Dante Alighieri und die Mehrsprachigkeit 1. Einleitung

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Thomas Klinkert (Freiburg)

Dante Alighieri und die Mehrsprachigkeit

1. Einleitung
Will man Sinnvolles über Dantes Verhältnis zur Mehrsprachigkeit sagen, so muss
man bedenken, dass Mehrsprachigkeit im europäischen Mittelalter ein allgemeines
kulturelles Merkmal war.1 Man muss also den individuellen Autor Dante vor dem
Hintergrund mittelalterlicher Kommunikationsformen situieren. Dabei zeigt sich,
dass Dante einerseits auf die allgemeinen Merkmale und Gegebenheiten mittelalter-
licher Schriftkommunikation reagiert und diese aufgreift, dass er andererseits aber so
präzise und so originell wie kein zweiter Autor seiner Zeit diese Tendenzen analy-
siert und sie in seiner poetischen Praxis überschreitet.
    Das mittelalterliche Aufschreibesystem 2 ist in seinem Zentrum durch einen
doppelten Gegensatz gekennzeichnet: den zwischen Mündlichkeit und Schriftlich-
keit und den zwischen Latein und Volkssprache(n).3 Da Schrift als Aufzeichnungs-
medium zwar existierte, aber nur ein verschwindend geringer Bevölkerungsanteil
lesen und schreiben konnte, hat die Forschung vorgeschlagen, von einer „semi-
literalen“ Kultur zu sprechen.4 Die Rezeption geschriebener Texte erfolgte in der
Regel in Form von mündlicher Interaktion, d. h. jemand las einen geschriebenen

	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
1
                     Allgemeine Hinweise zur literarischen Mehrsprachigkeit (mit zahlreichen Beispielen aus ver-
                     schiedenen Epochen, z. T. auch aus dem Mittelalter) findet man bei Elwert, W. Theodor:
                     L’emploi de langues étrangères comme procédé stylistique. In: Revue de littérature comparée 34
                     (1960), S. 409-437; speziell zum Mittelalter vgl. Zumthor, Paul: Langue et techniques poétiques
                     à l'époque romane. Paris: Klincksieck 1963, S. 82-111. Hinweise zur Verbreitung und dem Stel-
                     lenwert der verschiedenen im Mittelalter in der südlichen Romania verwendeten Literatur-
                     sprachen findet man bei Pabst, Walter: Dante und die literarische Vielsprachigkeit der südlichen
                     Romania. In: Romanistisches Jahrbuch 5 (1952), S. 161-181, hier S. 165-169.
2
                     Dieser Begriff wird verwendet im Sinne von Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900.
                     München: Fink 31995. Ein Aufschreibesystem ist Kittler zufolge „das Netzwerk von Techniken
                     und Institutionen [...], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbei-
                     tung relevanter Daten erlauben“ (S. 519).
3
                     Diese Aussage ist im Hinblick auf bestimmte Kulturräume zu spezifizieren und zu präzisieren.
                     Auf der iberischen Halbinsel etwa begegnen sich nicht nur das Lateinische und die romanischen
                     Volkssprachen, sondern auch das Arabische und das Hebräische. Daraus sind bereits im 11.
                     Jahrhundert mehrsprachige poetische Texte, die in arabischer oder hebräischer Sprache verfass-
                     ten muwashshahs mit Refrain (kharja) im romanischen mozárabe, entstanden; vgl. Stern, Samuel
                     Miklos: Les chansons mozarabes. Palermo: Manfredi 1953; Heller-Roazen, Daniel: Des altérités
                     de la langue. Plurilinguismes poétiques au Moyen Age. In: Littérature 130 (2003), S. 75-96, hier
                     S. 80 ff.
4
                     Vgl. hierzu Butzer, Günter: Das Gedächtnis des epischen Textes. Mündliches und schriftliches
                     Erzählen im höfischen Roman des Mittelalters. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturge-
                     schichte 89 (1995), S. 151-188. Zum Begriff der „Semi-Literalität“ im Anschluss an Franz H.
                     Bäuml und Jack Goody/Ian Watt vgl. ebd. S. 157.

	
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Text einem nicht schriftkundigen Publikum vor. Aufgrund der charakteristischen
„Überkreuzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ 5 findet man zudem auch
innerhalb geschriebener Texte häufig Spuren sekundärer Mündlichkeit.
   Ebenso wie sich dergestalt auf medialer Ebene die Gegensätze der Mündlichkeit
und der Schriftlichkeit miteinander verbinden und vermischen, kommt es auf der
Ebene des Sprachcodes zu einer Begegnung des Lateinischen und der Volks-
sprache(n). Denn das Lateinische war als Sprache der Theologie und des Kultus, der
Philosophie und Wissenschaft, aber auch als Sprache der Poesie und der kanonisier-
ten Autoren das unhintergehbare Modell für all jene, die sich anschickten, bewah-
renswerte Kommunikationsakte in der Volkssprache nicht nur zu erzeugen, sondern
auch schriftlich aufzuzeichnen. Die weitaus größte Menge aller im Mittelalter ge-
schriebenen Texte bediente sich des Lateinischen, sodass eine Verschriftlichung der
Volkssprachen nur in Auseinandersetzung mit diesem Modell möglich war.
   Die Verschriftlichung der Volkssprachen setzt in der Romania bekanntlich später
ein als im Bereich der germanischen Sprachen. Dies lässt sich mit großer Wahr-
scheinlichkeit dadurch erklären, dass die romanischen Volkssprachen in einem sich
über Jahrhunderte erstreckenden Prozess aus dem Lateinischen heraus entstanden
sind und die Sprecher lange Zeit gar kein Bewusstsein für die Differenz zwischen
Latein und Volkssprache hatten. Erst als die sprachpflegerischen Bemühungen der
‚karolingischen Renaissance‘ im späten 8. Jahrhundert dazu führten, dass man beim
Verfassen lateinischer Texte mehr als zuvor auf Korrektheit achtete, habe man, so
eine gängige Annahme der Sprachhistoriker, in der Romania damit begonnen, das
Lateinische als einen von der eigenen Sprachverwendung abweichenden Code wahr-
zunehmen. Das Entstehen romanischer Volkssprachen setzt demzufolge voraus, dass
„nach dem Empfinden der Sprecher aus zwei Varietäten ein und derselben Sprache
(Hochsprache oder Volkssprache, Literatursprache oder gesprochene Sprache) zwei
verschiedene Sprachen geworden sind: auf der einen Seite die in der Kindheit
erlernte, im täglichen Gebrauch verwendete Volkssprache, auf der anderen Seite das
wie eine Fremdsprache erlernte, in der Literatur verwendete Latein.“6

2. Dantes Unterscheidung zwischen Volkssprache und „gramatica“
Dante Alighieri lebte und schrieb im späten 13. und im frühen 14. Jahrhundert. Er
wurde – vermutlich im Jahr 1265 – in Florenz geboren und starb 1321 in Ravenna.
In seinem zu Anfang des 14. Jahrhunderts auf Lateinisch verfassten Traktat De
vulgari eloquentia (I, i, 2-4) beschreibt er den Gegensatz zwischen Volkssprache
(„vulgaris locutio“) und Bildungssprache („gramatica“) mit folgenden Worten:7

	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
5
                     Ebd., S. 151.
6
                     Lepschy, Anna L./Lepschy, Giulio: Die italienische Sprache. Mit einem Vorwort von Jörn
                     Albrecht. Aus dem Italienischen übersetzt von Susanne Hagemann. Tübingen: Francke 1986, S.
                     17.
7
                     Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Alighieri, Dante: De vulgari eloquentia. Hg. v. Pier
                     Vincenzo Mengaldo. Bd. I: Introduzione e testo. Padova: Antenore 1968. Alle Übersetzungen
                     der Zitate aus De vulgari eloquentia stammen vom Verfasser dieses Beitrags.

	
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[...] dicimus [...] quod vulgarem locutionem appellamus eam qua infantes assue-
       fiunt ab assistentibus cum primitus distinguere voces incipiunt; vel, quod brevius
       dici potest, vulgarem locutionem asserimus quam sine omni regula nutricem imi-
       tantes accipimus. Est et inde alia locutio secundaria nobis, quam Romani gramati-
       cam vocaverunt. Hanc quidem secundariam Greci habent et alii, sed non omnes:
       ad habitum vero huius pauci perveniunt, quia non nisi per spatium temporis et
       studii assiduitatem regulamur et doctrinamur in illa.
       Harum quoque duarum nobilior est vulgaris: tum quia prima fuit humano generi
       usitata; tum quia totus orbis ipsa perfruitur, licet in diversas prolationes et voca-
       bula sit divisa; tum quia naturalis est nobis, cum illa potius artificialis existat.
       [...] sagen wir [...], dass wir als Volkssprache jene bezeichnen, welche den Kindern
       zur Gewohnheit wird durch die Vermittlung derjenigen, die anwesend sind, wenn
       sie anfangen, Wörter zu unterscheiden; oder, kürzer gesagt, als Volkssprache be-
       zeichnen wir jene Sprache, die wir ohne jede Regel durch Nachahmung der Am-
       me erwerben. Sodann gibt es aber auch eine zweite Sprache, welche die Römer als
       Grammatik bezeichnet haben. Eine solche besitzen auch die Griechen und andere
       Völker, aber nicht alle; im Gegenteil sind nur wenige zu einer vollkommenen Ver-
       trautheit mit dieser gelangt, da es viel Zeit und Mühe kostet, ihre Regeln zu
       erlernen und sie kunstvoll zu beherrschen.
       Von diesen beiden Sprachen ist die Volkssprache die edlere, denn sie wurde zum
       einen von den Menschen zuerst verwendet; zum anderen können alle Völker sich
       ihrer bedienen, selbst wenn sie der Aussprache und dem Wortschatz nach unter-
       schiedlich ist; schließlich ist sie natürlich für uns, während die Grammatik eher
       künstlich ist.
Die Volkssprache werde, so Dante, von den Kindern auf regellose Art und Weise
(„sine omni regula“) erworben. Es handle sich nicht um ein bewusstes Erlernen,
sondern um einen Prozess unbewusster Gewöhnung („assuefiunt“), der auf Nachah-
mung beruhe („nutricem imitantes“). Der „vulgaris locutio“ stellt Dante eine andere
Art von Sprache gegenüber, die er als „locutio secundaria“ bzw. als „gramati-
ca“ bezeichnet. Die Regeln dieser von der Volkssprache abgeleiteten Sprache müsse
man mühsam erlernen („studii assiduitatem regulamur et doctrinamur in illa“), was
zur Folge habe, dass nur wenige sie beherrschten („ad habitum vero huius pauci
perveniunt“), ja mehr noch, dass nur wenige Völker, insbesondere die Griechen und
die Römer, überhaupt eine solche besäßen. Dante beschreibt somit exakt jenen
Zustand der kulturellen Zweisprachigkeit, von dem oben im Zusammenhang mit
der ‚karolingischen Renaissance‘ die Rede war und der auf dem Gegensatz einer
natürlich und spontan erworbenen Volkssprache, die allen Sprechern zur Verfügung
steht, und einer regularisierten, mühsam zu erlernenden Bildungssprache, die der
Besitz und das Distinktionsmerkmal einer sozialen Elite ist, beruht. Der Gegensatz
zwischen Volkssprache und „gramatica“ ist unter den spezifischen Bedingungen,
unter denen Dante schreibt, identisch mit dem Gegensatz zwischen Volkssprache
und Latein. Doch impliziert Dantes generalisierende Argumentation, dass ein sol-
cher Gegensatz prinzipiell existiert und nicht an die konkrete sprachliche Situation
seiner Zeit und seines Sprachbereichs gebunden ist.

	
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Nun würde man erwarten, dass die durch Regelhaftigkeit gekennzeichnete Bil-
dungssprache, deren Dante sich ja selbst bedient und die man nur durch gehörige
Anstrengung erwerben kann, auch als die prestigeträchtigere und höherwertige zu
gelten hat – zumal nur die Kenntnis der „gramatica“ es erlaubt, einen Zugang zu
dem in der lateinischen Vulgata überlieferten Wort Gottes zu erhalten. Überraschen-
derweise sagt Dante jedoch, dass die Volkssprache die edlere sei („nobilior est vulga-
ris“), und er begründet diese Hierarchisierung damit, dass die Volkssprache (1) der
„gramatica“ zeitlich vorausgehe („prima fuit humano generi usitata“), dass sie (2)
allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehe („totus orbis ipsa perfruitur“)
und dass sie (3) den Menschen auf natürliche Art und Weise gegeben sei („naturalis
est nobis“). Die Höherwertigkeit der Volkssprache wird somit durch ein dreifaches
anthropologisches Argument begründet.8
   Auf derselben, der anthropologischen, Argumentationsebene, allerdings in gegen-
läufiger Richtung, bewegt sich Dante, wenn er später in De vulgari eloquentia (I, ix,
6) den Menschen als „instabilissimum atque variabilissimum animal“ bezeichnet
und davon die Wandelbarkeit der Volkssprache ableitet:
                                           Cum igitur omnis nostra loquela – preter illam homini primo concreatam a Deo
                                           – sit a nostro beneplacito reparata post confusionem illam que nil aliud fuit
                                           quam prioris oblivio, et homo sit instabilissimum atque variabilissimum animal,
                                           nec durabilis nec continua esse potest, sed sicut alia que nostra sunt, puta mores
                                           et habitus, per locorum temporumque distantias variari oportet.
                                           Da also jede menschliche Sprache – außer jener, die Gott zusammen mit dem
                                           ersten Menschen erschaffen hat – nach jener Verwirrung [sc. des Turmbaus von
                                           Babel], die nichts anderes war als das Vergessen der ursprünglichen Sprache, von
                                           den Menschen nach ihrem eigenen Gutdünken wiederhergestellt wurde und da
                                           der Mensch ein äußerst instabiles und wandelbares Tier ist, kann Sprache nicht
                                           dauerhaft und unwandelbar sein, sondern muss so wie alle anderen menschli-
                                           chen Eigenschaften, wie zum Beispiel Sitten und Gebräuche, zwangsläufig über
                                           Zeiten und Räume hinweg variieren.
Da die Volkssprache allen Menschen in gleicher, natürlicher Weise gegeben ist, be-
sitzt sie eine höhere Wertigkeit als die künstlich regularisierte „gramatica“. Da aber
der Mensch ein instabiles und wandelbares Wesen ist, verändert sich mit ihm auch
die Sprache und führt – infolge des durch die Hybris des Turmbaus zu Babel be-
	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
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                     Dantes Bewertung des Lateinischen ist schwankend. Brugnolo, Giorgio: La lingua latina. In:
                     Bosco, Umberto (Hg.): Enciclopedia dantesca. Bd. III. Roma: Istituto della Enciclopedia
                     italiana 1971, S. 591-599, hat alle diesbezüglichen Textstellen zusammengestellt. Im Convivio (I,
                     v, 7-12) bezeichnet Dante das Lateinische als „sovrano [...] per nobilità [...] perchè lo latino è
                     perpetuo e non corruttibile“ und als „sovrano per vertù [...] con ciò sia cosa che lo latino molte
                     cose manifesta concepute ne la mente che lo volgare far non può“. Die Höherwertigkeit des
                     Lateinischen wird hier also mit seiner Stabilität („perpetuo e non corruttibile“) und mit seinen
                     differenzierteren Ausdrucksmöglichkeiten („molte cose manifesta concepute ne la mente che lo
                     volgare far non può“) begründet. In De vulgari eloquentia dagegen stellt Dante, wie oben
                     dargelegt, die Volkssprache über das Lateinische. Das Convivio wird hier zitiert nach Alighieri,
                     Dante: Il Convivio. Ridotto a miglior lezione e commentato da G. Busnelli e G. Vandelli con
                     introduzione di M. Barbi. 2 Bde. Firenze: Le Monnier 1964, 21968.

	
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wirkten Verlustes der von Gott geschaffenen Sprache als eines allen Menschen ur-
sprünglich gemeinsamen Besitzes – zu jener Vielfalt an Sprachen, die es den Men-
schen so schwer macht, ihresgleichen zu verstehen. Dantes Anthropologie ist, wie
man hier sieht, in ihrem Kern theologisch fundiert, steckt in ihr doch die Auf-
fassung, dass der Mensch geprägt sei vom biblischen Sündenfall (Adam und Eva)
und seinen Konsequenzen (hier: der Turmbau von Babel). Da die von Gott geschaf-
fene Ursprache, das Hebräische, zwar noch existiert, aber nicht mehr allen Men-
schen zur Verfügung steht, 9 ist es erforderlich, die veränderlichen Volkssprachen
durch Grammatik zu stabilisieren (De vulgari eloquentia, I, ix, 11) – und das heißt
auch, dem Sündenfall entgegen zu arbeiten:
                                           Hinc moti sunt inventores gramatice facultatis: que quidem gramatica nichil ali-
                                           ud est quam quedam inalterabilis locutionis ydemptitas diversibus temporibus
                                           atque locis. Hec cum de comuni consensu multarum gentium fuerit regulata, nulli
                                           singulari arbitrio videtur obnoxia, et per consequens nec variabilis esse potest.
                                           Adinvenerunt ergo illam ne, propter variationem sermonis arbitrio singularium
                                           fluitantis, vel nullo modo vel saltim imperfecte antiquorum actingeremus autori-
                                           tates et gesta, sive illorum quos a nobis locorum diversitas facit esse diversos.
                                           Dies war der Antrieb für die Erfinder der Grammatik; denn diese ist nichts ande-
                                           res als eine gewisse unveränderliche Identität der Sprache über Zeiten und Räu-
                                           me hinweg. Da die Grammatik mit dem Einverständnis vieler Menschen fest-
                                           gelegt worden ist, unterliegt sie nicht dem Gutdünken des Einzelnen und kann
                                           folglich nicht veränderlich sein. Sie haben sie also erfunden, damit wir nicht auf-
                                           grund der unter dem Einfluss Einzelner sich verändernden Sprache entweder gar
                                           nicht oder nur unvollkommen zu den Autoritäten und Heldentaten unserer Vor-
                                           fahren und jener, welche aufgrund räumlicher Unterschiede anders sind als wir,
                                           Zugang finden.
Die Erfindung der „gramatica“ ist somit ein wertvolles kulturelles Hilfsmittel, wel-
ches darauf abzielt, die aufgrund der Veränderlichkeit der Volkssprachen fehlende
zeitüberdauernde und raumüberschreitende Identität des Sprachcodes („quedam
inalterabilis locutionis ydemptitas diversibus temporibus atque locis“) zu restituieren.
Ein nach allgemeinem Konsens erstelltes sprachliches Regelsystem, genannt „grama-
tica“, garantiert aufgrund seiner Explizitheit jene Identität und Stabilität der Sprache,
die es erlaubt, einerseits die kulturell wertvollen und daher bewahrenswerten Autori-
täten und Heldentaten der Vorfahren („antiquorum [...] autoritates et gesta“) zu
überliefern und andererseits auch innerhalb eines größeren Territoriums über eine
gemeinsame, allen verständliche Sprache zu verfügen („illorum quos a nobis loco-
rum diversitas facit esse diversos“). Die „gramatica“ kann somit, obwohl sie eigent-
	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
9
                     In De vulgari eloquentia I, vi, 4-5 erläutert Dante, dass die von Gott zugleich mit dem ersten
                     Menschen geschaffene Ursprache das Hebräische gewesen sei, welches nach dem Bau des Turms
                     von Babel, den Dante als „turris confusionis“ (Turm der Verwirrung) interpretiert, allen
                     Menschen außer den Hebräern verloren gegangen sei. Diesen aber sei es erhalten geblieben,
                     damit der Erlöser Jesus Christus nicht in einer „lingua confusionis“, sondern in einer „lingua
                     gratie“ sprechen solle. – Dieser Auffassung wird bei Dantes Begegnung mit Adam in der
                     Commedia (Par. XXVI, 124 ff.) widersprochen; Adam erklärt, dass die Ursprache schon vor dem
                     Turmbau zu Babel erloschen sei.

	
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lich weniger edel ist als die jedem Menschen unmittelbar zugängliche und verfüg-
bare Volkssprache und somit in einem Gegensatz zu dieser steht, dazu genutzt
werden, die Volkssprache stabiler zu machen.
   Der Gegensatz zwischen Volkssprache und „gramatica“ wird solchermaßen in ein
Verhältnis der Solidarität umgedeutet. Angesichts der im Mittelalter herrschenden
Diglossie, d. h. des Nebeneinanders zweier Sprachen, deren eine, die ‚natürli-
che‘ Volkssprache, vor allem im Nahbereich der mündlichen Alltagskommunikation
genutzt wird, während die andere, die ‚künstliche‘ „gramatica“, für alle Formen der
Schriftkommunikation und im sakralen Bereich zur Verfügung steht, verschärft
Dante in einem ersten Schritt den Gegensatz zwischen den beiden Sprachen, indem
er deutlich die zwischen ihnen bestehenden Differenzen hervorhebt (Natürlichkeit
vs. Künstlichkeit, Allgemeinheit vs. Elite). Das allgemein gültige Hierarchieverhält-
nis zwischen Volkssprache und Latein aber verkehrt der Autor sodann, wie wir
sehen konnten, in sein Gegenteil, indem er die Volkssprache als edler und vorneh-
mer bewertet. Die damit implizierte Abwertung der „gramatica“ – und damit des
Lateinischen – als einer künstlichen Sprache wird aber in einem dritten Schritt
wiederum relativiert, insofern, wie gezeigt wurde, der Vorteil der Künstlichkeit und
Regelhaftigkeit, welcher der Sprache Stabilität und Dauer verleiht, hervorgehoben
wird. Damit aber wird das Lateinische zum Vorbild für die Volkssprache, d. h. diese
soll nach dem Modell des Lateinischen ebenfalls eine „gramatica“ erhalten und der-
gestalt in die Lage versetzt werden, all das auszudrücken, was man in der Bildungs-
und Fachsprache Latein ausdrücken kann, und außerdem stabil zu bleiben.

3. Die Suche nach dem volgare illustre
Genau in diesem Sinn ist Dantes Suche nach einer Sprache zu verstehen, welche er
als „illustre [...] vulgare“ bezeichnet. Diese Suche vollzieht sich vor dem Hinter-
grund der Erkenntnis, dass es mehrere west- und südeuropäische Sprachen gibt, die
eng miteinander verwandt sind, und dass die damit implizierte sprachliche Vielfalt
auch innerhalb eines engeren geographischen Raumes wie der italienischen Halb-
insel zu beobachten ist. Dante unterscheidet drei – wir würden sagen: romanische –
Sprachen (De vulgari eloquentia, I, x, 2):10
                                           Allegat ergo pro se lingua oil quod propter sui faciliorem ac delectabiliorem
                                           vulgaritatem quicquid redactum est sive inventum ad vulgare prosaycum, suum
                                           est: videlicet Biblia cum Troianorum Romanorumque gestibus compilata et

	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
10
                     Dante hatte offenbar ein deutliches Bewusstsein für die Existenz von Sprachgruppen, auch wenn
                     er sie nach anderen Kriterien ordnet, als das die historische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhun-
                     derts getan hat. Er postuliert die Existenz dreier in Europa verbreiteter Sprachgruppen: Im
                     Norden Europas seien Sprachen anzutreffen, deren gemeinsames Merkmal das Wort iò für
                     ‚ja‘ sei (sie würden von Slaven, Ungarn, Teutonen, Sachsen, Angeln u. a. gesprochen), im Süden
                     Europas und in Kleinasien lebten die Griechen, im Süden und Westen Europas gebe es eine
                     dreigeteilte Sprache („ydioma tripharium“) – eben jene Sprachen, die wir als romanische be-
                     zeichnen. Alle diese Sprachen seien aus der babylonischen Sprachverwirrung heraus entstanden
                     und hätten sich weiterentwickelt, nachdem sie ja, wie oben gezeigt wurde, gemäß der Natur des
                     Menschen veränderlich sind.

	
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Arturi regis ambages pulcerrime et quamplures alie ystorie ac doctrine. Pro se
                                           vero argumentatur alia, scilicet oc, quod vulgares eloquentes in ea primitus poe-
                                           tati sunt tanquam in perfectiori dulciorique loquela, ut puta Petrus de Alvernia
                                           et alii antiquiores doctores. Tertia quoque, [que] Latinorum est, se duobus privi-
                                           legiis actestatur preesse: primo quidem quod qui dulcius subtiliusque poetati
                                           vulgariter sunt, hii familiares et domestici sui sunt, puta Cynus Pistoriensis et
                                           amicus eius; secundo quia magis videntur initi gramatice que comunis est, quod
                                           rationabiliter inspicientibus videtur gravissimum argumentum.
                                           Die Sprache, in der man oïl sagt, kann für sich in Anspruch nehmen, dass wegen
                                           ihrer großen Geschmeidigkeit und Annehmlichkeit alles, was in volkssprachli-
                                           cher Prosa geschrieben oder erfunden wurde, ihr gehört, so zum Beispiel die Bü-
                                           cher mit den Heldentaten der Trojaner und der Römer und die wunderschönen
                                           Abenteuer des Königs Artus und noch zahlreiche weitere Geschichts- und Lehr-
                                           werke. Die andere Sprache, die, in der man oc sagt, kann zu ihren Gunsten ins
                                           Feld führen, dass die volkssprachlichen Autoren in ihr als Erste gedichtet haben,
                                           gleichsam als in einer vollkommenen und lieblichen Sprache, wie zum Beispiel
                                           Peire d’Alvernhe und andere alte Meister. Die dritte Sprache schließlich, die der
                                           ‚Italiener‘, kann ihren Vorrang auf zwei Privilegien stützen: Zum einen sind ihre
                                           Diener und Gefolgsleute jene, die in der Volkssprache am süßesten und am raffi-
                                           niertesten gedichtet haben, wie zum Beispiel Cino da Pistoia und sein Freund;
                                           zum anderen stützen sie sich am stärksten auf die Grammatik, die allen gemein-
                                           sam ist; dies ist für vernünftige Beobachter ein sehr gewichtiges Argument.
Die Unterscheidung zwischen „lingua oil“ und „lingua oc“ verweist auf die beiden
Sprachen, welche im Mittelalter auf dem Territorium des heutigen Frankreichs
gesprochen wurden: das Altfranzösische im Norden und das Altokzitanische im
Süden.11 In diesen beiden Sprachen waren seit dem 11. Jahrhundert bedeutende
literarische Texte entstanden, die in ganz Europa rezipiert und vielfach imitiert wur-
den, so auch in Italien. Das Altfranzösische ist Dante zufolge die Domäne der
Erzähltexte und insbesondere des Romans, der auf antike Stoffe („Biblia cum Troia-
norum Romanorumque gestibus compilata“) und auf den bretonischen Artus-Stoff
(„Arturi regis ambages“) rekurriert, während das Altprovenzalische die Sprache der
Lyrik ist („vulgares eloquentes in ea primitus poetati sunt“). Als dritte Sprache
erwähnt Dante die der ‚Italiener‘ („Latinorum“), also die in Italien im 13. Jahrhun-
dert zur Schrift- und Literatursprache avancierte Volkssprache. Interessant ist, dass
Dante hier nicht nur auf die in den jeweiligen Sprachen entstandenen literarischen
Leistungen hinweist und damit diese Sprachen kennzeichnet, sondern dass hier auch
die Idee eines Wettstreits zwischen den Sprachen ins Spiel kommt. Um dem zeit-
lichen Vorsprung und der kulturellen Strahlkraft von „langue d’oc“ und „langue
d’oïl“ etwas entgegenzustellen, postuliert Dante für das ‚Italienische‘, dass die Dich-
ter, insbesondere Cino da Pistoia und ‚sein Freund‘ (der niemand anderes ist als
Dante selbst), in dieser Sprache am süßesten und am raffiniertesten gedichtet („quod
qui dulcius subtiliusque poetati vulgariter sunt“) und außerdem, dass sie sich – im
Unterschied offenbar zu den französischen und okzitanischen Autoren – einer

	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
11
                     Im Altfranzösischen sagt man oïl für dt. ‚ja‘, im Altokzitanischen heißt es oc.

	
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„gramatica“ bedient hätten. Darin zeigt sich erneut Dantes oben bereits erkennbare
Strategie einer Veredelung der Volkssprache durch „gramatica“ nach dem kulturel-
len Vorbild des Lateinischen.
     Da nun aber das stabilisierende Element einer „gramatica“ für die Volkssprache
zu Dantes Zeit noch keine allgemeine Verbindlichkeit besitzt, zerfällt die in Italien
gesprochene Sprache in zahlreiche regionale Varietäten; Dante beziffert diese auf
mindestens vierzehn (De vulgari eloquentia, I, x, 7). Die noch fehlende gemeinsame
italienische Sprache bezeichnet Dante als „illustre [...] vulgare“; es ist zu verstehen
als eine Art Quintessenz aller italienischen Varietäten (De vulgari eloquentia, I, xvi,
4-6):
                                Que quidem nobilissima sunt earum que Latinorum sunt actiones, hec nullius
                                civitatis Ytalie propria sunt, et in omnibus comunia sunt: inter que nunc potest
                                illud discerni vulgare quod superius venabamur, quod in qualibet redolet civitate
                                nec cubat in ulla. [...]
                                Itaque, adepti quod querebamus, dicimus illustre, cardinale, aulicum et curiale
                                vulgare in Latio quod omnis latie civitatis est et nullius esse videtur, et quo muni-
                                cipalia vulgaria omnia Latinorum mensurantur et ponderantur et comparantur.
                                Doch die vornehmsten Aktionen der ‚Italiener‘ gehören nicht einer einzelnen
                                Stadt, sondern sind allen gemeinsam; hierzu gehört auch jene Volkssprache, nach
                                der wir oben gesucht haben, welche in jeder Stadt ihre Spuren hinterlässt, sich
                                aber in keiner von ihnen aufhält. [...]
                                Somit sind wir am Ziel angelangt und können als vornehme, grundlegende,
                                königliche und höfische Volkssprache Italiens jene bestimmen, die allen Städten
                                Italiens angehört und die von keiner für sich beansprucht werden kann und mit
                                der alle regionalen Volkssprachen Italiens sich vergleichen lassen müssen und an
                                der sie zu messen sind.
Das volgare illustre also galt es erst noch zu entwickeln bzw. aus den in Italien
gesprochenen Varietäten herauszudestillieren. Um die besonderen Qualitäten des
volgare illustre zu bezeichnen, verwendet Dante eine Metapher: Er setzt es mit einem
Panther gleich (I, xvi, 1). Der Panther war im Mittelalter eine Allegorie von Jesus
Christus, wie es etwa im Bestiaire von Philippe de Thaon (oder Thaün) zu lesen
steht.12 Darauf verweist Stephen G. Nichols, der die von Dante erwähnte Suche
nach dem Panther, sprich nach dem volgare illustre, als Allegorie für Dantes Versuch
deutet, sich durch das volgare illustre dem Zustand der Erschaffung des Menschen
und der Ursprache anzunähern, somit also hinter den Sündenfall zurückzukehren.13

	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
12
                     Le Bestiaire de Philippe de Thaün. Texte critique, publié avec introduction, notes et glossaire
                     par Emmanuel Walberg. Lund: Librairie de l’Unversité 1900, S. 18-22 (V. 461-580).
13
                     Nichols, Stephen G.: Global Language or Universal Language? From Babel to the Illustrious
                     Vernacular. In: Digital Philology. A Journal of Medieval Cultures 1 (2012), S. 73-109, hier S.
                     92: „What he has in mind is a plan for identifying a vernacular whose speakers could, in their
                     own person and in the elevation of their language, come as close as possible to approximating if
                     not the context, then the intention of that primal moment of co-creation between man and
                     God.“

	
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4. Die Mehrsprachigkeit der Divina Commedia
Als poetische Umsetzung des Versuches, den ‚Panther‘ des volgare illustre zu finden,
lässt sich in gewisser Weise Dantes poetisches Hauptwerk, die Divina Commedia,
betrachten. 14 Dante legt mit diesem konstitutiv mehrsprachigen Werk 15 wichtige
Grundlagen für eine künftige italienische Literatursprache. Wie nachhaltig dieses
Werk auf die Entwicklung der italienischen Sprache gewirkt hat, kann man allein
schon daran ermessen, dass etwa 15 % der im heutigen Standarditalienisch vorkom-
menden Lexeme erstmals bei Dante nachweisbar sind.16 Die in den ersten zwei Jahr-
zehnten des 14. Jahrhunderts entstandene Commedia ist nun insofern konstitutiv
mehrsprachig, als die Basis der in ihr verwendeten Sprache zwar die von Dante
selbst gesprochene Varietät, das Toskanische seiner Heimatstadt Florenz, ist, dieses
aber zahlreiche Elemente anderer ‚italienischer‘ Varietäten ebenso wie des Lateini-
schen und selbst anderer romanischer Sprachen in sich aufnimmt.17

	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
14
                 Damit soll nicht gesagt sein, dass die Sprache der Commedia mit dem volgare illustre identisch sei.
                 Vgl. Trabant, Jürgen: Millena variatio: Overcoming the Horror of Variation. In: Fortuna, Sara/
                 Gragnolati, Manuele/Trabant, Jürgen (Hg.): Dante’s Plurilingualism. Authority, Knowledge,
                 Subjectivity. London: Legenda 2010, S. 24-33. Das volgare illustre sei „the construction of an
                 ideal discourse: the discourse of Paradise“ (ebd.). Dies stimmt, doch lässt sich die Sprache der
                 Commedia nicht lediglich damit beschreiben, dass Dante in ihr zur mehrsprachigen Wirklichkeit
                 Italiens zurückkehre. Die zahllosen Sprachelemente heterogener Provenienz, die er in der
                 Commedia zusammenführt, werden durch die Form der Terzine und den Rhythmus des Ge-
                 dichts homogenisiert und geraten damit ihrerseits in den Bereich der Idealität. Insofern gibt es
                 eine Konvergenz zwischen der Sprache der Commedia und dem volgare illustre, wenngleich keine
                 Identität.
15
                 Schon in der Vita nova gibt es allerdings eine Tendenz zur Mehrsprachigkeit, welche bisher in
                 der Forschung noch wenig beachtet worden ist. Vgl. Baranski, Zygmunt G.: The Roots of
                 Dante’s Plurilingualism: ‚Hybridity‘ and Language in the Vita nova. In: Fortuna/Gragnolati
                 /Trabant (Hg.): Dante’s Plurilingualism, S. 98-121.
16
                 Kienpointner, Manfred: Dante Alighieri: poeta e linguista plurilingue. In: Oniga, Renato (Hg.):
                 Il plurilinguismo nella tradizione letteraria latina. Roma: Il Calamo 2003, S. 273-287, hier S.
                 277: „Il volgare italiano non è solamente utilizzato da Dante, ma in certo senso è stato creato e
                 sviluppato in modo decisivo da lui. È notevole in questo contesto che almeno il 15 % del lessico
                 italiano contemporaneo consiste di vocaboli immessi nell’uso da Dante (Malato 1999, p.
                 360).“ – „Die italienische Volkssprache wird von Dante nicht nur benützt, sondern sie wurde in
                 gewisser Weise entscheidend von ihm geschaffen und entwickelt. So ist in diesem Zusammen-
                 hang zu bedenken, dass mindestens 15% des gegenwärtigen italienischen Wortschatzes aus Lexe-
                 men besteht, welche von Dante erstmals verwendet wurden (Malato 1999, S. 360).“
17
                 Ebd.: „Questo influsso enorme si spiega non solamente per la enorme ricchezza estetica e in-
                 tellettuale della ‚Divina Commedia‘, ma anche per il fatto che Dante non faceva lo sbaglio di
                 scegliere solamente il suo dialetto fiorentino per creare il suo capolavoro. Invece seguiva il pro-
                 gramma sviluppato in ‚De vulgari eloquentia‘ (I, 16, 6), dove il cosiddetto ‚volgare illustre‘ è
                 dichiarato di appartenere a nessuna città o regione specifica e nello stesso tempo a tutta Italia
                 (‚omnis latie civitatis est et nullius esse videtur‘).“ – „Dieser außergewöhnliche Einfluss erklärt
                 sich nicht nur durch die herausragende ästhetische und intellektuelle Qualität der ‚Divina
                 Commedia‘, sondern auch durch die Tatsache, dass Dante nicht den Fehler machte, allein auf
                 seinen florentinischen Heimatdialekt zurückzugreifen, als er sein Meisterwerk schuf. Stattdessen
                 befolgte er das in ‚De vulgari eloquentia‘ (I, 16, 6) entworfene Programm, in dem erklärt wird,

	
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Die konstitutive Mehrsprachigkeit der Commedia manifestiert sich schon auf der
Ebene ihrer inhaltlichen Konzeption. Der italienische Dichter Dante trifft zu Be-
ginn des Werks auf den lateinischen Dichter Vergil, den er als seinen Meister und
sein Vorbild apostrophiert: „Tu se’ lo mio maestro e ’l mio autore; / tu se’ solo colui
da cu’ io tolsi / lo bello stilo che m’ha fatto onore.“ (Inf. I, 85-87)18 – „Du bist mein
Vorbild und du bist mein Meister, / Du ganz allein bist der, dem ich verdanke /
Den schönen Stil, der mich zu Ehren brachte.“19 Programmatisch verwendet Dante,
als er Vergil das erste Mal anspricht, die lateinische Verbform „miserere“, die er
syntaktisch in den italienischen Satz integriert: „Miserere di me“ (Inf. I, 65). Auch
Vergil bedient sich lateinischer Wortformen: vgl. „sub Iulio“ (Inf. I, 70) und das
phonetisch latinisierende „omo“ (Inf. I, 67), welches auch Dante verwendet (Inf. I,
66). Während mit Vergil der Horizont der lateinisch-antiken Dichtung aufgerufen
ist, verweist die Jenseitswanderung auf den christlich-heilsgeschichtlichen Bereich,
der ebenfalls die Präsenz der lateinischen Sprache impliziert. Im Jenseits begegnet
Dante dann einerseits zahlreichen italienischen, häufig aus Florenz, aber auch aus
anderen Gegenden und Städten Italiens stammenden Zeitgenossen, von denen eini-
ge ihn an seiner Sprache als Toskaner bzw. als Florentiner erkennen,20 andererseits
Figuren wie dem byzantinischen Kaiser Justinian (Par. VI), dem Philosophen
Thomas von Aquin (Par. X-XIII), dem Heiligen Benedikt (Par. XXII), dem Apostel
Petrus (Par. XXIV) und dem ersten, von Gott geschaffenen Menschen Adam (Par.
XXVI). All dies steckt einen Horizont ab, in dem die Begegnung der Volks-
sprache(n), des Lateinischen und anderer Sprachen selbstverständlich ist.
    Nachdem es Dantes erklärtes Ziel war, das volgare illustre als Quintessenz zahlrei-
cher Varietäten zu schaffen, besteht konsequenterweise in der Commedia eine Ten-
denz zur differenzeneinebnenden Sprachfusionierung. 21 Wenn vor Dante in mit-
telalterlichen poetischen Texten mehrere Sprachen gleichzeitig verwendet wurden,
	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
                     dass das sogenannte ‚volgare illustre‘ keiner einzelnen Region oder Stadt gehöre, sondern Eigen-
                     tum ganz Italiens sei (‚omnis latie civitatis est et nullius esse videtur‘).“
18
                     Zitiert wird nach Alighieri, Dante: La Divina Commedia. Hg. v. Natalino Sapegno. 3 Bde.
                     Firenze: La Nuova Italia 1955 (u. ö.).
19
                     Deutsche Übersetzung von Hermann Gmelin: Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie.
                     Übersetzt von Hermann Gmelin. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Rudolf Baehr.
                     Stuttgart: Reclam 1998.
20
                     Vgl. z. B. Inf. X, 25 f. (Farinata zu Dante: „La tua loquela ti fa manifesto / di quella nobil patria
                     natio“ – „An deiner Sprache kann man wohl erkennen, / Daß du im edlen Vaterland geboren“);
                     Inf. XXIII, 76 („E un che ’ntese la parola tosca“ – „Und einer, der das Toskerwort verstanden“);
                     Inf. XXVII, 19 f. (Guido von Montefeltro zu Vergil: „O tu a cu’ io drizzo / la voce e che parlavi
                     mo lombardo“ – „O du, dem meine Worte / Gegolten, der lombardisch sprach soeben“); Inf.
                     XXXIII, 11 f. (Ugolino zu Dante: „ma fiorentino / mi sembri veramente quand’io t’odo“ –
                     „doch ein Florentiner / Scheinst du mir wahrlich nach der Art zu reden“).
21
                     Baranski, Zygmunt G.: „Significar per verba“: Notes on Dante and Plurilingualism. In: The
                     Italianist 6 (1986), S. 5-18, hier S. 13: „In fact, in the Comedy’s terzine we seem to hear every
                     language, jargon, and register of early Trecento Italy. Even though Dante continued to feel
                     keenly the difference between one language and another, as the subtle ways in which he modu-
                     lates his lexical choices in the Comedy reveal, yet the overall impression is of a single language:
                     what Contini has called the ‚pluralità di toni e pluralità di strati lessicali [...] intesa come com-
                     presenza‘.“

	
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blieben diese in der Regel strukturell getrennt. Ein bekanntes Beispiel ist „Eras quan
vey verdeyar“ von Raimbaut de Vaqueiras, ein Gedicht, dessen fünf achtzeilige Stro-
phen jeweils in einer unterschiedlichen Sprache verfasst sind: Okzitanisch, Italie-
nisch, Altfranzösisch, Gaskognisch, und Galicisch-Portugiesisch. Die letzte Strophe
dagegen weicht formal von den anderen Strophen ab, indem sie aus zehn reimlosen
Versen besteht; dieser formalen Abweichung korreliert eine inhaltliche, insofern alle
im Bisherigen getrennt verwendeten Sprachen wieder aufgenommen und in einer
Strophe zusammengeführt werden. Die Ordnung des Gedichts wird durch die letzte
Strophe gesprengt; die Sprachen, die zuvor fein säuberlich getrennt blieben, werden
zwar in der letzten Strophe zusammengeführt, aber daraus entsteht kein geschlosse-
nes poetisches Ganzes, sondern eine Art „no-man’s-land, où l’œuvre se trouve défini-
tivement désœuvrée, et où, comme dans une parodie du processus de création divine,
la composition, une fois atteinte sa sixième journée lyrique, se heurte à une limite
messianique où elle s’achève et se brise en même temps“.22 Ein anderes Beispiel ist
das Dante zugeschriebene Gedicht „Aï faux ris, pour quoi traï avés“,23 in dem drei
Sprachen vorkommen, das Lateinische, das Italienische und das Altfranzösische,
dergestalt, dass eine Sprache immer exakt einen Vers einnimmt und dass immer nur
jene Verse miteinander reimen, die in derselben Sprache verfasst sind, wobei die Ab-
folge der drei Sprachen stark variiert.24
   Im Unterschied zu solchen mehrsprachigen poetischen Experimenten, bei denen
die Getrenntheit der Sprachen strukturell hervorgehoben wird, integriert Dante in
der Commedia die unterschiedlichsten Sprachen, Register und Stile zu einer ge-
schlossenen Einheit. Indem Dante die ‚Schreibweise‘ Gottes als des Schöpfers imi-
tiere, erzeuge er, so Baranski, eine neuartige Einheit, eine „plurality in oneness“,25
die die herkömmliche mittelalterliche Mehrsprachigkeit poetischer Texte hinter sich
lasse. Diese Tendenz zur Fusionierung mache sich in mehrfacher Hinsicht in der
Textur der Commedia bemerkbar: Wörter aus fremden Sprachen reimen mit italie-
nischen Wörtern, und fremdsprachliche Lexeme werden in italienische Verse inte-
griert, sodass aufgrund der ordnungsstiftenden Terzinenstruktur der Eindruck
sprachlicher Geschlossenheit entsteht. Weiter oben wurden bereits Beispiele für die
Integration einzelner lexikalischer Elemente des Lateinischen in italienische Satz-
und Versstrukturen gegeben. Ein weiteres Beispiel, auf welches Baranski hinweist, ist
Purg. XXX, 82-87, in dem das lateinische „speravi“ aus dem 30. Psalm („In te, Do-
mine, speravi“) mit den italienischen Reimwörtern „travi“ und „schiavi“ korreliert.
	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
22
                     Heller-Roazen, Daniel: Des altérités de la langue. Plurilinguismes poétiques au Moyen Age. In:
                     Littérature 130 (2003), S. 75-96, hier S. 90. Das Gedicht von Raimbaut de Vaqueiras ist in
                     diesem Aufsatz auf S. 94f. abgedruckt.
23
                     Ebd., S. 95 f.
24
                     Eine große Zahl von Beispielen findet sich bei Zumthor, Paul: Langue et techniques poétiques à
                     l’époque romane. Paris: Klincksieck 1963, S. 82-111. In einzelnen Fällen kommt es in diesen
                     Beispielen zur Integration verschiedener Sprachen innerhalb eines Verses, manchmal sogar zu
                     Reimkorrespondenzen. Allerdings betont Zumthor, dass in den allermeisten der von ihm unter-
                     suchten zweisprachigen Gedichte die (stilistische) Differenz zwischen den Sprachen deutlich
                     markiert werde (S. 105).
25
                     Baranski: „Significar per verba“, S. 14.

	
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Ella si tacque; e li angeli cantaro
        di subito „In te, Domine, speravi“;
        ma oltre „pedes meos“ non passaro.
           Sí come neve tra vive travi
        per lo dosso d’Italia si congela,
        soffiata e stretta da li venti schiavi, [...] (Purg. XXX, 82-87)
          Sie sprach nicht weiter; und die Engel sangen
        Alsbald: „In te, Domine, speravi “;
        Sie sind bis „pedes meos“ nur gekommen.
         Wie oft der Schnee in dem lebendigen Holze
        Sich festgefroren auf Italiens Rücken,
        Wenn über ihn die Slavenwinde blasen, [...]
Wie selbstverständlich sich die aus der Liturgie bekannten, zitathaft aufgerufenen
Elemente des Lateinischen in das Italienische von Dantes Gedicht einfügen, zeigt
sich u. a. auch an der Tatsache, dass diese Elemente Teil der dargestellten Welt sind,
insofern die handelnden Figuren sich des Lateinischen bedienen, wobei die Zitate
oft nur fragmentarisch in Erscheinung treten und damit Allusionscharakter haben.
   Etwas anders verhält es sich im Zusammenhang mit einer berühmten Stelle, in
der Dante den provenzalischen Dichter Arnaut Daniel in dessen Sprache zu Wort
kommen lässt (Purg. XXVI, 139-148). An diesem Passus erweist sich, dass Dante die
Sprache der trobadors, das Okzitanische, selbst aktiv beherrschte und in der Lage war,
eine Sequenz von acht Versen in dieser Sprache so zu konstruieren, dass sie sich in
die italienische Terzinenumgebung einfügt, wobei es notwendigerweise auch zu
Reimen zwischen Wörtern des Okzitanischen und des Italienischen kommt.
          El cominciò liberamente a dire:
       «Tan m’abellis vostre cortes deman,
       qu’ieu no me puesc ni voill a vos cobrire.
          Ieu sui Arnaut, que plor e vau cantan;
       consiros vei la passada folor,
       e vei jausen lo joi qu’esper, denan.
          Ara vos prec, per aquella valor
       que vos guida al som de l’escalina,
       sovenha vos a temps de ma dolor!»
          Poi s’ascose nel foco che li affina.    (Purg. XXVI, 139-148)
          Er fing darauf freimütig an zu sprechen:
       „So sehr erfreut mich euer höflich Wort,
       Daß ich mich Euch nicht kann noch will verbergen.
          Ich bin Arnaut, der immer singt und weint.
       Ich denke über meine Torheit nach
       Und freu mich schon auf den erhofften Tag.
          Nun bitt ich Euch, bei jener hohen Kraft,
       Die euch ans Ende dieser Stufen führet,
       Gedenkt zur rechten Zeit an meinen Schmerz.“
          Dann schwand er weg im Feuer, das sie läutert.

	
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Während die V. 141 und 146 wie die ihnen innerhalb der Terzinenstruktur korres-
pondierenden italienischen Verse elf Silben haben, handelt es sich bei den anderen
Versen des okzitanischen Textes um Zehnsilbler; das ist ein in der Lyrik in altokzita-
nischer Sprache relativ häufig vorkommender Vers.26 Dennoch wirkt die Passage
nicht als Fremdkörper. Im Gegenteil hat es den Anschein, als wären die fremden
Sprachen völlig selbstverständlicher Bestandteil von Dantes alle Erscheinungen der
Schöpfung bezeichnendem Text. Alle Stile, alle Register, alle Sprachen können in
diesen Text Eingang finden und alle Elemente fügen sich in die von Dante geschaf-
fene Terzinenstruktur.
   Dies gilt selbst für jene Passagen, in denen Dante unverständliche Äußerungen
produziert, etwa in Inf. VII, 1, wo Pluto folgenden Ausruf vernehmen lässt: „Papé
Satàn, papé Satàn aleppe!“ Kann man diesen Ausruf noch semantisch auf Satan
beziehen und als lautmalerische Darstellung von Plutos heiserer Stimme („voce
chioccia“) deuten, so ist die Äußerung des Riesen Nembrot aus Inf. XXXI, 67
(„Raphèl maí amèche zabí almi“) völlig unverständlich, und zwar aus gutem Grund:
Nembrot ist nämlich für Dante schuld daran, dass es zur babylonischen Sprachver-
wirrung gekommen ist. Die Sprache, die er spricht, kann niemand verstehen, und
umgekehrt versteht er nicht die Sprache der Anderen – so will es seine Höllenstrafe.

5. Schluss
Es war der Anspruch von Dantes Divina Commedia, alles für das Verständnis des
Kosmos und des göttlichen Heilsplans Relevante zu sagen. Um dies umsetzen zu
können, musste Dante eine völlig neue Sprache schaffen, die zwar auf der Basis des
Toskanischen beruht, aber dieses anreichert durch Elemente der damals verfügbaren
und ihm zugänglichen Sprachen (des Lateinischen, des Provenzalischen und des Alt-
französischen, aber auch der italienischen Dialekte). Diese Sprachvielfalt, welche im
Vorigen durch einige wenige Beispiele illustriert wurde, fügt sich in ein homogenes
textuelles Ganzes ein, das durch die dominanten Prinzipien der Versgliederung und
des Rhythmus und durch Dantes virtuose Handhabung aller sprachlichen Verfahren,
trotz der bisweilen vernehmbaren Härten und Dissonanzen, insgesamt doch den
Eindruck von Geschlossenheit besitzt. Diese Sprache ist nicht identisch mit dem
volgare illustre, von dem Dante in De vulgari eloquentia handelt. Sie hat aber, histo-
risch gesehen, die Entwicklung der italienischen „gramatica“ in nicht unerheblichem
Maße beeinflusst und damit dazu beigetragen, dass die Italiener heute eine solche
überregionale Literatursprache besitzen. Auf der anderen Seite ist die Sprache der
Commedia jener – notwendigerweise brüchige – Versuch Dantes, mit sprachlichen
Mitteln hinter den Sündenfall zurückzukehren und selbst eine heilsgeschichtliche
Tat zu vollbringen. Der in De vulgari eloquentia gesuchte ‚Panther‘, welcher allego-
risch auf Christus und damit auf die Rückgängigmachung des Sündenfalls verweist,
wurde von Dante in der Divina Commedia auf seine Art und Weise gefunden.

	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  	
  
26
                     Diez, Friedrich: Die Poesie der Troubadours. Zweite, vermehrte Auflage von Karl Bartsch.
                     Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1883, S. 74.

	
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Literatur
Alighieri, Dante: De vulgari eloquentia. Hg. v. Pier Vincenzo Mengaldo. Bd. I: Introduzione e testo.
   Padova: Antenore 1968.
Alighieri, Dante: Il Convivio. Ridotto a miglior lezione e commentato da G. Busnelli e G. Vandelli
   con introduzione di M. Barbi. 2 Bde. Firenze: Le Monnier 1964, 21968.
Alighieri, Dante: La Divina Commedia. Hg. v. Natalino Sapegno. 3 Bde. Firenze: La Nuova Italia 1955.
Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. Übersetzt von Hermann Gmelin. Mit Anmerkungen und
   einem Nachwort von Rudolf Baehr. Stuttgart: Reclam 1998.
Baranski, Zygmunt G.: „Significar per verba“: Notes on Dante and Plurilingualism. In: The
   Italianist 6 (1986), S. 5-18.
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Le Bestiaire de Philippe de Thaün. Texte critique, publié avec introduction, notes et glossaire par
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Butzer, Günter: Das Gedächtnis des epischen Textes. Mündliches und schriftliches Erzählen im höfischen
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Diez, Friedrich: Die Poesie der Troubadours. Zweite, vermehrte Auflage von Karl Bartsch. Leipzig:
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Elwert, W. Theodor: L’emploi de langues étrangères comme procédé stylistique. In: Revue de litté-
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   Aus dem Italienischen übersetzt von Susanne Hagemann. Tübingen: Francke 1986.
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Pabst, Walter: Dante und die literarische Vielsprachigkeit der südlichen Romania. In: Romanisti-
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Zumthor, Paul: Langue et techniques poétiques à l’époque romane. Paris: Klincksieck 1963.

	
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