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Familiengerechtigkeit in den Sozialversicherungen Ein Diskussionsbeitrag Essay des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Familiengerechtigkeit in den Sozialversicherungen Ein Diskussionsbeitrag Essay des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Miriam Beblo, Heiner Fangerau, Irene Gerlach, Notburga Ott, Margarete Schuler-Harms, Martin Werding und der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen
Inhalt Inhalt 1 Einleitung 4 2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien 6 2.1 Weniger Geburten 6 2.2 Weniger und instabilere Ehen 7 2.3 Andere Familienformen 8 2.4 Veränderte Rollenbilder und Arbeitsteilung 9 2.5 Fürsorge-Arbeit 10 3 Merkmale der Sozialversicherungen 11 3.1 Zugrunde liegende Gerechtigkeitskonzeptionen 11 3.2 Finanzierung im Umlageverfahren 15 3.3 Ausgestaltung der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) 17 3.4 Ausgestaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) 18 3.5 Ausgestaltung der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) 20 4 Diskussion 23 4.1 Arbeitsteilung in verschiedenen Familienphasen 24 a) GRV 25 b) GKV 28 c) SPV 30 4.2 Lastverteilung zwischen den Generationen 32 5 Fazit 36 Literatur 42 Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen 50 3
1 Einleitung Ziel dieses Beitrags ist es zu prüfen, ob das deut- Allerdings passen die Sozialversicherungen in sche Sozialversicherungssystem – fast 140 Jahre ihrer historisch gewachsenen Form auch nicht nach seiner Entstehung und 70 Jahre nach seiner ohne Weiteres zu (Kern-)Familien herkömmlichen Wiedererrichtung bei Gründung der Bundesrepu- Typs. Nach wie vor knüpfen sie eng an den Er- blik – auf der Höhe der Zeit ist, was die Belange werbsstatus ihrer Versicherten an, obwohl sie für und Probleme heutiger Familien betrifft, mit ihre langfristige Finanzierbarkeit, im Bereich der denen sich der Wissenschaftliche Beirat für Fami- Pflege sogar für die Erbringung laufender Leistun- lienfragen beim Bundesministerium für Familie, gen, zugleich stark von vielen Formen familiärer Senioren, Frauen und Jugend in seiner Arbeit Fürsorge-Arbeit abhängig sind. Ihr Versicherten- laufend befasst. Entsprechen die Sozialversiche- kreis schließt neben den beitragspflichtigen Mit- rungen der Lebenswirklichkeit von Familien? Wie gliedern oft weitere Familienangehörige ein, und beeinflussen sie deren wirtschaftliche und soziale sie gewähren ihnen – mittelbar und auch unmit- Situation in verschiedenen Phasen des Familien- telbar – diverse Leistungen. Trotzdem stellt sich zyklus? Passen sie überhaupt zu einem zeitgemä- die Frage, ob es dabei zu Sicherungslücken, Fehl- ßen Familienbegriff, der sich mit der Zeit erweitert anreizen oder Gerechtigkeitsproblemen kommt, hat – von einer engen Anwendung allein auf ge- die Familien in spezieller Weise treffen. mischtgeschlechtliche Ehepaare mit Kindern, neben denen andere Familienformen bestenfalls Die Überlegungen des Beirats konzentrieren sich am Rande wahrgenommen wurden, hin zu einer auf drei der fünf Zweige des Sozialversicherungs- rechtlichen Anerkennung von fortgesetzten oder systems: auf die gesetzliche Rentenversicherung erweiterten Familien nach Scheidung oder Tren- (GRV), die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nung der Eltern, Familien mit alleinerziehendem und die soziale Pflegeversicherung (SPV), nicht auf Elternteil, nicht ehelichen Lebensgemeinschaften die Arbeitslosen- und die Unfallversicherung. mit Kindern sowie Familien mit gleichgeschlecht- Grund für diese Auswahl ist, dass es in den drei lichen Eltern?1 hier betrachteten Zweigen überwiegend – gemes- 1 Den vorerst letzten Schritt einer rechtlichen Anerkennung faktischer Familienkonstellationen stellt der Entwurf für ein neues soziales Entschädi- gungsrecht dar, der 2022 Gesetz werden soll (vergleiche den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales , online unter https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Referentenentwuerfe/ref-gesetz-zur-regelung-des-sozialen- entschaedigungsrechts.pdf?__blob=publicationFile&v=2; Bearbeitungsstand: 20.11.2018; zuletzt überprüft am 31.07.2019). 4
1 Einleitung sen zum Beispiel an den Ausgaben, die auf ver- folgerungen ausdiskutiert werden. Alles in allem schiedene Leistungen entfallen – um die Deckung stellt der vorliegende Text einen Diskussionsbei- von Risiken geht, die sich nicht auf die Erwerbs- trag dar, verfasst aus einer bestimmten Perspekti- phase beschränken und mit dem Alter stark ve und mit einem bestimmten Anliegen, nämlich variieren. Daher übernehmen diese drei Zweige die Lebenssituation von Familien und die dort auch Funktionen, die vor Entstehung der Sozial- sichtbar werdenden Auswirkungen mit in den versicherungen zu einem großen Teil in Familien Blick zu nehmen, wenn angesichts aktueller Her- selbst erfüllt wurden – soweit diese dazu in der ausforderungen durch demografischen, techni- Lage waren. In den Überlegungen dazu, wie sich schen, wirtschaftlichen sowie sozialen Wandel dieses Nebeneinander aus heutiger Sicht darstellt, auf breiterer Basis über die Fortentwicklung des werden Gemeinsamkeiten, aber auch die Beson- deutschen Sozialversicherungssystems nachge- derheiten jedes der drei Zweige beachtet. Die dacht wird. Koexistenz mit Sondersystemen für bestimmte Gruppen Erwerbstätiger (Selbständige, Beamtin- Der Diskussionsbeitrag beginnt damit, kurz nen und Beamte) wird dabei fallweise berücksich- wesentliche Veränderungen der Lebenssituation tigt, diese Systeme werden aber nicht im Detail von Familien während der vergangenen Jahrzehn- behandelt. Auch die besondere Situation von te zu rekapitulieren, die vor allem ihre Größe Familien mit Mitgliedern mit Behinderungen, und Struktur, aber auch die Rollen und Aktivitä- insbesondere behinderten Kindern, wird hier ten ihrer Mitglieder betreffen (Abschnitt 2). Es nicht betrachtet.2 Effektiv erfassen die GRV, die folgt ein Überblick über Merkmale der betrachte- GKV und die SPV im Lebenslauf jeweils über ten Sozialversicherungen – sowohl gemeinsame 90 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands, Züge als auch Eigenarten in der Ausgestaltung der und sie bieten mit Blick auf die Interessen und betrachteten Zweige –, die für die Auswirkungen Kompetenzen des Beirats für sich genommen des Systems auf Familien als besonders wichtig Diskussionsstoff genug. erscheinen (Abschnitt 3). Vor diesem Hintergrund wird dann eingehender diskutiert, welche Auswir- Trotz dieses immer noch sehr weiten Themen- kungen sich im Kontext der einzelnen Sozialver- feldes ist der Beitrag auf Kürze angelegt. Er soll sicherungszweige auf die familiäre Arbeitsteilung Probleme aufzeigen und erläutern, die aus Sicht ergeben und welche Effekte sie insgesamt für die des Beirats bedenkenswert sind, und damit auch Lastverteilung zwischen den Generationen der zum Nachdenken über Lösungen anregen. In Gesellschaft haben, die zugleich in Familien zu- manchen Fällen werden auch Hinweise auf mög- sammenleben (Abschnitt 4). Der Beitrag schließt liche Lösungsansätze oder -wege gegeben, über mit einem Fazit, das die aus Sicht des Beirats wich- die der Beirat – gelegentlich kontrovers – nachge- tigsten Beobachtungen und Probleme knapp dacht hat, allerdings ohne dass diese hier bis hin zusammenfasst (Abschnitt 5). zu eindeutigen, politisch-praktischen Schluss- 2 Gerade solche Familien leisten erhebliche Fürsorge-Arbeit und sind dabei spezifischen Belastungen ausgesetzt. Staatliche Unterstützungs- und Sicherungsleistungen fallen teilweise zwar in den Bereich der Kranken- und vor allem der Pflegeversicherung. Besonderheiten dieser Familien sowie das Zusammenwirken der Sozialversicherungen mit den Regelungen des SGB IX lassen sich in diesem Beitrag aber nicht angemessen behandeln. 5
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien Familie und Familienbilder unterliegen einem land zu einem rasanten Abfall der Geburtenziffer3 kontinuierlichen gesellschaftlichen Wandlungs- von durchschnittlich 2,5 Kindern pro Frau zu prozess. Seit dem „Babyboom“ und dem „Golden Zeiten des Babybooms 1965 auf 1,5 innerhalb von Age of Marriage“ in den 1950er- und 60er-Jahren zehn Jahren; anschließend schwankte die Gebur- wird Familie vielfältiger und umfasst neben der tenziffer vier Jahrzehnte lang um 1,4 und stieg „traditionellen Familie“, das heißt gemischtge- zuletzt wieder auf 1,57 im Jahr 2017 (Statistisches schlechtlichen, verheirateten Paaren mit Kindern, Bundesamt 2019a; Bundesinstitut für Bevölke- viele andere familiale Lebensformen. Doch wie rungsforschung 2019a). Die Entwicklung in der haben sich Familien strukturell verändert und ehemaligen DDR beziehungsweise den neuen welche Formen des Zusammenlebens sind heute Bundesländern verlief ähnlich, wenn auch mit verbreitet? Dieser Abschnitt gibt einen Überblick starken Schwankungen zwischen 1975 und 2000, und beschreibt zunächst die demografische bedingt durch ein Wechselspiel aus staatlicher Veränderung der klassischen Kleinfamilie. Ferner Förderung und sozioökonomischen Umbrüchen werden der Wandel der Institution Ehe hinsicht- im Zuge der Wiedervereinigung (Pötzsch 2012, lich Verbreitung und Stabilität sowie die Entwick- S. 7). Hier lag die Geburtenziffer mit 1,6 Kindern lung alternativer Familienformen beschrieben. pro Frau im Jahr 2017 geringfügig höher als in Abschließend werden die veränderte Arbeitstei- Westdeutschland (Statistisches Bundesamt 2019a), lung und die sich hieraus ergebenden Konsequen- jedoch ebenfalls weit vom Reproduktionsniveau zen für die familiale Fürsorge-Arbeit aufgezeigt. von 2,1 entfernt. Gründe für das veränderte Geburtenverhalten liegen im Zusammenspiel eines Wertewandels mit 2.1 Weniger Geburten vermehrten Optionen für Frauen zur Erwerbsbe- teiligung und modernen Verhütungsmitteln Die (familien-)demografische Entwicklung der (Beck-Gernsheim 2006; Lesthaeghe 2012) sowie in zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist insbeson- einem Rückgang der als ideal betrachteten Kin- dere durch die Veränderung des Geburtenverhal- derzahl (Boll et al. 2013, S. 47 ff.; Sobotka und tens geprägt. So kam es vor allem in Westdeutsch- Beaujouan 2014).4 Zugleich ist das Alter der Mütter 3 Hierbei handelt es sich um die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR), die aus Geburtenzahlen des aktuellen Jahres für Frauen verschiedenen Alters ermittelt wird, allerdings aufgrund von Verschiebungen von Geburten im Lebenslauf verzerrt ist. Aussagekräftiger sind endgültige Kinderzahlen je Frau (CFR), die allerdings für jüngere Geburtskohorten mit noch nicht abgeschlossener Geburtsphase nicht vorliegen. 4 Zu den Ursachen und Einflüssen der veränderten Kinderwünsche siehe Boll et al. 2013, Kap. 4. Letztlich resultieren daraus auch sinkende endgültige Kinderzahlen je Frau (CTFR), die seit der Geburtskohorte 1933 von durchschnittlich 2,2 auf 1,5 bei der Geburtskohorte von 1968 gesunken sind (Statistisches Bundesamt 2019d). 6
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes an- 2.2 Weniger und gestiegen (Pötzsch 2012, S. 10 f.; Statistisches Bundesamt 2019b). Der Rückgang der Gesamtfer- instabilere Ehen tilität ist eng mit einem Rückgang der Zahl der Frauen mit mehr als zwei Kindern verbunden. Zusammen mit der zunehmenden Entkoppelung Dieser hat mit 68 Prozent zum Geburtenrückgang von Ehe und Fertilität ist ein Rückgang der Ehe als beigetragen, die gestiegene Kinderlosigkeit nur überwiegende Partnerschaftsform und stattdessen mit 26 Prozent (Bujard und Sulak 2016). So liegt eine Pluralisierung der Lebensformen zu beobach- der Anteil von Frauen mit drei oder mehr Kindern ten. Hierbei nimmt nicht nur die Zahl der ge- in der Geburtskohorte 1933 noch bei 33,6 Prozent schlossenen Ehen kontinuierlich ab. Kamen auf (ebenda), in den Jahrgängen 1967–71 jedoch nur 1.000 Einwohner 1950 noch 10,8 Eheschließungen, noch bei 16 Prozent (eigene Berechnungen auf waren es 2017 lediglich 4,9 (Statistisches Bundes- Basis von: Statistisches Bundesamt 2017, S. 44). Am amt 2019c). Umgekehrt stieg der Anteil dauerhaft Beispiel der Kohorte von 1969–1973 zeigt sich zu- Unverheirateter5 von unter fünf Prozent in der dem ein höherer Anteil in west- (17 Prozent) als in Geburtskohorte von 1930 auf schätzungsweise ostdeutschen Flächenländern (11,5 Prozent bei mehr als 20 Prozent in der 1970er-Geburtskohorte den Jahrgängen 1967–71). Noch drastischer verän- (Grünheid 2011, S. 13 ff.). Auch die Neigung, nach derte sich der Anteil von Frauen mit mindestens einer Scheidung oder Verwitwung erneut zu vier Kindern, von 14,3 Prozent im Jahrgang 1933 heiraten, nimmt deutlich ab (ebenda, S. 16 ff.). auf lediglich 4,2 Prozent bei den Jahrgängen 1967–71. Zudem sinkt die Stabilität bestehender Ehen. Während die Scheidungsziffer 1970 in West- Nach wie vor sind Familiengründung und insbe- deutschland bei 15 Prozent und in Ostdeutschland sondere Kinderreichtum eng mit der Ehe verbun- bei 21 Prozent lag, betrug sie im Jahr 2004 43 Pro- den, auch wenn dieser Einfluss zunehmend zent beziehungsweise 41 Prozent (Bundesinstitut schwindet (Dorbritz und Ruckdeschel 2015, S. 136). für Bevölkerungsforschung 2019b). Seitdem san- So hatten beispielsweise rund 20 Prozent der ken die Ziffern wieder leicht auf 35 Prozent im verheirateten Frauen der Kohorte von 1969–73 Jahr 2016 (ebenda). Gleichzeitig verlängert sich die drei und mehr Kinder, während dieser Anteil in mittlere Ehedauer bis zur Scheidung auf 15 Jahre, nicht ehelichen Lebensgemeinschaften bei nur wobei fast jede sechste Scheidung sogar erst nach 8,5 Prozent lag (Diabaté et al. 2015, S. 175). Ähnli- mehr als 25 gemeinsamen Jahren erfolgt (Statisti- ches lässt sich im Hinblick auf die Kinderlosigkeit sches Bundesamt 2018a). Meyer (2014) warnt da- erkennen. Der Anteil lebenslang kinderloser vor, die hohe Scheidungsrate lediglich als „kultu- Frauen hat sich in Gesamtdeutschland seit den relle[n] Geltungsverlust des herkömmlichen […] Geburtskohorten der 1930er-Jahre um rund Ehemodells“ (S. 426) zu verstehen. Vielmehr zehn Prozentpunkte erhöht und liegt heute bei verweist er darauf, dass die Ansprüche an die Ehe 21 Prozent (Statistisches Bundesamt 2017, S. 14). mit der Fokussierung auf die Liebesbeziehung und Unter den verheiraten Frauen ist die endgültige dem Verzicht auf „ehespezifische Investitionen“ Kinderlosigkeit jedoch nur etwa halb so hoch: Sie sprunghaft zugenommen haben und deren Nicht- liegt bei nur 10,9 Prozent (Bujard 2015, S. 281). erfüllung Trennungen wahrscheinlicher macht (ebenda, S. 427 f.). Die gleichzeitig gestiegenen Ansprüche an die „kindzentrierte“ Familie geraten damit zunehmend in Konkurrenz zur Partner- schaft (ebenda, S. 443 f.). 5 Die Zahlen beziehen sich auf Ledige im Alter von 80 Jahren bei der 1930er-Geburtskohorte und auf Schätzungen auf der Basis der Ledigen im Alter von 50 Jahren bei der 1970er-Geburtskohorte. 7
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien 2.3 Andere Der Anteil minderjähriger Kinder, die zum jeweili- gen Befragungszeitpunkt nur bei einem Elternteil Familienformen lebten,6 hat sich seit 1996 sowohl in West- als auch in Ostdeutschland erhöht, lag aber im Osten zu- Neben der traditionellen Familienform prägen letzt noch knapp neun Prozentpunkte über dem heute insbesondere zwei Formen beziehungsweise Westen (Bundesinstitut für Bevölkerungsfor- Gruppen das familiale Zusammenleben mit Kin- schung 2017). Insgesamt lebten im Jahr 2017 dern: die gemischtgeschlechtlichen, nicht eheli- 73 Prozent der minderjährigen Kinder bei Ehepaa- chen Lebensgemeinschaften sowie die Allein ren, zehn Prozent bei nicht ehelichen Lebensge- erziehenden. Bei Betrachtung des Mikrozensus, meinschaften und 16 Prozent bei alleinerziehen- welcher seit 1996 die Anwesenheit eines Lebens- den Elternteilen (Statistisches Bundesamt 2018b, partners im Haushalt erfragt, zeigen sich aller- S. 144). Der Anteil der Alleinerziehenden an allen dings deutliche Unterschiede zwischen neuen und Familienformen mit minderjährigen Kindern ist alten Bundesländern im Hinblick auf die Bedeu- von knapp 14 Prozent im Jahr 1996 auf knapp tung nicht ehelicher Lebensgemeinschaften mit 19 Prozent im Jahr 2017 gestiegen, wobei davon und ohne Kinder im Haushalt (Peuckert 2012, über den gesamten Zeitraum circa 14 Prozent S. 98 ff.). Während sich diese Form des Zusammen- alleinerziehende Väter sind (a. a. O., S. 124–127). lebens unter allen Paaren seit 1996 sowohl in Ost als auch in West circa verdoppelt hat und im Jahr Als weiteres Familienmodell jenseits der tradi- 2017 im Osten 26 Prozent und im Westen knapp tionellen Kleinfamilie (verheiratetes Paar mit 17 Prozent ausmacht, liegt der Anteil nicht ehe- eigenen Kindern) sind die sogenannten „Regen- licher Lebensgemeinschaften mit Kind(-ern) in bogenfamilien“, also gleichgeschlechtliche Paar- Ostdeutschland seit 1996 konstant bei 46 Prozent, beziehungen mit Kindern, zu erwähnen. Zwar im Westen hingegen deutlich darunter; dort ist er ist diese Form des familialen Zusammenlebens von 1996 bis 2017 allerdings von 20 Prozent auf momentan noch äußerst selten. So gab es im 28 Prozent gestiegen (Statistisches Bundesamt Jahr 2016 10.000 Regenbogenfamilien mit minder- 2018b, S. 112 f.). Gleichzeitig hat sich auch der jährigen Kindern, was knapp einem Prozent aller Anteil nicht ehelich geborener Kinder deutlich Familien entspricht (Statistisches Bundesamt erhöht, dessen Anstieg sich bis in die 1960er-Jahre 2018b, S. 122); von den gleichgeschlechtlichen zurückverfolgen lässt. In Ostdeutschland lag Partnerschaften leben knapp elf Prozent mit dieser Anteil 2016 bei rund 58 Prozent, in West- Kindern zusammen (ebenda, S. 78). Allerdings ist deutschland bei nur 30 Prozent (Bundesinstitut davon auszugehen, dass sich diese Zahl mit der für Bevölkerungsforschung 2019c). Öffnung der Ehe und der damit verbundenen Gleichstellung im Adoptionsrecht weiter erhöhen wird (Deutscher Bundestag 2017). 6 Dies sagt nichts darüber aus, wie viele Kinder im Laufe ihres Lebens zeitweise bei einem alleinerziehenden Elternteil gelebt haben. 8
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien 2.4 Veränderte Die damit verbundenen Geschlechterunterschiede lassen sich auch mit Blick auf die Zeitverwendung Rollenbilder und innerhalb der Haushalte aufzeigen. So verdeut- Arbeitsteilung licht die Zeitverwendungsstudie des Statistischen Bundesamtes aus den Jahren 2012 und 2013, dass Mütter in Paarbeziehungen im Alter zwischen 30 Dass sich das familiale Zusammenleben im Hin- und 44 Jahren durchschnittlich fast drei Stunden blick auf die Familiengröße und die gewählten mehr am Tag für Haushalts- und Familienarbeit Familienmodelle stark verändert hat, ist eng ver- aufwenden als Väter. Zwar bringen Väter und woben mit einem anderen prägenden Element Mütter für Erwerbs- und Familienarbeit insgesamt familialer Strukturen: der Arbeitsteilung inner- einen ähnlich hohen Anteil ihrer Zeit auf, aller- halb der Haushalte. Während sich in den 1950er- dings zeigt sich in den Einzelposten die zugrunde Jahren beide Geschlechter an der – von der Politik liegende Aufgabenteilung innerhalb der Familie stark forcierten – Idee der Versorgerehe orientier- (Statistisches Bundesamt 2015, S. 55 f.). Dies ist ten, in der sich die Frauen auf die Familienarbeit insbesondere insofern beachtlich, als dass sich konzentrierten und die Männer die Familie mit Mütter häufig eine berufliche Unabhängigkeit von der bezahlten Erwerbsarbeit finanziell versorgten, ihrem Partner wünschen (Diabaté 2015, S. 215). entwickelte sich seitdem eine zunehmende Zwei- fach-Orientierung – insbesondere von Frauen – Seit den 1970er-Jahren haben atypische Beschäfti- auf Familie und Beruf (Märtin 2017, S. 22 f.). gungsverhältnisse (befristete Beschäftigung, Teil- zeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung So ist seit den 1960er-Jahren ein stetiger Anstieg sowie Zeitarbeit) aufgrund wirtschaftlicher und der Frauenerwerbstätigenquote zu verzeichnen politisch-rechtlicher Entwicklungen eine starke (Grunow 2010), welche sich 2016 mit 73 Prozent Zunahme zu verzeichnen. So ist die absolute Zahl nur noch um acht Prozentpunkte von der der atypisch Beschäftigter7 zwischen 1991 und 2017 Männer unterschied (Bundesagentur für Arbeit um 3,3 Millionen auf insgesamt 7,7 Millionen 2018, S. 5). Die Zweifach-Orientierung von Frauen Personen gestiegen, wobei die Zunahme vor allem spiegelt sich dabei in den geleisteten Erwerbs- zwischen 2004 und 2008 stattfand und seit 2011 arbeitsstunden wider: Befanden sich 2017 rund sogar wieder leicht rückläufig ist (Statistisches 48 Prozent der erwerbstätigen Frauen in einer Bundesamt 2019e). Die Zunahme zeichnet sich Teilzeitanstellung, waren es bei den Männern insbesondere durch einen deutlichen Anstieg von lediglich rund elf Prozent. Insgesamt ist der An- Teilzeit- und geringfügigen Beschäftigungen aus stieg der Frauenerwerbsquote der letzten zehn (ebenda). Diese werden überwiegend von Frauen Jahre vor allem dem Anstieg der Teilzeitbeschäfti- ausgeübt, während bei den Männern Zeitarbeit gungen zuzuschreiben (Bundesagentur für Arbeit und befriste Beschäftigungen überwiegen. Insge- 2018, S. 9). Während sich die Erwerbsquote bei samt sind Frauen deutlich häufiger in atypischen Müttern im Westen der im Osten annähert (2017: Beschäftigungsverhältnissen tätig als Männer 50 Prozent im Westen beziehungsweise 63 Prozent (2017: 33 Prozent versus 14 Prozent der abhängig im Osten), arbeiten ostdeutsche Mütter im Schnitt Beschäftigten), wobei gut zehn Prozent der abhän- rund neun Wochenstunden länger als westdeut- gig beschäftigten Frauen einer geringfügigen sche. Neben immer noch unterschiedlichen Beschäftigung nachgehen (ebenda). Diese sind Rahmenbedingungen der Kinderbetreuung ist nicht sozialversicherungspflichtig; erst seit dem dies auf die staatlichen Leitbilder der vollzeitarbei- 1. Januar 2013 besteht zwar eine Rentenversiche- tenden Mutter in der DDR und der erwerbsunter- rungspflicht, von der man sich aber auf Antrag brechenden, dann teilzeitarbeitenden Mutter in befreien lassen kann. der alten Bundesrepublik zurückzuführen, deren Spuren bis heute zu beobachten sind (Beblo und Görges 2018). 7 Die Angaben des Statistischen Bundesamtes zur Häufigkeit atypischer Beschäftigung beinhalten Teilzeittätigkeiten generell nur bis zu einem maximalen Stundenumfang von 20 Wochenstunden. 9
2 Die Veränderung der Lebenssituation von Familien 2.5 Fürsorge-Arbeit Bereich stationärer als auch ambulanter Pflege (Rothgang et al. 2016, S. 120 ff.; Kochskämper 2018) Auch der Charakter der unbezahlten Haus- und und das fragmentierte Leistungsangebot an Familienarbeit hat sich drastisch gewandelt. Wäh- ambulanter Pflege, das den Bedürfnissen Pflege- rend Hausarbeit im klassischen Sinn noch vor bedürftiger und pflegender Angehöriger nicht wenigen Jahrzehnten zum Konsum von Markt- gerecht wird (Bestmann et al. 2014, S. 16 ff.; gütern nahezu zwingend notwendig war und sich Sachverständigenrat zur Begutachtung der mit der Erziehung und Betreuung von Kindern Entwicklung im Gesundheitswesen 2014, S. 508 ff.; sowie der Pflege von Angehörigen noch relativ gut Wetzstein et al. 2015, S. 9). Das sich ergebende vereinbaren ließ, rückt die Haushaltsproduktion Fürsorge-Defizit birgt das Potenzial großer von materiellen und immateriellen Gütern zur sozioökonomischer Probleme (Jurczyk 2010). eigenen Bedürfnisbefriedigung und Regeneration heute aufgrund der Konsumreife der Marktgüter Dies gilt umso mehr, als diese innerfamilialen und der gestiegenen Einkommen in den Hinter- Sorge-Beziehungen nicht als rein private Angele- grund (Ott 1999). Die Familienarbeit besteht heute genheit betrachtet werden können, da sie über vor allem in sozialen und sorgenden Tätigkei- den individuellen Nutzen, den die jeweiligen ten, konzentriert sich auf die Beziehungen Familienmitglieder daraus ziehen, bedeutsame zwischen den Familienmitgliedern und gerät Effekte für die gesamte Gesellschaft erzeugen. gleichzeitig in zeitliche Konkurrenz zum Einkom- Elterliche Erziehungsleistungen sichern nicht nur menserwerb (Ott 2009). den eigenen Kindern die Zukunft, sondern tragen zu einer wirtschaftlich leistungsfähigen, künftigen Diese Fürsorge-Arbeit8 kann daher zunehmend Gesellschaft bei. Auch das gesamtgesellschaftliche nicht mehr innerhalb der Haushalte realisiert Versprechen einer menschenwürdigen Teilhabe in werden (Jurczyk 2010). Mit demografischem Zeiten eingeschränkter oder verlorener Selbstän- Wandel und zunehmender Frauenerwerbstätig- digkeit, vor allem im Alter, wäre ohne die Pflege- keit haben sich auch die Herausforderungen der leistungen von Angehörigen wohl kaum einzulö- privaten Fürsorge-Arbeit verändert. Die hierdurch sen.9 Diese „externen Effekte“ für die Gesellschaft entstehenden individuellen und gesellschaftlichen werden von den Familien nicht intendiert. Ange- Belastungen werden unter anderem dadurch sichts der schwindenden Selbstverständlichkeit verschärft, dass die anfallenden Aufgaben wegen der privaten Sorge für Familienangehörige treten mangelnden Angebots oder fehlender Finanzier- daraus resultierende Defizite für die Gesellschaft barkeit nicht einfach von Märkten übernommen aber immer deutlicher zutage. Die Notwendigkeit werden. Dies zeigt sich vor allem am Mangel an einer nachwachsenden Generation für die gesam- verfügbaren beziehungsweise den Elternbedürf- te Gesellschaft – über die privaten Interessen von nissen entsprechenden Kinderbetreuungsmög- Eltern hinaus – ist in modernen Gesellschaften lichkeiten, insbesondere in Westdeutschland offensichtlich und wird durch öffentliche Maß- (Müller et al. 2013), der sich trotz des 2013 einge- nahmen, insbesondere das Bildungssystem, auch führten Rechtsanspruchs für Kinder im Alter gesamtgesellschaftlich getragen. Die nach wie zwischen ein und drei Jahren noch nicht aufgelöst vor bedeutenden, privaten Anteile an der Erzie- hat und in Zukunft sogar noch steigen wird (Sulak hung und Sozialisation der nächsten Generation und Fiedler 2019). Ähnliches gilt für die mittler- können von der Allgemeinheit jedoch nicht weile eklatante Versorgungslücke sowohl im übernommen, sondern nur unterstützt werden. 8 In der Literatur wird hierfür oft auch der englische Begriff „Care“ verwendet (oder Mischformen wie „Care-Arbeit“ oder „Care-Tätigkeiten“), der neben mentaler und finanzieller Sorge explizit zum Beispiel auch körperliche Pflege umfasst. Der zusammengesetzte Begriff „Fürsorge-Arbeit“ soll ebenfalls dieses gesamte Spektrum an Bedeutungen abdecken. 9 Die Leistungen von Familien, die über die individuellen Interessen hinausreichen und für die Gesellschaft essenziell sind, werden vom Wissen- schaftlichen Beirat für Familienfragen in seinem Gutachten „Gerechtigkeit für Familien“ ausführlich erörtert (Wissenschaftlicher Beirat 2001, Kap. 4). 10
3 Merkmale der Sozialversicherungen Der Begriff „Sozialversicherung“ enthält generell 3.1 Zugrunde liegende eine gewisse innere Spannung zwischen der Anlage als Versicherung auf der einen Seite und Gerechtigkeitskonzep- dem Zusatz „Sozial-“ auf der anderen. In dieses Spannungsverhältnis sind auch die Komponenten tionen der Sozialversicherung für Familienangehörige Versicherter („Familienleistungen“) einbezogen. Das deutsche Sozialversicherungssystem beruht Dies wird hier zunächst in allgemeiner Form auf dem Prinzip der gegenseitigen Unterstützung thematisiert, nämlich als Frage nach der – oder in einer Versichertengemeinschaft. Neben einer den – zugrunde liegenden Gerechtigkeitskonzep- Versicherung im Sinne eines reinen Risikoaus- tion(en). Im Anschluss daran werden konkrete gleichs zwischen den Mitgliedern enthalten die Gestaltungsmerkmale der Sozialversicherungen Sozialversicherungen – anders als Privatversiche- festgehalten, die für die Diskussion der Situation rungen – auch einen mehr oder weniger stark von Familien in diesem System als besonders ausgeprägten „Sozialausgleich“ mit einer gewissen wichtig erscheinen. Dies gilt unter anderem für einkommensabhängigen Umverteilung. Vorrangi- die Umlagefinanzierung, die ein gemeinsames ges Ziel ist es dabei, die Folgen verschiedener Merkmal aller Zweige der Sozialversicherung Lebensrisiken, vor allem Arbeitslosigkeit, Krank- darstellt. Für weitere wichtige Merkmale muss heit, Pflegebedürftigkeit und fehlendes Erwerbs- nach den einzelnen, hier betrachteten Zweigen einkommen bei Invalidität und im Alter, zu differenziert werden (Gesetzliche Rentenversiche- minimieren. Im Fokus stehen hier die letzten drei rung, Gesetzliche Krankenversicherung und dieser Risiken und damit die gesetzliche Renten- Soziale Pflegeversicherung; vergleiche Abschnitt versicherung, die gesetzliche Krankenversiche- 1), da jeder von ihnen seine Eigenarten hat, die rung und die soziale Pflegeversicherung. Gleich- sich auch in der Anwendung auf Familien be- zeitig verzichten die Sozialversicherungen aber merkbar machen. auf wesentliche Elemente von Privatversicherun- gen, insbesondere auf am individuellen Risiko orientierte Prämien oder einen strikt versiche- rungsmathematischen Zusammenhang zwischen Prämien und Leistungen. Teilweise werden sogar Elemente hinzugefügt, die zu einer nennenswer- ten Umverteilung zwischen verschiedenen Versichertengruppen führen. 11
3 Merkmale der Sozialversicherungen Seit 1883 die ersten Bausteine des heutigen Sozial- ein auf die Erwerbstätigkeit bezogenes, leistungs- versicherungssystems eingeführt wurden, hat sich abhängiges Äquivalenzprinzip, indem sich Beiträ- das System durch Umbau und vor allem Ausbau ge und Rentenhöhe am Einkommen der oder des immer weiter differenziert. Eine zentrale Funktion Versicherten orientieren. Risiken, die in der GRV bei Einführung und Umbau des Systems kommt nach dem Versicherungsprinzip abgesichert der normativen Begründungsstrategie zu, mit der werden, sind Erwerbsminderung und vor allem Abweichungen vom risikoäquivalenten Versiche- Langlebigkeit, also das Einkommensrisiko bei rungsprinzip sowie politisch motivierte Verände- individuell überdurchschnittlich langem Leben. rungen legitimiert werden. Der staatliche Zwang Individuelle Bedarfe und das Prinzip der Leistung zur Mitgliedschaft sowie die Frage der Zuteilung für Leistung müssen sich in der Sozialversiche- von Versicherungsleistungen werfen die viel rung also keineswegs ausschließen, auch wenn sie diskutierte Frage nach der gerechten Verteilung eigentlich konkurrierende Gerechtigkeitsvorstel- der zur Verfügung stehenden Mittel auf. Verschie- lungen transportieren. dene Gerechtigkeitstheorien bieten sich im Grundsatz an, die Umverteilung als solche zu Ergänzt werden diese Prinzipien noch durch die rechtfertigen (Schlinke 2013). Idee einer „produktivistischen Gerechtigkeit“, wonach soziale Verhältnisse dann gerecht sind, Das Problem dabei ist, dass Gerechtigkeit und ihre wenn sie „mittel- und langfristig Nutzen stiften, Kriterien nicht pauschal zu bestimmen sind, da nämlich die Wohlfahrt aller maximieren“ (Leise- Gerechtigkeit als relationaler Begriff immer ein ring 2004, S. 33). Darunter werden dann verschie- Bezugssystem zu ihrer Konkretisierung braucht. dene Aspekte des Zusammenhangs von Sozial In sozialen Gefügen hat die Verteilungsgerechtig- politik und gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt keit eine hohe Bedeutung, wobei die Bemessungs- betont. Zum einen wird die Frage von Umvertei- kriterien, wem was zusteht, aber unterschiedlich lung und wirtschaftlicher Wertschöpfung disku- gesetzt werden können. So kann die Verteilung tiert, wonach soziale Sicherheit das wirtschaftliche von Einkommen und Vermögen generell an Wachstum erhöhen kann, aber eine zu hohe Um- Leistung orientiert sein oder durch Bedürfnisse verteilung die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt legitimiert werden. Die Auswahl der in Ansatz senkt, was als Begründung des Paradigmas der gebrachten Kriterien wird dabei zu einer Frage „investiven“ oder „aktivierenden“ Sozialpolitik der politischen Macht, was zur Folge hat, dass angesehen wird (Brettschneider 2007; Nullmeier Konzepte der sozialen Gerechtigkeit eng an und Vobruba 1995). Zum anderen werden die historische Kontexte gebunden sind (vergleiche Leistungen der Gesellschaftsmitglieder für das hierzu die prägnante Übersicht von Lenk 2013). Gemeinwohl in den Vordergrund gerückt. In einer Formulierung von Hradil (2009, S. 21) soll der Die Normen, die im Spannungsfeld zwischen Be- „Beitrag zur Erhaltung des Gemeinschaftslebens darfs- und Leistungsgerechtigkeit im deutschen insgesamt (zum Beispiel durch die Erziehung von Sozialstaat in Anwendung gebracht wurden, sind Kindern) entsprechend belohnt werden“, womit heterogen und wandelbar, je nach politischer sich das Konzept der produktivistischen Gerech- Konstellation. Die Krankenversicherung beispiels- tigkeit als Version von Leistungsgerechtigkeit weise orientiert sich bei den Leistungen aus- erweise (ebenda). Hinsichtlich der Gerechtigkeits- schließlich am Bedarf eines Versicherten, während überlegungen für Familien hat der Wissenschaft- weder das individuelle Krankheitsrisiko noch die liche Beirat für Familienfragen diese Aspekte als Höhe der gezahlten Beiträge bei der Bemessung Begründung für den sogenannten Familienleis- der Leistungen Berücksichtigung finden. In der tungsausgleich ausführlich diskutiert (Wissen- Rentenversicherung dagegen gilt im Grundsatz schaftlicher Beirat 2001, Kap. 3.2 und 4.5). 12
3 Merkmale der Sozialversicherungen In jüngerer Zeit wird verstärkt auch das Konzept erwerbsmäßig Pflegende explizit einbezogen. der „Teilhabegerechtigkeit“ vorgebracht, das über Keine Versicherungspflicht besteht in den Sozial- materiell orientierte Ansätze der Verteilungsge- versicherungen für Selbständige, Beamtinnen und rechtigkeit hinausreicht. Es adressiert das Recht Beamte.10 In der GKV und SPV sind zudem Perso- auf Autonomie und Teilhabe sowie die Wahrung nen mit einem hohen Einkommen oberhalb der von Teilhabechancen an allen relevanten gesell- Versicherungspflichtgrenze nicht pflichtversi- schaftlichen Prozessen und Feldern (Brettschnei- chert. Teilweise ist für diese Personenkreise jedoch der 2007, S. 370). Dabei rücken sowohl sämtliche eine freiwillige Versicherung möglich (Schuler- wohlfahrtsstiftende Dimensionen als auch die Harms und Goldberg, 2019). Nicht pflichtversi- Ex- und Inklusion verschiedener gesellschaftlicher cherte Personen werden teilweise in anderen Gruppen in den Fokus der Diskussion. Das Kon- Systemen abgesichert – beispielsweise in berufs- zept der Teilhabegerechtigkeit kennzeichnet damit ständischen Versorgungswerken oder über die eine Verschiebung in der politischen Programma- Beamtenversorgung und Beihilferegelungen im tik „von der Verteilungs- zur Chancengerechtig- Alter beziehungsweise im Krankheitsfall. Ande- keit, das heißt von ergebnisorientierter Umvertei- renfalls müssen sie selbst für eine private Absiche- lung von Einkommen, Vermögen und materiellen rung sorgen. Dies ist für den Krankheits- und Gütern zur Gewährung von Zugangschancen und Pflegefall sogar gesetzlich vorgeschrieben (Versi- damit der Startbedingungen für die Verwirkli- cherungspflicht). Zwar ist der Großteil der Bevöl- chung von Lebenszielen“ (Reuter 2013, S. 246). Der kerung über die Sozialversicherungssysteme teilweise als „produktivistische Teilhabegerechtig- gegen die Folgen von Risiken geschützt. Es erge- keit“ bezeichnete Ansatz zielt auf die Befähigung ben sich jedoch merkwürdige Gerechtigkeitslü- zu selbständiger, eigenverantwortlicher Leistung, cken, indem vor allem Personen mit höherem zum Beispiel die „Gewährleistung von Beschäfti- Erwerbseinkommen am Sozialausgleich innerhalb gungsfähigkeit“ (Brettschneider 2007, S. 383). Dies der Sozialversicherungen nicht beteiligt und zu- wird auch unter dem Begriff des „aktivierenden dem Personengruppen am unteren Einkommens- Sozialstaates“ oder dem Begriffspaar „Solidarität ende teilweise schlecht abgesichert sind. Hier wird und Subsidiarität“ (Ott 2019, S. 326 ff.) diskutiert. sowohl die Bedarfs- als auch die Leistungsgerech- Mit Blick auf die Gerechtigkeit für Familien hat tigkeit verletzt. der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen solche Aspekte als Startchancengerechtigkeit für Im Detail haben die in Ansatz gebrachten Gerech- Kinder und Prozesschancengerechtigkeit für tigkeitsüberlegungen, die in der Vergangenheit Eltern ausführlich erörtert (Wissenschaftlicher und aktuell der Begründung von Reformen der Beirat 2001, Kap. 3.2 und 7.5). Sozialversicherung in Deutschland dienten, eine permanente Neujustierung erfahren. Das liegt dar- Eine weitere Gerechtigkeitsfrage stellt sich hin- an, dass die Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit sichtlich der Abgrenzung des Personenkreises, der in einer Gesellschaft „den Zusammenhang von im Sozialversicherungssystem abgesichert ist. sozialen Institutionen und bestimmten gesell- Grundsätzlich sind dies die erwerbstätigen Perso- schaftlichen Zuständen (wie Verteilungen) mit nen, die einer sozialversicherungspflichtigen Be- einbeziehen“ müssen, da für „viele Gerechtigkeits- schäftigung nachgehen, deren nicht erwerbstätige probleme […] nicht Muster oder Endzustände Familienangehörige sowie Rentnerinnen, Rentner einer Verteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt und Arbeitslose; in die GRV werden für die Kin- wichtig [sind], sondern die (Re-)Produktion eines dererziehungszeit auch Kinder erziehende Eltern üblichen Verteilungsmusters über die Zeit hin- und unter bestimmten Bedingungen auch nicht weg“ (Gosepath 2012, S. 42). 10 Personen, die nur einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, unterliegen seit 2013 prinzipiell einer Versicherungspflicht in der Rentenversi- cherung. Wegen einer Übergangsregelung für Altfälle sowie der Möglichkeit zur Befreiung von dieser Pflicht wird sie allerdings bisher kaum wirksam. 13
3 Merkmale der Sozialversicherungen Veränderungen können dabei auch den Fokus der Umverteilung der Lasten von Kinderlosen zu Gerechtigkeitsdebatte betreffen. Frühe Beispiele Kinderreichen zu beheben (Schuler-Harms 2008). bieten die Mitversicherung von nicht in Erwerbs- tätigkeit stehenden Ehegattinnen und Ehegatten Damit wird offenbar, wie veränderte Rahmenbe- in der GKV oder die Hinterbliebenenrente, die dingungen auch zeitgenössische Gerechtigkeits- nach dem Einkommen der oder des Verstorbenen vorstellungen in Bezug auf die Sozialversicherun- bemessen wird. Veränderte Familienverhältnisse gen verändern können. Es stellt sich die Frage, und Rollenbilder sowie demografische Entwick- welche politischen Entscheidungen welche Vor- lungen haben in der jüngeren Vergangenheit den stellungen von Gerechtigkeit aufgreifen und in der Referenzrahmen für die Gerechtigkeitsfrage ver- Folge das Feld der Sozialpolitik formen. Viele schoben. Eine solche Verschiebung findet sich politische Entscheidungen erfolgen unter Unge- etwa in der in den 1980er-Jahren erfolgten An- wissheit und erscheinen teilweise willkürlich erkennung von Erziehungsjahren im Rentenrecht (Toens 2012). Darüber hinaus gehört es zu den unter Bezug auf Leistungs- und Teilhabeargumen- Merkmalen des (partei-)politischen Diskurses, das te. Die mit dem weiteren Ausbau solcher Leistun- Feld möglicher Konsequenzen nicht vollständig gen verbundene stärkere Wahrnehmung der Kin- abzubilden. Hinzu kommt noch, dass veränderte dererziehung als Leistung ging zeitlich allerdings gesellschaftliche Rahmenbedingungen veränderte einher mit einer gleichzeitigen Absenkung des Risikofolgen mit sich bringen können, die verän- Gesamtrentenniveaus (zum Beispiel in den Ren- derter Absicherungsmechanismen bedürfen tenreformen 1992 und 2001). Die Bezugnahme (ebenda). auf Leistungen von Familien, in der Pflege und bei der Betreuung und Erziehung von Kindern, adres- Faktoren, die in der Vergangenheit auf Gerechtig- siert nun auch Personenkreise, die zuvor nur ab- keitsdiskurse zur Sozialversicherung eingewirkt geleitete Sicherungsansprüche hatten (Toens 2012, haben, umfassen die demografische Entwicklung, S. 257). Gleichzeitig hat die abgeleitete Sicherung Verschiebungen in Konzepten der intergeneratio- mit dem Bedeutungsverlust der Ehe und dem nalen Verantwortung, die Teilhabeorientierung, Anstieg der Ehescheidungen ihre Funktion teil- veränderte Familienverhältnisse sowie sich wan- weise eingebüßt. delnde geschlechtsorientierte Arbeits- und Rollen- bilder. Angesichts dessen stellt sich die Frage, In den Vordergrund getreten ist in jüngerer Zeit inwieweit der aktuelle Referenzrahmen und die auch die Frage des gerechten Ausgleichs von Las- Ausgestaltung der Sozialversicherung Familien ten beziehungsweise des gerechten Austauschs vor dem Hintergrund der historischen und vor von Leistungen zwischen Generationen. Auch hier allem der derzeitigen Verhältnisse in gerechter ist die demografische Entwicklung eine Triebfeder, Weise adressieren. Zu beurteilen ist dies nach den die den Diskurs über Generationengerechtigkeit hier angestellten Überlegungen auf Basis unter- erst prominent hervorgebracht hat, der sich unter schiedlicher Gerechtigkeitskonzepte. Besondere anderem an der Einführung der Pflegeversiche- Bedeutung gibt der Beirat dabei Fragen nach den rung im Jahr 1995 entzündete. Der Wissenschaft- Kriterien und Bedingungen von Teilhabe, die liche Beirat für Familienfragen hat in seinem wegen ihres Anschlusses an mehrere traditionel- Gutachten zur „Gerechtigkeit für Familien“ 2001 le Gerechtigkeitsbegriffe eine wachsende Rolle ausführlich erörtert, dass die Investitionen einer in Diskussionen über Sozialpolitik spielen. Dies Elterngeneration in ihre Kinder eines sozialversi- schließt Fragen nach der Teilhabegerechtigkeit im cherungsrechtlichen Ausgleichs bedürfen, um Generationenkontext ein. Beim Fokus auf Teilhabe einerseits die im Vergleich zu früheren Zeiten sind daher individuelle Lebenschancen im Längs- geringere Zahl von Kindern nicht über das im schnitt eines Familienzyklus sowie der Wandel Binnenverhältnis der Familie (zum Beispiel durch des Generationenverhältnisses im Laufe der Zeit Fürsorge-Arbeit) Leistbare hinaus zu belasten und im Blick zu behalten. Vor diesem Hintergrund andererseits die mit der ungleichen Verteilung werden hier nun zunächst wichtige Gestaltungs- von Kinderzahlen einhergehenden Probleme der merkmale der Sozialversicherungen behandelt. 14
3 Merkmale der Sozialversicherungen 3.2 Finanzierung im auf die langfristige Vorsorge für mit dem Lebens- alter typischerweise stark steigende Gesundheits- Umlageverfahren ausgaben (siehe unten) ergeben sich daraus letzt- lich dieselben Effekte wie bei der GRV. Dasselbe Eine wichtige Gemeinsamkeit der drei Sozialver- gilt auch für die SPV und das Risiko der Pflegebe- sicherungszweige zur Absicherung im Alter, bei dürftigkeit, das bis zum Ende der Erwerbsphase Krankheit und bei Pflegebedürftigkeit ist, dass sie äußerst gering ist. im Umlageverfahren finanziert werden. Die Bei- tragseinnahmen eines Jahres werden dabei unmit- Für die Umlagefinanzierung ihrer Leistungen telbar wieder ausgegeben, um die Leistungen zu „leihen“ sich Renten-, Kranken- und Pflegeversi- decken, die im selben Jahr anfallen. Am Ende jedes cherung aus ökonomischer Sicht somit einen Jahres sind die Kassen der Sozialversicherungen Gutteil der Beiträge der aktiven Mitglieder zur daher stets so gut wie leer.11 Gleichzeitig sind die Deckung laufender Ausgaben für ältere Versicher- Gruppen aktueller Beitragszahlenden und aktuel- te. Sie stellen den Beitragszahlerinnen und -zah- ler Leistungsempfangenden beziehungsweise lern dafür – wie bei jeder anderen Kreditaufnah- Leistungsberechtigten nicht identisch, da die me – eine spätere Rückzahlung in Aussicht, für relevanten Lebensphasen typischerweise ausein- die sie zu gegebener Zeit Beiträge zukünftiger anderfallen.12 aktiver Mitglieder auf die gleiche Weise verwen- den werden. Daher bezeichnet man bereits erwor- Am deutlichsten lassen sich die Effekte eines sol- bene Leistungsansprüche Versicherter, die erst in chen Finanzierungsverfahrens an der GRV ab- Zukunft wirksam werden, auch als „versteckte“ lesen. Die Beiträge, die die aktiven Versicherten oder „implizite Staatsverschuldung“. Wenn die dort laufend aus ihren Erwerbseinkommen ein- Leistungsansprüche in Zukunft erfüllt werden, zahlen, stellen rechtlich die wichtigste Grundlage verschwindet diese Schuld nicht, sondern sie für ihre späteren Rentenansprüche dar. Die Mittel wird auf die nächste Generation von Beitragszah- werden aber nicht zurückgelegt, um diese Ansprü- lerinnen und -zahlern weitergewälzt. Anders als che auch materiell abzusichern. Vielmehr werden private Kreditnehmerinnen und -nehmer ist der sie sofort wieder an die momentanen Rentnerin- Staat prinzipiell in der Lage, eine solche Form der nen und Rentner ausgezahlt. Bei GKV und SPV ist Finanzierung zu organisieren und zu stabilisieren, dies weniger offensichtlich. In der GKV wird weil er Angehörige der jeweils aktiven Generation einerseits ein Teil der Beiträge aktiver Versicherter per Gesetz zur Mitgliedschaft in den Sozialversi- für die laufenden Leistungen verwendet, die auf cherungen verpflichten und die von ihnen zu sie selbst entfallen. Andererseits zahlen auch entrichtenden Beiträge festsetzen kann. Trotzdem Versicherte im Rentenalter Beiträge, die zumin- können in einem solchen System aber Ungleich- dest einen Teil der Leistungen decken, die sie gewichte zwischen den ausstehenden Ansprüchen gerade in Anspruch nehmen. Soweit diese Beiträge und den zukünftigen Deckungsmöglichkeiten auf gesetzliche Renten erhoben werden, stammen entstehen. In diesem Fall spricht man von fehlen- sie allerdings ebenfalls aus Beitragszahlungen der „Nachhaltigkeit“ oder fehlender „Tragfähig- aktiver Versicherter – nämlich der GRV. In Bezug keit“ des Systems. 11 Genau genommen halten alle drei Zweige der Sozialversicherung, die hier betrachtet werden, gewisse finanzielle Reserven, die im Verhältnis zu den laufenden Ausgaben aber gering sind. So verfügt die GRV über eine gesetzlich vorgesehene („Nachhaltigkeits-“)Rücklage in Höhe von Ausgaben für maximal 45 Tage, die das System vor allem gegenüber konjunkturellen Schwankungen der Einnahmen stabilisiert. Die GKV hält im Gesundheitsfonds und in einzelnen Kassen derzeit faktisch, ohne klare gesetzliche Grundlage, eine Reserve ähnlicher Größenordnung. Einzig die SPV verfügt seit ihrer Errichtung im Jahr 1995 über nennenswerte finanzielle Rücklagen, die aktuell den Ausgaben für circa vier Monate entsprechen. Im Rahmen des 2015 neu geschaffenen Pflegevorsorgefonds sollen sie bis 2035 gezielt weiter ausgebaut und danach wieder abgebaut werden. 12 Anderes gilt für die Arbeitslosenversicherung, aber auch für einige private Versicherungen, etwa die Hausrats- oder Unwetterversicherung, die sich ebenfalls mindestens teilweise im Umlageverfahren finanzieren. Die Beiträge solcher Versicherungen steigen, wenn insgesamt mehr Schadensfälle auftreten, unabhängig vom individuellen Risiko. Allerdings sind die Versicherten hier immer gleichzeitig Prämienzahlerinnen beziehungsweise Prämienzahler und Leistungsberechtigte. 15
3 Merkmale der Sozialversicherungen Umlagefinanzierung macht die Vorsorge für das lerinnen und -zahler eine nachfolgende Genera- Alter, einschließlich der mit dem Alter steigenden tion notwendig. Elterliche Erziehungsleistungen Ausgaben für Gesundheit und Pflege, unabhängig sind daher bei einem solchen System konstitutiv von Kapitalmärkten und von langfristigen Prozes- für die zukünftige Finanzierung, während die sen der Kapitalbildung und -verwertung. Stattdes- laufende Entrichtung finanzieller Beiträge konsti- sen wird die Altersvorsorge kurz- bis mittelfristig tutiv ist für die Finanzierung aktueller Leistungen. eng an die heimische Arbeitsmarktsituation, In einer Gesellschaft, in der über 20 Prozent der längerfristig eng an die heimische Demografie Bevölkerung kinderlos bleibt – wobei dies über- geknüpft. Dieser Umstieg hat Vor- und Nachteile wiegend nicht auf medizinische Gründe zurück- (vergleiche etwa Werding 1998; 2016; Sinn 2000). zuführen ist – profitieren die kinderlosen und Von den wichtigsten Trends der Veränderung „kinderarmen“ Personen davon, dass andere der Lebenssituation von Familien (vergleiche Mitglieder der Gesellschaft für die Existenz einer Abschnitt 2) erweist sich dabei die steigende Er- nächsten Generation sorgen. werbsbeteiligung von Frauen – mindestens kurz- bis mittelfristig – als günstig.13 Probleme erzeugt Jedoch leisten Kinderlose aufgrund besserer Er- dagegen die gesunkene Kinderzahl, die – kombi- werbsmöglichkeiten und entsprechend höherer niert mit einer anhaltend steigenden Lebens- Einkommen höhere finanzielle Beiträge zu den erwartung – zur ausgeprägten demografischen Sozialversicherungen und tragen mit höheren Alterung14 führt, die die Diskussionen über die Steuerzahlungen auch zur formalen Ausbildung Finanzierbarkeit der deutschen Sozialversicherun- der nächsten Generation bei. Eine umfassende gen immer stärker bestimmt und in den nächsten Zusammenstellung der privaten und öffentlichen zwei Jahrzehnten offen hervortritt (vergleiche Finanzierungs- und Leistungsverflechtungen etwa den Schlussbericht der Enquête-Kommission hinsichtlich der Leistungen für die nächste Gene- Demographischer Wandel, veröffentlicht in: ration wurde vom Wissenschaftlichen Beirat für Deutscher Bundestag 2002; Kommission „Nach- Familienfragen erarbeitet (Wissenschaftlicher haltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Beirat 2001, Kap. 5 und 6). Abschätzungen der Sicherungssysteme“ 2003; Werding 2007; 2018). entsprechenden finanziellen Gegenwerte spre- Die einzelnen Zweige des Systems sind davon chen dafür, dass die gesamtgesellschaftlich er- allerdings in unterschiedlicher Weise betroffen, brachten Leistungen den Wert der elterlichen unter anderem weil sie sich in ihrer Ausgestaltung Erziehungsleistungen für die Sozialversicherun- ansonsten durchaus klar unterscheiden. gen nicht aufwiegen (Werding 2014). Die Bedeu- tung der Erziehung von Kindern für umlagefi- Neben dem Finanzierungsproblem aufgrund der nanzierte Sozialversicherungen hat auch das geringeren Kohortengröße der nachwachsenden Bundesverfassungsgericht festgehalten: mit den Generationen ergeben sich zudem spezifische Entscheidungen zu Kindererziehungszeiten in Gerechtigkeitsfragen. Bei einem Umlagesystem, der GRV (BVerfG, 1 BvL 51/86 unter anderem das der Absicherung von Risiken, die vor allem im vom 7. 7. 1992, Rn. 123–137) und zur differenzier- Alter auftreten, dient und daher die Beiträge ten Behandlung von Familien in der Pflegeversi- überwiegend oder vollständig für Leistungen an cherung (1 BvR 1629/94 vom 3. 4. 2001, Rn. 55–61; die vorherige Generation nutzt, ist für die De- vergleiche hierzu auch Schuler-Harms 2008). ckung der Ansprüche der jeweiligen Beitragszah- 13 Auf Dauer stehen den höheren Beiträgen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigte Frauen in wachsender Zahl an die GRV entrichten, aber auch entsprechend höhere Rentenansprüche gegenüber, die von zukünftigen Beitragszahlerinnen und -zahlern erfüllt werden müssen. In der GKV und der SPV erleichtern höhere Beiträge die Finanzierung auf Sicht ebenfalls; aktuelle und zukünftige Ansprüche bleiben dabei ten- denziell unverändert, zumindest soweit die Frauen in diesen Systemen ansonsten als mitversicherte Ehegattinnen erfasst würden (vergleiche Abschnitt 3.4). 14 Ist im Jahr 2017 das Verhältnis der Bevölkerung im Alter 15–64 zur Bevölkerung im Alter 65+ (Altenquotient) 3:1 (Statistisches Bundesamt 2019 f), so wird dieses bis zum Jahr 2035 auf 2:1 steigen (Werding 2018, S. 19). Da nicht die gesamte Bevölkerung in der GRV versichert ist, ist für sie nach den gegenwärtigen Regelungen nicht der Altenquotient der gesamten Bevölkerung relevant, sondern das Verhältnis von Beitragszahlenden und Rentenbeziehenden, der sogenannte Rentnerquotient. In der momentanen Rentenanpassungsformel wird dieser zusätzlich noch mit den durchschnittlichen Rentenansprüchen gewichtet. Nach gegenwärtigen rechtlichen Bestimmungen wird dieses Verhältnis von 1:2 im Jahr 2017 auf 2:3 im Jahr 2030 steigen (Deutscher Bundestag 2018, S. 41). 16
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