Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen - Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt "Zukunft früh sichern!" - RAG ...

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Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen - Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt "Zukunft früh sichern!" - RAG ...
Armutssensibles Handeln in
Kindertageseinrichtungen
Zwischenergebnisse und Impulse aus dem
Modellprojekt „Zukunft früh sichern!“

Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (Hrsg.)
Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen - Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt "Zukunft früh sichern!" - RAG ...
Wir danken der RAG-Stiftung für die Förderung der wissenschaftlichen
Begleitung und Evaluation des Modellprojekts „Zukunft früh sichern!“ und
die Unterstützung bei der Erstellung der vorliegenden Handreichung.
Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen - Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt "Zukunft früh sichern!" - RAG ...
Armutssensibles Handeln
  in Kindertageseinrichtungen
  Zwischenergebnisse und Impulse aus dem
    Modellprojekt „Zukunft früh sichern!“

Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V.
Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen - Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt "Zukunft früh sichern!" - RAG ...
Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen - Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt "Zukunft früh sichern!" - RAG ...
Inhalt
Zusammenfassung                                                      7

1 Einleitung                                                         11

2 Kernelemente des Modellprojekts:
  Projektarchitektur, Ziele, Ansätze und Methoden                    15

3 Strategische Bedeutung und praktische Umsetzung
  des Modellprojekts aus Sicht der Projektbeteiligten                21

4 Zentrale Befunde zur Ausgangslage im Modellprojekt:
  Wie entwickeln sich (arme) Kinder im Alter von vier Jahren?        27

5 Armutssensibles Handeln in der Kita-Praxis:
  Theoretische Rahmung                                               39

6 Armutssensibles Handeln im Rahmen des Modellprojekts:
  Tipps aus der Praxis                                               45
   6.1   Armutssensible Ansätze zur Steigerung der Prozessqualität   46
   6.2   Die materielle und soziale Teilhabe                         51
   6.3   Die kulturelle Teilhabe                                     53
   6.4   Die gesundheitliche Lage                                    55

Literaturhinweise                                                    57

Anlagen                                                              60
Anlage 1: Elternfragebogen des ISS-Frankfurt a. M.                   61
Anlage 2: Mehrsprachige Bilderbücher                                 65
Anlage 3: Fragebogen zur Bestandsaufnahme zum Übergang
          von der Kita in die Grundschule                            67
Anlage 4: Fallbesprechung nach dem Modell der vier Lebenslagen       68
Anlage 5: Vorlage der Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung
          zu Kinderinterview                                         69
Anlage 6: Entwicklungsmonitoring                                     70
Anlage 7: Bücher zur Resilienzförderung                              76

Impressum                                                            78
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Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen - Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt "Zukunft früh sichern!" - RAG ...
Zusammenfassung

Ückendorf ist ein sozial hoch belasteter Stadtteil    mutskonzept der AWO-ISS Langzeitstudie werden
der Stadt Gelsenkirchen. Im Rahmen des Modell-        im Projekt auch die persönlichen Lebenslagen der
projekts „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ wird dort     Kinder in vier Dimensionen – materielle, kultu-
seit April 2019 in sieben städtischen Kindertages-    relle, soziale und gesundheitliche Lage – in die
einrichtungen (Träger GeKita-Gelsenkirchener          Analyse einbezogen. Für jedes Kind werden nach
Kindertagesbetreuung) konzeptionell fundiert          dem „Lebenslagenmodell“ sowie auf Grundlage
erprobt, armutssensible frühe Bildung zu gestal-      des „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiters“ (ein
ten. Das Ziel lautet, jedem Kind – unabhängig von     in Gelsenkirchen eingeführtes Bewertungs- und
sozialer Herkunft und finanziellen Ressourcen der     Begleitungsmodell in der frühen Bildung) in Fall-
Eltern – eine gesunde altersgemäße Entwicklung,       besprechungen Informationen zusammengetragen.
soziale Teilhabe und das Recht auf qualitative Bil-   Dabei kommen die Perspektiven und Kompe-
dung von den ersten Lebensjahren an zu gewähr-        tenzen aller Beteiligter zusammen: die der Erzie-
leisten. Dabei stehen die individuellen Stärken und   her*innen und Bildungsbegleiter*innen ebenso wie
Talente der Kinder im Fokus. Das Modellprojekt        die der Eltern und der Kinder selbst. Diese Ana-
wird von der RAG-Stiftung finanziert und vom          lyse ist die Grundlage für die individuelle Förde-
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V.   rung der Kinder durch bedarfsgerechte Angebote.
wissenschaft­lich begleitet und evaluiert.            Bildungsbegleiter*innen haben die Aufgabe, die
                                                      Kinder in ihren Stärken und Schwächen gezielt zu
             »Das Modellprojekt                       fördern, damit allen Kindern der Übergang in die
            nimmt jedes Kind mit                      Grundschule und am besten auch eine lückenlose
           seinen Stärken, Förder-                    Bildungsbiografie gelingt. Die Eltern sollen für die
             bedarfen und seiner
                                                      Stärken ihrer Kinder sensibilisiert und zur Förde-
             Lebenslage in einen
                                                      rung der Kinder aktiviert werden.
             individu­ellen Blick.«
                                                         Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung
  Das Modellprojekt nimmt jedes Kind mit seinen       erhalten die am Projekt beteiligten Fachkräfte pra-
Stärken, Förderbedarfen und seiner Lebenslage in      xisrelevante Impulse aus der Forschung und ande-
einen individuellen Blick. Dies und die Umsetzung     ren Modellprojekten und werden darin begleitet,
einer passgenauen, individuellen Förderung eines      ihre Haltung zu reflektieren und Aktivitäten ziel-
jeden Kindes erfolgt im Zusammenspiel multi-          gerichtet zu planen und umzusetzen. Der Fokus
professioneller Teams. Im Modellprojekt unter-        liegt dabei auf der Entwicklung und Verankerung
stützen sieben Bildungsbegleiter*innen die Arbeit     von Armutssensibilität als ein Aspekt der Prozess-
der pädagogischen Fachkräfte in den sieben Kin-       qualität in den Kindertageseinrichtungen. Konkret
dertagesstätten, indem sie an der konzeptionel-       handelt es sich um die Wissensvermittlung zu den
len Entwicklung von Angeboten mitarbeiten und         Folgen von Kinderarmut zur Vermeidung von Stig-
diese Aktivitäten mit den Kindern durchführen.        matisierungen und zur armutssensiblen Gestaltung
Eine Projektkoordinatorin begleitet die Teams in      der Angebote für Kinder. Somit werden die Fach-
den sieben Kitas und vernetzt diese im Sozialraum     kräfte sensibilisiert, in ihrer Haltung gestärkt und
mit weiteren Akteur*innen wie der Musikschule,        darin unterstützt, die Erkenntnisse aus diesem Pro-
Sportvereinen, weiteren Bildungseinrichtungen         zess in praktische Handlungen zu überführen und
sowie Künstler*innen.                                 armutsbedingte Barrieren abzubauen.
  In Gelsenkirchen werden bereits seit mehreren          Der Schwerpunkt der Evaluation liegt in der
Jahren die Entwicklungsfortschritte von Kindern       Überprüfung der Wirksamkeit des Modellprojekts.
ab dem Eintritt in die Kita und bis zum Übergang      Es geht also um die Fragestellung, inwieweit das
in die Grundschule systematisch erfasst. Der im       Projekt einen positiven Einfluss auf die Entwick-
Modellprojekt verfolgte Ansatz geht über diese        lung der Kinder bis zum Übergang in die Grund-
Erfassung hinaus. Angelehnt an das Kinderar-          schule nimmt.

                                                                                                        7
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Methodologisch ist die Evaluation als Längs-          – erfasst. Von einer altersgemäßen Entwicklung
schnittuntersuchung mit einer Vergleichsgruppe           wird dann ausgegangen, wenn Kinder 100 % der
angelegt. Die Projekterkenntnisse werden diffe-          für ihr Alter relevanten Aufgaben lösen können.
renziert nach Kindern aus armen und nicht armen          Werden die erreichten Entwicklungsniveaus der
Familien ausgewertet und zeitnah nach der Daten-         Kinder im Modellprojekt differenziert für arme
erhebung zurück an die Projektbeteiligten gespie-        und nicht arme Kinder untersucht, so lassen sich
gelt. Somit werden die Daten nicht nur zum Zweck         große Differenzen feststellen: Im Durchschnitt
der Erfolgskontrolle generiert, sondern fließen in       erreichten die nicht armen Kinder rund 70 %
die Ausgestaltung der Projektaktivitäten ein. Die        und die armen Kinder nur 50 % des altersgemä-
ersten Analyseschritte beziehen sich auf die Aus-        ßen Entwicklungsniveaus. E   ­ ntwicklungsdefizite
gangslage der vierjährigen Kinder, die als Zielgrup-     traten bei den armen Kindern in allen fünf
pe des Modellprojekts im Fokus der Evaluation ste-       Dimensionen auf. Diese Defizite waren in den
hen. Die Befunde verdeutlichten den Nutzen einer         Dimensionen Sprache und Feinmotorik aller-
individuellen Fallbesprechung unter Berücksichti-        dings besonders stark ausgeprägt.
gung der Lebenslagen der Kinder. Infolge einer dif-
ferenzierten Analyse der Entwicklungsniveaus der       • Die Entwicklungschancen der Kinder werden
Kinder konnten die Handlungsbedarfe in fünf zen-         stärker von der Gesamtlebenslage als von der
tralen Entwicklungsbereichen der Kinder konkre-          materiellen Armut im Sinne von einem Mangel
tisiert werden. Zudem konnte auf Basis der ersten        an Geld bestimmt. Am besten entwickeln sich
Forschungsergebnisse die Gestaltung der Angebote         die Kinder, die in nicht armen Familien und im
unter Berücksichtigung der Stärken und Schwä-            Lebenslagentyp „Wohlergehen“2 aufwachsen. Sie
chen der Kinder sowie der Wünsche der Eltern             erreichten im Schnitt 83 % des altersgemäßen
bedarfsgerecht fortentwickelt werden. Die zentralen      Entwicklungsniveaus. Die armen Kinder, die
Erkenntnisse zur Ausgangslage der Projektkinder          im Lebenslagentyp „Wohlergehen“ aufwachsen,
lassen sich wie folgt zusammenfassen:                    erreichen immerhin 66 % des altersgemäßen
                                                         Entwicklungsniveaus. Dies ist ein deutlich bes-
• Bei der Zielgruppe des Modellprojekts handelt es       seres Ergebnis als bei den armen Kindern, die in
  sich um 136 Kinder, die zum Start des Projekts         den Lebenslagentypen „Benachteiligung“ und
  im Jahr 2019 vier Jahre alt waren und im Jahr          „multiple Deprivation“ aufwachsen, denn diese
  2021 eingeschult werden. Rund 60 % der Kinder          erreichen lediglich 51 % bzw. 41 % des altersge-
  wachsen in armen Familien auf, das heißt, dass         mäßen Entwicklungsniveaus.
  diese Familien auf Transferleistungen der Min-
  destgrundsicherung angewiesen sind.                  • Auch eine Talentförderung im Bereich der frü-
                                                         hen Bildung bedarf eines scharfen armutssensi-
• Armut ist ein bekannter Risikofaktor für die Ent-      blen Blicks auf die Kinder. Von Armut betroffene
  wicklung der Kinder und lässt sich in der vorlie-      Eltern sehen die Talente ihrer Kinder eher in den
  genden Untersuchung quantifizieren. Die armen          Bereichen Sport und Soziales. Einkommens-
  Kinder werden im Vergleich zu den nicht armen          stärkere Eltern verorten die Talente ihrer Kinder
  Kindern institutionell um sechs Monate kürzer          hingegen eher in den Bereichen logisches Den-
  (24 Monate vs. 18 Monate) und häufiger nur bis         ken und Kunst. Begabungen der Kinder wer-
  25 Stunden pro Woche institutionell betreut.           den allerdings erst dann entdeckt, wenn Kinder
  Ihre Entwicklung ist bereits in den ersten vier        überhaupt eine Chance bekommen, etwas Neues
  Lebensjahren von Einschränkungen, Defiziten            auszuprobieren und Spaß an bestimmten Tätig-
  und Benachteiligungen geprägt.                         keiten zu entwickeln. Daher ist es insbesondere
                                                         für arme Kinder kaum möglich, ohne externe
• Ob und inwiefern sich die Kinder altersgemäß           Unterstützung über den Tellerrand der familiä-
  entwickeln, wird mithilfe des „Gelsenkirchener         ren Möglichkeiten zu schauen.
  Entwicklungsbegleiters“ dokumentiert.1 Dabei
  werden die Kompetenzen der Kinder in fünf
  Dimensionen – Sprache, kognitive Entwicklung,
  soziale Kompetenzen, Grob- und Feinmotorik

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• Die finanziellen Einschränkungen der Fami-
  lien sind gravierend und betreffen grundlegen-
  de materielle Güter: Zwei Drittel der armutsbe-
  troffenen Eltern wünschen sich für ihre Kinder
  eine bessere Teilhabe an soziokulturellen und
  gesundheitsfördernden Angeboten. Jede vierte
  arme Familie sieht sich mit Spielsachen, Bastel-/
  Schreibmaterialien, Fahrzeugen (Fahrrad/Drei-
  rad) und Sportartikeln (Sportschuhe, Bälle, Hel-
  me) nur unzureichend ausgestattet. Mehr Klei-
  dung und Schuhe für die Kinder wünscht sich
  jede fünfte arme Familie.

• Kindbezogene Armutsprävention ist ein sozial-
  und jugendpolitischer Auftrag. Voraussetzung,
  um diesen Auftrag annehmen und umsetzen zu
  können, ist Armutssensibilität. Während pädago-
  gische Fachkräfte strukturelle Armutsursachen
  wie Arbeitslosigkeit kaum bekämpfen können,
  sind sie sehr wohl in der Lage, in ihren Institu-
  tionen den Folgen der Kinderarmut präventiv
  entgegenzuwirken. Wie dies gelingen kann, ver-
  anschaulichen 14 konkrete Ansätze als Beispiele
  guter Praxis. Eine abschließende Bewertung,
  ob und inwiefern die Projektaktivitäten dazu
  geführt haben werden, die Entwicklungskluft
  zwischen Kindern aus armen und nicht armen
  Familien zu reduzieren und die Startchancen
  der Kinder beim Übergang in die Grundschule
  auszugleichen, wird erst nach den anstehenden
  Befragungen 2021 und 2022 möglich sein. Vor
  dem Hintergrund der massiven Einschrän-
  kungen, die die pädagogischen Fachkräfte und
  Kinder infolge der COVID-19-Pandemie in Kauf
  nehmen müssen, ist diese Zielsetzung besonders
  anspruchsvoll.

1 Siehe Infobox „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“ auf Seite 19.
2 Siehe Infobox „Kindbezogenes Armutskonzept“ auf Seite 20.

                                                                        9
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1 Einleitung
  Von Irina Volf

  Die Chancen auf gute Bildung und somit höhere           Diese grundsätzliche Problematik verschärft sich
  Erträge im Berufsleben sowie höheren gesell-          in Regionen, Städten und Quartieren mit hoher
  schaftlichen Status sind in Deutschland ungleich      und langfristiger Arbeitslosigkeit, mit ethnischer
  verteilt. Bereits bei der Geburt des Kindes werden    und sozialer Segregation sowie mit niedrigen Ver-
  seine Chancen maßgeblich durch den Bildungs-          sorgungsquoten und schwacher Infrastruktur im
  stand und den beruflichen Status der Eltern fest-     Bereich der frühen Bildung (vgl. Bildungsbericht
  gelegt (vgl. Autorengruppe des Bildungsberichts       Ruhr 2020). Diese negativen Rahmenbedingungen
  2020: 317 ff.). Bei Kindern, die in sozioökonomisch   sind im Ruhrgebiet besonders häufig anzutreffen:
  schwachen Familien aufwachsen, lassen sich            Die finanziellen Handlungsspielräume der Kom-
  bereits in den ersten Lebensjahren herkunftsbe-       munen sind hier aufgrund der besonders hohen
  dingte Entwicklungsverzögerungen identifizieren.      Pro-Kopf-Verschuldung stark eingeschränkt;
  Gegenüber Kindern aus soziökonomisch besser           das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist
  gestellten Familien haben Kinder, die in Armut        hier mit Abstand das geringste im Vergleich zum
  aufwachsen, deutlich häufiger Defizite in sprach-     übrigen Nordrhein-Westfalen und besonders
  lichen, motorischen und kognitiven Bereichen.         viele Menschen sind an Transferleistungen zur
  Diese Entwicklungsverzögerungen werden bis zum        Mindestgrundsicherung angewiesen (ebd.: 16–17).
  Übergang in die Grundschule häufig nicht ausge-       Während in Deutschland rund jedes siebte Kind
  glichen und können sich sogar über den gesamten       in armen Familien aufwächst (Lietzmann/Wenzig
  Bildungsverlauf hinweg manifestieren. Untersu-        2020: 10), trifft diese Situation in Duisburg, Essen
  chungen zu Folgen der Kinderarmut im Lebens-          und Dortmund auf rund jedes dritte Kind zu. In
  verlauf belegen: Armut stellt ein hohes Risiko für    Gelsenkirchen wachsen 40,4 % der unter 15-Jähri-
  eine altersgemäße Entwicklung der Kinder in der       gen in armen Familien auf und sind somit einem
  frühen Kindheit dar, beraubt ihnen im mittleren       hohen Risiko einer brüchigen Bildungsbiographie
  Kindesalter zahlreiche Entwicklungschancen, engt      ausgesetzt (vgl. Bildungsbericht Ruhr 2020: 36).
  in der Jugendzeit den Kreis der Möglichkeiten ein     Damit bleibt die Kinder- und Jugendarmut in Gel-
  und hinterlässt bis ins junge Erwachsenenalter        senkirchen auf dem höchsten Niveau in Deutsch-
  hinein deutliche Spuren (vgl. Hock et al. 2000a,      land.
  Hock et al. 2000b, Laubstein et al. 2012, Laubstein
                                                                     »Das Modellprojekt
  et al. 2016, Volf et al. 2019).
                                                                     ‚ZUSi – Zukunft früh
     Mit der Forderung „Bildung von Anfang an“ hat                   sichern!’ ist Teil der
  sich seit Beginn dieses Jahrhunderts das Aufgaben-               Präventionskette gegen
  feld von Kindertageseinrichtungen verändert. Die                      Kinderarmut.«
  Kindertagesstätte dient nicht nur der Vereinbarkeit
  von Familie und Beruf. Vielmehr sollen die kindli-      Unter dem Motto „Jedem Kind seine Chance“
  che Entwicklung verstärkt in den Blick genommen       hat die Stadt Gelsenkirchen bereits im Jahr 2005
  und herkunftsbedingte Ungleichheiten reduziert        begonnen, eine lückenlose Betreuungs- und Prä-
  werden (vgl. Autorengruppe des Bildungsberichts       ventionskette aufzubauen, um auf die vielfältigen
  2020: 75). Um diesem Anspruch in der Praxis           und sich stetig ändernden Herausforderungen
  gerecht zu werden, ist eine hohe Qualität der Ange-   armer Familien frühzeitig zu reagieren. Seitdem
  bote in der frühen Bildung erforderlich. Doch nicht   hat die Stadt viele Anstrengungen unternommen,
  nur der qualitative Anspruch an die Arbeit der päd-   um die kommunale Präventionspolitik zu stärken.
  agogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrich-      Auch suchte die Stadt Kooperationen mit Partnern.
  tungen steigt. Auch die Zahl der von Armut betrof-    Gelsenkirchen war eine der ersten Modellkommu-
  fenen Kinder nimmt tendenziell zu. Eine besondere     nen, die am Landesprogramm „Kein Kind zurück-
  Herausforderung stellt der zunehmende Fachkräf-       lassen“ zum Aufbau von kommunalen Präventions-
  temangel dar.                                         ketten teilgenommen haben. Mit dem Abschluss

                                                                                                         11
des Landesprogramms setzte die Stadt Gelsenkir-          Diesen Fragen stellen sich seit 2019 eine Koor-
chen die Arbeit fort und baute die Präventionskette    dinatorin und sieben zusätzliche pädagogische
sukzessive aus (vgl. Stadt Gelsenkirchen 2018).        Fachkräfte, die im Modellprojekt die Rolle von Bil-
  Das Modellprojekt „ZUSi – Zukunft früh sich­         dungsbegleiter*innen übernehmen. Die Koordina-
ern!“ wird als Teil der Präventionskette gegen Kin-    tion ist bei der Stadt Gelsenkirchen, Gelsenkirche-
derarmut zwischen April 2019 und April 2022 in         ner Kindertagesbetreuung (GeKita) angesiedelt; die
sieben städtischen Kindertageseinrichtungen im         Bildungsbegleiter*innen arbeiten in den Kinder-
Gelsenkirchener Stadtteil Ückendorf umgesetzt.         tageseinrichtungen. Einer engen Zusammenarbeit
Das Projekt wird durch die RAG-Stiftung geför-         zwischen den Bildungsbegleiter*innen, den päd-
dert. Das Modellprojekt zielt darauf ab, sowohl die    agogischen Fachkräften in den Kitas, den Eltern,
individuellen Stärken und Talente der Kinder in        den Grundschulen und unterschiedlichen Trägern
Ückendorf durch zusätzliche Angebote zu fördern,       vor Ort wird im Rahmen des Modellprojekts große
als auch vielfältige Ansätze zur Vorbeugung und        Bedeutung beigemessen.
Bekämpfung von Armutsfolgen bei Kleinkindern             Das Modellprojekt wird vom Institut für Sozial-
zu entwickeln und zu erproben. Des Weiteren wer-       arbeit und Sozialpädagogik (ISS-Frankfurt a. M.)
den Kooperationen in multiprofessionalen Teams         wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Das ISS-
sowohl innerhalb der Kindertageseinrichtungen          Frankfurt a. M. greift auf die mehrjährige Erfah-
als auch im Sozialraum gestärkt und ausgebaut. Die     rung aus den bundesweit einzigartigen Studien
Projektaktivitäten richten sich in erster Linie an     zur Kinderarmut (AWO-ISS Langzeitstudie) sowie
Kinder, die im Jahr 2019 vier Jahre alt waren und      zum Aufbau von kommunalen Präventionsketten
demnach im Jahr 2021 eingeschult werden. Durch         (Mo.Ki – Mohnheim für Kinder) zurück und stellt
die Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse sol-       das pädagogische Handeln im Rahmen des Modell-
len möglichst viele Kinder vom Modellprojekt profi-    projekts immer wieder auf den Prüfstand, hinter-
tieren. Handlungsfelder sind zusätzliche Aktivitäten   fragt einzelne Maßnahmen und gleicht diese mit
mit Kindern, Veränderung bestimmter Abläufe im         dem aktuellen Stand der Forschung ab.
Kita-Alltag oder die Etablierung neuer Methoden.         In der vorliegenden Handreichung werden die
  Im Stadtteil Ückendorf ist fast jedes zweite Kind    ersten Erkenntnisse und Impulse aus dem Modell-
von Armut betroffen. Daher erfordert die Arbeit        projekt mit Fokus auf das Thema der Armutssen-
mit Kindern sowie ihren Familien seitens der           sibilität im Bereich der frühen Bildung dargestellt.
pädagogischen Fachkräfte einen hohen Grad an           Aufgrund der zahlreichen Beispiele, wie Armuts-
Armutssensibilität (Stadt Gelsenkirchen 2018).         sensibilität in der Kita-Praxis konkret umgesetzt
Dabei sind folgende Fragestellungen zentral:           werden kann, richtet sich die Handreichung vor
                                                       allem an Kitaleitungen, Erzieher*innen und im
• Wie können die Planung und Gestaltung der            Bereich der frühen Bildung tätige pädagogische
  Angebote der frühen Bildung armutssensibel           Fachkräfte.
  gelingen?                                              Die Forschungserkenntnisse zur Ausgangslage
                                                       der Kinder bei Projektstart sind besorgniserregend.
• Was braucht es dafür an Haltung, Wissen, Kom-        Ein hoher Anteil der Kinder weist starke Entwick-
  petenzen, Ressourcen, Entscheidungsbefugnis-         lungsverzögerungen auf, dementsprechend hoch ist
  sen, Kreativität, Spielräumen und Erprobungs-        der Handlungsbedarf im Kampf gegen Kinderar-
  möglichkeiten?                                       mut. Daher richtet sich diese Handreichung auch
                                                       an freie und öffentliche Träger der Kindertagesein-
• Wie kann es gelingen, Talente der Kinder vor-        richtungen, kommunal Verantwortliche im Bereich
  urteilsfrei zu identifizieren und individuell zu     der (frühen) Bildung sowie politische Entschei-
  fördern?                                             dungsträger*innen. Die Handreichung muss insge-
                                                       samt als ein Appell an die Gesellschaft verstanden
• Wie können die Startchancen der armutsbetrof-        werden.
  fenen Kinder noch vor dem Übergang in die
  Grundschule so weit verbessert werden, dass          Wir dürfen die Zukunft armutsbetroffener
  keine oder möglichst geringe Benachteiligungen       Kinder nicht verspielen, sondern sind in
  entstehen?                                           der Pflicht, diese Zukunft früh zu sichern!

12
Infobox: AWO-ISS Langzeitstudie zur Kinderarmut

Was macht die AWO-ISS Langzeitstudie zum               einladen, den eigenen Geburtstag feiern oder zu
Thema Kinderarmut so besonders?                        anderen Kindern zum Geburtstag kommen, weil
Die seit 1997 von der Arbeiterwohlfahrt finanzierte    das Geld für ein Geschenk fehlt. Sie wiederholen
und vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpäda-      häufiger eine Klasse, streben niedrigere Schulab-
gogik e. V. umgesetzte AWO-ISS Langzeitstudie          schlüsse an und können seltener auf Unterstüt-
widmet sich der Erforschung von Folgen familiärer      zung im familiären Umfeld zurückgreifen. Armut
Armut auf die Entwicklung der Kinder vom Vor-          im jungen Erwachsenenalter geht vor allem mit
schulalter bis zum 25. Lebensjahr. Die erste Unter-    Einschränkungen in der materiellen Grundver-
suchung fand 1999 mit 893 Kindern statt, die sechs     sorgung und Teilhabe sowie schlechter psychi-
Jahre alt waren und 60 bundesweit verteilte AWO-       scher Gesundheit einher. Einschränkungen in
Kindertageseinrichtungen besuchten. Die For-           den kulturellen und sozialen Lagen sind bei den
schenden untersuchten die Lebensverläufe dieser        jungen Erwachsenen insgesamt zwar weniger
Kinder von der Kita bis zum jungen Erwachsenen-        ausgeprägt. Sie kumulieren jedoch bei einzelnen
alter. Besonders wurden die kritischen Übergänge       Personen, die wiederum häufig in Armut leben.
im Leben analysiert. Dabei wurde nach Lebensla-        Langzeitfolgen von Kinderarmut lassen sich ins-
gen und Armutserfahrungen differenziert. Bei der       besondere im kulturellen Bereich – schlechtere
letzten Befragung im Jahr 2018 wurden 205 ehe-         Bildungs- und Qualifizierungsniveaus – sowie im
malige Sechsjährige und heute junge Erwachse-          gesundheitlichen Bereich – insbesondere mit Blick
ne wiedererreicht. Neben den quantitativen Daten       auf psychische Gesundheit – feststellen.
wurden auch qualitative Daten in Form von Inter-
views mit 23 Studienteilnehmenden in die Analyse       Gab es überraschende Ergebnisse?
einbezogen. Es gibt bislang in Deutschland keine       Einige gängige Hypothesen bestätigte die Studie
andere Langzeitstudie, die so viele Zusammen-          nicht. Beispielsweise geht es Migran­   ten­
                                                                                                  kindern
hänge, Wechselwirkungen und Muster zwischen            – die als Gruppe mit erhöhtem Armutsrisiko gilt –
Lebensverläufen der Kinder aus armen und nicht         nicht schlechter als Studienteilnehmenden ohne
armen Familien beleuchtet.                             Migrationserfahrungen. Ferner zeigte sich, dass
                                                       mittlere Bildung nicht mehr vor Armut schützt.
Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, in              Gleichzeitig konnte die Studie belegen, was auf
Armut aufzuwachsen?                                    den ersten Blick kontraintuitiv erscheint: Zwei
Kinder haben in unterschiedlichen Lebensphasen         Dritteln der ehemals armen Kinder gelang es, die
unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse, aber         familiäre Armut im jungen Erwachsenenalter hin-
auch verschiedene Entwicklungsaufgaben. Die            ter sich zu lassen. Im Umkehrschluss zeigt sich
Unterschiede zwischen den armutsbetroffenen            jedoch, dass jedes dritte Kind, das mit sechs Jah-
Kindern und ihren Altersgenoss*innen aus finan-        ren in einer armen Familie aufgewachsen ist, auch
ziell besser gestellten Familien lassen sich bereits   als junge erwachsene Person arm ist. Das eigene
im Kita-Alter feststellen: Armutsbetroffene Kinder     Armutsrisiko im jungen Erwachsenenalter hängt
weisen häufiger Spiel- und Sprachauffälligkeiten       eng mit den Armutserfahrungen in der Kindheit
auf, ihre Grob- und Feinmotorik ist schlechter ent-    zusammen.
wickelt, sie sind häufiger entweder sehr zurück-
haltend oder aber aggressiv. Im Schulalter erleben     Die Kurzfassung der Studie „Wenn Kinderarmut
die Kinder aus armen Familien zudem häufiger           erwachsen wird …“ (Volf et al. 2019) finden Sie
Benachteiligung in sozialen und kulturellen Berei-     unter www.iss-ffm.de.
chen. Selten können sie ihre Freunde nach Hause

                                                                                                         13
Abbildung 1: Die AWO-ISS Langzeitstudie im Überblick
1997–2000

                                                       I. AWO-ISS-Studie „Armut im Vorschulalter“ 1999

                                                         Quantitative Erhebung: auswertbar n = 893

                                                      Vertiefungsstudie
                                                                    Wiederholungsstudie
                                                                             1
2000–2002

                   II. AWO-ISS-Studie „Armut im frühen Grundschulalter“
                                            2001                                  Wiederholungsstudie
                                                                                           2
                         Quantitative Erhebung: auswertbar n = 107

                           Qualitative Erhebung: auswertbar n = 27
2002–2005

                             III. AWO-ISS-Studie „Armut im späten Grundschulalter“
                                                   2003/2004
                                  Quantitative Erhebung: auswertbar n = 500                   Wiederholungsstudie
                                                                                                       3
                                   Qualitative Erhebung: auswertbar n = 10
2009–2012

                                                 IV. AWO-ISS-Studie „Armut am Ende der
                                                       Sekundarstufe I“ 2009/2010

                                               Quantitative Erhebung: auswertbar n = 449

                                                Qualitative Erhebung: auswertbar n = 14
2017–2020

                                                      V. AWO-ISS-Studie „Armut im jungen Erwachsenenalter“
                                                                             2018/2019
                                                            Quantitative Erhebung: auswertbar n = 205

                                                               Qualitative Erhebung: auswertbar n = 23

  Quelle: Volf et al. 2019: 14.

 14
2 Kernelemente des Modellprojekts: Projekt-
  architektur, Ziele, Ansätze und Methoden

        Um die Chancengleichheit der Kinder in einer sich schnell verändernden und heterogenen
        Gesellschaft zu erhöhen, bedarf es immer wieder neuer Impulse und frischer Ideen. Geför-
        derte Modellprojekte werden in der Regel wissenschaftlich begleitet und evaluiert. So kön-
        nen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob die erprobten Methoden und Konzepte ihre
        Ziele erreichen und die angestrebten Wirkungen entfalten. Modellprojekte, die sich in der
        Praxis bewähren, können später auf andere Regionen übertragen werden. Wie das Modell-
        projekt „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ strukturell aufgebaut wird, welche Ziele es verfolgt
        und welche konzeptionellen Ansätze dem Projekt zu Grunde liegen, wird in diesem Kapitel
        ausführlich dargestellt. Zudem beschreibt dieses Kapitel zwei zentrale methodische Ansät-
        ze, die zur Feststellung und Entwicklung individueller Förderangebote für Kinder zum Einsatz
        kommen: der Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter und ein kindbezogenes Armutskon-
        zept, das auf dem Lebenslagenansatz basiert.

  Von Irina Volf
  Das Modellprojekt „ZUSi – Zukunft früh sichern!“      Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Künst-
  besteht in seiner Architektur aus vier Ebenen. Die    ler*innen qualitativ hochwertige Angebote für die
  strategische Steuerung des Projekts wird durch        Kinder zu schaffen. Die Architektur des Modell-
  eine Steuerungsgruppe gewährleistet. Diese setzt      projekts wird in Abbildung 2 grafisch dargestellt.
  sich aus Vertreter*innen der RAG-Stiftung, der          Inhaltlich setzt das Modellprojekt an der
  Stadträtin für Jugend und Bildung der Stadt Gel-      Erkenntnis an, dass es Kindern aus sozioökono-
  senkirchen, der Betriebsleiterin der Gelsenkirche-    misch schwachen oder bildungsfernen Familien
  ner Kindertagesbetreuung (GeKita), einer Fachbe-      oft an einer anregenden Lernumgebung sowie
  raterin der städtischen Kindertageseinrichtungen,     Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer Potenziale
  der Koordinatorin des Modellprojekts sowie Ver-       fehlt. Es ist häufig nicht das niedrige Familienein-
  treter*innen des ISS-Frankfurt a. M. zusammen.        kommen, das sich nachteilig auf die Entwicklung
  In diesem übergeordneten Gremium werden die           der Kinder auswirkt, sondern die Qualität der
  wichtigsten Meilensteine des Modellprojekts fest-     häuslichen Lernumgebung, die Eltern-Kind-Bezie-
  gelegt, Erkenntnisse aus der Projektumsetzung         hung sowie das elterliche Erziehungsverhalten (vgl.
  und der wissenschaftlichen Begleitung reflektiert     Linver et al. 2002; Rönnau-Böser 2013: 115). Kin-
  sowie steuerungsrelevante Entscheidungen getrof-      der aus armen Familien haben weniger Zugang zu
  fen. Die fachliche Entwicklung des Projekts erfolgt   Lernmaterial und entwicklungsförderlichen Erfah-
  unter wissenschaftlicher Begleitung des ISS-Frank-    rungen und erhalten gleichzeitig weniger kognitive
  furt a. M. auf der Ebene der GeKita. Hieran betei-    und sprachliche Stimulation (vgl. Heilig 2014) als
  ligt sind die Projektkoordinatorin, eine Fachbe-      Kinder aus nicht armen Familien. Die Ursachen: In
  ratung für städtische Kindertageseinrichtungen        Armut lebende Eltern sind häufig mit ihrer schwie-
  und sieben Bildungsbegleiter*innen. Die prakti-       rigen Lage selbst überfordert und vor allem damit
  sche Umsetzung der Aktivitäten erfolgt in sieben      beschäftigt, das Leben mit knappen finanziellen
  städtischen Tageseinrichtungen in Gelsenkirchen-      Ressourcen zu meistern. Je nach Elternhaus haben
  Ückendorf in Kooperation zwischen den Bildungs-       Kinder beim Eintritt in die Kindertagesstätte unter-
  begleiter*innen, Kitaleitungen und pädagogischen      schiedliche Prägungen und Vorerfahrungen und
  Fachkräften. Zusätzlich zur Arbeit in den Kinder-     werden deshalb von den Mitarbeiter*innen unter-
  tageseinrichtungen setzt das Modellprojekt darauf,    schiedlich wahrgenommen. So werden in der all-
  in Kooperation mit Grundschulen, Sportvereinen,       täglichen Arbeit in den Kindertageseinrichtungen

                                                                                                         15
häufig erst die Kinder als „talentiert“ angesehen,        sollen die pädagogischen Fachkräfte das eigene päd-
die bereits durch ihre Familie eine individuelle För-     agogische Handeln (z. B. bei Planung und Umset-
derung und Unterstützung erhalten. Bei Kindern,           zung der Aktivitäten mit Kindern sowie beim
die erst spät und mit mangelnden Deutschkennt-            Aufbau der Erziehungspartnerschaft mit Eltern)
nissen kommen und/oder aufgrund der materiellen           reflektieren und systematisch abprüfen, inwieweit
Unterversorgung der Familien keine Erfahrungen            die Prozessqualität3 in ihren Einrichtungen auch
mit Bilderbüchern und hochwertigen Spielmateria-          die Armutsdimension abbildet. Dabei gilt es, diffe-
lien haben, stoßen pädagogische Fachkräfte schnell        renzierte armutssensible Prüffragen zu stellen und
an Grenzen. Im Mittelpunkt einer kindzentrierten          zu beantworten (ausführlich Kapitel 5). Langfristig
Förderung müssen allerdings alle Kinder stehen            wird somit das Ziel verfolgt, die Prozessqualität in
und ihre Persönlichkeiten müssen vorurteilsfrei           den Kindertageseinrichtungen entlang der Armuts-
wertgeschätzt werden – ungeachtet der sozioöko-           dimensionen nachhaltig zu steigern.
nomischen Position der Eltern.
   In seiner konzeptionellen Umsetzung folgt das             »Mittelfristiges Ziel des Modellpro-
Modellprojekt „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ einem            jekts ist es, die Chancengleichheit
Präventionsansatz auf mehreren Ebenen, in dem                durch die individuelle Förderung der
                                                                    Kinder zu verbessern.«
Strategien der Verhaltens- und Verhältnispräventi-
on miteinander kombiniert werden (Rönnau-Böse/              Um einerseits Potenziale, Stärken und Möglich-
Fröhlich-Gildhoff 2020: 89; Rönnau-Böse 2013:             keiten und andererseits Barrieren und Herausfor-
103). Während es sich bei der Verhaltensprävention        derungen der Kinder aufdecken zu können, erfolgt
um die Veränderung des individuellen Verhaltens           im Modellprojekt eine systematische Beobachtung
handelt (z. B. Veränderung der Haltung pädagogi-          der Kindesentwicklung sowie eine Auseinander-
scher Fachkräfte durch Fortbildungen, Steigerung          setzung mit der Lebenssituation des Kindes. Dazu
der sozialen Kompetenzen der Kinder durch Trai-           wird der „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“
ning), geht es bei der Verhältnisprävention darum,        als methodisches Werkzeug genutzt. Das Instru-
das Umfeld und die Bedingungen in Kitas, im Sozi-         ment wird bereits seit mehreren Jahren in allen
alraum oder Familien positiv zu verändern (Set-           städtischen Kindertageseinrichtungen eingesetzt,
ting-Ansatz). Basierend auf den Erkenntnissen der         um die Entwicklung aller Kinder von der Aufnah-
Präventionsforschung zu wirksamen Programmen              me in die Kita und bis zur Einschulung zu beglei-
im Bereich der frühen Bildung berücksichtigt das          ten. Der „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“
Modellprojekt alle relevanten Ebenen, die für das         differenziert nach fünf zentralen Entwicklungsbe-
Kind und seine Förderung eine Bedeutung haben.            reichen – kognitive Entwicklung, sprachliche Ent-
Neben der individuellen Förderung der Kinder              wicklung, Grobmotorik, Feinmotorik und soziale
werden Ziele mit Blick auf die partnerschaftliche         Kompetenz. Ermöglicht wird damit, frühzeitig
Zusammenarbeit mit Eltern, auf die Qualifizierung         Stärken und Förderbedarfe der Kinder zu identifi-
der pädagogischen Fachkräfte und auf die Vernet-          zieren, auch wird das Instrument bei Reflexionsge-
zung im Sozialraum verfolgt. Die spezifischen Ziel-       sprächen mit Eltern und bei der Planung der indi-
setzungen für jede Ebene werden in Abbildung 3            viduellen Förderung der Kinder genutzt.
zusammenfassend dargestellt.                                Zusätzlich kommt beim Modellprojekt „ZUSi –
   Die Zielgruppe des Modellprojekts stellen Kin-         Zukunft früh sichern!“ das Lebenslagenmodell aus
der dar, die zu Beginn des Projekts 2019 vier Jahre       der AWO-ISS-Langzeitstudie zum Einsatz. Diffe-
alt waren. Durch die Auswahl dieser Altersgruppe          renziert nach vier Lebenslagendimensionen werden
wird im vierjährigen Förderzeitraum angestrebt,           materielle, kulturelle, soziale und gesundheitliche
zusätzliche Aktivitäten zur individuellen Förderung       Lage jedes einzelnen Kindes im Rahmen der Fall-
der Kinder mit jeweils vier, fünf und sechs Jahren        besprechungen umfassend thematisiert und in die
zu entwickeln und zu erproben. Zudem werden die           Bewertung der individuellen Fördermöglichkeiten
Projektkinder beim Übergang in die Grundschule            des Kindes einbezogen. In dieser Kombination
im Jahr 2021 und auch in der ersten Grundschul-           aus dem „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“
zeit begleitet. Mittelfristiges Ziel des Modellprojekts   und des Lebenslagenmodells liegt das Novum im
ist es, die Chancengleichheit durch die individuelle      methodischen Ansatz des Modellprojekts „ZUSi –
Förderung der Projektkinder zu verbessern. Zudem          Zukunft früh sichern!“.

16
Abbildung 2: Architektur des Modellprojekts „ZUSi – Zukunft früh sichern!“

    Steuerung des                            • RAG-Stiftung
    Projekts durch die                       • Stadt Gelsenkirchen, GeKita, Projektkoordinatorin
    Steuerungsgruppe
                                             • ISS-Frankfurt a. M.

    Fachliche Entwicklung                    • Projektkoordinatorin, Fachberatung GeKita
    des Projekts                             • Sieben Bildungsbegleiter*innen
                                             • ISS-Frankfurt a. M.

   Operative Umsetzung                       • Projektkoordinatorin und sieben Bildungsbegleiter*innen
   des Projekts                              • Kitaleitungen und pädagogische Fachkräfte der Kitas Bochumer
                                               Straße, Ückendorfer Straße, Flötz Sonnenschein, Heidelberger
                                               Straße, Hohenfriedberger Straße, Munscheidstraße, Leithestraße

   Kooperationspartner*-                     • Gemeinschaftsgrundschulen Haidekamp,
   innen im Sozialraum                         Hohenfriedberger Straße, Glückauf-Ückendorf
                                             • Vertreter*innen aus den Bereichen Sport, Gesundheit, Kultur

Quelle: Eigene Darstellung

3 „Eine hohe Prozessqualität ist gegeben, wenn die pädagogischen
  Fachkräfte sensibel und einfühlsam mit den Kindern umgehen
  und auf ihre individuellen Bedürfnisse, Interessen und Ent-
  wicklungsvoraussetzungen eingehen, entwicklungsangemessene
  Materialien auswählen und bereit stellen, Impulse für selbst-
  gesteuertes Lernen und Anregungen in verschiedenen Entwi-
  cklungs- bzw. Bildungsbereichen geben und wenn sie bestimmte
  lern- und persönlichkeitsförderliche Strategien der Interaktion
  mit den Kindern anwenden.“ (Viernickel/Schwarz 2009: 10)

                                                                                                             17
Abbildung 3: Mehrebenenansatz und Ziele des Modellprojekts
             „ZUSi – Zukunft früh sichern!“

                             • Talente und Begabungen der Kinder frühzeitig erkennen
                               und individuell fördern
                             • Stärkung der schulischen Vorläuferfähigkeiten zur Gewähr­
     Kinder                    leistung von Chancengleichheit bei benachteiligten Kindern
                             • Entwicklung und Erprobung zusätzlicher Angebote neben
                               dem Regelangebot, die möglichst viele Begabungsformen
                               der Kinder ansprechen

                             • Begleitung von Familien in Form einer Patenschaft, um eine
                               erfolgreiche Bildungsbiografie der Kinder zu erreichen
                             • Verstärkung der Elternarbeit im Hinblick auf die Reflexions­
     Familien                  gespräche zur Kindesentwicklung, einschließlich der Talent­
                               förderung
                             • Sensibilisierung der Eltern zur Gestaltung eines gelingenden
                               Übergangs in die Grundschule

                             • Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte an den beteiligten
     Pädagogische              Kindertageseinrichtungen
     Fachkräfte              • Schärfung der Blickrichtung der pädagogischen Fachkräfte für
                               die Potenziale und Talente der Kinder

                             • Vernetzung der Kindertageseinrichtungen mit anderen
                               Bildungsakteur*innen im Stadtteil
     Sozialraum
                             • Entwicklung eines kindzentrierten Konzepts zum Übergang
                               von der Kita in die Grundschule

Quelle: Eigene Darstellung

18
Infobox: Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter

Der Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter wurde          Kinder in den fünf Entwicklungsbereichen Spra-
2004 vom Arbeitskreis „Kinder und Jugendliche“           che, kognitive Entwicklung, soziale Kompetenzen,
der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG)            Feinmotorik und Grobmotorik. Im Einzelnen ent-
entwickelt. Es handelt sich dabei um einen Beob-         hält der Bewertungsbogen 212 Fertigkeiten bzw.
achtungsbogen, der im Elementarbereich einge-            zu bewältigende Aufgaben. Die Bewertung beginnt
setzt wird. Er dient zur Feststellung der Stärken        mit dem dritten Lebensjahr und endet beim Schul-
und Förderbedarfe der Kinder. So können Erzie-           eintritt. Die Bewertungen finden in einem sechs-
her*innen in ihrer konkreten Alltagspraxis schnell       monatigen Rhythmus statt. Nachfolgend wird die
und unkompliziert prüfen, wie weit ein Kind ent-         Anzahl der Indikatoren für jede der fünf Dimensio-
wickelt ist und ob es sich für seine jeweilige Alters-   nen sowie sieben Altersstufen ab drei Jahren und
stufe Defizite oder hingegen Vorsprünge identifi-        bis zur Einschulung tabellarisch abgebildet:
zieren lassen. Bewertet wird die Entwicklung der

Aufbau und Anzahl der Indikatoren des Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiters

                         Sprache     Kognitive         Soziale         Feinmotorik       Grobmotorik         Anzahl
                                    Entwicklung      Kompetenzen
 3–3,5 Jahren                8            7                7                 6                  4              32
 3,5–4 Jahren                4            5                6                 3                  8              26
 4–4,5 Jahren                10           5                7                 10                 9              41
 4,5–5 Jahren                4            7                6                 6                  8              31
 5–5,5 Jahren                4            7                8                 5                  4              28
 5,5 – Einschulung           7           18               11                 8                 10              54
 Gesamt                      37          49               45                 38                43              212
Quelle: Eigene Darstellung

Im Alter von drei bis dreieinhalb Jahren gibt es zum     Bei der Beobachtung eines Kindes durch Erzie-
Beispiel im Bereich der Grobmotorik vier Indikato-       her*innen werden die einzelnen Aufgaben durch
ren. So soll das Kind in der Lage sein, (1.) treppauf    ein Kreuz markiert, wenn das Kind diese erfüllen
mit Fußwechsel frei zu gehen, (2.) von der Trep-         kann. Wenn ein Kind bestimmte Aufgaben nur „teil-
pe mit den beiden Beinen zu springen, (3.) einen         weise“ erfüllen kann, wird die entsprechende Auf-
schwebenden Luftballon gezielt zu schlagen und           gabe durch einen Strich markiert. Für jede Alters-
(4.) ein Dreirad koordiniert zu fahren. Im Bereich       stufe wird darüber hinaus eine bestimmte Farbe
der sozialen Kompetenzen soll das Kind in diesem         genutzt. Wird im Rahmen der Beobachtung fest-
Alter sowohl allein als auch auf Initiative anderer      gestellt, dass das Kind noch nicht alle Anforderun-
mitspielen, seine Hilflosigkeit (z. B. Toilette) sig-    gen seiner Altersstufe erfüllen kann, wird geprüft,
nalisieren, einfache Anweisungen befolgen, Lob           ob die Anforderungen für die früheren Altersstu-
erwarten, das „Ich“ anwenden sowie Geschlechter          fen erfüllt werden. Meistert das Kind hingegen
identifizieren können. Die Aufgaben wurden unter         alle Aufgaben seiner Altersstufe, wird zusätzlich
Beteiligung des Gesundheitsamtes definiert. Es           geschaut, ob das Kind bereits Kompetenzen für
handelt es sich um jeweils durchschnittliche Anfor-      die höheren Altersstufen besitzt. Auf Basis der
derungen an Kinder in der jeweiligen Altersgruppe.       Erkenntnisse werden für Kinder individuelle För-
Somit wird von einer altersgemäßen Entwicklung           derpläne erstellt und mit Eltern abgestimmt.
des Kindes erst dann gesprochen, wenn das Kind           Quelle: Vgl. Beyer, Andrea/Fastabend, Sigrid/Liebers, Emilia/­
                                                         Schilling, Marlies/Sukowski, Petra/Webelseip, Anja/Weiß,
in der Lage ist, alle definierten Entwicklungsaufga-     Holle (2004): Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter.
ben in der jeweiligen Altersstufe zu erfüllen.           dgvt Verlag, Tübingen.

                                                                                                                     19
Infobox: Lebenslagen der Kinder im Vorschulalter

Der Lebenslagenansatz ist ein mehrdimensionales                 fälligkeiten festgestellt, kann davon ausgegangen
Konzept der Armutsforschung, der den Anspruch                   werden, dass das Wohl des Kindes gewährleistet
verfolgt, Armut als Unterversorgung und Benach-                 ist. Solche Kinder werden dem Lebenslagentyp
teiligung in einem umfassenderen als dem rein                   „Wohlergehen“ zugeordnet. Dem Lebenslagen-
ökonomischen Sinne zu begreifen. Nicht nur die                  typ „Benachteiligung“ werden Kinder zugeord-
materielle Lage des Haushalts oder der Fami-                    net, bei denen Auffälligkeiten in einer bis zwei
lie des Kindes wird in den Blick genommen, son-                 Lebenslagendimensionen vorliegen. Werden Auf-
dern die Lebenssituation und Lebenslage des                     fälligkeiten in drei oder sogar allen vier Dimensio-
Kindes. Die Lebenslagen werden in vier Dimensio-                nen festgestellt, ist von „Multipler Deprivation“
nen – materielle, soziale, kulturelle und gesundheit-           die Rede.
liche Lagen – anhand einer Vielzahl an Indikatoren                 Werden die Ergebnisse der Untersuchung zu
empirisch erforscht. Im Rahmen der vorliegen-                   familiärer Armut und Lebenslagentypen mitein-
den Untersuchung wurden die Ausprägungen der                    ander verzahnt, lässt sich für jedes Kind ermit-
Lebenslagendimensionen durch 64 Indikatoren                     teln, welche Zusammenhänge sich zwischen den
erfasst.                                                        Armutserfahrungen der untersuchten Familien und
   Beim Lebenslagenansatz handelt es sich um                    den Lebenssituationen der Kinder und Jugendli-
ein relatives Konzept, bei dem je nach Alter des                chen aus diesen Familie ergeben. Ein mehrdimen-
Kindes unterschiedliche Indikatoren je Dimension                sionales Armutskonzept aus der Kindesperspek-
zu berücksichtigen sind. Zudem werden in jeder                  tive wurde erstmalig vom Institut für Sozialarbeit
Dimension „auffällige“ Kinder identifiziert, die im             und Sozialpädagogik im Rahmen der AWO-ISS-
Vergleich zu ihren Altersgenoss*innen gravieren-                Kinderarmutsstudie entwickelt. Die Leitfrage lau-
den Einschränkungen und Benachteiligungen                       tet: Was kommt (unter Armutsbedingungen)
ausgesetzt sind. Werden in allen vier Lebensla-                 beim Kind an?
gendimensionen in Bezug auf ein Kind keine Auf-

Abbildung 4: Das kindbezogene Armutskonzept der AWO-ISS-Langzeitstudie

Haushalt ist arm                                                          Was kommt beim Kind an?

                                                                           Lebenslagendimensionen
                                                                           Materiell
                                 materielle
       Eltern/                    soziale                                  Sozial
     Erwachsene                                     Kind
                                 kulturelle                                Kulturell

                          gesundheitliche                                  Gesundheitlich
                            Ressourcen
                                                                                 Lebenslagetyp

          Wohlergehen                         Benachteiligung              Multiple Deprivation

Quelle: Hock et al. 2000a: 12.

Quelle: Vgl. Hock, Beate/Holz,Gerda/Simmedinger, Renate /Wüstendörfer, Werner (2000a): Gute Kindheit – Schlechte Kind-
heit? Armut und Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. ISS-Pontifex 4, Frankfurt a. M.

20
3 Strategische Bedeutung und praktische
  Umsetzung des Modellprojekts aus Sicht
  der Projektbeteiligten

        Nicht selten werden Ergebnisse von Modellprojekten in Form von Abschlussberichten doku-
        mentiert und nur auf wesentliche zentrale Erkenntnisse aus der Sicht der Evaluationsteams
        reduziert. Das Wissen darüber, mit welchen Vorstellungen und Erwartungen diese Modell-
        projekte von Kooperationspartner*innen initiiert wurden und wie sich diese Ideen im Pro-
        jektverlauf verändert haben, geht bei dieser Form der Ergebnisdokumentation häufig ver-
        loren. Daher kommen in diesem Kapitel die Projektbeteiligten selbst zu Wort und schildern
        aus ihrer jeweiligen Perspektive die strategische Bedeutung des Projekts für das Ruhrge-
        biet im Allgemeinen und für die Stadt Gelsenkirchen im Besonderen. Zudem gewähren die
        Projektbeteiligten Einblicke in ihre Praxis vor Ort. Neben einer Darstellung der alltäglichen
        Projektarbeit in den Kitas thematisieren die Projektbeteiligten ihre bisherigen Erfolge und
        Herausforderungen und berichten von ihren Aha-Erlebnissen in der Arbeit mit Kolleg*innen
        und Kindern. Schließlich wird der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Projektarbeit dar-
        gestellt. Die Gespräche mit den Projektbeteiligten führten Mitglieder des Evaluationsteams
        des ISS-Frankfurt a. M.

                                                           Besonders wichtig ist uns die Unterstützung von
                                                        Bildungsprojekten, die chancenbenachteiligten
                                                        Kin­dern und Jugendlichen neue Perspektiven auf-
                                                        zeigen. Hierbei fördern wir entlang der gesamten
                                                        Bildungskette und setzen seit 2019 vermehrt einen
                                                        Fokus auf frühkindliche Bildung. Denn Armutser-
                                                        fahrungen wirken sich nachhaltig negativ auf den
                                                        Bildungserfolg aus.
                                                           Deshalb müssen wir bei den Kindern möglichst
                                                        früh ansetzen und bereits unsere Jüngsten im
                                                        Revier auf ihrem Bildungsweg begleiten. Hierbei ist
        Bärbel Bergerhoff-Wodopia,                      das Projekt „Zukunft früh sichern!“ ein zentraler
        Mitglied des Vorstands der RAG-Stiftung         Baustein und wirkt nicht nur in Gelsenkirchen-
        © Foto: Lina Nikelowski
                                                        Ückendorf, sondern liefert durch die wissenschaft-
                                                        liche Begleitung des Instituts für Sozialarbeit und
  Frau Bergerhoff-Wodopia, die RAG-Stiftung             Sozialpädagogik auch wichtige Erkenntnisse für
  fi­
    nan­
       ziert das Modellprojekt „ZUSi – Zukunft          die pädagogische Arbeit bundesweit.
  früh sichern!“. Was hat Sie dazu bewegt, das
  Projekt zu unterstützen?                              Eine der sieben Zukunftsthesen der RAG-Stif-
    Die RAG-Stiftung fördert aus der Tradition des      tung-Zukunftsstudie lautet: Vitale Bildungs-
  Bergbaus kommend chancenbenachteiligte Kinder         landschaft für soziale Stabilität! Welchen Beitrag
  und Jugendliche in den ehemaligen Bergbauregionen     dazu erwarten Sie von diesem Modellprojekt?
  an Ruhr, Saar und in Ibbenbüren. Als Förderer neh-      Armut ist mehr als ein Mangel an Geld. Armut
  men wir dazu aktuelle bildungspolitische Herausfor-   beraubt Menschen ihrer materiellen Unabhängig-
  derungen in den Blick und stützen uns auch auf die    keit und damit der Fähigkeit, selbst über ihr Schick-
  Erkenntnisse unserer RAG-Stiftung-Zukunftsstudie.     sal und das ihrer Kinder zu entscheiden. Familiäre

                                                                                                          21
Armut wirkt sich mittelbar auf alle Lebensbereiche
der Kinder aus und verhindert eine kindgerechte
Entwicklung und die volle Entfaltung ihres Poten-
zials. Schon in der Grundschule haben Kinder, die
in Armut leben, deutlich schlechtere Noten und
müssen häufiger eine Klasse wiederholen.
  Folglich besuchen Kinder mit Armutserfahrung
auch seltener das Gymnasium als Kinder ohne
Armutserfahrung und haben so geringere Chancen
auf einen höheren Schulabschluss. Fest steht: Ein
guter Schulabschluss – ob am Gymnasium oder
einer anderen Schulform – ist unabdingbar, um                Anne Heselhaus,
                                                             Beigeordnete des Vorstandsbereichs
beispielsweise eine gute Ausbildungsstelle zu fin-
                                                             Kultur, Bildung, Jugend, Sport, und
den oder auch studieren zu können.                           Integration der Stadt Gelsenkirchen
  All diese Faktoren können zu einer sozialen
                                                             © Foto: Stadt Gelsenkirchen
Desintegration führen. An dieser Stelle bietet das
Modellprojekt „Zukunft früh sichern!“ einen zen-
tralen Mehrwert, denn es betrachtet explizit die       Frau Heselhaus, die Stadt Gelsenkirchen ist von
Disparitäten von Kindern mit und ohne Armuts-          der Problematik der Kinderarmut sehr stark
erfahrung und arbeitet dagegen. So bietet das Pro-     betroffen. Zur Bekämpfung derselben hat die
jekt konkret Fördermaßnahmen zu Visuomotorik,          Stadt bereits viele Maßnahmen ergriffen, die
Sprachförderung, aber auch zur Bewegungsförde-         auch anderen Städten mit gleichgelagerter Prob-
rung an. All das sind Bereiche, in denen nach ersten   lematik als Blaupausen gedient haben. Was waren
wissenschaftlichen Erhebungen in den beteiligten       und sind die Beweggründe für dieses Projekt?
Kindertagesstätten die größten Unterschiede zwi-         In Gelsenkirchen wachsen etwa 42 Prozent der
schen armen und nicht armen Kindern und damit          Kinder und Jugendlichen in Familien mit SGB-II-
die größte Ungleichheit besteht.                       Leistungsbezügen auf. Aufgrund dieser sozioöko-
  Das Projekt setzt früh an, fokussiert auf die        nomischen Situation und den damit verbundenen
Talent- und Potenzialförderung und gewährleis-         Lebensführungs- und Lebensbewältigungsprob-
tet einen guten Übergang in die Grundschule. Die       lemen haben viele dieser Kinder feststellbar einen
Bildungsbegleiterinnen und -begleiter legen somit      hohen Bedarf an zusätzlicher Unterstützung zur
den Grundstein für eine erfolgreiche Entwicklung       Erreichung eines Bildungsabschlusses. Aus die-
der Kinder – das macht das Projekt so wertvoll für     sem Grunde hat die Stadt Gelsenkirchen mit den
unsere Gesellschaft.                                   unterschiedlichsten Akteuren in der Vergangenheit
  Denn es muss stets darum gehen, Kindern Freu-        bereits vielfältige Angebote zur frühen Förderung
de am Lernen zu vermitteln, ihnen ihre Erfolge         installiert und die städtische Präventionskette zur
und Talente bewusst zu machen und ihnen zu ver-        Kinderarmut sukzessive ausgebaut, um für mehr
mitteln, dass sie stolz sein können, wenn sie etwas    Chancengerechtigkeit zu sorgen. Seit 2006 ist auch
erreicht haben. Diese Bausteine sorgen nicht nur       die Kindertagesbetreuung ein wesentlicher Bau-
für Chancengerechtigkeit, sondern sind auch zwin-      stein in der frühkindlichen Präventionsarbeit. Mit
gende Voraussetzung für die wirtschaftliche Kräf-      dem Modellprojekt wird nun zusätzlich ein Focus
tigung der Region.                                     auf Armutsindikatoren gelegt, um eine noch bes-
                                                       sere Grundlage für eine individuelle, kindschar-
                                                       fe Förderung zu schaffen und damit jedem Kind
                                                       echte Teilhabechancen zu eröffnen. Es gilt, durch
                                                       die frühestmögliche Identifikation der individu-
                                                       ellen Potenziale und Fähigkeiten gerade Kinder
                                                       mit Armutserfahrung bedarfsgerecht und stärke-
                                                       norientiert zu fördern und weiter zu entwickeln,
                                                       also – wie es das Projekt auch überschreibt – deren
                                                       Zukunft schon früh zu sichern. Damit nicht nur der

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Übergang von der Kita in die Grundschule positiv         Wirkungsvolle und gut gelingende Ansätze sol-
verläuft und die Kinder einen gelingenden Start in     len bereits im Projektverlauf in die Regelstruktu-
das schulische Bildungssystem erhalten, sondern        ren der städtischen Tageseinrichtungen der Kinder
insgesamt ein nachhaltiger Bildungserfolg in Form      übertragen werden. Unser Anspruch ist allerdings
eines Schulabschlusses erreicht wird, der wiederum     die Entwicklung eines gesamtstädtischen und
die Aufnahme eines Berufes oder eines Studiums         zudem überregional anwendbaren stärkenorien-
ermöglicht.                                            tierten und armutssensiblen Konzepts für Tages-
                                                       einrichtungen für Kinder. Perspektivisch soll die-
                                                       ses auch die Grundschulen miteinbeziehen und die
                                                       Bereiche der frühen Bildung und der formalen Bil-
                                                       dung besser untereinander verzahnen. Da dies als
                                                       ein Prozess zu begreifen ist, ist es wichtig, bereits
                                                       frühzeitig solche Chancen strategisch zu nutzen.
                                                       Dies geschieht unter anderem durch trägerüber-
                                                       greifende Fachtagungen zum Thema Kinderarmut,
                                                       bei denen die bisher gesammelten Erfahrungen aus
                                                       dem Modellprojekt und regelmäßige Informatio-
                                                       nen über den aktuellen Projektstand auf gesamt-
                                                       städtischer Ebene einfließen.

      Holle Weiß,
      Betriebsleiterin der Gelsenkirchener
      Kindertagesbetreuung
      © Foto: Andreas Weiß

Frau Weiß, als Betriebsleiterin der Gelsenkir-
chener Kindertagesbetreuung haben Sie das
Gesamtprojekt sowohl auf der strategischen Ebe-
ne als auch auf der Praxisebene im Blick. Was ist
aus Ihrer Sicht das Besondere am ZUSi-Modell-
projekt?
   Die Folgen von Kinderarmut erleben die pädago-
gischen Fachkräfte in ihrem Berufsalltag jeden Tag
hautnah. Neben den offensichtlichen Problemlagen
findet Armut aber auch verdeckt statt und geht viel-
fach mit Unsicherheiten und Scham für die Fami-
lien einher. Damit feinfühlig und pädagogisch-
fachlich umzugehen, Möglichkeiten zu nutzen und
Grenzen zu erkennen, sind sehr große Herausfor-
derungen.
   Dieses Projekt ergänzt also die vielfältigen Maß-
nahmen um ein Modell mit übertragbaren Ergeb-
nissen und weitet hierdurch den Blick sowohl auf
besonders zu unterstützende Kinder als auch auf
den Ansatz der Potenzialförderung. Zu Beginn
des Modellprojektes haben die pädagogischen
Fachkräfte der Ückendorfer Kitas bei einer Kick-
Off-Veranstaltung mit rund 100 Mitarbeitenden
gezeigt, was sie bereits auf diesem Gebiet leisten.
Und dennoch sind sich alle einig: Es ist und bleibt
eine Mannschaftsaufgabe.

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