX lassen sich in diesem Beitrag aber nicht angemessen
    behandeln.

                                                                                                                                                   5
2                   Die Veränderung der
                        Lebenssituation von
                        Familien

Familie und Familienbilder unterliegen einem                               land zu einem rasanten Abfall der Geburtenziffer3
kontinuierlichen gesellschaftlichen Wandlungs-                             von durchschnittlich 2,5 Kindern pro Frau zu
prozess. Seit dem „Babyboom“ und dem „Golden                               Zeiten des Babybooms 1965 auf 1,5 innerhalb von
Age of Marriage“ in den 1950er- und 60er-Jahren                            zehn Jahren; anschließend schwankte die Gebur-
wird Familie vielfältiger und umfasst neben der                            tenziffer vier Jahrzehnte lang um 1,4 und stieg
„traditionellen Familie“, das heißt gemischtge-                            zuletzt wieder auf 1,57 im Jahr 2017 (Statistisches
schlechtlichen, verheirateten Paaren mit Kindern,                          Bundesamt 2019a; Bundesinstitut für Bevölke-
viele andere familiale Lebensformen. Doch wie                              rungsforschung 2019a). Die Entwicklung in der
haben sich Familien strukturell verändert und                              ehemaligen DDR beziehungsweise den neuen
welche Formen des Zusammenlebens sind heute                                Bundesländern verlief ähnlich, wenn auch mit
verbreitet? Dieser Abschnitt gibt einen Überblick                          starken Schwankungen zwischen 1975 und 2000,
und beschreibt zunächst die demografische                                  bedingt durch ein Wechselspiel aus staatlicher
Veränderung der klassischen Kleinfamilie. Ferner                           Förderung und sozioökonomischen Umbrüchen
werden der Wandel der Institution Ehe hinsicht-                            im Zuge der Wiedervereinigung (Pötzsch 2012,
lich Verbreitung und Stabilität sowie die Entwick-                         S. 7). Hier lag die Geburtenziffer mit 1,6 Kindern
lung alternativer Familienformen beschrieben.                              pro Frau im Jahr 2017 geringfügig höher als in
Abschließend werden die veränderte Arbeitstei-                             Westdeutschland (Statistisches Bundesamt 2019a),
lung und die sich hieraus ergebenden Konsequen-                            jedoch ebenfalls weit vom Reproduktionsniveau
zen für die familiale Fürsorge-Arbeit aufgezeigt.                          von 2,1 entfernt.

                                                                           Gründe für das veränderte Geburtenverhalten
                                                                           liegen im Zusammenspiel eines Wertewandels mit
2.1 Weniger Geburten                                                       vermehrten Optionen für Frauen zur Erwerbsbe-
                                                                           teiligung und modernen Verhütungsmitteln
Die (familien-)demografische Entwicklung der                               (Beck-Gernsheim 2006; Lesthaeghe 2012) sowie in
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist insbeson-                          einem Rückgang der als ideal betrachteten Kin-
dere durch die Veränderung des Geburtenverhal-                             derzahl (Boll et al. 2013, S. 47 ff.; Sobotka und
tens geprägt. So kam es vor allem in Westdeutsch-                          Beaujouan 2014).4 Zugleich ist das Alter der Mütter

3   Hierbei handelt es sich um die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR), die aus Geburtenzahlen des aktuellen Jahres für Frauen verschiedenen
    Alters ermittelt wird, allerdings aufgrund von Verschiebungen von Geburten im Lebenslauf verzerrt ist. Aussagekräftiger sind endgültige
    Kinderzahlen je Frau (CFR), die allerdings für jüngere Geburtskohorten mit noch nicht abgeschlossener Geburtsphase nicht vorliegen.
4   Zu den Ursachen und Einflüssen der veränderten Kinderwünsche siehe Boll et al. 2013, Kap. 4. Letztlich resultieren daraus auch sinkende
    endgültige Kinderzahlen je Frau (CTFR), die seit der Geburtskohorte 1933 von durchschnittlich 2,2 auf 1,5 bei der Geburtskohorte von 1968
    gesunken sind (Statistisches Bundesamt 2019d).

6
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien

zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes an-                              2.2 Weniger und
gestiegen (Pötzsch 2012, S. 10 f.; Statistisches
Bundesamt 2019b). Der Rückgang der Gesamtfer-                               instabilere Ehen
tilität ist eng mit einem Rückgang der Zahl der
Frauen mit mehr als zwei Kindern verbunden.                                 Zusammen mit der zunehmenden Entkoppelung
Dieser hat mit 68 Prozent zum Geburtenrückgang                              von Ehe und Fertilität ist ein Rückgang der Ehe als
beigetragen, die gestiegene Kinderlosigkeit nur                             überwiegende Partnerschaftsform und stattdessen
mit 26 Prozent (Bujard und Sulak 2016). So liegt                            eine Pluralisierung der Lebensformen zu beobach-
der Anteil von Frauen mit drei oder mehr Kindern                            ten. Hierbei nimmt nicht nur die Zahl der ge-
in der Geburtskohorte 1933 noch bei 33,6 Prozent                            schlossenen Ehen kontinuierlich ab. Kamen auf
(ebenda), in den Jahrgängen 1967–71 jedoch nur                              1.000 Einwohner 1950 noch 10,8 Eheschließungen,
noch bei 16 Prozent (eigene Berechnungen auf                                waren es 2017 lediglich 4,9 (Statistisches Bundes-
Basis von: Statistisches Bundesamt 2017, S. 44). Am                         amt 2019c). Umgekehrt stieg der Anteil dauerhaft
Beispiel der Kohorte von 1969–1973 zeigt sich zu-                           Unverheirateter5 von unter fünf Prozent in der
dem ein höherer Anteil in west- (17 Prozent) als in                         Geburtskohorte von 1930 auf schätzungsweise
ostdeutschen Flächenländern (11,5 Prozent bei                               mehr als 20 Prozent in der 1970er-Geburtskohorte
den Jahrgängen 1967–71). Noch drastischer verän-                            (Grünheid 2011, S. 13 ff.). Auch die Neigung, nach
derte sich der Anteil von Frauen mit mindestens                             einer Scheidung oder Verwitwung erneut zu
vier Kindern, von 14,3 Prozent im Jahrgang 1933                             heiraten, nimmt deutlich ab (ebenda, S. 16 ff.).
auf lediglich 4,2 Prozent bei den Jahrgängen
1967–71.                                                                    Zudem sinkt die Stabilität bestehender Ehen.
                                                                            Während die Scheidungsziffer 1970 in West-
Nach wie vor sind Familiengründung und insbe-                               deutschland bei 15 Prozent und in Ostdeutschland
sondere Kinderreichtum eng mit der Ehe verbun-                              bei 21 Prozent lag, betrug sie im Jahr 2004 43 Pro-
den, auch wenn dieser Einfluss zunehmend                                    zent beziehungsweise 41 Prozent (Bundesinstitut
schwindet (Dorbritz und Ruckdeschel 2015, S. 136).                          für Bevölkerungsforschung 2019b). Seitdem san-
So hatten beispielsweise rund 20 Prozent der                                ken die Ziffern wieder leicht auf 35 Prozent im
verheirateten Frauen der Kohorte von 1969–73                                Jahr 2016 (ebenda). Gleichzeitig verlängert sich die
drei und mehr Kinder, während dieser Anteil in                              mittlere Ehedauer bis zur Scheidung auf 15 Jahre,
nicht ehelichen Lebensgemeinschaften bei nur                                wobei fast jede sechste Scheidung sogar erst nach
8,5 Prozent lag (Diabaté et al. 2015, S. 175). Ähnli-                       mehr als 25 gemeinsamen Jahren erfolgt (Statisti-
ches lässt sich im Hinblick auf die Kinderlosigkeit                         sches Bundesamt 2018a). Meyer (2014) warnt da-
erkennen. Der Anteil lebenslang kinderloser                                 vor, die hohe Scheidungsrate lediglich als „kultu-
Frauen hat sich in Gesamtdeutschland seit den                               relle[n] Geltungsverlust des herkömmlichen […]
Geburtskohorten der 1930er-Jahre um rund                                    Ehemodells“ (S. 426) zu verstehen. Vielmehr
zehn Prozentpunkte erhöht und liegt heute bei                               verweist er darauf, dass die Ansprüche an die Ehe
21 Prozent (Statistisches Bundesamt 2017, S. 14).                           mit der Fokussierung auf die Liebesbeziehung und
Unter den verheiraten Frauen ist die endgültige                             dem Verzicht auf „ehespezifische Investitionen“
Kinderlosigkeit jedoch nur etwa halb so hoch: Sie                           sprunghaft zugenommen haben und deren Nicht-
liegt bei nur 10,9 Prozent (Bujard 2015, S. 281).                           erfüllung Trennungen wahrscheinlicher macht
                                                                            (ebenda, S. 427 f.). Die gleichzeitig gestiegenen
                                                                            Ansprüche an die „kindzentrierte“ Familie geraten
                                                                            damit zunehmend in Konkurrenz zur Partner-
                                                                            schaft (ebenda, S. 443 f.).

5   Die Zahlen beziehen sich auf Ledige im Alter von 80 Jahren bei der 1930er-Geburtskohorte und auf Schätzungen auf der Basis der Ledigen im Alter
    von 50 Jahren bei der 1970er-Geburtskohorte.

                                                                                                                                                 7
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien

2.3 Andere                                                                    Der Anteil minderjähriger Kinder, die zum jeweili-
                                                                              gen Befragungszeitpunkt nur bei einem Elternteil
Familienformen                                                                lebten,6 hat sich seit 1996 sowohl in West- als auch
                                                                              in Ostdeutschland erhöht, lag aber im Osten zu-
Neben der traditionellen Familienform prägen                                  letzt noch knapp neun Prozentpunkte über dem
heute insbesondere zwei Formen beziehungsweise                                Westen (Bundesinstitut für Bevölkerungsfor-
Gruppen das familiale Zusammenleben mit Kin-                                  schung 2017). Insgesamt lebten im Jahr 2017
dern: die gemischtgeschlechtlichen, nicht eheli-                              73 Prozent der minderjährigen Kinder bei Ehepaa-
chen Lebensgemeinschaften sowie die Allein­                                   ren, zehn Prozent bei nicht ehelichen Lebensge-
erziehenden. Bei Betrachtung des Mikrozensus,                                 meinschaften und 16 Prozent bei alleinerziehen-
welcher seit 1996 die Anwesenheit eines Lebens-                               den Elternteilen (Statistisches Bundesamt 2018b,
partners im Haushalt erfragt, zeigen sich aller-                              S. 144). Der Anteil der Alleinerziehenden an allen
dings deutliche Unterschiede zwischen neuen und                               Familienformen mit minderjährigen Kindern ist
alten Bundesländern im Hinblick auf die Bedeu-                                von knapp 14 Prozent im Jahr 1996 auf knapp
tung nicht ehelicher Lebensgemeinschaften mit                                 19 Prozent im Jahr 2017 gestiegen, wobei davon
und ohne Kinder im Haushalt (Peuckert 2012,                                   über den gesamten Zeitraum circa 14 Prozent
S. 98 ff.). Während sich diese Form des Zusammen-                             alleinerziehende Väter sind (a. a. O., S. 124–127).
lebens unter allen Paaren seit 1996 sowohl in Ost
als auch in West circa verdoppelt hat und im Jahr                             Als weiteres Familienmodell jenseits der tradi-
2017 im Osten 26 Prozent und im Westen knapp                                  tionellen Kleinfamilie (verheiratetes Paar mit
17 Prozent ausmacht, liegt der Anteil nicht ehe-                              eigenen Kindern) sind die sogenannten „Regen-
licher Lebensgemeinschaften mit Kind(-ern) in                                 bogenfamilien“, also gleichgeschlechtliche Paar-
Ostdeutschland seit 1996 konstant bei 46 Prozent,                             beziehungen mit Kindern, zu erwähnen. Zwar
im Westen hingegen deutlich darunter; dort ist er                             ist diese Form des familialen Zusammenlebens
von 1996 bis 2017 allerdings von 20 Prozent auf                               momentan noch äußerst selten. So gab es im
28 Prozent gestiegen (Statistisches Bundesamt                                 Jahr 2016 10.000 Regenbogenfamilien mit minder-
2018b, S. 112 f.). Gleichzeitig hat sich auch der                             jährigen Kindern, was knapp einem Prozent aller
Anteil nicht ehelich geborener Kinder deutlich                                Familien entspricht (Statistisches Bundesamt
erhöht, dessen Anstieg sich bis in die 1960er-Jahre                           2018b, S. 122); von den gleichgeschlechtlichen
zurückverfolgen lässt. In Ostdeutschland lag                                  Partnerschaften leben knapp elf Prozent mit
dieser Anteil 2016 bei rund 58 Prozent, in West-                              Kindern zusammen (ebenda, S. 78). Allerdings ist
deutschland bei nur 30 Prozent (Bundesinstitut                                davon auszugehen, dass sich diese Zahl mit der
für Bevölkerungsforschung 2019c).                                             Öffnung der Ehe und der damit verbundenen
                                                                              Gleichstellung im Adoptionsrecht weiter erhöhen
                                                                              wird (Deutscher Bundestag 2017).

6   Dies sagt nichts darüber aus, wie viele Kinder im Laufe ihres Lebens zeitweise bei einem alleinerziehenden Elternteil gelebt haben.

8
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien

2.4 Veränderte                                                              Die damit verbundenen Geschlechterunterschiede
                                                                            lassen sich auch mit Blick auf die Zeitverwendung
Rollenbilder und                                                            innerhalb der Haushalte aufzeigen. So verdeut-

Arbeitsteilung                                                              licht die Zeitverwendungsstudie des Statistischen
                                                                            Bundesamtes aus den Jahren 2012 und 2013, dass
                                                                            Mütter in Paarbeziehungen im Alter zwischen 30
Dass sich das familiale Zusammenleben im Hin-                               und 44 Jahren durchschnittlich fast drei Stunden
blick auf die Familiengröße und die gewählten                               mehr am Tag für Haushalts- und Familienarbeit
Familienmodelle stark verändert hat, ist eng ver-                           aufwenden als Väter. Zwar bringen Väter und
woben mit einem anderen prägenden Element                                   Mütter für Erwerbs- und Familienarbeit insgesamt
familialer Strukturen: der Arbeitsteilung inner-                            einen ähnlich hohen Anteil ihrer Zeit auf, aller-
halb der Haushalte. Während sich in den 1950er-­                            dings zeigt sich in den Einzelposten die zugrunde
Jahren beide Geschlechter an der – von der Politik                          liegende Aufgabenteilung innerhalb der Familie
stark forcierten – Idee der Versorgerehe orientier-                         (Statistisches Bundesamt 2015, S. 55 f.). Dies ist
ten, in der sich die Frauen auf die Familienarbeit                          insbesondere insofern beachtlich, als dass sich
konzentrierten und die Männer die Familie mit                               Mütter häufig eine berufliche Unabhängigkeit von
der bezahlten Erwerbsarbeit finanziell versorgten,                          ihrem Partner wünschen (Diabaté 2015, S. 215).
entwickelte sich seitdem eine zunehmende Zwei-
fach-Orientierung – insbesondere von Frauen –                               Seit den 1970er-Jahren haben atypische Beschäfti-
auf Familie und Beruf (Märtin 2017, S. 22 f.).                              gungsverhältnisse (befristete Beschäftigung, Teil-
                                                                            zeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung
So ist seit den 1960er-Jahren ein stetiger Anstieg                          sowie Zeitarbeit) aufgrund wirtschaftlicher und
der Frauenerwerbstätigenquote zu verzeichnen                                politisch-rechtlicher Entwicklungen eine starke
(Grunow 2010), welche sich 2016 mit 73 Prozent                              Zunahme zu verzeichnen. So ist die absolute Zahl
nur noch um acht Prozentpunkte von der der                                  atypisch Beschäftigter7 zwischen 1991 und 2017
Männer unterschied (Bundesagentur für Arbeit                                um 3,3 Millionen auf insgesamt 7,7 Millionen
2018, S. 5). Die Zweifach-Orientierung von Frauen                           Personen gestiegen, wobei die Zunahme vor allem
spiegelt sich dabei in den geleisteten Erwerbs-                             zwischen 2004 und 2008 stattfand und seit 2011
arbeitsstunden wider: Befanden sich 2017 rund                               sogar wieder leicht rückläufig ist (Statistisches
48 Prozent der erwerbstätigen Frauen in einer                               Bundesamt 2019e). Die Zunahme zeichnet sich
Teilzeitanstellung, waren es bei den Männern                                insbesondere durch einen deutlichen Anstieg von
lediglich rund elf Prozent. Insgesamt ist der An-                           Teilzeit- und geringfügigen Beschäftigungen aus
stieg der Frauenerwerbsquote der letzten zehn                               (ebenda). Diese werden überwiegend von Frauen
Jahre vor allem dem Anstieg der Teilzeitbeschäfti-                          ausgeübt, während bei den Männern Zeitarbeit
gungen zuzuschreiben (Bundesagentur für Arbeit                              und befriste Beschäftigungen überwiegen. Insge-
2018, S. 9). Während sich die Erwerbsquote bei                              samt sind Frauen deutlich häufiger in atypischen
Müttern im Westen der im Osten annähert (2017:                              Beschäftigungsverhältnissen tätig als Männer
50 Prozent im Westen beziehungsweise 63 Prozent                             (2017: 33 Prozent versus 14 Prozent der abhängig
im Osten), arbeiten ostdeutsche Mütter im Schnitt                           Beschäftigten), wobei gut zehn Prozent der abhän-
rund neun Wochenstunden länger als westdeut-                                gig beschäftigten Frauen einer geringfügigen
sche. Neben immer noch unterschiedlichen                                    Beschäftigung nachgehen (ebenda). Diese sind
Rahmenbedingungen der Kinderbetreuung ist                                   nicht sozialversicherungspflichtig; erst seit dem
dies auf die staatlichen Leitbilder der vollzeitarbei-                      1. Januar 2013 besteht zwar eine Rentenversiche-
tenden Mutter in der DDR und der erwerbsunter-                              rungspflicht, von der man sich aber auf Antrag
brechenden, dann teilzeitarbeitenden Mutter in                              befreien lassen kann.
der alten Bundesrepublik zurückzuführen, deren
Spuren bis heute zu beobachten sind (Beblo und
Görges 2018).

7   Die Angaben des Statistischen Bundesamtes zur Häufigkeit atypischer Beschäftigung beinhalten Teilzeittätigkeiten generell nur bis zu einem
    maximalen Stundenumfang von 20 Wochenstunden.

                                                                                                                                                 9
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien

2.5 Fürsorge-Arbeit                                                            Bereich stationärer als auch ambulanter Pflege
                                                                               (Rothgang et al. 2016, S. 120 ff.; Kochskämper 2018)
Auch der Charakter der unbezahlten Haus- und                                   und das fragmentierte Leistungsangebot an
Familienarbeit hat sich drastisch gewandelt. Wäh-                              ambulanter Pflege, das den Bedürfnissen Pflege-
rend Hausarbeit im klassischen Sinn noch vor                                   bedürftiger und pflegender Angehöriger nicht
wenigen Jahrzehnten zum Konsum von Markt-                                      gerecht wird (Bestmann et al. 2014, S. 16 ff.;
gütern nahezu zwingend notwendig war und sich                                  Sachverständigenrat zur Begutachtung der
mit der Erziehung und Betreuung von Kindern                                    Entwicklung im Gesundheitswesen 2014, S. 508 ff.;
sowie der Pflege von Angehörigen noch relativ gut                              Wetzstein et al. 2015, S. 9). Das sich ergebende
vereinbaren ließ, rückt die Haushaltsproduktion                                Fürsorge-Defizit birgt das Potenzial großer
von materiellen und immateriellen Gütern zur                                   sozioökonomischer Probleme (Jurczyk 2010).
eigenen Bedürfnisbefriedigung und Regeneration
heute aufgrund der Konsumreife der Marktgüter                                  Dies gilt umso mehr, als diese innerfamilialen
und der gestiegenen Einkommen in den Hinter-                                   Sorge-Beziehungen nicht als rein private Angele-
grund (Ott 1999). Die Familienarbeit besteht heute                             genheit betrachtet werden können, da sie über
vor allem in sozialen und sorgenden Tätigkei-                                  den individuellen Nutzen, den die jeweiligen
ten, konzentriert sich auf die Beziehungen                                     Familienmitglieder daraus ziehen, bedeutsame
zwischen den Familienmitgliedern und gerät                                     Effekte für die gesamte Gesellschaft erzeugen.
gleichzeitig in zeitliche Konkurrenz zum Einkom-                               Elterliche Erziehungsleistungen sichern nicht nur
menserwerb (Ott 2009).                                                         den eigenen Kindern die Zukunft, sondern tragen
                                                                               zu einer wirtschaftlich leistungsfähigen, künftigen
Diese Fürsorge-Arbeit8 kann daher zunehmend                                    Gesellschaft bei. Auch das gesamtgesellschaftliche
nicht mehr innerhalb der Haushalte realisiert                                  Versprechen einer menschenwürdigen Teilhabe in
werden (Jurczyk 2010). Mit demografischem                                      Zeiten eingeschränkter oder verlorener Selbstän-
Wandel und zunehmender Frauenerwerbstätig-                                     digkeit, vor allem im Alter, wäre ohne die Pflege-
keit haben sich auch die Herausforderungen der                                 leistungen von Angehörigen wohl kaum einzulö-
privaten Fürsorge-Arbeit verändert. Die hierdurch                              sen.9 Diese „externen Effekte“ für die Gesellschaft
entstehenden individuellen und gesellschaftlichen                              werden von den Familien nicht intendiert. Ange-
Belastungen werden unter anderem dadurch                                       sichts der schwindenden Selbstverständlichkeit
verschärft, dass die anfallenden Aufgaben wegen                                der privaten Sorge für Familienangehörige treten
mangelnden Angebots oder fehlender Finanzier-                                  daraus resultierende Defizite für die Gesellschaft
barkeit nicht einfach von Märkten übernommen                                   aber immer deutlicher zutage. Die Notwendigkeit
werden. Dies zeigt sich vor allem am Mangel an                                 einer nachwachsenden Generation für die gesam-
verfügbaren beziehungsweise den Elternbedürf-                                  te Gesellschaft – über die privaten Interessen von
nissen entsprechenden Kinderbetreuungsmög-                                     Eltern hinaus – ist in modernen Gesellschaften
lichkeiten, insbesondere in Westdeutschland                                    offensichtlich und wird durch öffentliche Maß-
(Müller et al. 2013), der sich trotz des 2013 einge-                           nahmen, insbesondere das Bildungssystem, auch
führten Rechtsanspruchs für Kinder im Alter                                    gesamtgesellschaftlich getragen. Die nach wie
zwischen ein und drei Jahren noch nicht aufgelöst                              vor bedeutenden, privaten Anteile an der Erzie-
hat und in Zukunft sogar noch steigen wird (Sulak                              hung und Sozialisation der nächsten Generation
und Fiedler 2019). Ähnliches gilt für die mittler-                             können von der Allgemeinheit jedoch nicht
weile eklatante Versorgungslücke sowohl im                                     übernommen, sondern nur unterstützt werden.

8    In der Literatur wird hierfür oft auch der englische Begriff „Care“ verwendet (oder Mischformen wie „Care-Arbeit“ oder „Care-Tätigkeiten“), der
     neben mentaler und finanzieller Sorge explizit zum Beispiel auch körperliche Pflege umfasst. Der zusammengesetzte Begriff „Fürsorge-Arbeit“
     soll ebenfalls dieses gesamte Spektrum an Bedeutungen abdecken.
9    Die Leistungen von Familien, die über die individuellen Interessen hinausreichen und für die Gesellschaft essenziell sind, werden vom Wissen-
     schaftlichen Beirat für Familienfragen in seinem Gutachten „Gerechtigkeit für Familien“ ausführlich erörtert (Wissenschaftlicher Beirat 2001,
     Kap. 4).

10
3               Merkmale der
                  Sozialversicherungen

Der Begriff „Sozialversicherung“ enthält generell    3.1 Zugrunde liegende
eine gewisse innere Spannung zwischen der
Anlage als Versicherung auf der einen Seite und      Gerechtigkeitskonzep-
dem Zusatz „Sozial-“ auf der anderen. In dieses
Spannungsverhältnis sind auch die Komponenten
                                                     tionen
der Sozialversicherung für Familienangehörige
Versicherter („Familienleistungen“) einbezogen.      Das deutsche Sozialversicherungssystem beruht
Dies wird hier zunächst in allgemeiner Form          auf dem Prinzip der gegenseitigen Unterstützung
thematisiert, nämlich als Frage nach der – oder      in einer Versichertengemeinschaft. Neben einer
den – zugrunde liegenden Gerechtigkeitskonzep-       Versicherung im Sinne eines reinen Risikoaus-
tion(en). Im Anschluss daran werden konkrete         gleichs zwischen den Mitgliedern enthalten die
Gestaltungsmerkmale der Sozialversicherungen         Sozialversicherungen – anders als Privatversiche-
festgehalten, die für die Diskussion der Situation   rungen – auch einen mehr oder weniger stark
von Familien in diesem System als besonders          ausgeprägten „Sozialausgleich“ mit einer gewissen
wichtig erscheinen. Dies gilt unter anderem für      einkommensabhängigen Umverteilung. Vorrangi-
die Umlagefinanzierung, die ein gemeinsames          ges Ziel ist es dabei, die Folgen verschiedener
Merkmal aller Zweige der Sozialversicherung          Lebensrisiken, vor allem Arbeitslosigkeit, Krank-
darstellt. Für weitere wichtige Merkmale muss        heit, Pflegebedürftigkeit und fehlendes Erwerbs-
nach den einzelnen, hier betrachteten Zweigen        einkommen bei Invalidität und im Alter, zu
differenziert werden (Gesetzliche Rentenversiche-    minimieren. Im Fokus stehen hier die letzten drei
rung, Gesetzliche Krankenversicherung und            dieser Risiken und damit die gesetzliche Renten-
Soziale Pflegeversicherung; vergleiche Abschnitt     versicherung, die gesetzliche Krankenversiche-
1), da jeder von ihnen seine Eigenarten hat, die     rung und die soziale Pflegeversicherung. Gleich-
sich auch in der Anwendung auf Familien be-          zeitig verzichten die Sozialversicherungen aber
merkbar machen.                                      auf wesentliche Elemente von Privatversicherun-
                                                     gen, insbesondere auf am individuellen Risiko
                                                     orientierte Prämien oder einen strikt versiche-
                                                     rungsmathematischen Zusammenhang zwischen
                                                     Prämien und Leistungen. Teilweise werden sogar
                                                     Elemente hinzugefügt, die zu einer nennenswer-
                                                     ten Umverteilung zwischen verschiedenen
                                                     Versichertengruppen führen.

                                                                                                    11
3 Merkmale der Sozialversicherungen

Seit 1883 die ersten Bausteine des heutigen Sozial-   ein auf die Erwerbstätigkeit bezogenes, leistungs-
versicherungssystems eingeführt wurden, hat sich      abhängiges Äquivalenzprinzip, indem sich Beiträ-
das System durch Umbau und vor allem Ausbau           ge und Rentenhöhe am Einkommen der oder des
immer weiter differenziert. Eine zentrale Funktion    Versicherten orientieren. Risiken, die in der GRV
bei Einführung und Umbau des Systems kommt            nach dem Versicherungsprinzip abgesichert
der normativen Begründungsstrategie zu, mit der       werden, sind Erwerbsminderung und vor allem
Abweichungen vom risikoäquivalenten Versiche-         Langlebigkeit, also das Einkommensrisiko bei
rungsprinzip sowie politisch motivierte Verände-      individuell überdurchschnittlich langem Leben.
rungen legitimiert werden. Der staatliche Zwang       Individuelle Bedarfe und das Prinzip der Leistung
zur Mitgliedschaft sowie die Frage der Zuteilung      für Leistung müssen sich in der Sozialversiche-
von Versicherungsleistungen werfen die viel           rung also keineswegs ausschließen, auch wenn sie
diskutierte Frage nach der gerechten Verteilung       eigentlich konkurrierende Gerechtigkeitsvorstel-
der zur Verfügung stehenden Mittel auf. Verschie-     lungen transportieren.
dene Gerechtigkeitstheorien bieten sich im
Grundsatz an, die Umverteilung als solche zu          Ergänzt werden diese Prinzipien noch durch die
rechtfertigen (Schlinke 2013).                        Idee einer „produktivistischen Gerechtigkeit“,
                                                      wonach soziale Verhältnisse dann gerecht sind,
Das Problem dabei ist, dass Gerechtigkeit und ihre    wenn sie „mittel- und langfristig Nutzen stiften,
Kriterien nicht pauschal zu bestimmen sind, da        nämlich die Wohlfahrt aller maximieren“ (Leise-
Gerechtigkeit als relationaler Begriff immer ein      ring 2004, S. 33). Darunter werden dann verschie-
Bezugssystem zu ihrer Konkretisierung braucht.        dene Aspekte des Zusammenhangs von Sozial­
In sozialen Gefügen hat die Verteilungsgerechtig-     politik und gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt
keit eine hohe Bedeutung, wobei die Bemessungs-       betont. Zum einen wird die Frage von Umvertei-
kriterien, wem was zusteht, aber unterschiedlich      lung und wirtschaftlicher Wertschöpfung disku-
gesetzt werden können. So kann die Verteilung         tiert, wonach soziale Sicherheit das wirtschaftliche
von Einkommen und Vermögen generell an                Wachstum erhöhen kann, aber eine zu hohe Um-
Leistung orientiert sein oder durch Bedürfnisse       verteilung die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt
legitimiert werden. Die Auswahl der in Ansatz         senkt, was als Begründung des Paradigmas der
gebrachten Kriterien wird dabei zu einer Frage        „investiven“ oder „aktivierenden“ Sozialpolitik
der politischen Macht, was zur Folge hat, dass        angesehen wird (Brettschneider 2007; Nullmeier
Konzepte der sozialen Gerechtigkeit eng an            und Vobruba 1995). Zum anderen werden die
historische Kontexte gebunden sind (vergleiche        Leistungen der Gesellschaftsmitglieder für das
hierzu die prägnante Übersicht von Lenk 2013).        Gemeinwohl in den Vordergrund gerückt. In einer
                                                      Formulierung von Hradil (2009, S. 21) soll der
Die Normen, die im Spannungsfeld zwischen Be-         „Beitrag zur Erhaltung des Gemeinschaftslebens
darfs- und Leistungsgerechtigkeit im deutschen        insgesamt (zum Beispiel durch die Erziehung von
Sozialstaat in Anwendung gebracht wurden, sind        Kindern) entsprechend belohnt werden“, womit
heterogen und wandelbar, je nach politischer          sich das Konzept der produktivistischen Gerech-
Konstellation. Die Krankenversicherung beispiels-     tigkeit als Version von Leistungsgerechtigkeit
weise orientiert sich bei den Leistungen aus-         erweise (ebenda). Hinsichtlich der Gerechtigkeits-
schließlich am Bedarf eines Versicherten, während     überlegungen für Familien hat der Wissenschaft-
weder das individuelle Krankheitsrisiko noch die      liche Beirat für Familienfragen diese Aspekte als
Höhe der gezahlten Beiträge bei der Bemessung         Begründung für den sogenannten Familienleis-
der Leistungen Berücksichtigung finden. In der        tungsausgleich ausführlich diskutiert (Wissen-
Rentenversicherung dagegen gilt im Grundsatz          schaftlicher Beirat 2001, Kap. 3.2 und 4.5).

12
3 Merkmale der Sozialversicherungen

In jüngerer Zeit wird verstärkt auch das Konzept                              erwerbsmäßig Pflegende explizit einbezogen.
der „Teilhabegerechtigkeit“ vorgebracht, das über                             Keine Versicherungspflicht besteht in den Sozial-
materiell orientierte Ansätze der Verteilungsge-                              versicherungen für Selbständige, Beamtinnen und
rechtigkeit hinausreicht. Es adressiert das Recht                             Beamte.10 In der GKV und SPV sind zudem Perso-
auf Autonomie und Teilhabe sowie die Wahrung                                  nen mit einem hohen Einkommen oberhalb der
von Teilhabechancen an allen relevanten gesell-                               Versicherungspflichtgrenze nicht pflichtversi-
schaftlichen Prozessen und Feldern (Brettschnei-                              chert. Teilweise ist für diese Personenkreise jedoch
der 2007, S. 370). Dabei rücken sowohl sämtliche                              eine freiwillige Versicherung möglich (Schuler-­
wohlfahrtsstiftende Dimensionen als auch die                                  Harms und Goldberg, 2019). Nicht pflichtversi-
Ex- und Inklusion verschiedener gesellschaftlicher                            cherte Personen werden teilweise in anderen
Gruppen in den Fokus der Diskussion. Das Kon-                                 Systemen abgesichert – beispielsweise in berufs-
zept der Teilhabegerechtigkeit kennzeichnet damit                             ständischen Versorgungswerken oder über die
eine Verschiebung in der politischen Programma-                               Beamtenversorgung und Beihilferegelungen im
tik „von der Verteilungs- zur Chancengerechtig-                               Alter beziehungsweise im Krankheitsfall. Ande-
keit, das heißt von ergebnisorientierter Umvertei-                            renfalls müssen sie selbst für eine private Absiche-
lung von Einkommen, Vermögen und materiellen                                  rung sorgen. Dies ist für den Krankheits- und
Gütern zur Gewährung von Zugangschancen und                                   Pflegefall sogar gesetzlich vorgeschrieben (Versi-
damit der Startbedingungen für die Verwirkli-                                 cherungspflicht). Zwar ist der Großteil der Bevöl-
chung von Lebenszielen“ (Reuter 2013, S. 246). Der                            kerung über die Sozialversicherungssysteme
teilweise als „produktivistische Teilhabegerechtig-                           gegen die Folgen von Risiken geschützt. Es erge-
keit“ bezeichnete Ansatz zielt auf die Befähigung                             ben sich jedoch merkwürdige Gerechtigkeitslü-
zu selbständiger, eigenverantwortlicher Leistung,                             cken, indem vor allem Personen mit höherem
zum Beispiel die „Gewährleistung von Beschäfti-                               Erwerbseinkommen am Sozialausgleich innerhalb
gungsfähigkeit“ (Brettschneider 2007, S. 383). Dies                           der Sozialversicherungen nicht beteiligt und zu-
wird auch unter dem Begriff des „aktivierenden                                dem Personengruppen am unteren Einkommens-
Sozialstaates“ oder dem Begriffspaar „Solidarität                             ende teilweise schlecht abgesichert sind. Hier wird
und Subsidiarität“ (Ott 2019, S. 326 ff.) diskutiert.                         sowohl die Bedarfs- als auch die Leistungsgerech-
Mit Blick auf die Gerechtigkeit für Familien hat                              tigkeit verletzt.
der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen
solche Aspekte als Startchancengerechtigkeit für                              Im Detail haben die in Ansatz gebrachten Gerech-
Kinder und Prozesschancengerechtigkeit für                                    tigkeitsüberlegungen, die in der Vergangenheit
Eltern ausführlich erörtert (Wissenschaftlicher                               und aktuell der Begründung von Reformen der
Beirat 2001, Kap. 3.2 und 7.5).                                               Sozialversicherung in Deutschland dienten, eine
                                                                              permanente Neujustierung erfahren. Das liegt dar-
Eine weitere Gerechtigkeitsfrage stellt sich hin-                             an, dass die Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit
sichtlich der Abgrenzung des Personenkreises, der                             in einer Gesellschaft „den Zusammenhang von
im Sozialversicherungssystem abgesichert ist.                                 sozialen Institutionen und bestimmten gesell-
Grundsätzlich sind dies die erwerbstätigen Perso-                             schaftlichen Zuständen (wie Verteilungen) mit
nen, die einer sozialversicherungspflichtigen Be-                             einbeziehen“ müssen, da für „viele Gerechtigkeits-
schäftigung nachgehen, deren nicht erwerbstätige                              probleme […] nicht Muster oder Endzustände
Familienangehörige sowie Rentnerinnen, Rentner                                einer Verteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt
und Arbeitslose; in die GRV werden für die Kin-                               wichtig [sind], sondern die (Re-)Produktion eines
dererziehungszeit auch Kinder erziehende Eltern                               üblichen Verteilungsmusters über die Zeit hin-
und unter bestimmten Bedingungen auch nicht                                   weg“ (Gosepath 2012, S. 42).

10   Personen, die nur einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, unterliegen seit 2013 prinzipiell einer Versicherungspflicht in der Rentenversi-
     cherung. Wegen einer Übergangsregelung für Altfälle sowie der Möglichkeit zur Befreiung von dieser Pflicht wird sie allerdings bisher kaum
     wirksam.

                                                                                                                                                   13
3 Merkmale der Sozialversicherungen

Veränderungen können dabei auch den Fokus der         Umverteilung der Lasten von Kinderlosen zu
Gerechtigkeitsdebatte betreffen. Frühe Beispiele      Kinderreichen zu beheben (Schuler-Harms 2008).
bieten die Mitversicherung von nicht in Erwerbs-
tätigkeit stehenden Ehegattinnen und Ehegatten        Damit wird offenbar, wie veränderte Rahmenbe-
in der GKV oder die Hinterbliebenenrente, die         dingungen auch zeitgenössische Gerechtigkeits-
nach dem Einkommen der oder des Verstorbenen          vorstellungen in Bezug auf die Sozialversicherun-
bemessen wird. Veränderte Familienverhältnisse        gen verändern können. Es stellt sich die Frage,
und Rollenbilder sowie demografische Entwick-         welche politischen Entscheidungen welche Vor-
lungen haben in der jüngeren Vergangenheit den        stellungen von Gerechtigkeit aufgreifen und in der
Referenzrahmen für die Gerechtigkeitsfrage ver-       Folge das Feld der Sozialpolitik formen. Viele
schoben. Eine solche Verschiebung findet sich         politische Entscheidungen erfolgen unter Unge-
etwa in der in den 1980er-Jahren erfolgten An-        wissheit und erscheinen teilweise willkürlich
erkennung von Erziehungsjahren im Rentenrecht         (Toens 2012). Darüber hinaus gehört es zu den
unter Bezug auf Leistungs- und Teilhabeargumen-       Merkmalen des (partei-)politischen Diskurses, das
te. Die mit dem weiteren Ausbau solcher Leistun-      Feld möglicher Konsequenzen nicht vollständig
gen verbundene stärkere Wahrnehmung der Kin-          abzubilden. Hinzu kommt noch, dass veränderte
dererziehung als Leistung ging zeitlich allerdings    gesellschaftliche Rahmenbedingungen veränderte
einher mit einer gleichzeitigen Absenkung des         Risikofolgen mit sich bringen können, die verän-
Gesamtrentenniveaus (zum Beispiel in den Ren-         derter Absicherungsmechanismen bedürfen
tenreformen 1992 und 2001). Die Bezugnahme            (ebenda).
auf Leistungen von Familien, in der Pflege und bei
der Betreuung und Erziehung von Kindern, adres-       Faktoren, die in der Vergangenheit auf Gerechtig-
siert nun auch Personenkreise, die zuvor nur ab-      keitsdiskurse zur Sozialversicherung eingewirkt
geleitete Sicherungsansprüche hatten (Toens 2012,     haben, umfassen die demografische Entwicklung,
S. 257). Gleichzeitig hat die abgeleitete Sicherung   Verschiebungen in Konzepten der intergeneratio-
mit dem Bedeutungsverlust der Ehe und dem             nalen Verantwortung, die Teilhabeorientierung,
Anstieg der Ehescheidungen ihre Funktion teil-        veränderte Familienverhältnisse sowie sich wan-
weise eingebüßt.                                      delnde geschlechtsorientierte Arbeits- und Rollen-
                                                      bilder. Angesichts dessen stellt sich die Frage,
In den Vordergrund getreten ist in jüngerer Zeit      inwieweit der aktuelle Referenzrahmen und die
auch die Frage des gerechten Ausgleichs von Las-      Ausgestaltung der Sozialversicherung Familien
ten beziehungsweise des gerechten Austauschs          vor dem Hintergrund der historischen und vor
von Leistungen zwischen Generationen. Auch hier       allem der derzeitigen Verhältnisse in gerechter
ist die demografische Entwicklung eine Triebfeder,    Weise adressieren. Zu beurteilen ist dies nach den
die den Diskurs über Generationengerechtigkeit        hier angestellten Überlegungen auf Basis unter-
erst prominent hervorgebracht hat, der sich unter     schiedlicher Gerechtigkeitskonzepte. Besondere
anderem an der Einführung der Pflegeversiche-         Bedeutung gibt der Beirat dabei Fragen nach den
rung im Jahr 1995 entzündete. Der Wissenschaft-       Kriterien und Bedingungen von Teilhabe, die
liche Beirat für Familienfragen hat in seinem         wegen ihres Anschlusses an mehrere traditionel-
Gutachten zur „Gerechtigkeit für Familien“ 2001       le Gerechtigkeitsbegriffe eine wachsende Rolle
ausführlich erörtert, dass die Investitionen einer    in Diskussionen über Sozialpolitik spielen. Dies
Elterngeneration in ihre Kinder eines sozialversi-    schließt Fragen nach der Teilhabegerechtigkeit im
cherungsrechtlichen Ausgleichs bedürfen, um           Generationenkontext ein. Beim Fokus auf Teilhabe
einerseits die im Vergleich zu früheren Zeiten        sind daher individuelle Lebenschancen im Längs-
geringere Zahl von Kindern nicht über das im          schnitt eines Familienzyklus sowie der Wandel
Binnenverhältnis der Familie (zum Beispiel durch      des Generationenverhältnisses im Laufe der Zeit
Fürsorge-Arbeit) Leistbare hinaus zu belasten und     im Blick zu behalten. Vor diesem Hintergrund
andererseits die mit der ungleichen Verteilung        werden hier nun zunächst wichtige Gestaltungs-
von Kinderzahlen einhergehenden Probleme der          merkmale der Sozialversicherungen behandelt.

14
3 Merkmale der Sozialversicherungen

3.2 Finanzierung im                                                         auf die langfristige Vorsorge für mit dem Lebens-
                                                                            alter typischerweise stark steigende Gesundheits-
Umlageverfahren                                                             ausgaben (siehe unten) ergeben sich daraus letzt-
                                                                            lich dieselben Effekte wie bei der GRV. Dasselbe
Eine wichtige Gemeinsamkeit der drei Sozialver-                             gilt auch für die SPV und das Risiko der Pflegebe-
sicherungszweige zur Absicherung im Alter, bei                              dürftigkeit, das bis zum Ende der Erwerbsphase
Krankheit und bei Pflegebedürftigkeit ist, dass sie                         äußerst gering ist.
im Umlageverfahren finanziert werden. Die Bei-
tragseinnahmen eines Jahres werden dabei unmit-                             Für die Umlagefinanzierung ihrer Leistungen
telbar wieder ausgegeben, um die Leistungen zu                              „leihen“ sich Renten-, Kranken- und Pflegeversi-
decken, die im selben Jahr anfallen. Am Ende jedes                          cherung aus ökonomischer Sicht somit einen
Jahres sind die Kassen der Sozialversicherungen                             Gutteil der Beiträge der aktiven Mitglieder zur
daher stets so gut wie leer.11 Gleichzeitig sind die                        Deckung laufender Ausgaben für ältere Versicher-
Gruppen aktueller Beitragszahlenden und aktuel-                             te. Sie stellen den Beitragszahlerinnen und -zah-
ler Leistungsempfangenden beziehungsweise                                   lern dafür – wie bei jeder anderen Kreditaufnah-
Leistungsberechtigten nicht identisch, da die                               me – eine spätere Rückzahlung in Aussicht, für
relevanten Lebensphasen typischerweise ausein-                              die sie zu gegebener Zeit Beiträge zukünftiger
anderfallen.12                                                              aktiver Mitglieder auf die gleiche Weise verwen-
                                                                            den werden. Daher bezeichnet man bereits erwor-
Am deutlichsten lassen sich die Effekte eines sol-                          bene Leistungsan­sprüche Versicherter, die erst in
chen Finanzierungsverfahrens an der GRV ab-                                 Zukunft wirksam werden, auch als „versteckte“
lesen. Die Beiträge, die die aktiven Versicherten                           oder „implizite Staatsverschuldung“. Wenn die
dort laufend aus ihren Erwerbseinkommen ein-                                Leistungsansprüche in Zukunft erfüllt werden,
zahlen, stellen rechtlich die wichtigste Grundlage                          verschwindet diese Schuld nicht, sondern sie
für ihre späteren Rentenansprüche dar. Die Mittel                           wird auf die nächste Generation von Beitragszah-
werden aber nicht zurückgelegt, um diese Ansprü-                            lerinnen und -zahlern weitergewälzt. Anders als
che auch materiell abzusichern. Vielmehr werden                             private Kreditnehmerinnen und -nehmer ist der
sie sofort wieder an die momentanen Rentnerin-                              Staat prinzipiell in der Lage, eine solche Form der
nen und Rentner ausgezahlt. Bei GKV und SPV ist                             Finanzierung zu organisieren und zu stabilisieren,
dies weniger offensichtlich. In der GKV wird                                weil er Angehörige der jeweils aktiven Generation
einerseits ein Teil der Beiträge aktiver Versicherter                       per Gesetz zur Mitgliedschaft in den Sozialversi-
für die laufenden Leistungen verwendet, die auf                             cherungen verpflichten und die von ihnen zu
sie selbst entfallen. Andererseits zahlen auch                              ent­richtenden Beiträge festsetzen kann. Trotzdem
Versicherte im Rentenalter Beiträge, die zumin-                             können in einem solchen System aber Ungleich-
dest einen Teil der Leistungen decken, die sie                              gewichte zwischen den ausstehenden Ansprüchen
gerade in Anspruch nehmen. Soweit diese Beiträge                            und den zukünftigen Deckungsmöglichkeiten
auf gesetzliche Renten erhoben werden, stammen                              entstehen. In diesem Fall spricht man von fehlen-
sie allerdings ebenfalls aus Beitragszahlungen                              der „Nachhaltigkeit“ oder fehlender „Tragfähig-
aktiver Versicherter – nämlich der GRV. In Bezug                            keit“ des Systems.

11   Genau genommen halten alle drei Zweige der Sozialversicherung, die hier betrachtet werden, gewisse finanzielle Reserven, die im Verhältnis zu
     den laufenden Ausgaben aber gering sind. So verfügt die GRV über eine gesetzlich vorgesehene („Nachhaltigkeits-“)Rücklage in Höhe von
     Ausgaben für maximal 45 Tage, die das System vor allem gegenüber konjunkturellen Schwankungen der Einnahmen stabilisiert. Die GKV hält im
     Gesundheitsfonds und in einzelnen Kassen derzeit faktisch, ohne klare gesetzliche Grundlage, eine Reserve ähnlicher Größenordnung. Einzig die
     SPV verfügt seit ihrer Errichtung im Jahr 1995 über nennenswerte finanzielle Rücklagen, die aktuell den Ausgaben für circa vier Monate
     entsprechen. Im Rahmen des 2015 neu geschaffenen Pflegevorsorgefonds sollen sie bis 2035 gezielt weiter ausgebaut und danach wieder abgebaut
     werden.
12   Anderes gilt für die Arbeitslosenversicherung, aber auch für einige private Versicherungen, etwa die Hausrats- oder Unwetterversicherung, die
     sich ebenfalls mindestens teilweise im Umlageverfahren finanzieren. Die Beiträge solcher Versicherungen steigen, wenn insgesamt mehr
     Schadensfälle auftreten, unabhängig vom individuellen Risiko. Allerdings sind die Versicherten hier immer gleichzeitig Prämienzahlerinnen
     beziehungsweise Prämienzahler und Leistungsberechtigte.

                                                                                                                                               15
3 Merkmale der Sozialversicherungen

Umlagefinanzierung macht die Vorsorge für das                                  lerinnen und -zahler eine nachfolgende Genera-
Alter, einschließlich der mit dem Alter steigenden                             tion notwendig. Elterliche Erziehungsleistungen
Ausgaben für Gesundheit und Pflege, unabhängig                                 sind daher bei einem solchen System konstitutiv
von Kapitalmärkten und von langfristigen Prozes-                               für die zukünftige Finanzierung, während die
sen der Kapitalbildung und -verwertung. Stattdes-                              laufende Entrichtung finanzieller Beiträge konsti-
sen wird die Altersvorsorge kurz- bis mittelfristig                            tutiv ist für die Finanzierung aktueller Leistungen.
eng an die heimische Arbeitsmarktsituation,                                    In einer Gesellschaft, in der über 20 Prozent der
längerfristig eng an die heimische Demografie                                  Bevölkerung kinderlos bleibt – wobei dies über-
geknüpft. Dieser Umstieg hat Vor- und Nachteile                                wiegend nicht auf medizinische Gründe zurück-
(vergleiche etwa Werding 1998; 2016; Sinn 2000).                               zuführen ist – profitieren die kinderlosen und
Von den wichtigsten Trends der Veränderung                                     „kinderarmen“ Personen davon, dass andere
der Lebenssituation von Familien (vergleiche                                   Mitglieder der Gesellschaft für die Existenz einer
Abschnitt 2) erweist sich dabei die steigende Er-                              nächsten Generation sorgen.
werbsbeteiligung von Frauen – mindestens kurz-
bis mittelfristig – als günstig.13 Probleme erzeugt                            Jedoch leisten Kinderlose aufgrund besserer Er-
dagegen die gesunkene Kinderzahl, die – kombi-                                 werbsmöglichkeiten und entsprechend höherer
niert mit einer anhaltend steigenden Lebens-                                   Einkommen höhere finanzielle Beiträge zu den
erwartung – zur ausgeprägten demografischen                                    Sozialversicherungen und tragen mit höheren
Alterung14 führt, die die Diskussionen über die                                Steuerzahlungen auch zur formalen Ausbildung
Finanzierbarkeit der deutschen Sozialversicherun-                              der nächsten Generation bei. Eine umfassende
gen immer stärker bestimmt und in den nächsten                                 Zusammenstellung der privaten und öffentlichen
zwei Jahrzehnten offen hervortritt (vergleiche                                 Finanzierungs- und Leistungsverflechtungen
etwa den Schlussbericht der Enquête-Kommission                                 hinsichtlich der Leistungen für die nächste Gene-
Demographischer Wandel, veröffentlicht in:                                     ration wurde vom Wissenschaftlichen Beirat für
Deutscher Bundestag 2002; Kommission „Nach-                                    Familienfragen erarbeitet (Wissenschaftlicher
haltigkeit in der Finanzierung der Sozialen                                    Beirat 2001, Kap. 5 und 6). Abschätzungen der
Sicherungssysteme“ 2003; Werding 2007; 2018).                                  entsprechenden finanziellen Gegenwerte spre-
Die einzelnen Zweige des Systems sind davon                                    chen dafür, dass die gesamtgesellschaftlich er-
allerdings in unterschiedlicher Weise betroffen,                               brachten Leistungen den Wert der elterlichen
unter anderem weil sie sich in ihrer Ausgestaltung                             Erziehungsleistungen für die Sozialversicherun-
ansonsten durchaus klar unterscheiden.                                         gen nicht aufwiegen (Werding 2014). Die Bedeu-
                                                                               tung der Erziehung von Kindern für umlagefi-
Neben dem Finanzierungsproblem aufgrund der                                    nanzierte Sozialversicherungen hat auch das
geringeren Kohortengröße der nachwachsenden                                    Bundesverfassungsgericht festgehalten: mit den
Generationen ergeben sich zudem spezifische                                    Entscheidungen zu Kindererziehungszeiten in
Gerechtigkeitsfragen. Bei einem Umlagesystem,                                  der GRV (BVerfG, 1 BvL 51/86 unter anderem
das der Absicherung von Risiken, die vor allem im                              vom 7. 7. 1992, Rn. 123–137) und zur differenzier-
Alter auftreten, dient und daher die Beiträge                                  ten Behandlung von Familien in der Pflegeversi-
überwiegend oder vollständig für Leistungen an                                 cherung (1 BvR 1629/94 vom 3. 4. 2001, Rn. 55–61;
die vorherige Generation nutzt, ist für die De-                                vergleiche hierzu auch Schuler-Harms 2008).
ckung der Ansprüche der jeweiligen Beitragszah-

13   Auf Dauer stehen den höheren Beiträgen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigte Frauen in wachsender Zahl an die GRV entrichten, aber
     auch entsprechend höhere Rentenansprüche gegenüber, die von zukünftigen Beitragszahlerinnen und -zahlern erfüllt werden müssen. In
     der GKV und der SPV erleichtern höhere Beiträge die Finanzierung auf Sicht ebenfalls; aktuelle und zukünftige Ansprüche bleiben dabei ten-
     denziell unverändert, zumindest soweit die Frauen in diesen Systemen ansonsten als mitversicherte Ehegattinnen erfasst würden (vergleiche
     Abschnitt 3.4).
14   Ist im Jahr 2017 das Verhältnis der Bevölkerung im Alter 15–64 zur Bevölkerung im Alter 65+ (Altenquotient) 3:1 (Statistisches Bundesamt 2019 f),
     so wird dieses bis zum Jahr 2035 auf 2:1 steigen (Werding 2018, S. 19). Da nicht die gesamte Bevölkerung in der GRV versichert ist, ist für sie nach
     den gegenwärtigen Regelungen nicht der Altenquotient der gesamten Bevölkerung relevant, sondern das Verhältnis von Beitragszahlenden und
     Rentenbeziehenden, der sogenannte Rentnerquotient. In der momentanen Rentenanpassungsformel wird dieser zusätzlich noch mit den
     durchschnittlichen Rentenansprüchen gewichtet. Nach gegenwärtigen rechtlichen Bestimmungen wird dieses Verhältnis von 1:2 im Jahr 2017 auf
     2:3 im Jahr 2030 steigen (Deutscher Bundestag 2018, S. 41).

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