Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen - Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt "Zukunft früh sichern!" - RAG ...
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Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt „Zukunft früh sichern!“ Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (Hrsg.)
Wir danken der RAG-Stiftung für die Förderung der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Modellprojekts „Zukunft früh sichern!“ und die Unterstützung bei der Erstellung der vorliegenden Handreichung.
Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt „Zukunft früh sichern!“ Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V.
Inhalt Zusammenfassung 7 1 Einleitung 11 2 Kernelemente des Modellprojekts: Projektarchitektur, Ziele, Ansätze und Methoden 15 3 Strategische Bedeutung und praktische Umsetzung des Modellprojekts aus Sicht der Projektbeteiligten 21 4 Zentrale Befunde zur Ausgangslage im Modellprojekt: Wie entwickeln sich (arme) Kinder im Alter von vier Jahren? 27 5 Armutssensibles Handeln in der Kita-Praxis: Theoretische Rahmung 39 6 Armutssensibles Handeln im Rahmen des Modellprojekts: Tipps aus der Praxis 45 6.1 Armutssensible Ansätze zur Steigerung der Prozessqualität 46 6.2 Die materielle und soziale Teilhabe 51 6.3 Die kulturelle Teilhabe 53 6.4 Die gesundheitliche Lage 55 Literaturhinweise 57 Anlagen 60 Anlage 1: Elternfragebogen des ISS-Frankfurt a. M. 61 Anlage 2: Mehrsprachige Bilderbücher 65 Anlage 3: Fragebogen zur Bestandsaufnahme zum Übergang von der Kita in die Grundschule 67 Anlage 4: Fallbesprechung nach dem Modell der vier Lebenslagen 68 Anlage 5: Vorlage der Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung zu Kinderinterview 69 Anlage 6: Entwicklungsmonitoring 70 Anlage 7: Bücher zur Resilienzförderung 76 Impressum 78
Zusammenfassung Ückendorf ist ein sozial hoch belasteter Stadtteil mutskonzept der AWO-ISS Langzeitstudie werden der Stadt Gelsenkirchen. Im Rahmen des Modell- im Projekt auch die persönlichen Lebenslagen der projekts „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ wird dort Kinder in vier Dimensionen – materielle, kultu- seit April 2019 in sieben städtischen Kindertages- relle, soziale und gesundheitliche Lage – in die einrichtungen (Träger GeKita-Gelsenkirchener Analyse einbezogen. Für jedes Kind werden nach Kindertagesbetreuung) konzeptionell fundiert dem „Lebenslagenmodell“ sowie auf Grundlage erprobt, armutssensible frühe Bildung zu gestal- des „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiters“ (ein ten. Das Ziel lautet, jedem Kind – unabhängig von in Gelsenkirchen eingeführtes Bewertungs- und sozialer Herkunft und finanziellen Ressourcen der Begleitungsmodell in der frühen Bildung) in Fall- Eltern – eine gesunde altersgemäße Entwicklung, besprechungen Informationen zusammengetragen. soziale Teilhabe und das Recht auf qualitative Bil- Dabei kommen die Perspektiven und Kompe- dung von den ersten Lebensjahren an zu gewähr- tenzen aller Beteiligter zusammen: die der Erzie- leisten. Dabei stehen die individuellen Stärken und her*innen und Bildungsbegleiter*innen ebenso wie Talente der Kinder im Fokus. Das Modellprojekt die der Eltern und der Kinder selbst. Diese Ana- wird von der RAG-Stiftung finanziert und vom lyse ist die Grundlage für die individuelle Förde- Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. rung der Kinder durch bedarfsgerechte Angebote. wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Bildungsbegleiter*innen haben die Aufgabe, die Kinder in ihren Stärken und Schwächen gezielt zu »Das Modellprojekt fördern, damit allen Kindern der Übergang in die nimmt jedes Kind mit Grundschule und am besten auch eine lückenlose seinen Stärken, Förder- Bildungsbiografie gelingt. Die Eltern sollen für die bedarfen und seiner Stärken ihrer Kinder sensibilisiert und zur Förde- Lebenslage in einen rung der Kinder aktiviert werden. individuellen Blick.« Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung Das Modellprojekt nimmt jedes Kind mit seinen erhalten die am Projekt beteiligten Fachkräfte pra- Stärken, Förderbedarfen und seiner Lebenslage in xisrelevante Impulse aus der Forschung und ande- einen individuellen Blick. Dies und die Umsetzung ren Modellprojekten und werden darin begleitet, einer passgenauen, individuellen Förderung eines ihre Haltung zu reflektieren und Aktivitäten ziel- jeden Kindes erfolgt im Zusammenspiel multi- gerichtet zu planen und umzusetzen. Der Fokus professioneller Teams. Im Modellprojekt unter- liegt dabei auf der Entwicklung und Verankerung stützen sieben Bildungsbegleiter*innen die Arbeit von Armutssensibilität als ein Aspekt der Prozess- der pädagogischen Fachkräfte in den sieben Kin- qualität in den Kindertageseinrichtungen. Konkret dertagesstätten, indem sie an der konzeptionel- handelt es sich um die Wissensvermittlung zu den len Entwicklung von Angeboten mitarbeiten und Folgen von Kinderarmut zur Vermeidung von Stig- diese Aktivitäten mit den Kindern durchführen. matisierungen und zur armutssensiblen Gestaltung Eine Projektkoordinatorin begleitet die Teams in der Angebote für Kinder. Somit werden die Fach- den sieben Kitas und vernetzt diese im Sozialraum kräfte sensibilisiert, in ihrer Haltung gestärkt und mit weiteren Akteur*innen wie der Musikschule, darin unterstützt, die Erkenntnisse aus diesem Pro- Sportvereinen, weiteren Bildungseinrichtungen zess in praktische Handlungen zu überführen und sowie Künstler*innen. armutsbedingte Barrieren abzubauen. In Gelsenkirchen werden bereits seit mehreren Der Schwerpunkt der Evaluation liegt in der Jahren die Entwicklungsfortschritte von Kindern Überprüfung der Wirksamkeit des Modellprojekts. ab dem Eintritt in die Kita und bis zum Übergang Es geht also um die Fragestellung, inwieweit das in die Grundschule systematisch erfasst. Der im Projekt einen positiven Einfluss auf die Entwick- Modellprojekt verfolgte Ansatz geht über diese lung der Kinder bis zum Übergang in die Grund- Erfassung hinaus. Angelehnt an das Kinderar- schule nimmt. 7
Methodologisch ist die Evaluation als Längs- – erfasst. Von einer altersgemäßen Entwicklung schnittuntersuchung mit einer Vergleichsgruppe wird dann ausgegangen, wenn Kinder 100 % der angelegt. Die Projekterkenntnisse werden diffe- für ihr Alter relevanten Aufgaben lösen können. renziert nach Kindern aus armen und nicht armen Werden die erreichten Entwicklungsniveaus der Familien ausgewertet und zeitnah nach der Daten- Kinder im Modellprojekt differenziert für arme erhebung zurück an die Projektbeteiligten gespie- und nicht arme Kinder untersucht, so lassen sich gelt. Somit werden die Daten nicht nur zum Zweck große Differenzen feststellen: Im Durchschnitt der Erfolgskontrolle generiert, sondern fließen in erreichten die nicht armen Kinder rund 70 % die Ausgestaltung der Projektaktivitäten ein. Die und die armen Kinder nur 50 % des altersgemä- ersten Analyseschritte beziehen sich auf die Aus- ßen Entwicklungsniveaus. E ntwicklungsdefizite gangslage der vierjährigen Kinder, die als Zielgrup- traten bei den armen Kindern in allen fünf pe des Modellprojekts im Fokus der Evaluation ste- Dimensionen auf. Diese Defizite waren in den hen. Die Befunde verdeutlichten den Nutzen einer Dimensionen Sprache und Feinmotorik aller- individuellen Fallbesprechung unter Berücksichti- dings besonders stark ausgeprägt. gung der Lebenslagen der Kinder. Infolge einer dif- ferenzierten Analyse der Entwicklungsniveaus der • Die Entwicklungschancen der Kinder werden Kinder konnten die Handlungsbedarfe in fünf zen- stärker von der Gesamtlebenslage als von der tralen Entwicklungsbereichen der Kinder konkre- materiellen Armut im Sinne von einem Mangel tisiert werden. Zudem konnte auf Basis der ersten an Geld bestimmt. Am besten entwickeln sich Forschungsergebnisse die Gestaltung der Angebote die Kinder, die in nicht armen Familien und im unter Berücksichtigung der Stärken und Schwä- Lebenslagentyp „Wohlergehen“2 aufwachsen. Sie chen der Kinder sowie der Wünsche der Eltern erreichten im Schnitt 83 % des altersgemäßen bedarfsgerecht fortentwickelt werden. Die zentralen Entwicklungsniveaus. Die armen Kinder, die Erkenntnisse zur Ausgangslage der Projektkinder im Lebenslagentyp „Wohlergehen“ aufwachsen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: erreichen immerhin 66 % des altersgemäßen Entwicklungsniveaus. Dies ist ein deutlich bes- • Bei der Zielgruppe des Modellprojekts handelt es seres Ergebnis als bei den armen Kindern, die in sich um 136 Kinder, die zum Start des Projekts den Lebenslagentypen „Benachteiligung“ und im Jahr 2019 vier Jahre alt waren und im Jahr „multiple Deprivation“ aufwachsen, denn diese 2021 eingeschult werden. Rund 60 % der Kinder erreichen lediglich 51 % bzw. 41 % des altersge- wachsen in armen Familien auf, das heißt, dass mäßen Entwicklungsniveaus. diese Familien auf Transferleistungen der Min- destgrundsicherung angewiesen sind. • Auch eine Talentförderung im Bereich der frü- hen Bildung bedarf eines scharfen armutssensi- • Armut ist ein bekannter Risikofaktor für die Ent- blen Blicks auf die Kinder. Von Armut betroffene wicklung der Kinder und lässt sich in der vorlie- Eltern sehen die Talente ihrer Kinder eher in den genden Untersuchung quantifizieren. Die armen Bereichen Sport und Soziales. Einkommens- Kinder werden im Vergleich zu den nicht armen stärkere Eltern verorten die Talente ihrer Kinder Kindern institutionell um sechs Monate kürzer hingegen eher in den Bereichen logisches Den- (24 Monate vs. 18 Monate) und häufiger nur bis ken und Kunst. Begabungen der Kinder wer- 25 Stunden pro Woche institutionell betreut. den allerdings erst dann entdeckt, wenn Kinder Ihre Entwicklung ist bereits in den ersten vier überhaupt eine Chance bekommen, etwas Neues Lebensjahren von Einschränkungen, Defiziten auszuprobieren und Spaß an bestimmten Tätig- und Benachteiligungen geprägt. keiten zu entwickeln. Daher ist es insbesondere für arme Kinder kaum möglich, ohne externe • Ob und inwiefern sich die Kinder altersgemäß Unterstützung über den Tellerrand der familiä- entwickeln, wird mithilfe des „Gelsenkirchener ren Möglichkeiten zu schauen. Entwicklungsbegleiters“ dokumentiert.1 Dabei werden die Kompetenzen der Kinder in fünf Dimensionen – Sprache, kognitive Entwicklung, soziale Kompetenzen, Grob- und Feinmotorik 8
• Die finanziellen Einschränkungen der Fami- lien sind gravierend und betreffen grundlegen- de materielle Güter: Zwei Drittel der armutsbe- troffenen Eltern wünschen sich für ihre Kinder eine bessere Teilhabe an soziokulturellen und gesundheitsfördernden Angeboten. Jede vierte arme Familie sieht sich mit Spielsachen, Bastel-/ Schreibmaterialien, Fahrzeugen (Fahrrad/Drei- rad) und Sportartikeln (Sportschuhe, Bälle, Hel- me) nur unzureichend ausgestattet. Mehr Klei- dung und Schuhe für die Kinder wünscht sich jede fünfte arme Familie. • Kindbezogene Armutsprävention ist ein sozial- und jugendpolitischer Auftrag. Voraussetzung, um diesen Auftrag annehmen und umsetzen zu können, ist Armutssensibilität. Während pädago- gische Fachkräfte strukturelle Armutsursachen wie Arbeitslosigkeit kaum bekämpfen können, sind sie sehr wohl in der Lage, in ihren Institu- tionen den Folgen der Kinderarmut präventiv entgegenzuwirken. Wie dies gelingen kann, ver- anschaulichen 14 konkrete Ansätze als Beispiele guter Praxis. Eine abschließende Bewertung, ob und inwiefern die Projektaktivitäten dazu geführt haben werden, die Entwicklungskluft zwischen Kindern aus armen und nicht armen Familien zu reduzieren und die Startchancen der Kinder beim Übergang in die Grundschule auszugleichen, wird erst nach den anstehenden Befragungen 2021 und 2022 möglich sein. Vor dem Hintergrund der massiven Einschrän- kungen, die die pädagogischen Fachkräfte und Kinder infolge der COVID-19-Pandemie in Kauf nehmen müssen, ist diese Zielsetzung besonders anspruchsvoll. 1 Siehe Infobox „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“ auf Seite 19. 2 Siehe Infobox „Kindbezogenes Armutskonzept“ auf Seite 20. 9
1 Einleitung Von Irina Volf Die Chancen auf gute Bildung und somit höhere Diese grundsätzliche Problematik verschärft sich Erträge im Berufsleben sowie höheren gesell- in Regionen, Städten und Quartieren mit hoher schaftlichen Status sind in Deutschland ungleich und langfristiger Arbeitslosigkeit, mit ethnischer verteilt. Bereits bei der Geburt des Kindes werden und sozialer Segregation sowie mit niedrigen Ver- seine Chancen maßgeblich durch den Bildungs- sorgungsquoten und schwacher Infrastruktur im stand und den beruflichen Status der Eltern fest- Bereich der frühen Bildung (vgl. Bildungsbericht gelegt (vgl. Autorengruppe des Bildungsberichts Ruhr 2020). Diese negativen Rahmenbedingungen 2020: 317 ff.). Bei Kindern, die in sozioökonomisch sind im Ruhrgebiet besonders häufig anzutreffen: schwachen Familien aufwachsen, lassen sich Die finanziellen Handlungsspielräume der Kom- bereits in den ersten Lebensjahren herkunftsbe- munen sind hier aufgrund der besonders hohen dingte Entwicklungsverzögerungen identifizieren. Pro-Kopf-Verschuldung stark eingeschränkt; Gegenüber Kindern aus soziökonomisch besser das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist gestellten Familien haben Kinder, die in Armut hier mit Abstand das geringste im Vergleich zum aufwachsen, deutlich häufiger Defizite in sprach- übrigen Nordrhein-Westfalen und besonders lichen, motorischen und kognitiven Bereichen. viele Menschen sind an Transferleistungen zur Diese Entwicklungsverzögerungen werden bis zum Mindestgrundsicherung angewiesen (ebd.: 16–17). Übergang in die Grundschule häufig nicht ausge- Während in Deutschland rund jedes siebte Kind glichen und können sich sogar über den gesamten in armen Familien aufwächst (Lietzmann/Wenzig Bildungsverlauf hinweg manifestieren. Untersu- 2020: 10), trifft diese Situation in Duisburg, Essen chungen zu Folgen der Kinderarmut im Lebens- und Dortmund auf rund jedes dritte Kind zu. In verlauf belegen: Armut stellt ein hohes Risiko für Gelsenkirchen wachsen 40,4 % der unter 15-Jähri- eine altersgemäße Entwicklung der Kinder in der gen in armen Familien auf und sind somit einem frühen Kindheit dar, beraubt ihnen im mittleren hohen Risiko einer brüchigen Bildungsbiographie Kindesalter zahlreiche Entwicklungschancen, engt ausgesetzt (vgl. Bildungsbericht Ruhr 2020: 36). in der Jugendzeit den Kreis der Möglichkeiten ein Damit bleibt die Kinder- und Jugendarmut in Gel- und hinterlässt bis ins junge Erwachsenenalter senkirchen auf dem höchsten Niveau in Deutsch- hinein deutliche Spuren (vgl. Hock et al. 2000a, land. Hock et al. 2000b, Laubstein et al. 2012, Laubstein »Das Modellprojekt et al. 2016, Volf et al. 2019). ‚ZUSi – Zukunft früh Mit der Forderung „Bildung von Anfang an“ hat sichern!’ ist Teil der sich seit Beginn dieses Jahrhunderts das Aufgaben- Präventionskette gegen feld von Kindertageseinrichtungen verändert. Die Kinderarmut.« Kindertagesstätte dient nicht nur der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Vielmehr sollen die kindli- Unter dem Motto „Jedem Kind seine Chance“ che Entwicklung verstärkt in den Blick genommen hat die Stadt Gelsenkirchen bereits im Jahr 2005 und herkunftsbedingte Ungleichheiten reduziert begonnen, eine lückenlose Betreuungs- und Prä- werden (vgl. Autorengruppe des Bildungsberichts ventionskette aufzubauen, um auf die vielfältigen 2020: 75). Um diesem Anspruch in der Praxis und sich stetig ändernden Herausforderungen gerecht zu werden, ist eine hohe Qualität der Ange- armer Familien frühzeitig zu reagieren. Seitdem bote in der frühen Bildung erforderlich. Doch nicht hat die Stadt viele Anstrengungen unternommen, nur der qualitative Anspruch an die Arbeit der päd- um die kommunale Präventionspolitik zu stärken. agogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrich- Auch suchte die Stadt Kooperationen mit Partnern. tungen steigt. Auch die Zahl der von Armut betrof- Gelsenkirchen war eine der ersten Modellkommu- fenen Kinder nimmt tendenziell zu. Eine besondere nen, die am Landesprogramm „Kein Kind zurück- Herausforderung stellt der zunehmende Fachkräf- lassen“ zum Aufbau von kommunalen Präventions- temangel dar. ketten teilgenommen haben. Mit dem Abschluss 11
des Landesprogramms setzte die Stadt Gelsenkir- Diesen Fragen stellen sich seit 2019 eine Koor- chen die Arbeit fort und baute die Präventionskette dinatorin und sieben zusätzliche pädagogische sukzessive aus (vgl. Stadt Gelsenkirchen 2018). Fachkräfte, die im Modellprojekt die Rolle von Bil- Das Modellprojekt „ZUSi – Zukunft früh sich dungsbegleiter*innen übernehmen. Die Koordina- ern!“ wird als Teil der Präventionskette gegen Kin- tion ist bei der Stadt Gelsenkirchen, Gelsenkirche- derarmut zwischen April 2019 und April 2022 in ner Kindertagesbetreuung (GeKita) angesiedelt; die sieben städtischen Kindertageseinrichtungen im Bildungsbegleiter*innen arbeiten in den Kinder- Gelsenkirchener Stadtteil Ückendorf umgesetzt. tageseinrichtungen. Einer engen Zusammenarbeit Das Projekt wird durch die RAG-Stiftung geför- zwischen den Bildungsbegleiter*innen, den päd- dert. Das Modellprojekt zielt darauf ab, sowohl die agogischen Fachkräften in den Kitas, den Eltern, individuellen Stärken und Talente der Kinder in den Grundschulen und unterschiedlichen Trägern Ückendorf durch zusätzliche Angebote zu fördern, vor Ort wird im Rahmen des Modellprojekts große als auch vielfältige Ansätze zur Vorbeugung und Bedeutung beigemessen. Bekämpfung von Armutsfolgen bei Kleinkindern Das Modellprojekt wird vom Institut für Sozial- zu entwickeln und zu erproben. Des Weiteren wer- arbeit und Sozialpädagogik (ISS-Frankfurt a. M.) den Kooperationen in multiprofessionalen Teams wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Das ISS- sowohl innerhalb der Kindertageseinrichtungen Frankfurt a. M. greift auf die mehrjährige Erfah- als auch im Sozialraum gestärkt und ausgebaut. Die rung aus den bundesweit einzigartigen Studien Projektaktivitäten richten sich in erster Linie an zur Kinderarmut (AWO-ISS Langzeitstudie) sowie Kinder, die im Jahr 2019 vier Jahre alt waren und zum Aufbau von kommunalen Präventionsketten demnach im Jahr 2021 eingeschult werden. Durch (Mo.Ki – Mohnheim für Kinder) zurück und stellt die Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse sol- das pädagogische Handeln im Rahmen des Modell- len möglichst viele Kinder vom Modellprojekt profi- projekts immer wieder auf den Prüfstand, hinter- tieren. Handlungsfelder sind zusätzliche Aktivitäten fragt einzelne Maßnahmen und gleicht diese mit mit Kindern, Veränderung bestimmter Abläufe im dem aktuellen Stand der Forschung ab. Kita-Alltag oder die Etablierung neuer Methoden. In der vorliegenden Handreichung werden die Im Stadtteil Ückendorf ist fast jedes zweite Kind ersten Erkenntnisse und Impulse aus dem Modell- von Armut betroffen. Daher erfordert die Arbeit projekt mit Fokus auf das Thema der Armutssen- mit Kindern sowie ihren Familien seitens der sibilität im Bereich der frühen Bildung dargestellt. pädagogischen Fachkräfte einen hohen Grad an Aufgrund der zahlreichen Beispiele, wie Armuts- Armutssensibilität (Stadt Gelsenkirchen 2018). sensibilität in der Kita-Praxis konkret umgesetzt Dabei sind folgende Fragestellungen zentral: werden kann, richtet sich die Handreichung vor allem an Kitaleitungen, Erzieher*innen und im • Wie können die Planung und Gestaltung der Bereich der frühen Bildung tätige pädagogische Angebote der frühen Bildung armutssensibel Fachkräfte. gelingen? Die Forschungserkenntnisse zur Ausgangslage der Kinder bei Projektstart sind besorgniserregend. • Was braucht es dafür an Haltung, Wissen, Kom- Ein hoher Anteil der Kinder weist starke Entwick- petenzen, Ressourcen, Entscheidungsbefugnis- lungsverzögerungen auf, dementsprechend hoch ist sen, Kreativität, Spielräumen und Erprobungs- der Handlungsbedarf im Kampf gegen Kinderar- möglichkeiten? mut. Daher richtet sich diese Handreichung auch an freie und öffentliche Träger der Kindertagesein- • Wie kann es gelingen, Talente der Kinder vor- richtungen, kommunal Verantwortliche im Bereich urteilsfrei zu identifizieren und individuell zu der (frühen) Bildung sowie politische Entschei- fördern? dungsträger*innen. Die Handreichung muss insge- samt als ein Appell an die Gesellschaft verstanden • Wie können die Startchancen der armutsbetrof- werden. fenen Kinder noch vor dem Übergang in die Grundschule so weit verbessert werden, dass Wir dürfen die Zukunft armutsbetroffener keine oder möglichst geringe Benachteiligungen Kinder nicht verspielen, sondern sind in entstehen? der Pflicht, diese Zukunft früh zu sichern! 12
Infobox: AWO-ISS Langzeitstudie zur Kinderarmut Was macht die AWO-ISS Langzeitstudie zum einladen, den eigenen Geburtstag feiern oder zu Thema Kinderarmut so besonders? anderen Kindern zum Geburtstag kommen, weil Die seit 1997 von der Arbeiterwohlfahrt finanzierte das Geld für ein Geschenk fehlt. Sie wiederholen und vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpäda- häufiger eine Klasse, streben niedrigere Schulab- gogik e. V. umgesetzte AWO-ISS Langzeitstudie schlüsse an und können seltener auf Unterstüt- widmet sich der Erforschung von Folgen familiärer zung im familiären Umfeld zurückgreifen. Armut Armut auf die Entwicklung der Kinder vom Vor- im jungen Erwachsenenalter geht vor allem mit schulalter bis zum 25. Lebensjahr. Die erste Unter- Einschränkungen in der materiellen Grundver- suchung fand 1999 mit 893 Kindern statt, die sechs sorgung und Teilhabe sowie schlechter psychi- Jahre alt waren und 60 bundesweit verteilte AWO- scher Gesundheit einher. Einschränkungen in Kindertageseinrichtungen besuchten. Die For- den kulturellen und sozialen Lagen sind bei den schenden untersuchten die Lebensverläufe dieser jungen Erwachsenen insgesamt zwar weniger Kinder von der Kita bis zum jungen Erwachsenen- ausgeprägt. Sie kumulieren jedoch bei einzelnen alter. Besonders wurden die kritischen Übergänge Personen, die wiederum häufig in Armut leben. im Leben analysiert. Dabei wurde nach Lebensla- Langzeitfolgen von Kinderarmut lassen sich ins- gen und Armutserfahrungen differenziert. Bei der besondere im kulturellen Bereich – schlechtere letzten Befragung im Jahr 2018 wurden 205 ehe- Bildungs- und Qualifizierungsniveaus – sowie im malige Sechsjährige und heute junge Erwachse- gesundheitlichen Bereich – insbesondere mit Blick ne wiedererreicht. Neben den quantitativen Daten auf psychische Gesundheit – feststellen. wurden auch qualitative Daten in Form von Inter- views mit 23 Studienteilnehmenden in die Analyse Gab es überraschende Ergebnisse? einbezogen. Es gibt bislang in Deutschland keine Einige gängige Hypothesen bestätigte die Studie andere Langzeitstudie, die so viele Zusammen- nicht. Beispielsweise geht es Migran ten kindern hänge, Wechselwirkungen und Muster zwischen – die als Gruppe mit erhöhtem Armutsrisiko gilt – Lebensverläufen der Kinder aus armen und nicht nicht schlechter als Studienteilnehmenden ohne armen Familien beleuchtet. Migrationserfahrungen. Ferner zeigte sich, dass mittlere Bildung nicht mehr vor Armut schützt. Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, in Gleichzeitig konnte die Studie belegen, was auf Armut aufzuwachsen? den ersten Blick kontraintuitiv erscheint: Zwei Kinder haben in unterschiedlichen Lebensphasen Dritteln der ehemals armen Kinder gelang es, die unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse, aber familiäre Armut im jungen Erwachsenenalter hin- auch verschiedene Entwicklungsaufgaben. Die ter sich zu lassen. Im Umkehrschluss zeigt sich Unterschiede zwischen den armutsbetroffenen jedoch, dass jedes dritte Kind, das mit sechs Jah- Kindern und ihren Altersgenoss*innen aus finan- ren in einer armen Familie aufgewachsen ist, auch ziell besser gestellten Familien lassen sich bereits als junge erwachsene Person arm ist. Das eigene im Kita-Alter feststellen: Armutsbetroffene Kinder Armutsrisiko im jungen Erwachsenenalter hängt weisen häufiger Spiel- und Sprachauffälligkeiten eng mit den Armutserfahrungen in der Kindheit auf, ihre Grob- und Feinmotorik ist schlechter ent- zusammen. wickelt, sie sind häufiger entweder sehr zurück- haltend oder aber aggressiv. Im Schulalter erleben Die Kurzfassung der Studie „Wenn Kinderarmut die Kinder aus armen Familien zudem häufiger erwachsen wird …“ (Volf et al. 2019) finden Sie Benachteiligung in sozialen und kulturellen Berei- unter www.iss-ffm.de. chen. Selten können sie ihre Freunde nach Hause 13
Abbildung 1: Die AWO-ISS Langzeitstudie im Überblick 1997–2000 I. AWO-ISS-Studie „Armut im Vorschulalter“ 1999 Quantitative Erhebung: auswertbar n = 893 Vertiefungsstudie Wiederholungsstudie 1 2000–2002 II. AWO-ISS-Studie „Armut im frühen Grundschulalter“ 2001 Wiederholungsstudie 2 Quantitative Erhebung: auswertbar n = 107 Qualitative Erhebung: auswertbar n = 27 2002–2005 III. AWO-ISS-Studie „Armut im späten Grundschulalter“ 2003/2004 Quantitative Erhebung: auswertbar n = 500 Wiederholungsstudie 3 Qualitative Erhebung: auswertbar n = 10 2009–2012 IV. AWO-ISS-Studie „Armut am Ende der Sekundarstufe I“ 2009/2010 Quantitative Erhebung: auswertbar n = 449 Qualitative Erhebung: auswertbar n = 14 2017–2020 V. AWO-ISS-Studie „Armut im jungen Erwachsenenalter“ 2018/2019 Quantitative Erhebung: auswertbar n = 205 Qualitative Erhebung: auswertbar n = 23 Quelle: Volf et al. 2019: 14. 14
2 Kernelemente des Modellprojekts: Projekt- architektur, Ziele, Ansätze und Methoden Um die Chancengleichheit der Kinder in einer sich schnell verändernden und heterogenen Gesellschaft zu erhöhen, bedarf es immer wieder neuer Impulse und frischer Ideen. Geför- derte Modellprojekte werden in der Regel wissenschaftlich begleitet und evaluiert. So kön- nen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob die erprobten Methoden und Konzepte ihre Ziele erreichen und die angestrebten Wirkungen entfalten. Modellprojekte, die sich in der Praxis bewähren, können später auf andere Regionen übertragen werden. Wie das Modell- projekt „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ strukturell aufgebaut wird, welche Ziele es verfolgt und welche konzeptionellen Ansätze dem Projekt zu Grunde liegen, wird in diesem Kapitel ausführlich dargestellt. Zudem beschreibt dieses Kapitel zwei zentrale methodische Ansät- ze, die zur Feststellung und Entwicklung individueller Förderangebote für Kinder zum Einsatz kommen: der Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter und ein kindbezogenes Armutskon- zept, das auf dem Lebenslagenansatz basiert. Von Irina Volf Das Modellprojekt „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Künst- besteht in seiner Architektur aus vier Ebenen. Die ler*innen qualitativ hochwertige Angebote für die strategische Steuerung des Projekts wird durch Kinder zu schaffen. Die Architektur des Modell- eine Steuerungsgruppe gewährleistet. Diese setzt projekts wird in Abbildung 2 grafisch dargestellt. sich aus Vertreter*innen der RAG-Stiftung, der Inhaltlich setzt das Modellprojekt an der Stadträtin für Jugend und Bildung der Stadt Gel- Erkenntnis an, dass es Kindern aus sozioökono- senkirchen, der Betriebsleiterin der Gelsenkirche- misch schwachen oder bildungsfernen Familien ner Kindertagesbetreuung (GeKita), einer Fachbe- oft an einer anregenden Lernumgebung sowie raterin der städtischen Kindertageseinrichtungen, Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer Potenziale der Koordinatorin des Modellprojekts sowie Ver- fehlt. Es ist häufig nicht das niedrige Familienein- treter*innen des ISS-Frankfurt a. M. zusammen. kommen, das sich nachteilig auf die Entwicklung In diesem übergeordneten Gremium werden die der Kinder auswirkt, sondern die Qualität der wichtigsten Meilensteine des Modellprojekts fest- häuslichen Lernumgebung, die Eltern-Kind-Bezie- gelegt, Erkenntnisse aus der Projektumsetzung hung sowie das elterliche Erziehungsverhalten (vgl. und der wissenschaftlichen Begleitung reflektiert Linver et al. 2002; Rönnau-Böser 2013: 115). Kin- sowie steuerungsrelevante Entscheidungen getrof- der aus armen Familien haben weniger Zugang zu fen. Die fachliche Entwicklung des Projekts erfolgt Lernmaterial und entwicklungsförderlichen Erfah- unter wissenschaftlicher Begleitung des ISS-Frank- rungen und erhalten gleichzeitig weniger kognitive furt a. M. auf der Ebene der GeKita. Hieran betei- und sprachliche Stimulation (vgl. Heilig 2014) als ligt sind die Projektkoordinatorin, eine Fachbe- Kinder aus nicht armen Familien. Die Ursachen: In ratung für städtische Kindertageseinrichtungen Armut lebende Eltern sind häufig mit ihrer schwie- und sieben Bildungsbegleiter*innen. Die prakti- rigen Lage selbst überfordert und vor allem damit sche Umsetzung der Aktivitäten erfolgt in sieben beschäftigt, das Leben mit knappen finanziellen städtischen Tageseinrichtungen in Gelsenkirchen- Ressourcen zu meistern. Je nach Elternhaus haben Ückendorf in Kooperation zwischen den Bildungs- Kinder beim Eintritt in die Kindertagesstätte unter- begleiter*innen, Kitaleitungen und pädagogischen schiedliche Prägungen und Vorerfahrungen und Fachkräften. Zusätzlich zur Arbeit in den Kinder- werden deshalb von den Mitarbeiter*innen unter- tageseinrichtungen setzt das Modellprojekt darauf, schiedlich wahrgenommen. So werden in der all- in Kooperation mit Grundschulen, Sportvereinen, täglichen Arbeit in den Kindertageseinrichtungen 15
häufig erst die Kinder als „talentiert“ angesehen, sollen die pädagogischen Fachkräfte das eigene päd- die bereits durch ihre Familie eine individuelle För- agogische Handeln (z. B. bei Planung und Umset- derung und Unterstützung erhalten. Bei Kindern, zung der Aktivitäten mit Kindern sowie beim die erst spät und mit mangelnden Deutschkennt- Aufbau der Erziehungspartnerschaft mit Eltern) nissen kommen und/oder aufgrund der materiellen reflektieren und systematisch abprüfen, inwieweit Unterversorgung der Familien keine Erfahrungen die Prozessqualität3 in ihren Einrichtungen auch mit Bilderbüchern und hochwertigen Spielmateria- die Armutsdimension abbildet. Dabei gilt es, diffe- lien haben, stoßen pädagogische Fachkräfte schnell renzierte armutssensible Prüffragen zu stellen und an Grenzen. Im Mittelpunkt einer kindzentrierten zu beantworten (ausführlich Kapitel 5). Langfristig Förderung müssen allerdings alle Kinder stehen wird somit das Ziel verfolgt, die Prozessqualität in und ihre Persönlichkeiten müssen vorurteilsfrei den Kindertageseinrichtungen entlang der Armuts- wertgeschätzt werden – ungeachtet der sozioöko- dimensionen nachhaltig zu steigern. nomischen Position der Eltern. In seiner konzeptionellen Umsetzung folgt das »Mittelfristiges Ziel des Modellpro- Modellprojekt „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ einem jekts ist es, die Chancengleichheit Präventionsansatz auf mehreren Ebenen, in dem durch die individuelle Förderung der Kinder zu verbessern.« Strategien der Verhaltens- und Verhältnispräventi- on miteinander kombiniert werden (Rönnau-Böse/ Um einerseits Potenziale, Stärken und Möglich- Fröhlich-Gildhoff 2020: 89; Rönnau-Böse 2013: keiten und andererseits Barrieren und Herausfor- 103). Während es sich bei der Verhaltensprävention derungen der Kinder aufdecken zu können, erfolgt um die Veränderung des individuellen Verhaltens im Modellprojekt eine systematische Beobachtung handelt (z. B. Veränderung der Haltung pädagogi- der Kindesentwicklung sowie eine Auseinander- scher Fachkräfte durch Fortbildungen, Steigerung setzung mit der Lebenssituation des Kindes. Dazu der sozialen Kompetenzen der Kinder durch Trai- wird der „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“ ning), geht es bei der Verhältnisprävention darum, als methodisches Werkzeug genutzt. Das Instru- das Umfeld und die Bedingungen in Kitas, im Sozi- ment wird bereits seit mehreren Jahren in allen alraum oder Familien positiv zu verändern (Set- städtischen Kindertageseinrichtungen eingesetzt, ting-Ansatz). Basierend auf den Erkenntnissen der um die Entwicklung aller Kinder von der Aufnah- Präventionsforschung zu wirksamen Programmen me in die Kita und bis zur Einschulung zu beglei- im Bereich der frühen Bildung berücksichtigt das ten. Der „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“ Modellprojekt alle relevanten Ebenen, die für das differenziert nach fünf zentralen Entwicklungsbe- Kind und seine Förderung eine Bedeutung haben. reichen – kognitive Entwicklung, sprachliche Ent- Neben der individuellen Förderung der Kinder wicklung, Grobmotorik, Feinmotorik und soziale werden Ziele mit Blick auf die partnerschaftliche Kompetenz. Ermöglicht wird damit, frühzeitig Zusammenarbeit mit Eltern, auf die Qualifizierung Stärken und Förderbedarfe der Kinder zu identifi- der pädagogischen Fachkräfte und auf die Vernet- zieren, auch wird das Instrument bei Reflexionsge- zung im Sozialraum verfolgt. Die spezifischen Ziel- sprächen mit Eltern und bei der Planung der indi- setzungen für jede Ebene werden in Abbildung 3 viduellen Förderung der Kinder genutzt. zusammenfassend dargestellt. Zusätzlich kommt beim Modellprojekt „ZUSi – Die Zielgruppe des Modellprojekts stellen Kin- Zukunft früh sichern!“ das Lebenslagenmodell aus der dar, die zu Beginn des Projekts 2019 vier Jahre der AWO-ISS-Langzeitstudie zum Einsatz. Diffe- alt waren. Durch die Auswahl dieser Altersgruppe renziert nach vier Lebenslagendimensionen werden wird im vierjährigen Förderzeitraum angestrebt, materielle, kulturelle, soziale und gesundheitliche zusätzliche Aktivitäten zur individuellen Förderung Lage jedes einzelnen Kindes im Rahmen der Fall- der Kinder mit jeweils vier, fünf und sechs Jahren besprechungen umfassend thematisiert und in die zu entwickeln und zu erproben. Zudem werden die Bewertung der individuellen Fördermöglichkeiten Projektkinder beim Übergang in die Grundschule des Kindes einbezogen. In dieser Kombination im Jahr 2021 und auch in der ersten Grundschul- aus dem „Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter“ zeit begleitet. Mittelfristiges Ziel des Modellprojekts und des Lebenslagenmodells liegt das Novum im ist es, die Chancengleichheit durch die individuelle methodischen Ansatz des Modellprojekts „ZUSi – Förderung der Projektkinder zu verbessern. Zudem Zukunft früh sichern!“. 16
Abbildung 2: Architektur des Modellprojekts „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ Steuerung des • RAG-Stiftung Projekts durch die • Stadt Gelsenkirchen, GeKita, Projektkoordinatorin Steuerungsgruppe • ISS-Frankfurt a. M. Fachliche Entwicklung • Projektkoordinatorin, Fachberatung GeKita des Projekts • Sieben Bildungsbegleiter*innen • ISS-Frankfurt a. M. Operative Umsetzung • Projektkoordinatorin und sieben Bildungsbegleiter*innen des Projekts • Kitaleitungen und pädagogische Fachkräfte der Kitas Bochumer Straße, Ückendorfer Straße, Flötz Sonnenschein, Heidelberger Straße, Hohenfriedberger Straße, Munscheidstraße, Leithestraße Kooperationspartner*- • Gemeinschaftsgrundschulen Haidekamp, innen im Sozialraum Hohenfriedberger Straße, Glückauf-Ückendorf • Vertreter*innen aus den Bereichen Sport, Gesundheit, Kultur Quelle: Eigene Darstellung 3 „Eine hohe Prozessqualität ist gegeben, wenn die pädagogischen Fachkräfte sensibel und einfühlsam mit den Kindern umgehen und auf ihre individuellen Bedürfnisse, Interessen und Ent- wicklungsvoraussetzungen eingehen, entwicklungsangemessene Materialien auswählen und bereit stellen, Impulse für selbst- gesteuertes Lernen und Anregungen in verschiedenen Entwi- cklungs- bzw. Bildungsbereichen geben und wenn sie bestimmte lern- und persönlichkeitsförderliche Strategien der Interaktion mit den Kindern anwenden.“ (Viernickel/Schwarz 2009: 10) 17
Abbildung 3: Mehrebenenansatz und Ziele des Modellprojekts „ZUSi – Zukunft früh sichern!“ • Talente und Begabungen der Kinder frühzeitig erkennen und individuell fördern • Stärkung der schulischen Vorläuferfähigkeiten zur Gewähr Kinder leistung von Chancengleichheit bei benachteiligten Kindern • Entwicklung und Erprobung zusätzlicher Angebote neben dem Regelangebot, die möglichst viele Begabungsformen der Kinder ansprechen • Begleitung von Familien in Form einer Patenschaft, um eine erfolgreiche Bildungsbiografie der Kinder zu erreichen • Verstärkung der Elternarbeit im Hinblick auf die Reflexions Familien gespräche zur Kindesentwicklung, einschließlich der Talent förderung • Sensibilisierung der Eltern zur Gestaltung eines gelingenden Übergangs in die Grundschule • Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte an den beteiligten Pädagogische Kindertageseinrichtungen Fachkräfte • Schärfung der Blickrichtung der pädagogischen Fachkräfte für die Potenziale und Talente der Kinder • Vernetzung der Kindertageseinrichtungen mit anderen Bildungsakteur*innen im Stadtteil Sozialraum • Entwicklung eines kindzentrierten Konzepts zum Übergang von der Kita in die Grundschule Quelle: Eigene Darstellung 18
Infobox: Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter Der Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter wurde Kinder in den fünf Entwicklungsbereichen Spra- 2004 vom Arbeitskreis „Kinder und Jugendliche“ che, kognitive Entwicklung, soziale Kompetenzen, der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG) Feinmotorik und Grobmotorik. Im Einzelnen ent- entwickelt. Es handelt sich dabei um einen Beob- hält der Bewertungsbogen 212 Fertigkeiten bzw. achtungsbogen, der im Elementarbereich einge- zu bewältigende Aufgaben. Die Bewertung beginnt setzt wird. Er dient zur Feststellung der Stärken mit dem dritten Lebensjahr und endet beim Schul- und Förderbedarfe der Kinder. So können Erzie- eintritt. Die Bewertungen finden in einem sechs- her*innen in ihrer konkreten Alltagspraxis schnell monatigen Rhythmus statt. Nachfolgend wird die und unkompliziert prüfen, wie weit ein Kind ent- Anzahl der Indikatoren für jede der fünf Dimensio- wickelt ist und ob es sich für seine jeweilige Alters- nen sowie sieben Altersstufen ab drei Jahren und stufe Defizite oder hingegen Vorsprünge identifi- bis zur Einschulung tabellarisch abgebildet: zieren lassen. Bewertet wird die Entwicklung der Aufbau und Anzahl der Indikatoren des Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiters Sprache Kognitive Soziale Feinmotorik Grobmotorik Anzahl Entwicklung Kompetenzen 3–3,5 Jahren 8 7 7 6 4 32 3,5–4 Jahren 4 5 6 3 8 26 4–4,5 Jahren 10 5 7 10 9 41 4,5–5 Jahren 4 7 6 6 8 31 5–5,5 Jahren 4 7 8 5 4 28 5,5 – Einschulung 7 18 11 8 10 54 Gesamt 37 49 45 38 43 212 Quelle: Eigene Darstellung Im Alter von drei bis dreieinhalb Jahren gibt es zum Bei der Beobachtung eines Kindes durch Erzie- Beispiel im Bereich der Grobmotorik vier Indikato- her*innen werden die einzelnen Aufgaben durch ren. So soll das Kind in der Lage sein, (1.) treppauf ein Kreuz markiert, wenn das Kind diese erfüllen mit Fußwechsel frei zu gehen, (2.) von der Trep- kann. Wenn ein Kind bestimmte Aufgaben nur „teil- pe mit den beiden Beinen zu springen, (3.) einen weise“ erfüllen kann, wird die entsprechende Auf- schwebenden Luftballon gezielt zu schlagen und gabe durch einen Strich markiert. Für jede Alters- (4.) ein Dreirad koordiniert zu fahren. Im Bereich stufe wird darüber hinaus eine bestimmte Farbe der sozialen Kompetenzen soll das Kind in diesem genutzt. Wird im Rahmen der Beobachtung fest- Alter sowohl allein als auch auf Initiative anderer gestellt, dass das Kind noch nicht alle Anforderun- mitspielen, seine Hilflosigkeit (z. B. Toilette) sig- gen seiner Altersstufe erfüllen kann, wird geprüft, nalisieren, einfache Anweisungen befolgen, Lob ob die Anforderungen für die früheren Altersstu- erwarten, das „Ich“ anwenden sowie Geschlechter fen erfüllt werden. Meistert das Kind hingegen identifizieren können. Die Aufgaben wurden unter alle Aufgaben seiner Altersstufe, wird zusätzlich Beteiligung des Gesundheitsamtes definiert. Es geschaut, ob das Kind bereits Kompetenzen für handelt es sich um jeweils durchschnittliche Anfor- die höheren Altersstufen besitzt. Auf Basis der derungen an Kinder in der jeweiligen Altersgruppe. Erkenntnisse werden für Kinder individuelle För- Somit wird von einer altersgemäßen Entwicklung derpläne erstellt und mit Eltern abgestimmt. des Kindes erst dann gesprochen, wenn das Kind Quelle: Vgl. Beyer, Andrea/Fastabend, Sigrid/Liebers, Emilia/ Schilling, Marlies/Sukowski, Petra/Webelseip, Anja/Weiß, in der Lage ist, alle definierten Entwicklungsaufga- Holle (2004): Gelsenkirchener Entwicklungsbegleiter. ben in der jeweiligen Altersstufe zu erfüllen. dgvt Verlag, Tübingen. 19
Infobox: Lebenslagen der Kinder im Vorschulalter Der Lebenslagenansatz ist ein mehrdimensionales fälligkeiten festgestellt, kann davon ausgegangen Konzept der Armutsforschung, der den Anspruch werden, dass das Wohl des Kindes gewährleistet verfolgt, Armut als Unterversorgung und Benach- ist. Solche Kinder werden dem Lebenslagentyp teiligung in einem umfassenderen als dem rein „Wohlergehen“ zugeordnet. Dem Lebenslagen- ökonomischen Sinne zu begreifen. Nicht nur die typ „Benachteiligung“ werden Kinder zugeord- materielle Lage des Haushalts oder der Fami- net, bei denen Auffälligkeiten in einer bis zwei lie des Kindes wird in den Blick genommen, son- Lebenslagendimensionen vorliegen. Werden Auf- dern die Lebenssituation und Lebenslage des fälligkeiten in drei oder sogar allen vier Dimensio- Kindes. Die Lebenslagen werden in vier Dimensio- nen festgestellt, ist von „Multipler Deprivation“ nen – materielle, soziale, kulturelle und gesundheit- die Rede. liche Lagen – anhand einer Vielzahl an Indikatoren Werden die Ergebnisse der Untersuchung zu empirisch erforscht. Im Rahmen der vorliegen- familiärer Armut und Lebenslagentypen mitein- den Untersuchung wurden die Ausprägungen der ander verzahnt, lässt sich für jedes Kind ermit- Lebenslagendimensionen durch 64 Indikatoren teln, welche Zusammenhänge sich zwischen den erfasst. Armutserfahrungen der untersuchten Familien und Beim Lebenslagenansatz handelt es sich um den Lebenssituationen der Kinder und Jugendli- ein relatives Konzept, bei dem je nach Alter des chen aus diesen Familie ergeben. Ein mehrdimen- Kindes unterschiedliche Indikatoren je Dimension sionales Armutskonzept aus der Kindesperspek- zu berücksichtigen sind. Zudem werden in jeder tive wurde erstmalig vom Institut für Sozialarbeit Dimension „auffällige“ Kinder identifiziert, die im und Sozialpädagogik im Rahmen der AWO-ISS- Vergleich zu ihren Altersgenoss*innen gravieren- Kinderarmutsstudie entwickelt. Die Leitfrage lau- den Einschränkungen und Benachteiligungen tet: Was kommt (unter Armutsbedingungen) ausgesetzt sind. Werden in allen vier Lebensla- beim Kind an? gendimensionen in Bezug auf ein Kind keine Auf- Abbildung 4: Das kindbezogene Armutskonzept der AWO-ISS-Langzeitstudie Haushalt ist arm Was kommt beim Kind an? Lebenslagendimensionen Materiell materielle Eltern/ soziale Sozial Erwachsene Kind kulturelle Kulturell gesundheitliche Gesundheitlich Ressourcen Lebenslagetyp Wohlergehen Benachteiligung Multiple Deprivation Quelle: Hock et al. 2000a: 12. Quelle: Vgl. Hock, Beate/Holz,Gerda/Simmedinger, Renate /Wüstendörfer, Werner (2000a): Gute Kindheit – Schlechte Kind- heit? Armut und Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. ISS-Pontifex 4, Frankfurt a. M. 20
3 Strategische Bedeutung und praktische Umsetzung des Modellprojekts aus Sicht der Projektbeteiligten Nicht selten werden Ergebnisse von Modellprojekten in Form von Abschlussberichten doku- mentiert und nur auf wesentliche zentrale Erkenntnisse aus der Sicht der Evaluationsteams reduziert. Das Wissen darüber, mit welchen Vorstellungen und Erwartungen diese Modell- projekte von Kooperationspartner*innen initiiert wurden und wie sich diese Ideen im Pro- jektverlauf verändert haben, geht bei dieser Form der Ergebnisdokumentation häufig ver- loren. Daher kommen in diesem Kapitel die Projektbeteiligten selbst zu Wort und schildern aus ihrer jeweiligen Perspektive die strategische Bedeutung des Projekts für das Ruhrge- biet im Allgemeinen und für die Stadt Gelsenkirchen im Besonderen. Zudem gewähren die Projektbeteiligten Einblicke in ihre Praxis vor Ort. Neben einer Darstellung der alltäglichen Projektarbeit in den Kitas thematisieren die Projektbeteiligten ihre bisherigen Erfolge und Herausforderungen und berichten von ihren Aha-Erlebnissen in der Arbeit mit Kolleg*innen und Kindern. Schließlich wird der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Projektarbeit dar- gestellt. Die Gespräche mit den Projektbeteiligten führten Mitglieder des Evaluationsteams des ISS-Frankfurt a. M. Besonders wichtig ist uns die Unterstützung von Bildungsprojekten, die chancenbenachteiligten Kindern und Jugendlichen neue Perspektiven auf- zeigen. Hierbei fördern wir entlang der gesamten Bildungskette und setzen seit 2019 vermehrt einen Fokus auf frühkindliche Bildung. Denn Armutser- fahrungen wirken sich nachhaltig negativ auf den Bildungserfolg aus. Deshalb müssen wir bei den Kindern möglichst früh ansetzen und bereits unsere Jüngsten im Revier auf ihrem Bildungsweg begleiten. Hierbei ist Bärbel Bergerhoff-Wodopia, das Projekt „Zukunft früh sichern!“ ein zentraler Mitglied des Vorstands der RAG-Stiftung Baustein und wirkt nicht nur in Gelsenkirchen- © Foto: Lina Nikelowski Ückendorf, sondern liefert durch die wissenschaft- liche Begleitung des Instituts für Sozialarbeit und Frau Bergerhoff-Wodopia, die RAG-Stiftung Sozialpädagogik auch wichtige Erkenntnisse für fi nan ziert das Modellprojekt „ZUSi – Zukunft die pädagogische Arbeit bundesweit. früh sichern!“. Was hat Sie dazu bewegt, das Projekt zu unterstützen? Eine der sieben Zukunftsthesen der RAG-Stif- Die RAG-Stiftung fördert aus der Tradition des tung-Zukunftsstudie lautet: Vitale Bildungs- Bergbaus kommend chancenbenachteiligte Kinder landschaft für soziale Stabilität! Welchen Beitrag und Jugendliche in den ehemaligen Bergbauregionen dazu erwarten Sie von diesem Modellprojekt? an Ruhr, Saar und in Ibbenbüren. Als Förderer neh- Armut ist mehr als ein Mangel an Geld. Armut men wir dazu aktuelle bildungspolitische Herausfor- beraubt Menschen ihrer materiellen Unabhängig- derungen in den Blick und stützen uns auch auf die keit und damit der Fähigkeit, selbst über ihr Schick- Erkenntnisse unserer RAG-Stiftung-Zukunftsstudie. sal und das ihrer Kinder zu entscheiden. Familiäre 21
Armut wirkt sich mittelbar auf alle Lebensbereiche der Kinder aus und verhindert eine kindgerechte Entwicklung und die volle Entfaltung ihres Poten- zials. Schon in der Grundschule haben Kinder, die in Armut leben, deutlich schlechtere Noten und müssen häufiger eine Klasse wiederholen. Folglich besuchen Kinder mit Armutserfahrung auch seltener das Gymnasium als Kinder ohne Armutserfahrung und haben so geringere Chancen auf einen höheren Schulabschluss. Fest steht: Ein guter Schulabschluss – ob am Gymnasium oder einer anderen Schulform – ist unabdingbar, um Anne Heselhaus, Beigeordnete des Vorstandsbereichs beispielsweise eine gute Ausbildungsstelle zu fin- Kultur, Bildung, Jugend, Sport, und den oder auch studieren zu können. Integration der Stadt Gelsenkirchen All diese Faktoren können zu einer sozialen © Foto: Stadt Gelsenkirchen Desintegration führen. An dieser Stelle bietet das Modellprojekt „Zukunft früh sichern!“ einen zen- tralen Mehrwert, denn es betrachtet explizit die Frau Heselhaus, die Stadt Gelsenkirchen ist von Disparitäten von Kindern mit und ohne Armuts- der Problematik der Kinderarmut sehr stark erfahrung und arbeitet dagegen. So bietet das Pro- betroffen. Zur Bekämpfung derselben hat die jekt konkret Fördermaßnahmen zu Visuomotorik, Stadt bereits viele Maßnahmen ergriffen, die Sprachförderung, aber auch zur Bewegungsförde- auch anderen Städten mit gleichgelagerter Prob- rung an. All das sind Bereiche, in denen nach ersten lematik als Blaupausen gedient haben. Was waren wissenschaftlichen Erhebungen in den beteiligten und sind die Beweggründe für dieses Projekt? Kindertagesstätten die größten Unterschiede zwi- In Gelsenkirchen wachsen etwa 42 Prozent der schen armen und nicht armen Kindern und damit Kinder und Jugendlichen in Familien mit SGB-II- die größte Ungleichheit besteht. Leistungsbezügen auf. Aufgrund dieser sozioöko- Das Projekt setzt früh an, fokussiert auf die nomischen Situation und den damit verbundenen Talent- und Potenzialförderung und gewährleis- Lebensführungs- und Lebensbewältigungsprob- tet einen guten Übergang in die Grundschule. Die lemen haben viele dieser Kinder feststellbar einen Bildungsbegleiterinnen und -begleiter legen somit hohen Bedarf an zusätzlicher Unterstützung zur den Grundstein für eine erfolgreiche Entwicklung Erreichung eines Bildungsabschlusses. Aus die- der Kinder – das macht das Projekt so wertvoll für sem Grunde hat die Stadt Gelsenkirchen mit den unsere Gesellschaft. unterschiedlichsten Akteuren in der Vergangenheit Denn es muss stets darum gehen, Kindern Freu- bereits vielfältige Angebote zur frühen Förderung de am Lernen zu vermitteln, ihnen ihre Erfolge installiert und die städtische Präventionskette zur und Talente bewusst zu machen und ihnen zu ver- Kinderarmut sukzessive ausgebaut, um für mehr mitteln, dass sie stolz sein können, wenn sie etwas Chancengerechtigkeit zu sorgen. Seit 2006 ist auch erreicht haben. Diese Bausteine sorgen nicht nur die Kindertagesbetreuung ein wesentlicher Bau- für Chancengerechtigkeit, sondern sind auch zwin- stein in der frühkindlichen Präventionsarbeit. Mit gende Voraussetzung für die wirtschaftliche Kräf- dem Modellprojekt wird nun zusätzlich ein Focus tigung der Region. auf Armutsindikatoren gelegt, um eine noch bes- sere Grundlage für eine individuelle, kindschar- fe Förderung zu schaffen und damit jedem Kind echte Teilhabechancen zu eröffnen. Es gilt, durch die frühestmögliche Identifikation der individu- ellen Potenziale und Fähigkeiten gerade Kinder mit Armutserfahrung bedarfsgerecht und stärke- norientiert zu fördern und weiter zu entwickeln, also – wie es das Projekt auch überschreibt – deren Zukunft schon früh zu sichern. Damit nicht nur der 22
Übergang von der Kita in die Grundschule positiv Wirkungsvolle und gut gelingende Ansätze sol- verläuft und die Kinder einen gelingenden Start in len bereits im Projektverlauf in die Regelstruktu- das schulische Bildungssystem erhalten, sondern ren der städtischen Tageseinrichtungen der Kinder insgesamt ein nachhaltiger Bildungserfolg in Form übertragen werden. Unser Anspruch ist allerdings eines Schulabschlusses erreicht wird, der wiederum die Entwicklung eines gesamtstädtischen und die Aufnahme eines Berufes oder eines Studiums zudem überregional anwendbaren stärkenorien- ermöglicht. tierten und armutssensiblen Konzepts für Tages- einrichtungen für Kinder. Perspektivisch soll die- ses auch die Grundschulen miteinbeziehen und die Bereiche der frühen Bildung und der formalen Bil- dung besser untereinander verzahnen. Da dies als ein Prozess zu begreifen ist, ist es wichtig, bereits frühzeitig solche Chancen strategisch zu nutzen. Dies geschieht unter anderem durch trägerüber- greifende Fachtagungen zum Thema Kinderarmut, bei denen die bisher gesammelten Erfahrungen aus dem Modellprojekt und regelmäßige Informatio- nen über den aktuellen Projektstand auf gesamt- städtischer Ebene einfließen. Holle Weiß, Betriebsleiterin der Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung © Foto: Andreas Weiß Frau Weiß, als Betriebsleiterin der Gelsenkir- chener Kindertagesbetreuung haben Sie das Gesamtprojekt sowohl auf der strategischen Ebe- ne als auch auf der Praxisebene im Blick. Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere am ZUSi-Modell- projekt? Die Folgen von Kinderarmut erleben die pädago- gischen Fachkräfte in ihrem Berufsalltag jeden Tag hautnah. Neben den offensichtlichen Problemlagen findet Armut aber auch verdeckt statt und geht viel- fach mit Unsicherheiten und Scham für die Fami- lien einher. Damit feinfühlig und pädagogisch- fachlich umzugehen, Möglichkeiten zu nutzen und Grenzen zu erkennen, sind sehr große Herausfor- derungen. Dieses Projekt ergänzt also die vielfältigen Maß- nahmen um ein Modell mit übertragbaren Ergeb- nissen und weitet hierdurch den Blick sowohl auf besonders zu unterstützende Kinder als auch auf den Ansatz der Potenzialförderung. Zu Beginn des Modellprojektes haben die pädagogischen Fachkräfte der Ückendorfer Kitas bei einer Kick- Off-Veranstaltung mit rund 100 Mitarbeitenden gezeigt, was sie bereits auf diesem Gebiet leisten. Und dennoch sind sich alle einig: Es ist und bleibt eine Mannschaftsaufgabe. 23
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