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Fernsehen ist Familiensache Expertise Erstellt von: Prof. Dr. med. Karla Misek-Schneider, Prof. Dr. phil. habil. Winfred Kaminski und Lena Marie Freund, M.A. (alle: Fachhochschule Köln) Köln, im März 2013
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ I. Fernsehkindheiten...................................................................... 4 Kindheiten und Fernsehen........................................................ 4 Was ist eigentlich ein Kind? ..................................................... 6 Fernsehkinder der ersten Fernsehgeneration sind heute Großeltern ............................................................................... 8 Welche Antworten und Orientierungen geben wissenschaftliche Studien und Untersuchungen? ................................................ 11 Führt früher Fernsehkonsum zu Beeinträchtigungen oder Schäden? ............................................................................... 14 Faszinationskraft und Funktionen des Fernsehens im Kinderalltag ........................................................................... 16 Warum lassen Eltern ihre Kleinkinder fernsehen? .................. 18 Fazit der Studien .................................................................... 18 II. Fernsehzeiten Was Familien bewegt, wenn die Medien ins Spiel kommen − Ein Problemaufriss ................................................................ 20 Bild und Selbstbild moderner Familien .................................. 26 Familien mit besonderem Unterstützungsbedarf ..................... 30 Das familiäre Zeitregime und die Fernsehnutzung .................. 32 Erhöhung der Zeitsouveränität ............................................... 32 Verbesserung der Synchronisation verschiedener Zeitstrukturen .............................................................................................. 32 Umverteilung von Zeit ........................................................... 33 Stärkung der Zeitkompetenz .................................................. 33 Fernsehzeiten und Zeitkonflikte ............................................. 36 Familien mit kleinen Kindern und das Fernsehen ................... 40 Wie und was diskutieren Eltern und Familien übers Fernsehen .............................................................................................. 43 Eltern raten Eltern .................................................................. 45 Medien als potentieller Risikofaktor? ..................................... 52 2
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ III. Fernsehmuster Medienpädagogische Ansätze und Aufgaben der Familien ..... 56 Kleinkinder und Fernsehen − was Eltern erzählen .................. 57 Familiäre Medienerziehung als Teil der Medienpädagogik ..... 63 Fernsehen als Gemeinsamkeit ................................................ 67 Fernsehen als Notbeschäftigung ............................................. 69 Fernsehen verschafft Freiraum ............................................... 70 Fernsehen als Ritual............................................................... 71 1) Fernsehen als Unterstützung elterlicher Fürsorge ............... 73 2) Fernsehen, um Emotionen zu beeinflussen ......................... 74 3) Fernsehen als Erziehungshilfe ............................................ 74 Medienerzieherische Aufgaben in der Familie ........................ 77 Aufgaben für die Zukunft....................................................... 79 IV. FERNSEHEN IST FAMILIENSACHE − SUMMARY................... 82 Junge Familien fühlen sich in der Regel mediensicher und fernsehkompetent................................................................... 83 Fernsehzeit gehört zur Familienfreizeit .................................. 83 Medienerziehung wird zwischen Müttern und Vätern unterschiedlich aufgeteilt ....................................................... 84 Fernseherziehung im Kleinkindalter wird als pädagogische Herausforderung erlebt und erzeugt Irritationen ..................... 84 Fernsehen wird eingesetzt zum „Doing family“ ...................... 85 Medienerziehungsberatung erfolgt in privaten Räumen oder durch „peers“ ......................................................................... 85 Kleinkinderfernsehen bleibt ein großes Familienthema........... 87 Quo Vadis? Medienpädagogik und Medienerziehungs-Beratung .............................................................................................. 87 V. QUELLEN .............................................................................. 89 3
I. Fernsehkindheiten Kindheiten und Fernsehen Einen Schwerpunkt unserer Ausführungen bildet der Themenbereich Kindheiten und Fernsehen. Hierzu möchten wir auf der einen Seite aus Sicht der Kindheitsforschung nachzeichnen, was es in der aktuellen Zeit in unserer Gesellschaft heißt, ein „Kind“ zu sein und welche Anforderungen daraus an die Eltern und an die Gesellschaft erwachsen; zum zweiten möchten wir die Literatur über Fernsehen und Klein-, Vor- und Grundschulkinder überblicksartig betrachten und Schlüsse für Medienerziehung, Medienforschung und medienpädagogisches Handeln ziehen. Die Debatten und Diskussionen um die potentiellen schädlichen Auswirkungen von Fernsehen auf die kindliche Entwicklung sind so alt wie das Fernsehen und insbesondere das Kinderfernsehen selbst, nämlich ca. 60 Jahre. Schon damals war das rege Interesse der Kinder an Fernsehsendungen Anlass zu Besorgnis und es wurde eindringlich vor negativen Folgen für Kinder in kognitiven, emotionalen und sprachlichen Bereichen gewarnt. Heutzutage, über ein halbes Jahrhundert später, werden diese Diskussionen im wesentlichen nahezu unverändert geführt; trotz zahlreicher Studien und Untersuchungen zur – wie es in der aktuellen Literatur heißt - Fernsehrezeptionsforschung werden deren differenzierte Ergebnisse kaum von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen; stattdessen erreichen die sogenannten „Fernseh-Skeptiker“ oder auch die sog. „Medien-Warner“ mit ihren Studien oder auch Büchern hohe
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Aufmerksamkeit oder auch hohe Buchauflagen. Die Suchmaschine von Google bietet unter der deutschen Stichwortsuche Kleinkinder und Fernsehen 964.000 Treffer an, 1 nahezu alle Einträge auf der ersten Ergebnis-Seite führen das Wort „schädlich“ oder „Schaden“ im Titel oder zeigen negative Blickwinkel des Fernsehens auf. Damit hebt sich das Medium Fernsehen deutlich von der öffentlichen Betrachtung der anderen Medien und deren Einfluss auf das Heranwachsen von Kindern ab; während sich der Blick in unserer Gesellschaft in Bezug auf Computer und Internet − ja sogar teilweise bei den Bildschirmspielen − differenziert hat und neben ungünstigen und schädlichen Nutzungsfolgen auch günstige und positive Nutzungsauswirkungen wahrgenommen und akzeptiert werden, gilt der Fernsehbildschirm immer noch als potentiell sozial und emotional gefährlich, verdummend und dickmachend. Die interessante Frage, was hinter dieser „Spaltung“ der Bildschirmmedien in nützliche (z.B. Computer, denn sie bereiten auf das Berufsleben vor) und unnütze (z.B. der Fernseher, denn sie bieten nichts als pure Unterhaltung und sind Gift, weil träge machend) steht und vor allem, welche Auswirkungen es auf die Medienerziehungspraxis in Familien hat, wurde bisher wenig gestellt und soll hier auch als ein Diskussionsthema aufgegriffen werden. Mittlerweile sind die Fernsehkinder der ersten Stunde im Großelternalter, die aktuellen Eltern sind mit der Sesamstrasse groß geworden; entsprechen eigentlich deren Erfahrungen mit dem Medium Fernsehen noch den Erfahrungen, die Kinder aktuell machen? Wie hat sich das Kinderfernsehen und das Kinderfernsehverhalten in den letzten Jahrzehnten verändert, was bedeutet das für die Medienerziehungspraxis in Familien? 1 Zugriff am 14.02.2013 5
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Der Zeitraum von 60 Jahren Fernsehgeschichte ist auch 60 Jahre Kinderfernsehgeschichte und bietet auch Jahrzehnte voller Forschung rund um das Medium. Gibt es eigentlich verlässliche Antworten auf Fragen der Eltern? Welche Muster lassen sich in den vielen Forschungsergebnissen aus diesen Jahrzehnten erkennen? Inwieweit beeinflussen Studien die Medienerziehungspraxis in Familien? Welche Entwicklungstendenzen in Bezug auf das Fernsehen und Kinder zeichnen sich ab und vor welchen Aufgaben stehen die Forschung, die Familie und die pädagogische Praxis? Was ist eigentlich ein Kind? Unter Kindheit wird heutzutage der Zeitraum im Leben eines Menschen verstanden, der sich zwischen Geburt und Eintritt der Geschlechtsreife (Pubertät) erstreckt; in der Regel meint das die Lebensphase bis zum Alter von 12 Jahren. Kindheit gilt in unserer Gesellschaft als eigenständige Entwicklungsphase, als schützenswerte und spezielle Periode im Lebenslauf; das war nicht zu jeden Zeitpunkt unserer Menschheitsgeschichte so bzw. in vielen Teilen der Welt ist diese Sicht immer noch nicht etabliert. Wie die Kindheitsforschung zeigt (Bamler et al 2010: 26ff), unterliegt die Sicht auf Kinder historischen und kulturellen Wandlungsprozessen und ist in die jeweiligen historischen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge und Leitbilder eingebunden. So finden sich in jeder geschichtlichen Epoche spezifische Zuschreibungen und Erwartungen an Kinder, die sich in unterschiedlichen Bildern von Kindsein und Kindheiten äußern; die Kindheitsforschung nennt diesen Prozess „die Konstruktion von Kindheit bzw. spricht von „Kindheitskonstruktionen“ (Bühler-Niederberger, 2011: 22). Wie diese Konstruktionen ausfallen, ist keinesfalls 6
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ beliebig, sondern steht in engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Für zentrale Konstruktionen der Gesellschaft wie Geschlechterrollen, Familienmodelle oder Familienmuster gibt die gesellschaftliche Definition von Kindheit einen legitimierenden Kern ab (Bühler-Niederberger 2011: 34). Einstellungen, Haltungen, Forschungsfragen und besonders auch Erziehungs- und Bildungsvorstellungen werden von diesen Kindheitskonstruktionen und ihren jeweiligen Leitbildern stark beeinflusst. Ein wichtiges Leitbild des 20. Jahrhunderts und der aktuellen Kindheitsforschung ist das Bild von Kindern als Akteure und Subjekte in ihrer Lebenswelt; als Akteure gestalten sie ihre eigene Biografie und ihren Alltag; das Bild eines unreifen und unmündigen Kindes aus den letzten Jahrhundert wurde so verlassen und durch das mit Rechten, Bedürfnissen und persönlichen Gestaltungswünschen ausgestattetes Kind ersetzt (Keller, Rümmele 2010: 189). Dieser Perspektivenwechsel hat eine neue, starke Verantwortung für Eltern und Gesellschaft zu Folge; Erziehen heißt jetzt immer auch, Kinder stark zu machen, damit sie als „Akteure“ mit den Anforderungen ihrer Lebenswelt gut zurecht kommen. Diese Aufgabe sollen sich Eltern mit Institutionen der Gesellschaft teilen, Pädagogisierungstendenzen werden so legitimiert vorangetrieben. Verschärft wird dieser Trend durch den demografischen Wandel und den Rückgang der Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten, die die wenigen Kinder zu unter psychologischen wie auch unter ökonomischen Gesichtspunkten wertvollen Gesellschaftsmitgliedern macht. Erziehung im Allgemeinen, bleibt nicht nur Privatsache, sondern vollzieht sich auch speziellen Erziehungsinstitutionen, Schule, und KITA und stellt einen Bereich mit Wechsel von privater und öffentlicher Pädagogik und Fürsorge dar. 7
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Dies betrifft auch den Bereich der Medienerziehung und den Umgang mit Medien in Familien. Aus dem Wandel des Kindheitsbildes bzw. der Konstruktion von Kindheit ergeben sich dabei insbesondere zwei Konsequenzen: So heißt das für den Bereich von Familie und Erziehung, dass Eltern unter starkem Druck stehen, ihre Kinder auch in Bezug auf den Umgang mit Medien und dem Fernsehen stark zu machen. Und für den Bereich der Medienforschung bedeutet dies einen Wandel, weg von der Medienwirkungsforschung und passiven NutzerInnenmodellen aus den Anfängen der Medienwirkungsforschung hin zu einer differenzierten RezipientInnenforschung und interaktionistischen Nutzungskonzepten und -modellen, die Kinder in das Forschungsgeschehen partizipatorisch einbindet. Fernsehkinder der ersten Fernsehgeneration sind heute Großeltern Das Kinderfernsehen in der Bundesrepublik Deutschland hat gerade seinen 60. Geburtstag gefeiert. 1952 wurden von dem damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk die ersten Kindersendungen ausgestrahlt; mittlerweile sind fast vier Generationen in unserem Land mit dem Fernseher aufgewachsen. Nach wie vor ist es das beliebteste und am häufigsten benutzte Medium von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter. (KIM Studie 2012). Im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte durchlief das Kinderfernsehen verschiedene Phasen und entwickelte sich entlang den Linien, die gesellschaftliche Umbrüche und Wandlungsprozesse und der technische Fortschritt vorzeichneten (Honeck 2010: 15 ff). 8
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ In den 50er Jahren richtete sich das Kinderfernsehen vornehmlich an Grundschüler; es wurden meist Studiosendungen ausgestrahlt, die Turn- oder Bastelübungen zum Thema haben oder Puppenspiele (Beispiele: Kasperletheater, Fiete und Appelschnut) und Filme (Erich Kästner-Verfilmungen) gezeigt. In den 60er Jahren vollzieht sich ein allmählicher Wandel, die pädagogisch konzipierten Sendungen werden weniger, Unterhaltssendungen und -serien, wie z.B. viele amerikanische Tiersendungen (Lassie, Fury, RinTinTin), werden Lieblinge der kleinen Zuschauer. Eine neue Sendeform kommt hinzu, studioeigene Produktionen, in denen Kinder, ihr Alltag und ihre Lebenswelt gezeigt, erklärt und erläutert werden (z.B. Der Hase Caesar). In den 70er Jahren existieren nun mehrere Programme und die Programmauswahl wird größer. Das Angebot für Kinder differenziert sich mehr und mehr, orientiert sich an Alter und Geschlecht der Kinder; es entstehen z.B. Formate, die speziell Vorschulkinder ansprechen und deren Schreib-, Lese- und Rechenkompetenzen fördern wollen, wie die Sesamstrasse und die Sendung mit der Maus. In den 80er Jahren werden diese Formate fortgesetzt und weiterentwickelt und Kinder als Zielgruppe mit spezifischen Rezeptionsgewohnheiten und -voraussetzungen immer ernster genommen. Mit dem Start der privaten Fernsehsender differenziert sich das Angebot im Bereich des Kinderfernsehen weiter; neben den Formaten des öffentlich rechtlichen Bildungsfernsehens treten andere – meist Zeichentrickserien (wie z.B. der Disney-Club) der privaten Sender, die die Kinder unterhalten aber auch als Kunden und Zielgruppen für Werbung ansprechen möchten (Pokémon oder Ninja-Turtles). 9
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ In den 90ern beginnt der Kampf der Sender um die Marktanteile; Actionhelden und Fantasy-Serien sind bei den Kindern sehr beliebt (z.B. Ninja-Turtles) und werden vorwiegend von den privaten Sendeanstalten ausgestrahlt. Die öffentlich-rechtlichen Sender gründen einen gemeinsamen Kinderkanal (KIKA), der den Ursprungsideen des Kinderfernsehens (Bildungsauftrag, Anregung, Reflexionsfeld) treu bleiben möchte und selbstproduzierte Serien und Formate (z.B. Schloss Einstein) sendet. Die Senderauswahl insgesamt ist mittlerweile so groß, dass es schwer ist, einen Überblick zu behalten. Im neuen Jahrtausend bzw. in den letzten 10 Jahren lässt sich die Entwicklung des Kinderfernsehens durch vier Merkmale charakterisieren: 1. durch die Einbeziehung immer jüngerer Zielgruppen, also Programminhalte auch Kleinkinder (z.B. Teletubbies) 2. durch die zunehmenden Multidimensionalität der Sendungen; die meisten Sender haben zu ihren beliebten Programmen bzw. Kindersendungen informierende, begleitende und auch zur Interaktion einladende Webseiten (Beispiel: Lila Elefant, Sendung mit der Maus) 3. durch die Abkoppelung der Sendungsrezeption von einer vorgegebenen Zeitstruktur durch Entertainmentformate und -pakete und spezifische Aufzeichnungsprogramme der Anbieter, die Familien erlauben die Fernsehnutzung auch bei ihren Kindern dem Zeitrhythmus und den zeitlichen Bedürfnissen der Familie anzupassen und nicht umgekehrt. 10
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ 4. durch die Möglichkeit des Internetfernsehens und der Multilokalität des Fernsehschauens und damit durch die Abkoppelung vom klassischen Fernsehgerät. Die Geschichte des Kinderfernsehens zeigt, dass wir in der Bundesrepublik alle mit dem Kinderfernsehen groß geworden sind, die spezifischen Kindersendungen und Programme haben sich eng verwoben mit den Biografien und individuellen Erfahrungen mehrerer Generationen, der der Großeltern und der der aktuellen Eltern; sie prägen deren Haltungen, Einstellungen und medienerzieherische Strategien. Wissen über und Erfahrungen mit dem Fernsehen und seinen Sendungen bleiben also nicht ExperterInnen vorbehalten, sondern werden von allen geteilt; wir alle sind in gewisser Weise „Experten“ für dieses Medium. Welche Antworten und Orientierungen geben wissenschaftliche Studien und Untersuchungen? Die Geschichte des Kinderfernsehens ist auch eine 60 Jahre alte Geschichte von heftigen Debatten und Diskussionen um die Frage von Risiken und Folgen des Fernsehkonsums bei Kindern (Honeck; 2010: 9ff). Empirisch vorgehende Wissenschaftler, Wissenschaftsjournalisten und pädagogisch orientierte Experten liefern sich in regelmäßigen, zeitlichen Abständen Schlagabtausche über das Pro und vor allem über das Contra des Fernsehschauens bei Kindern. Die Wiederkehr dieser Debatten zeigt, dass Antworten auf Fragen gesucht werden, dass große Ängste, Misstrauen und Vorbehalte gegenüber dem Fernsehen und seiner unübersehbaren Programmvielfalt herrschen und Sicherheit, Orientierung und auch Kontrolle gesucht werden. Insbesondere das Themenfeld Kleinkinderfernsehen löst viele Fragen und Irritationen aus, 11
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ zumal es für diesen Bereich noch wenig Erfahrung und sehr wenige Forschungsergebnisse gibt. Die Flut an empirischen Studien und wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Kinder und Fernsehen zu ordnen, ist nicht einfach. Es findet sich z.B. A) Literatur, die sich als Ratgeber und pädagogische Fachbücher versteht, ohne den Anspruch zu haben, nur auf empirischen Befunden zu gründen. In diesen oft brilliant formulierten und deshalb gerne gelesenen Abhandlungen werden meist durch düstere Prognosen für Fernsehkinder Ängste der Eltern geschürt und solche Bewahrheitungen und bewahrpädagogische Tendenzen verfestigt, die suggerieren, wenn man Kinder vom Fernsehen fernhält kann nicht schlimmes, können keine negativen Folgen eintreten; so behält man als Eltern und Familie die Kontrolle über das Medium und letztlich auch über die Kinder (Beispiel: Manfred Spitzer: Vorsicht Bildschirm, 2005). In manchen Ratgebern wird den Eltern und Familien aber auch Mut und Zuversicht zugesprochen, und darauf hingewiesen, dass Kinder nicht hilf- und wehrlos den Wirkungen des Fernsehens ausgesetzt sind, sondern schon selbst schauen und auswählen können und Verarbeitungsmöglichkeiten haben, um mit dem Gesehenen konstruktiv umzugehen ( Beispiel: Jan -Uwe Rogge Kinder können fernsehen, 2005). B) Fachliteratur, die sich als solche aber auch als Ratgeberlektüre verstehen und sich explizit auf empirische Befunde und Studienergebnisse stützen (z.B. Helga Theunert, 1996). 12
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ C) Empirische Studien, die sich mit Wirkungszusammenhängen von Fernsehen und kindlicher Entwicklung beschäftigen; hier kann man zum einen solche Untersuchungen nennen, die einen Zusammenhang von Programminhalten und psychischen Entwicklungsschritten prüfen (z.B. die Studie von Helga Theunert und Bernd Schorb über Gewaltdarstellungen, 1995) und jenen, die Zusammenhänge von Dauer und Zeitpunkt des Fernsehkonsums und psychophysische Auswirkungen auf kindliche Entwicklung zum Gegenstand haben. Hier handelt es sich oft um Längsschnittuntersuchungen oder auch Langzeituntersuchungen (z.B. F.J. Zimmermann und D. A. Christakis 2005). D) Empirische Studien, die Motive und die möglichen Funktionen des Fernsehkonsums bei Kindern in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen (Raabe 2007, Vollbrecht, Götz 2008). E) Empirische Studien, die das Fernsehverhalten, das sog. Nutzungsverhalten in den Blick nehmen (z.B. die jährlichen KIM- und FIM- Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest oder die GFK-Studien). Im Folgenden soll versucht werden, anhand der vorhandenen Literatur auf verschiedene Fragen über Kinder und Fernsehen Antworten zu finden; dabei liegt der Schwerpunkt auf Studien über Klein- und Vorschulkinder. 13
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Führt früher Fernsehkonsum zu Beeinträchtigungen oder Schäden? In den letzten Jahren haben hier Studien aus Kanada und den USA für heftige Diskussionen gesorgt. Eine Forschergruppe der Universität von Montreal wertete Daten von 1314 Kindern aus, die im Rahmen der Quebec Longitudinal Study of Child Development Main Exposure über mehrere Jahre hinweg untersucht wurden. Das Team von Linda S. Pagani und Caroline Fitzpatrick befragte die Eltern von zweieinhalb und viereinhalb jährigen Kindern zu Fernsehdauer und Fernsehgewohnheiten. Lehrer und Ärzte beurteilten im weitern Verlauf, als die Kinder ca. 10 Jahre alt waren, deren schulische Leistungen, psychosoziale Kompetenzen, Ernährungsgewohnheiten und den Body Mass Index (Pagani et al. 2010). Zu Beginn der Studie verbrachten die Kleinkinder bereits durchschnittlich 8,8 Stunden pro Woche vor dem Fernseher, zwei Jahre später war die Fernsehdauer - nicht bei allen - aber immerhin bei 15 % bis auf 18 Stunden pro Woche angestiegen. Das bedeutet eine Fernsehdauer von über 2,5 Stunden pro Tag für diese Gruppe. Die Kinder aus dieser Gruppe waren im Alter von 10 Jahren motorisch ungeschickter (zu 13%), ihr Hüftumfang betrug fast 1 cm mehr, sie zeigten zu 7% ein niedrigeres Engagement und Mitarbeit im Unterricht und auch zu 6% schlechtere Mathematikleistungen, hatten einen höheren Süßigkeitenkonsum (zu 10%), einen höheren BMI (zu 5%) und ein höheres Ausmaß an Hyperaktivität und emotionalen Problemen. Die Forscherinnen schlussfolgern daraus, dass je höher der Fernsehkonsum im Klein- und Vorschulkinderalter ist, desto höher das Risiko zu psychischen und körperlichen Schäden. 14
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Zimmermann und Christakis und ihr Team vom Seattle Children Research Institute der Universität Seattle Washington D.C. (FJ Zimmerman, DA Christakis, 2005). Hier wurden 78 Studien zum Thema Kleinkinder und Fernsehen analysiert und verglichen. Auf der Basis dieser Metaanalyse schlussfolgert die Forschergruppe, dass je höher der Konsum und je jünger die Kinder desto höher ist das Risiko, später psychophysische Probleme und Entwicklungsverzögerungen aufzuweisen. Christakis geht soweit, dass er behauptet, auch spezielle Kinderprogramme seien schädlich für die Gehirnentwicklung. Sie führten zu Stress und Überforderung, hemmen andere Spielaktionen und reduzieren den Kontakt zu Gleichaltrigen oder Erwachsenen. Eine Forschergruppe von der Universität Massachusetts hat 50 Kinder im Alter von 1-3 Jahren in Begleitung eines Elternteils dazu eingeladen, eine Stunde lang mit altersgerechten Spielsachen zu spielen; zeitweise lief währenddessen im Hintergrund ein Fernseher mit einer Spielshow für Erwachsene, zeitweise war der Fernseher abgeschaltet. Die Spieldauer und die Konzentration der Kinder war deutlich kürzer, wenn der Fernseher eingeschaltet war, was die Forscher veranlasste, Entwicklungsrisiken zu befürchten und vor einem sog. „Beikonsum Fernsehen“ zu warnen (Schaff PM BKJPP 2012). Auch in der Bundesrepublik Deutschland werden Zusammenhänge zwischen einer erhöhten Quote an Sprachauffälligkeiten und grobmotorischen Auffälligkeiten, die bei 10.000 Kölner Schulanfängern im Jahre 2005 festgestellt wurden, mit einem Fernsehkonsum von täglich drei und mehr Stunden in Zusammenhang gebracht (Schlack 2007). Eine andere Perspektive auf das Thema vermittelt die Zusammenstellung und Analyse verschiedener empirischer 15
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Studien von Kendo Kaoruko und Jeanette Steemers, Universität von Westminster aus dem Jahr 2009. Unter der Überschrift „Can Television Be Good for Children“ stellen sie zahlreiche Studien vor, die positive Lerneffekte durch TV-Konsum bei Kindern beschreiben, so z.B. differenzierte sprachliche Fähigkeiten, eine Zunahme von prosozialen Verhalten und Empathie sowie verbesserte Fähigkeiten im Lesen und Rechnen. Sie schlussfolgern daraus, das Fernsehen für die Mehrzahl von Kindern lehrreich und persönlichkeitsbildend sein kann und ihnen sogar Chancen bieten kann, neue Wissens- und Themengebiete für sich zu erschließen. Faszinationskraft und Funktionen des Fernsehens im Kinderalltag? Kinder und Jugendliche lieben das Fernsehen; nach wie vor ist es das beliebteste Medium in den ersten Jahren ihres Lebens. Nutzungsverhalten, Nutzungsmotive und Nutzungsfunktionen ändern sich jedoch im Laufe der Kind- und frühen Jugendzeit; so lässt sich beobachten, dass sich am Ende der Grundschulzeit mit ca. zehn Jahren die Nutzungsvorlieben ändern; geschlechtstypische und persönlichkeitsspezifische Präferenzen bestimmen nun Sender- und Programmauswahl. Das Schauen von spezifischen Kindersendungen nimmt ab, andere Sender und Formate nehmen deren Platz ein; Familienfernsehen wird zunehmend abgelehnt. Die Entscheidung überhaupt fern zu schauen oder den Fernseher einzuschalten, wird mehr und mehr allein getroffen; meist steht auch ein eigener Fernseher im Kinderzimmer, oder es wird auf dem Computer eine Fernsehsendung geschaut, manchmal auch ohne Wissen oder Erlaubnis der Eltern. Entsprechend richten sich Funktionen und Motive des Fernsehens nach entwicklungstypischen Gesichtspunkten wie Langeweile vertreiben, mit anderen 16
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ mitreden zu können, entspannen und Stimmung regulieren, Grenzen überscheiten, Spaß haben und durch die Identifikation mit anderen lernen und mitfühlen (vgl. die KIM- und JIM- Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest). Ralf Vollbrecht hat die Funktionen des Fernsehens folgendermaßen zusammengefasst (2010, siehe auch Claudia Raabe, 2006): - es erfüllt situative Funktionen (das Vertreiben von Langeweile, Stimmungsregulierung, Eskapismus und Gewohnheit - es erfüllt soziale Funktionen (Gesprächsthema in Familie und Peers, soziale Orientierung, Werteorientierung) - biografische und ich-bezogene Funktionen (Identitätsentwicklung, Selbstreflexivität und Selbstdarstellung, Lösungsmodelle für Probleme und Konflikte.) Fernsehen erfüllt so für die Kinder relevante soziale, emotionale und sozialisatorische Funktionen. In früheren Entwicklungsphasen, in der Vor- und Grundschulzeit, sind diese oben genannten Funktionen weniger relevant; anschließend an entwicklungstypische Leitmotive geht es hier für die Kinder um Spiel und Spaß, um die Befriedigung von Neugierde, die Lust an der Entdeckung der Welt, die Sinnesreizungen durch bunte Bilder und verschiedene Geräusche, um Vergnügen, Unterhaltung und Spannung. Fernsehen ist dadurch ein hoch-emotionales Medium, und entzieht sich oft kognitiver Steuerung und Selbstkontrolle; sicher tragen diese Besonderheiten dazu bei, dass der Fernseher 17
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ als schädlich, eventuell suchterzeugend und andere Spiel- und Freizeitaktionen verdrängend, erlebt wird. Warum lassen Eltern ihre Kleinkinder fernsehen? Die Thematik des Baby- bzw. Kleinkind- TV ist sicherlich eines der heiß diskutierten Fragen der Medienpsychologie und - pädagogik, aber auch der Eltern und Familien selbst. Im Jahre 2008 wurden vom Internationalen Institut für das Jugend und Bildungsfernsehen (IZI) 728 Mütter von 0- bis 5- jährigen Kindern befragt, warum sie ihre Kinder fernsehen lassen; der am häufigsten genannte Grund überraschte: die Mütter gaben an, dass gemeinsames Fernsehen zum Kuscheln einladen kann und eine gemütliche gemeinsame Beschäftigung darstellt. Fernsehen als Notbeschäftigung, z.B. wenn das Kind krank ist oder fernsehen als Beschäftigung für die Kinder, um selbst anfallenden Hausarbeiten zu erledigen, rangierten als weitere Gründe weiter hinten. Fernsehen als Tröster, um die Emotionen ihres Kindes positiv zu beeinflussen, wurde ebenfalls angeführt. Insgesamt waren die Gründe sehr viel differenzierter und vielschichtiger als angenommen; meist waren sie gekennzeichnet durch Schuldgefühle auf Seiten der Mütter aber auch dem Fehlen von Alternativen und familiären Unterstützungsmöglichkeiten (Götz, 2008). Fazit der Studien In den letzten 50 Jahren sind hunderte von Studien zu dem Thema Kinder und TV durchgeführt worden; die Forschergruppen haben untersucht, wie das Fernsehen den Schlaf, die Bewegung, die Ernährungsgewohnheiten, das soziale Verhalten, die Sprachentwicklung, die Emotionen, die 18
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Schulnoten etc. beeinflusst. Dabei hat sich herausgestellt, dass das Fernsehen seine schädlichen aber auch seine guten Seiten hat und es sehr schwierig ist, allgemeingültige Aussagen zu treffen. Folgende Tendenzen zeichnen sich ab: Komplementär vor kompensatorisch Je mehr und häufiger der Fernsehkonsum andere entwicklungstypische Formen kindlicher Tätigkeit ersetzt, desto höher ist das Risiko später im Leben gesundheitliche, psychosoziale, emotionale und kognitive Nachteile zu erleben. Diese Nachteile sind besonders gravierend in Familien, in denen – aufgrund von Überforderung oder auch Nachlässigkeit und Hilflosigkeit − wenig Strukturen und Erziehungskonzepte oder auch Medienumgangsregeln zu finden sind. Fernsehen kann die Lebenswelt von Kindern ergänzen und Entwicklungsschritte fördern und begleiten, es kann aber keine Erfahrungen ersetzen. Bildschirmkinder werden immer jünger Kinder, die fernsehen, werden immer jünger. Fernsehen beginnt immer früher, manchmal sogar schon vor dem ersten Lebensjahr. Die Unterhaltungs- und Kommunikationsindustrie unterstützt diesen Trend durch spezifische Produkte, wie z.B. dem Baby-TV oder spezifische Programminhalte. Verlässliche Studien über die Auswirkungen dieser Fernseh- bzw. dieser Bildschirmexposition in frühen Entwicklungsphasen gibt es bisher nicht, hier gibt es zugleich eine starke Verunsicherung bei den Eltern und einen hohen Forschungsbedarf, zumal die aktuellen Tabletcomputer mit ihren ‚lebendigen‘ Bilderbüchern immer häufiger in Kinderzimmern und sogar in Kinderwägen anzutreffen sind. 19
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Mobile und zeitversetzte Zugänge erhöhen die Fernsehzeiten (oder Bildschirmexposition) Die moderne Medientechnik eröffnet mittlerweile variable, mobile und orts- wie zeitunabhängige Zugänge zu TV Inhalten. Studien aus den USA konnten zeigen, dass diese neuen Möglichkeiten die Rezeptionsgewohnheiten verändern, insbesondere die TV-Rezeption noch mehr individualisieren und zu einer Zunahme der Fernsehzeit geführt haben (Rideout, Foehr, Roberts, 2010). Fernsehzeit ist oft Familienzeit Die sozialen Funktionen des Fernsehens in Familien sind bisher wenig in den Blick genommen worden; Fernsehzeit – auch bei den Allerjüngsten – heißt jedoch auch immer Familienzeit und gemeinsam verbrachte Familienfreizeit und Familienaktivität. Die Chancen für Gemeinsamkeitserleben und soziale Interaktionen, die hierin liegen können, bedürfen einer stärkeren Berücksichtigung in Pädagogik und Forschung. II. Fernsehzeiten Was Familien bewegt, wenn die Medien ins Spiel kommen − Ein Problemaufriss Die Begriffe Familie und Medien benennen zwei Aufgabenfelder und beziehen sich aufeinander. Wie haben wir uns aber diese Verknüpfung näher vorzustellen? Auf einer abstrakteren Ebene zählen wir beide zu den 20
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Sozialisationsagenturen, die eine als primäre, die andere auf jeden Fall als Ergänzung zu Schule und Beruf. Wir sehen zugleich, dass in der Gegenwart von vielen Seiten die Funktionstüchtigkeit des klassischen Familienmodells, Eltern und zwei Kinder, bezweifelt wird. Die Prozesse der Modernisierung gingen an der Kleinfamilie nicht spurlos vorüber, sie erfährt seit Jahren einen erheblichen Funktionsverlust und musste spezifische Aufgaben an andere Instanzen abgeben; jedenfalls wird das gern behauptet und skandalisiert. Das durch die Familie überlieferte Wissen und Können − so ein breit geteilter Alltagskonsens − reicht längst nicht mehr, um bestehen zu können: Nicht nur wurde und werden Kindergarten und Schule zahlreiche der traditionellen Erziehungsaufgaben des Elternhauses zugewiesen, sondern auch die Vorbildfunktion, die einmal Eltern, Großeltern und nahe Verwandte inne hatten, drohen gegen die Konkurrenz zu verlieren. Und dann kommen noch die Medien ins Spiel. Dadurch wird nichts einfacher, sondern vieles komplizierter. Denn die Medien sind es, denen zugleich öffentlich – vor allem in den Medien selbst − der Dauervorwurf gemacht wird, sie würden das familiäre Gefüge unterminieren. D.h., wir hätten es in dieser Sichtweise gewissermaßen mit zwei gleicherweise defizitären gesellschaftlichen Institutionen zu tun, die noch dazu kaum von einander zu trennen sind. Zwar hat die heutige Elterngeneration mit Blick auf die audiovisuellen Medien (TV, Film, Radio) den Anspruch, sich auszukennen und das nötige Know-how an ihre Kinder weitergeben zu können. Auf dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen scheint jedoch ihre Vorrangstellung fraglich. Die mittlerweile traditionellen elektronischen Medien haben gemeinsam, dass sie zum „normalen“ Familienhaushalt 21
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ dazugehören. Wir haben nämlich in Deutschland eine beinahe 100% Deckung mit TV-Geräten in den Familien. Der Hinweis auf eine früher einmal geführte erregte Fernsehdebatte: Schadet es, nützt es, belehrt es oder verdirbt es, wirkt von heute aus – für die Experten − merkwürdig obsolet und unwirklich. Gleichwohl flammt diese Diskussion immer wieder auf. Dabei sehen sich heutige Eltern und ältere Erwachsene bezogen auf ihre Medien selbst als kompetent an und das bedeutet: Sie können auswählen, haben Vorlieben, kennen Sender und Sendeplätze. Mit einem Wort: sie wissen, was sie erwartet. Wir möchten sogar soweit gehen zu sagen, dass sie auch über einzelne Mediengenres und -gattungen wohlinformiert sind und deren Vor- und Nachteile abwägen und bewerten können. Auch wenn diese Medien passiv rezipiert werden, so wählen die Nutzer doch bewusst aus und entscheiden sich für oder gegen etwas. Es ist eben nicht so, dass die Medien etwas mit ihrem Publikum machen, es macht vielmehr für sich etwas aus den Medien. Ihre Fähigkeiten und ihr Wissen haben die Erwachsenen auch an ihre Kinder weitergegeben. Nun ereignete sich in den gerade zurückliegenden Jahren eine technische Revolution durch die unglaubliche, zahlenmäßige Ausdehnung der TV-Sender und -- sendungen; in den Normalhaushalten sind häufig mehr als 500 Sender zu empfangen, und es gab die digitale Revolution. Beides stellt die Medienkompetenz vor völlig neue Herausforderungen. Denn was bis dahin gültiges Medienwissen und -können war, wurde radikal entwertet. Wer mit der Haltung eines konventionellen Nutzers an die Möglichkeiten der aktuellen Fernsehwelten herangeht, verfehlt deren Dimension. Das Eindringen des PCs seit den 80er Jahren und des Internets seit 1993 in die Familien hat eine neuartige Kluft geschaffen, den sog. digital divide. Diese Kluft existiert nicht allen zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, digital natives 22
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ und -non natives, sondern auch zwischen Älteren und Jungen, zwischen Eltern und Kindern. Denn schon Jüngste surfen heutzutage versiert in den Weiten des worldwideweb. Ihr aktiver Zugriff auf die Möglichkeiten der digitalen Medien unterscheidet sich gravierend von dem des Fernsehzuschauers, der sitzt und schaut, sie sitzen und (inter-) agieren. Was die Jüngeren an Können den Älteren im Feld der digitalen Medien voraushaben, beeindruckt. Sie sind plötzlich die Spezialisten und geben den Ton an. Sie scheinen medienkompetent und offenbaren Zugangs- und Verfügungswissen. Die heute öffentlich immer noch vorherrschende Diskussion nährt sich aber aus einer Einstellung, die die Bildschirmmedien als unwillkommene Eindringlinge einschätzt und ablehnt. Diese Seite der überlieferten Mediengewohnheiten, wie sie lange in den Familien bestimmend war, steht aber nicht allein. Heutige Familien mit Kindern sind zudem mit der Tatsache konfrontiert, dass unsere Medien nicht nur neue Handlungsformen erzwingen, sondern auch ihre inhaltlichen Eigenschaften einen völlig anderen Zugang erheischen. Lange konnte ich mich etwa auf die Fernsehzeitung verlassen und dort alles über Sendungen, Produktionen, Stars und Sternchen erfahren. Dies alles läuft nun bezogen auf das aktuelle Medienangebot ganz woanders ab und tritt auch ganz anders auf. Dadurch wird das bisherige Herrschaftswissen irrelevant. Söhne und Töchter verfügen plötzlich über die Expertise und die Eltern entwickeln sich zurück, sie werden zu eher unwilligen Lehrlingen. Titel, angesagte Themen, die wichtigen Serien, die Namen der Stars, das alles tritt den meisten Erwachsenen als „böhmische Dörfer“ entgegen, fremd und unzugänglich; vor allem aber inkompatibel mit ihren Mediengewohnheiten. Die wohl häufigste Frage in Verbindung mit Medienkompetenz lautet: Was denn zu tun wäre? Die einen kommen mit dem 23
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Verbotsschild, sie wollen „Schlimmeres“ verhindern. Aber ist das eine erfolgversprechende Strategie? Uns scheint es sinnvoller zu fragen, wie wir Geschmack und Präferenzen der Kinder entwickeln können, so dass sie sich nicht einseitig festlegen (v. Salisch 2007: 179). Dies muss natürlich – und so kommt die Familie wieder ins Spiel – einhergehen mit der Stärkung der Persönlichkeit der Heranwachsenden. Dann werden sie aus der Vielzahl der Sendungen so sicher wählen können, wie es längst bei Spielzeug und Büchern üblich ist. Bekanntlich sind 8 bis 12-Jährige in ihren Vorlieben für bestimmte Bildschirmspiele noch nicht festgelegt. Ihre Orientierung auf einzelne Genres ist nur moderat stabil. Wir sollten also – auch aus medienpädagogischen Gründen – die Selektionseffekte (anstelle der vermuteten Wirkungen) in den Vordergrund rücken. In der frühen Phase der Medienkarriere eines Kindes finden die Weichenstellungen für Genres und für die Sehmotive statt. Weil nun aber Jugendliche, also über 12-Jährige, sich nicht mehr gern von Erwachsenen in ihre Vorlieben hineinreden lassen wollen – und auch längst die Gleichaltrigen sowie die angesagten Medien neben und gegen die Familie antreten – müssen wir – so von Salisch et al. − wegen der notwendigen Ablösungsvorgänge früh mit den medienpädagogischen Eingriffen beginnen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht können wir uns einiges davon erwarten, Interventionen in der Übergangsperiode vom Kind zum Jugendlichen anzusetzen. Aber in dieser Phase muss zudem der Wechsel vom zu erziehenden Kind zum allenfalls noch zu begleitenden Jugendlichen vollzogen werden. Allein durch Schützen und Bewahren kann sich Medienkompetenz nicht herausbilden, vielmehr muss aufgeklärt werden und die Wahrnehmung geschult werden, um zu eigenständigem Medienverhalten hinzuführen. Eine „Zeigefingerpädagogik“ steht einer solchen Orientierung, die 24
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ auf Selbstartikulation und Partizipation aus ist, entgegen; sie lässt die Kinder hilflos in der Medienwelt und verstellt ihnen Perspektiven. Alles in allem ist nachvollziehbar: Familien sind keine bildschirmspielfreien Zonen! Und Fernsehen zählt zugleich zu dem Freizeitvergnügen der Kinder, das am stärksten und strengsten reglementiert wird. Die Eltern greifen besonders mittels strikter zeitlicher Beschränkung in das Spielvergnügen ein. Wobei zu bemerken ist, dass Eltern dem Fernsehen kaum einmal eigenen Erlebniswert zuschreiben. Andere Freizeittätigkeiten werden durchweg als pädagogisch wertvoller erachtet. Und natürlich fürchtet eine große Gruppe den Medienkonsum als Konkurrenz zum schulischen Lernen. Näheres Nachfragen offenbart, dass Eltern ihre Annahmen über die Fernsehnutzung ihrer Kinder gar nicht so häufig auf eigene Anschauung oder Beobachtung des eigenen Kindes aufbauten, als vielmehr auf die skandalisierenden Berichterstattungen in den Traditionsmedien. – Damit aber deutet sich einmal mehr an, dass Medienpädagogik in der Familie ansetzen muss. Denn wir haben es hier mit einem Spannungsfeld zu tun. Vor einigen Jahren gab es ein Interview mit einem Topmanager des Lego-Konzerns (Engehausen 2007: 80ff). Er wurde gefragt, ob nicht die technischen Medien seinem Geschäft zu schaffen machten. Die Antwort lautete nicht etwa, dass er die anderen Hersteller von Spielen und Spielzeug als die besonderen Herausforderer betrachtet, sondern er lenkte den Blick auf das gesamte kindliche Freizeitverhalten. Seine entscheidende Aussage war: „Die größte Konkurrenz, die wir erleben, rührt allerdings daher, dass die Zeit der Kinder immer mehr verplant wird. Nach der Schule gehen sie ins Ballett, haben Klavierunterricht, Sport und anderes. Am Ende bleibt immer weniger Zeit, in der Kinder frei spielen können.“ Somit, wäre zu vermuten, sind die konkurrierenden Medien nur ein Teil des 25
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Problems. Wir müssten als Privatpersonen wie als politisch Handelnde weit mehr ansprechen, wenn wir Kinder erziehen wollen, die selbstbewusst ihre Zukunft meistern. Die verplante Lebenszeit der Kinder und ihre sozialräumliche Isolation, man spricht auch von Verinselung ihrer Lebenswelt, verursachen weit mehr Folgeprobleme als die Medien. Der Medienkonsum, seine Art und Weise sowie sein Umfang sind schon reaktiv – sind Symptom, aber nicht Ursache – auf veränderte Lebensbedingungen. Wenn ein Kind nicht selbst in die reale Welt aufbrechen kann, dann doch zumindest mit Spongebob oder Prinzessin Lilifee in spielerisch phantastische Welten. Bild und Selbstbild moderner Familien Nachfolgend präsentieren wir jüngst erschienene Studien zu Bild und Selbstbild moderner Familien, die optimistisch stimmen. Darin wird über Wichtigkeit und Bedeutung der Familie debattiert (Vorwerk-Familienstudie, 2010, S.38), um danach detailliert auf den TV-Konsum in seinen Varianten einzugehen. Sieht man sich einmal an, wie privat oder öffentlich über Familie debattiert wird, wird leicht erkennbar, dass heutzutage das, was als Familie verstanden wird, weit über die klassische Kernfamilie hinausreicht. Die Veränderungen, die sich in den zurückliegenden Jahren vollzogen haben, durch die eheähnliche Partnerschaften überall schon zum selbstverständlichen Muster zählen, haben hierbei mitgewirkt. Die so genannten Patchwork- Familien umfassen eben längst meist auch Kinder aus früheren Beziehungen der jeweiligen Partner oder Partnerinnen. Wir dürfen auch nicht übersehen, dass die enorm gewachsene Mobilität erleichtert, Kontakt auch zu weit entfernt lebenden 26
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ (leiblichen) Müttern oder Vätern zu halten. Außerdem darf nicht unterschätzt werden, dass durch die gesteigerte Lebenserwartung viel mehr Menschen noch als früher ihre Großeltern oder Urgroßeltern erleben. Der sechsten Vorwerk-Familien-Studie (2010) können wir im Blick auf den veränderten und d.h. erweiterten Familienbegriff entnehmen: „97 Prozent der Befragten zählen ihre engsten Verwandten, wie Eltern, Kinder und Geschwister, 95 Prozent den Ehemann, die Ehefrau bzw. den Partner, die Partnerin dazu. Bei der mehr rationalen Abfrage anhand einer Liste mit Antwortvorgaben zählen 16 Prozent auch enge Freunde bzw. Freundinnen zu ihrer Familie, fünf Prozent Nachbarn, vier Prozent Arbeitskollegen/Arbeitskolleginnen und ein Prozent auch Mitglieder ihrer Wohngemeinschaft“ (Familienstudie, 2010: 40). Wenn also die Reichweite dessen, was als Familie gelebt wird, ausgedehnt worden zu sein scheint, so deutet die hier diskutierte Familien-Studie an, dass in den zurückliegenden gut 15 Jahren trotz der räumlichen „Entfernungen“ die emotionale Nähe in den Familien nicht geringer geworden, sondern eher gewachsen ist. Gesteigerte Lebenserwartung führt zusätzlich zu einem „mehr“ an Familie. Selbst die hohen Scheidungsraten mit dem Effekt, dass weniger Menschen eigene Kinder zu ihrer Familie zählen, ermöglichen – paradoxerweise − „intensivere Beziehungen zu den Geschwistern oder auch zu Neffen und Nichten“ (Familienstudie, 2010: 41). Jüngere Familienstudien haben herausgearbeitet, wie sich aus der Wandlung der“ formellen Verwandtschaftsbande“ eine, wie gesagt worden ist, „informelle Familie“ entwickeln konnte. Zu dieser informellen Familie zahlen all jene, denen jemand sich besonders nahe fühlt. Wobei zu dieser Gruppe nicht notwendig nur nahe Verwandte gerechnet werden, sondern es können auch beste Freundinnen und beste Freunde sein oder andere 27
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Personen, mit denen jemand sein Leben teilt. In der Vorwerk- Familienstudie kulminiert diese Einschätzung in der Aussage, dass man in der Gegenwart „sich seine Familie gleichsam selbst zusammenstellt“ (Familienstudie, 2010: 57). Ein nachvollziehbarer Effekt dieses Vorgangs ist die „Aufwertung der Familie“ und damit verbundener Erwartungen und Bedingungen. Für den Binnenraum der „neuen“ Familien gilt aber weiterhin eine vergleichsweise traditionelle Arbeitsteilung, die zum Ergebnis hat, dass die „meisten Väter noch immer einen großen Bogen um viele Erziehungsaufgaben (machen), zum Beispiel die Betreuung der Kinder bei den Schularbeiten. Mehr Spaß macht es ihnen offensichtlich, sich bei der Freizeitgestaltung der Kinder einzubringen, vor allem dann, wenn sie damit eigene Outdoor-Interessen verbinden können, zum Beispiel Sport oder Radfahren“ (Familienstudie, 2010: 55). Richten wir den Blick auf die Zeiten die Väter und Mütter mit ihren Kindern gemeinsam verbringen, ergibt sich eine Kluft unter den Geschlechtern und die gerade entdeckte „neue“ Familie entpuppt sich in der Arbeitsteilung als die „alte“. Dies kann mit Zahlen belegt werden. Eine 2011 veröffentlichte familiensoziologische Befragung, die vom Allensbacher Institut für Demoskopie durchgeführt worden ist, fand folgende Aufteilung: Unter 50-jährige Eltern verbringen an Wochentagen durchschnittlich 4,3 Stunden mit ihren Kindern. Dabei veranschlagen die Väter ihre Zeit für Kinder auf 2,4 Stunden und die Mütter verbringen mehr als sechs Stunden mit ihnen (BILD-Familienstudie 2011:24). Allerdings ist es nicht angebracht, dies den Vätern im Sinne eines persönlichen Vorwurfs vorzuhalten. Die Zeitdifferenz resultiert aus der beruflichen Beanspruchung, wobei es um ungünstige Arbeitszeiten generell geht (43%), aber auch speziell um wenig flexible Arbeitszeiten (36%), sowie um beruflich erforderliche 28
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Mobilität (im zweifachen Sinne von Reisetätigkeiten und von langen Anfahrtswegen zur Arbeit). (Tabelle aus: BILD-Familienstudie 2011) Die befragten Väter geben an, dass sie insbesondere am Sonntag und anderen arbeitsfreien Tagen mehr Aufgaben im Haushalt oder bei der Erziehung ihrer Kinder übernehmen. Jedoch ändert sich dadurch für den Zeitaufwand der Mütter beinahe nichts. 63 Prozent der befragten Mütter antworteten, dass für sie Wochentage und Feiertage keinen Unterschied ausmachen. Immerhin teilen 43 Prozent der Väter mit, dass sie am Wochenende sich mehr mit ihren Kindern beschäftigten und immerhin noch 38 Prozent geben an, dann auch Haushaltstätigkeiten anderer Art übernehmen zu wollen. (BILD-Familienstudie, 2011: 41). Dieses eher wieder an die Tradition gemahnende Bild muss aber in anderer Hinsicht relativiert werden. Denn mit Bezug auf die familiäre Binnenstruktur erkennen wir eine Haltung, die eine familienübergreifende Verabredungskultur andeutet, wenn etwa über Aktivitäten am Wochenende gemeinsam entschieden wird. Das gilt beinahe für jede zweite Familie (45%) und nur 29
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ knapp 30 Prozent der Eltern mit Kindern unter 16 Jahren bestimmen allein über die Unternehmungen am Wochenende. Für die große Zahl der Familien gilt zugleich, dass die älteren Kinder verstärkt allein über ihre Vorhaben entscheiden dürfen (BILD-Familienstudie, ebenda). Familien mit besonderem Unterstützungsbedarf Wenn wir aber unseren Blick auf Hartz IV-Familien richten, die gesellschaftlich und d.h. vor allem auch ökonomisch Benachteiligungen erfahren, sind wir gefordert, auch die problematischen Seiten und spezifischen Herausforderungen dieser Gruppe mit Blick auf das Eltern-Kind-Verhältnis offenzulegen. Der im Auftrag des Bundesfamilienministeriums entstandene Monitor Familienleben 2010 zeigt auf, dass diese soziale Gruppe es weitaus schwerer hat als andere, die Grundbedürfnisse ihrer Kinder zu befriedigen. In den Bereichen Bildung, Ernährung und Freizeit wird dies besonders erkennbar. (Tabelle aus: Monitor Familienleben 2010) 30
Karla Misek-Schneider, Winfred Kaminski, Lena M. Freund: „Fernsehen ist Familiensache“ Unterstellt man, dass zum Freizeitbereich „Hobbys“ eben auch die Medien, TV etc. gehören, offenbart sich hier ein deutlicher Bedarf. Denn es bleibt durchweg schwierig, das in der Befragung mitgeteilte Interesse dieser Gruppe auch in praktische Medienarbeit umzusetzen; diese Eltern kommen nicht zu „Kursen“, weil sie sich nicht trauen. Sie haben Angst als Hartz IV-Empfänger erkannt zu werden (Monitor Familienleben, 2010: 53). Der vom Bundesfamilienministerium initiierte Familienreport 2011 spricht diese Aspekte klar an und macht verschiedene Bereiche durchsichtig, um die es gehen muss, wenn auf die unterschiedlich zu gewichtenden familiären Problemlagen und deren Gründe eingegangen werden soll. Im aktuellen Report kommt zum Ausdruck, dass durchweg alle Familien faire Chancen und Teilhabe in der Gesellschaft für ihre Kinder wünschen. Jedoch sehen Freizeitgestaltung und Bildungsförderung nicht überall gleich aus, sowohl qualitativ, als auch quantitativ. Zum Beispiel heißt dies, dass die Kinder aus Familien mit kleinen Einkommen oder mit SGBII Bezug nur begrenzte Möglichkeiten zur Pflege sozialer Kontakte und zur Talentförderung finden. Dies äußert sich etwa darin, dass sie in Förderkursen und Sportvereinen unterrepräsentiert sind, vor allem dann, wenn neben den eingeschränkten finanziellen Mitteln auch die notwendigen Kenntnisse über die Angebote fehlen (Familienreport, 2011, S. 106). Bildungsferne und sozioökonomisch benachteiligte Eltern sowie Eltern mit Migrationshintergrund fühlen sich oft nicht befähigt genug, angemessene Entscheidungen hinsichtlich des Freizeit- und Bildungsverhaltens ihrer Kinder zu treffen. Für diese Gruppen bedarf es unbedingt direkten Kontakt, „niederschwellige Angebote und kontinuierliche Begleitung“ (Familienreport, 2011:120). Dann könnten Ansätze zur systematischen Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz 31
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