IPA JOURNAL - DGUV Publikationen
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IPA JOURNAL 02/2021 → Krebsrisiko im → Leitlinie „Schichtarbeit“ Gesundheitliche Auswirkungen Feuerwehrdienst → Beruflich-bedingter Harnblasenkrebs Diagnostik mittels Schnelltest
IPA-Journal 02 | 2021 · Editorial Editorial Liebe Leserinnen und Leser Die aktuellen Themen aus der Arbeit des IPA erscheinen ab dieser Ausgabe des IPA Journals im neuen Design. Nach über zehn Jahren haben wir einen Relaunch vorgenommen. Auch in dieser Ausgabe begleitet uns das Thema Corona-Pandemie weiterhin. Im Interview mit Dr. Anette Über die vielfältigen Aufgaben des Instituts informieren Wahl-Wachendorf und Dr. Ingolf Hosbach geht es um die wir Sie seit nunmehr 26 Jahren. Zunächst unter dem Na- Rolle der Betriebsmedizin während der Pandemie. men „BGFA-Info“ und seit 2009 dann als „IPA Journal“. Das Journal hat sich wie die Arbeit des IPA kontinuier- Wie die SARS-CoV-2-Pandemie die Realisierung von lich weiterentwickelt. Die Inhalte kommen gut an, wie Forschungsprojekten erschwert, beschreiben wir in unsere Lesendenbefragung im vergangenen Jahr gezeigt unserem Beitrag aus der Praxis. hat. Doch Lese- und Sehgewohnheiten verändern sich. Das neue Layout ist klarer und moderner geworden. Die Ein Hinweis in eigener Sache: Zusätzlich zum IPA-Jour- bewährten Rubriken und Themenkomplexe haben sich nal erscheint unser digitaler Newsletter „IPA aktuell“, aber nicht geändert. Auch im neuen Layout stehen für damit informieren wir noch schneller, wenn es im IPA uns natürlich primär die Inhalte im Fokus. Sicherheit neue Forschungsergebnisse oder Entwicklungen gibt. und Gesundheit bei der Arbeit können sich nur dann Sie finden das IPA aktuell als reine Online-Ausgabe un- weiterentwickeln, wenn arbeitsmedizinische Forschung ter folgendem Link → http://www.ipa.ruhr-uni-bochum. belastbare Ergebnisse liefert. de/l/265. Seit Mitte 2020 sind bereits sieben Ausgaben erschienen. Unser Top Thema in dieser Ausgabe sind die Ergeb nisse der gerade abgeschlossenen „Studie zum Krebs- Ich bin gespannt, wie das neu gestaltete IPA J ournal risiko im Feuerwehrdienst“. Darin wurde mittels bei I hnen ankommt. Gerne können Sie uns an die Human Biomonitoring bei Feuerwehreinsatzkräften die E-Mail-Adresse ipa@ipa-dguv.de unter dem Stichwort Aufnahme von krebserzeugenden Stoffen durch Brand „Relaunch IPA Journal“ ein Feedback zukommen lassen. rauche untersucht. Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen Arbeitszeitgestaltung und Schichtarbeit sind zwei wichtige Themen in unserer Gesellschaft. Insbesondere vor dem Hintergrund von Telearbeit und Homeoffice. Die neue S2k-Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“, an der auch Expertinnen und Experten aus dem IPA mitgearbeitet Ihr haben, beleuchtet die verschiedenen gesundheitlichen Thomas Brüning Auswirkungen. 3
IPA-Journal 02 | 2021 · Editorial Impressum Herausgeber: Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung Institut der Ruhr-Universität Bochum (IPA) Verantwortlich: Prof. Dr. Thomas Brüning, Institutsdirektor Redaktionsleitung: Dr. Monika Zaghow Redaktion: Dr. Thorsten Wiethege, Dr. Monika Zaghow Titelbild: Sven Grundmann/Adobe.Stock.com Bildnachweis: S.3: André Stephan/Morsey & Stephan; S. 6: Volker Wiciok/Lichtblick; S. 7: Heiko Küverling/ Stock.adobe.com, Dr. Thorsten Wiethege; S. 8: Matze/ Stock.adobe.com; S. 11: Werner/Stock.adobe.com; S. 13: mhp/Stock.adobe.com; S. 16: freeograph/Stock.adobe. com; S. 18: i-picture/Stock.adobe.com; S. 20: Fokussiert/ Stock.adobe.com; S. 22: sebra/Stock.adobe.com; S. 23: A. Wahl-Wachendorf: Guido Kollmeier, I. Hosbach: Bernd Naurath/IPA; S. 27: Sascha Kreklau; S. 29: SCIENION GmbH; S. 30: Volker Wiciok/Lichtblick; S.31: romul014/ Stock.adobe.com; S.33: Bernd Naurath/IPA; S. 34: Dr. Martin Lehnert/IPA; S. 36: Wirestock/Stock.adobe. com; S. 38: Yuri Arcurs/Stock.adobe.com Satz & Gestaltung: Atelier Hauer + Dörfler GmbH, Berlin Druck: Druckerei Uwe Nolte, Iserlohn Auflage: 2.000 Exemplare ISSN: 1612-9857 Erscheinungsweise: 3x jährlich Kontakt: IPA Bürkle-de-la-Camp-Platz 1 44789 Bochum Telefon: +49 (0)30 13001 4000 Fax: +49 (0)30 13001 4003 E-Mail: ipa@ipa-dguv.de Bei den Beiträgen im IPA-Journal handelt es sich im Wesentlichen um eine Berichterstattung über die Arbeit des Instituts und nicht um Originalarbeiten im Sinne einer wissenschaftlichen Publikation. 4
IPA-Journal 02 | 2021 · Inhalt Inhalt Meldungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Top Thema Krebsrisiko im Feuerwehrdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Der arbeitsmedizinische Fall: Harnblasenkrebs infolge einer Arbeitsmedizinischer Fall beruflichen PAK-Einwirkung Harnblasenkrebs infolge einer beruflichen → Seite 13 PAK-Einwirkung in der ehemaligen Sowjetunion .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Aus der Forschung Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 WOW – Empfehlungen zur Arbeitszeit- und Schichtplangestaltung . . . . . . . . . . . . . . 20 Interview Die Rolle der Betriebsmedizin in der Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Aus der Forschung Nicht-invasive Diagnostik von beruflich-bedingtem Harnblasenkrebs .. . . . . . . . . . . 27 Humanstudien unter besonderen Aus der Praxis edingungen – Auswirkungen der B Humanstudien unter besonderen Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Corona-Pandemie → Seite 30 Kongresse Aktionsbündnis zur Minderung der Schweißrauchexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Für Sie gelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Neue Publikationen aus dem IPA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Termine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Interview: Die Rolle der Betriebsmedizin in der Pandemie → Seite 22 5
IPA-Journal 02 | 2021 · Meldungen Meldungen Monika Raulf Mit-Herausgeberin der Zeitschrift Allergologie Spezialsprechstunden für Diagnostik Seit Anfang 2021 ist Prof. Monika Raulf, Leiterin des Kom- petenz-Zentrums Allergologie/Immunologie des IPA, Mit- und Therapie des Mesothelioms Herausgeberin der deutschsprachigen Zeitschrift „Aller- Die Diagnostik und Behandlung des Mesothelioms – gologie“ und ihrer englischsprachigen Schwester-Online einer seltenen Tumorerkrankung, die im Wesentlichen Zeitschrift „Allergologie select“. Die „Allergologie“ ist durch Kontakt mit Asbest verursacht wird – ist komplex seit 2021 die offizielle Verbandszeitschrift der Deutschen und stellt aktuell eine große Herausforderung dar. Ge- Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie meinsam mit der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) hat (DGAKI). Die englischsprachige „Allergologie select“ ist die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) in PubMedCentral gelistet und die dort publizierten Ar- Qualitätsanforderungen für die Diagnostik und Therapie tikel stehen als Open Access zur Verfügung. Beide Zeit- von Mesotheliomen erarbeitet. Zertifizierte Lungenkrebs- schriften haben die unabhängige und aktuelle Fortbil- zentren, die diese Anforderungen erfüllen, können sich dung aus dem interdisziplinären Fach der Allergologie ab sofort auch als sogenannte Mesotheliomeinheiten zer- im Fokus und greifen regelmäßig auch Themen aus dem tifizieren lassen und somit zur besseren Versorgung für Bereich beruflich bedingter Allergien auf. Gemeinsam Mesotheliomerkrankte beitragen. Dem vorausgegangen mit Prof. Werfel ist Prof. Raulf für die wissenschaftliche war ein vom IPA mitorganisiertes DGUV Fachgespräch Gestaltung der monatlich erscheinenden Zeitschrift ver- „Mesotheliomtherapie“, dessen Ziel es war, den Status antwortlich. quo der Therapie des malignen Mesothelioms darzustel- len und den medizinisch-wissenschaftlichen Erfahrungs- austausch aller an der Therapie beteiligten Fachdiszipli- nen zu fördern. Die Beiträge des Fachgesprächs wurden jetzt in der Zeitschrift Pneumologie veröffentlicht. → Zum Beitrag: https://www.thieme-connect.com/ products/ejournals/abstract/10.1055/a-1404-1562 „Zertifizierte Lungenkrebszentren, die diese Anforderungen erfüllen, können sich ab sofort auch als sogenannte Mesotheliomeinheiten zertifizieren lassen.“ DGUV Pressemeldung Mai 2021 6
IPA-Journal 02 | 2021 · Meldungen Antigen gegen weiteren Schimmelpilz verfügbar Klimatische Veränderungen machen Bäume und Pflanzen anfälliger für Pathogene. Der Schimmelpilz Cryptostroma corticale verursacht die Rußrindenkrankheit an Ahorn- bäumen. Bei exponierten Beschäftigten kann wiederholtes Einatmen der Sporen eine exogen allergische Alveolitis (EAA) induzieren. Um dies möglichst frühzeitig zu erken- nen, wurde am IPA ein In-vitro-Nachweis zur serologischen Messung der IgG-Antikörper auf Cryptostroma corticale Sporen und Pilzgeflecht entwickelt. Cryptostroma corticale findet man als neues IgG-Antigen im Anforderungsbogen des IPA für die Antigen-spezifische IgG-Bestimmung. → http://www.ipa.ruhr-uni-bochum.de/l/263 Pneumologie – persönlich und präzise So lautete das Motto der 61. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP). Rund 3200 Teilnehmende hatten sich für den rein digitalen Kongress registriert. (→ www.pneumologie- kongress.de). Die Themenfelder der Arbeits- und Umwelt- medizin wurden zusammen mit denen der Epidemiologie und Sozialmedizin durch die Sektion 3 der DGP vertreten. Die Sektion gestaltete vier der insgesamt fast 100 Sympo- Nachruf – Sönke Bock sien. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Mit großer Betroffenheit haben wir die Nachricht aufgenom- IPA waren an folgenden klinischen Symposien aktiv betei- men, dass Sönke Bock am 10. August 2021 im Alter von 66 ligt: „Berufskrankheiten-Forum“, „Kontroverse Gutachten- Jahren verstorben ist. Sicherheit und Gesundheit bei der fälle aus der Arbeitsmedizin“, „COVID-19 als Berufskrank- Arbeit waren ihm ein großes Anliegen. Viele Jahre war er heit“, „Umweltmedizinisches Symposium: Schimmelpilze“ als Vertreter der Versicherten in der Selbstverwaltung der und „Seltene Allergien in der Pneumologie“. Weiter wur- Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und der Be- den Forschungsergebnisse als freie Vorträge in der Session rufsgenossenschaft Holz und Metall in führender Position „Aspekte der Arbeitsmedizin und Epidemiologie“ präsen- gestalterisch aktiv. Sein besonderes Augenmerk galt da- tiert. Im Rahmen des virtuellen Sektionstreffens erfolgte bei den gesundheitlichen Folgen der Asbestexposition. So die Wiederwahl des Sektionssprechers Dr. Butsch-von der war er zuletzt auch Vorsitzender des Bundesverbandes der Heydt, Dortmund. Dr. Christian Eisenhawer aus dem IPA Asbestose Selbsthilfegruppen e. V. und setzte sich hier für wurde zum stellvertretenden Sektionssprecher gewählt. die Betroffenen und ihre Angehörigen mit seiner ganzen Für den 25. bis 28. Mai 2022 ist der 62. Kongress der DGP Kraft ein. Wir haben ihn als engagierten, immer an der Sa- als Präsenzveranstaltung in Leipzig geplant. che orientierten Menschen kennenlernen dürfen. Die Arbeit des IPA bei der Entwicklung von Verfahren zur Früherken- nungen von asbestbedingten Tumoren hat er mit großem Interesse unterstützt. Er war uns ein Partner, mit dem wir fernab sozialpolitischer Grenzen gemeinsam an dem Ziel für mehr Sicherheit und Gesundheit arbeiten konnten. Umso tragischer ist jetzt sein Tod. Unser Mitgefühl gilt seiner Fa- milie. Wir werden sein Andenken in Ehren bewahren. 7
IPA-Journal 02 | 2021 · Top Thema Top Thema Krebsrisiko im Feuerwehrdienst Studie zum Biomonitoring von Feuerwehreinsatzkräften bei Realbränden abgeschlossen Dirk Taeger, Stephan Koslitz, Birgit Heinrich, Tim Pelzl, Heiko U. Käfferlein, Dietmar Breuer, Thomas Brüning Im Jahr 2007 hat die internationale Krebsforschungsagentur (IARC) der Weltgesundheitsorgani sation (WHO) die Arbeit der Feuerwehreinsatzkraft als möglicherweise krebserregend eingestuft (Gruppe 2B) (IARC, 2010). Ein von der DGUV veranstaltetes Fachgespräch führte zur Initiierung des Projektes „Krebsrisiko für Feuerwehreinsatzkräfte: Strategien zur Expositionsvermeidung und -erfassung“. Ein Teilprojekt ist die Studie „Humanbiomonitoring von Feuerwehreinsatz- kräften bei Realbränden“. Im Rahmen dieses Projektes sollte untersucht werden, ob und wenn ja, wie viel von krebserzeugenden polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) im Feuerwehreinsatz bei der Brandbekämpfung, u. a. über die Haut von Feuerwehreinsatzkräften aufgenommen werden. Für das Teilprojekt liegen jetzt die Ergebnisse vor. 8
IPA-Journal 02 | 2021 · Top Thema bei der Brandbekämpfung von Feuerwehreinsatzkräften Kurz gefasst aufgenommen werden. Die Ergebnisse sollen dazu beitra- gen, Strategien und Verhaltensweisen zu entwickeln, um Die Arbeit als Feuerwehreinsatzkraft wurde von der eine wirksame Expositionsvermeidung im Einsatzalltag IARC als möglicherweise krebserregend eingestuft. zu erreichen. Dazu wurde mittels Humanbiomonitoring die von der Einsatzkraft im Brandeinsatz aufgenomme- Das Projekt zum Biomonitoring von Feuerwehreinsatz- ne Menge an PAK über den Biomarker 1-Hydroxypyren kräften untersuchte 217 Feuerwehreinsatzkräfte und (1-OHP) im Urin bestimmt. Dieser ist ein Stoffwechsel- Beschäftigte der Atemschutz- und Schlauchwerkstät- produkt des PAK Pyren und steht stellvertretend für die ten im Hinblick auf ihre Belastung durch Polyzyklische Gruppe der PAK. Zu 1-OHP liegen zahlreiche Studien vor, aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) die sowohl die Exposition aus der nicht beruflich belaste- Es zeigte sich, dass bei korrekt eingehaltenen Prä- ten Allgemeinbevölkerung als auch von beruflich mit PAK ventionsmaßnahmen, im Hinblick auf die Vermeidung exponierten Beschäftigen in verschiedenen Branchen einer Exposition gegenüber PAK, Brandeinsätze als untersucht haben. Somit können diese Gruppen als Ver- sicher anzusehen sind. gleichskollektive herangezogen werden. Zu Beginn der Studie lag nur eine Untersuchung aus Kanada vor, die Einsatzkräfte bei realen Brandeinsätzen mittels Biomoni- toring untersucht hat (Caux et al. 2002). Zwischenzeitlich wurden zwei weitere Untersuchungen aus Kanada und Situation in Deutschland den USA publiziert (Keir et al. 2017; Hoppe-Jones et al. 2021). Damit ist die am IPA durchgeführte Studie die ers- Die mehr als 1,4 Millionen hauptamtlichen und ehren- te europäische und weltweit erst vierte Studie zur inneren amtlichen Feuerwehreinsatzkräfte in Deutschland sind PAK-Belastung von Einsatzkräften der Feuerwehr unter bei ihren Einsätzen einer Vielzahl von Gefährdungen aus- realen Einsatzbedingungen. gesetzt. Die Ergebnisse zu einem möglichen Krebsrisiko durch die Exposition gegenüber Gefahrstoffen wurden in verschiedenen Metaanalysen zusammengefasst und Messungen bei Einsatzkräften in Hamburg bewertet. Auch das IPA publizierte entsprechende Stu- und Berlin dien (Casjens et al. 2020; 2021). Alle Analysen stellten bisher keine Erhöhung des allgemeinen Risikos an Krebs Im Rahmen des Projektes wurden Einsatzkräfte der Be- zu erkranken beziehungsweise daran zu versterben fest. rufsfeuerwehren und der Freiwilligen Feuerwehren aus Für einzelne Krebsentitäten zeigen sich jedoch erhöhte Hamburg und Berlin beprobt. Zudem wurden Beschäf- Risiken im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Da es tigte in den Atemschutz- und Schlauchwerkstätten der sich bei der Exposition im Rahmen der Brände um nicht Feuerwehren untersucht. Während einer Eingangsun- planbare Ereignisse handelt, lagen in den zugrunde lie- tersuchung (Probe 1) wurde zunächst die persönliche genden epidemiologischen Studien in der Regel keine Grundbelastung an 1-Hydroxypyren bestimmt. Nach Informationen über die tatsächliche Exposition vor, zum einem Brandeinsatz wurden die teilnehmenden Einsatz- Beispiel von der Einsatzkraft im Brandeinsatz aufgenom- kräfte gebeten zwei bis vier, sechs bis acht und zwölf menen Mengen an Schadstoffen. Eine Einordnung der Stunden nach der Ankunft auf der Wache Urin für wei- aus einer solchen Exposition resultierenden möglichen tergehende Analysen abzugeben. Ebenfalls wurde von gesundheitlichen Risiken ist daher schwierig. Generell allen Teilnehmenden nach dem Einsatz ein Fragebogen kann nach den vorliegenden wissenschaftlichen Studien ausgefüllt, mit dem detaillierte Angaben zum Einsatz und ein individuell erhöhtes Krebsrisiko durch die Brand Brand, wie Grad der Verrauchung und gewählte persönli- bekämpfung nicht ausgeschlossen werden. che Schutzausrüstung erfasst wurden. Die Beschäftigten der Atemschutz- und Schlauchwerkstätten gaben ent- sprechende Proben nach Beendigung ihrer Schicht ab. Teilprojekt „Humanbiomonitoring“ Um die dermale Belastung gegenüber PAK während des Einsatzes einzuschätzen, trug ein Teilkollektiv unter der Ziel des Teilprojekts „Humanbiomonitoring“ war es zu Einsatzkleidung Baumwollwäsche, bestehend aus Sturm- klären, ob und wenn ja, wie viel von krebserzeugenden haube, Shirt, Hose, Handschuhe und Socken. Aus der ge- polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) tragenen Wäsche wurden nach dem Einsatz Stoffstücke 9
IPA-Journal 02 | 2021 · Top Thema aus vorher definierten und zusätzlich aus augenscheinli- krebserzeugenden PAK in Textilien. Ausgenommen von chen stark verschmutzten Bereichen ausgestanzt und im der Regelung sind jedoch unter anderem gebrauchte Klei- Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) auf PAK unter- dung und persönliche Schutzausrüstungen. sucht. Mögliche Kontaminationen der Baumwollunter- wäsche können dabei als Hinweis auf eine dermale Ex- position gegenüber PAK durch fehlende Schutzwirkung Überwiegender Anteil der Proben unterhalb der der Einsatzkleidung interpretiert werden. Referenzwerte Da keine Arbeitsplatzgrenzwerte für die 1-OHP Konzen- In die Auswertung konnten 217 Personen der Feuerweh- tration existieren, wurde für die Beurteilung der ge- ren eingeschlossen werden (Tabelle 1). messenen Biomonitoring-Ergebnisse der „Biologische Arbeitsstoff-Referenzwert“ (BAR) der Senatskommission Während der Rekrutierungsphase des Projektes von Mai zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe (MAK- 2018 bis September 2020 wurden 70 Brandeinsätze im Kommission) der Deutschen Forschungsgemeinschaft he- Rahmen der Studie von den Einsatzkräften dokumen- rangezogen. Der BAR beschreibt die rein umweltbedingte tiert. Die bei den Eingangsuntersuchungen gemessenen Hintergrundbelastung bei nicht beruflich gegenüber PAK 1-OHP-Konzentrationen wurden als die Konzentrationen exponierten Personen. Er nimmt keinen Bezug auf ge- gewertet, die die Teilnehmenden in ihrem Alltag ohne sundheitliche Effekte. Für nicht rauchende Personen be- trägt der BAR 0,3 µg 1-OHP/g Kreatinin. Da für rauchende Info Personen kein BAR existiert, wurde für die Studienteil- nehmenden aus dem Umweltsurvey 1998 entsprechend das 95. Perzentil der rauchenden Allgemeinbevölkerung Das DGUV Projekt „Krebsrisiko für Feuerwehr als Beurteilungsgröße (0,73 µg/g Kreatinin) für eine nicht einsatzkräfte: Strategien zur Expositionsvermeidung beruflich bedingte Exposition gegenüber PAK festgesetzt. und -erfassung“ umfasst folgende Teilprojekte: Zusätzlich wurde für die Bewertung der „Biological Expo- → Biomonitoring von Feuerwehreinsatzkräften sure Index“ (BEI®) der US-amerikanischen Gesellschaft bei Realbränden (FP 414) „American Conference of Governmental Industrial Hy- gienists“ (ACGIH) herangezogen. Dieser liegt bei 2,5 µg/L → Entwicklung von Expositionsvermeidungs und dient der Beurteilung der gemessenen 1-OHP Werte strategien im Feuerwehreinsatz in Bezug zu gesundheitlichen Effekten, hier die Schädi- → Entwicklung einer praxisgerechten Expositions gung der Erbsubstanz (DNA) durch PAK. dokumentation/Anpassung der Zentralen Expositionsdatenbank (ZED) Zur Beurteilung einer möglichen dermalen Exposition durch PAK beziehungsweise deren Leitkomponente Die Unfallkasse Baden-Württemberg (UKBW) leitet das Benzo[a]pyren (BaP) zum Beispiel über kontaminierte Klei- Gesamtprojekt und stellt die Verbindung zum Fach- dung existieren ebenfalls keine Grenzwerte. Um die Höhe bereich „Feuerwehren, Hilfeleistungen, Brandschutz“ der PAK-Konzentrationen in den ausgestanzten Baum- und dessen Sachgebiet „Feuerwehren und Hilfe- wollwäschestücken dennoch einordnen zu können, wur- leistungsorganisationen“ der DGUV sicher. Das IPA de als Bewertungsmaßstab die Verordnung (EU) 2018/1513 koordinierte und führte in Zusammenarbeit mit dem der Europäischen Kommission herangezogen. Dieser Be- IFA das Teilprojekt „Biomonitoring von Feuerwehrein- wertungsmaßstab beträgt derzeit 1 ppm (1.000 ng/g Stoff) satzkräften bei Realbränden“ durch. und bezieht sich auf den Massengehalt an ausgewählten Merkmal Gesamt Berlin Hamburg Berufsfeuerwehr 176 (81,1 %) 74 (77,1 %) 102 (84,3 %) Freiwillige Feuerwehr 33 (15,2 %) 15 (15,6 %) 18 (14,9 %) Atemschutz- und S chlauchwerkstatt 8 (3,7 %) 7 (7,3 %) 1 (0,8 %) Tab. 1 Aufteilung der Teilnehmenden nach Zugehörigkeit zu einer Funktionseinheit (n=217) 10
IPA-Journal 02 | 2021 · Top Thema Brandeinsatz durch ihren Lebensstil aufnehmen. Die 1-OHP-Werte bei der Eingangsuntersuchung lagen im Be- reich der Allgemeinbevölkerung, wobei individuell bei der Bewertung der Rauchstatus berücksichtigt wurde. Abbildung 1 zeigt die 1-OHP-Konzentrationen zur Ein- gangsuntersuchung (Probe 1) und nach dem Einsatz (Pro- ben 2-4) der 70 Teilnehmenden mit einem Brandeinsatz. Die überwiegende Anzahl der Brände waren Wohnungs- brände (n=50), der Rest entfiel auf Fahrzeugbrände, sons- tige Brände im Freien (n=14), Großbrände (n=4), Brand in unterirdischen Anlagen (n=1), Vegetationsbrand (n=1). Bei den 70 Brandeinsätzen zeigte sich ein Anstieg der höhermolekularen PAK wie Benzo[a]pyren wurden ledig- mittleren 1-OHP-Konzentration unabhängig von der Kre- lich bei zwölf von 270 auswertbaren ausgestanzten Stoff- atinin-Adjustierung im Vergleich zur Eingangsuntersu- stücken und in weitgehend geringen Konzentrationen be- chung. So lag die Anzahl der 1-OHP-Werte in den Urinpro- stimmt. Teilweise wurden auch höhere Konzentrationen ben nach dem Brandeinsatz deutlich häufiger oberhalb an PAK quantifiziert, überwiegend in optisch auffällig der Bestimmungsgrenze als vor dem Einsatz. Allerdings verschmutzten Stellen der Baumwollunterwäsche. Jedoch blieb der überwiegende Anteil der Proben in Abhängig- lagen auch hier alle Konzentrationen unterhalb des zur keit vom Rauchstatus der Teilnehmenden unterhalb der Orientierung herangezogenen Beurteilungsmaßstabs. jeweiligen Referenzwerte. Nur eine Person wies nach dem Brandeinsatz Werte über dem BEI® auf. Bei den nicht- rauchenden und ex-rauchenden Teilnehmenden wiesen Bewertung der Ergebnisse 20 % und bei den Rauchenden 13 % Werte über dem je- weiligen Beurteilungsmaßstab nach dem Brandeinsatz Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die derzeit einge- auf. Die 1-OHP Konzentrationen der Beschäftigten in den setzten Präventionsmaßnahmen wie korrekt angelegte, Atemschutz- und Schlauchwerkstätten lagen unterhalb funktionsfähige Schutzkleidung und bedarfsgerechtes der Beurteilungsmaßstäbe. Tragen von umluftunabhängigem Atemschutz geeignet sind, Belastungen gegenüber krebserzeugenden PAK bei Ein Teilkollektiv von 14 Feuerwehreinsatzkräften bei der Feuereinsatzkräften zu minimieren. Dennoch konnten in Brandbekämpfung und drei Beschäftigten in einer der der Studie auch einzelne Einsatzsituationen dokumentiert Schlauch- und Atemschutzwerkstätten trug Baumwoll- werden, in denen eine Überschreitung der Beurteilungs- kleidung unter der Schutzausrüstung bzw. Arbeitsklei- maßstäbe von 1-OHP im Urin beobachtet werden konnte. dung. Die Analysenergebnisse der Baumwollunterwä- Dies zeigt, dass die Einsatzkräfte während des Einsatzes sche waren überwiegend unauffällig. Insbesondere die per se gegenüber krebserzeugenden Gefahrstoffen wie PAK als krebserzeugend anzusehenden schwerer flüchtigen exponiert sein können. Insofern reihen sich die Ergebnisse 10 10 Abb. 1 1-OHP Konzentrationen [µg/g Kreatinin] (mit Mittelwerten) vor 1 1 (Probe 1) und nach den [µg/L] Einsätzen (Probe 2: 2–4 h, Probe 3: 6–8 h, Probe 4: 12 h) a) in µg/L 0.1 0.1 (Linie bei 2,5 µg/L zeigt BEI®-Wert) und b) µg/g Kreatinin (Linien bei 0,3 µg/g und 0,73 µg/g 0.01 0.01 Kreatinin zeigen BAR Probe 1 Probe 2 Probe 3 Probe 4 Probe 1 Probe 2 Probe 3 Probe 4 für Nichtraucher und Referenzwert für Nicht-/Ex-Raucher Raucher Raucher) 11
IPA-Journal 02 | 2021 · Top Thema dieser ersten europäischen Studie nahtlos in die bisherigen DGUV Information 205-035 Hygiene und Kontaminations- Ergebnisse der drei Studien aus dem nordamerikanischen vermeidung bei der Feuerwehr und einem begleitenden Raum ein (Caux et al. 2002; Keir et al. 2017; Hoppe-Jones et Erklärfilm veröffentlicht. Darin enthalten sind unter an- al. 2021). Eine Überschreitung gesundheitsassoziierter Be- derem konkrete Beispiele, die den Feuerwehren aufzei- urteilungswerte wie dem BEI®-Wert trat nur in ausgewähl- gen, wie ein Expositionsvermeidungskonzept etabliert ten Einzelfällen auf. Bei der Beurteilung möglicher daraus werden kann (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung resultierender gesundheitlicher Risiken gilt es zu berück- (DGUV); Koslitz et al. 2020). sichtigen, dass bei Feuerwehreinsatzkräften derartige Ex- positionen nicht jeden Tag und über das gesamte Berufs- leben auftreten, wie es unter anderem bei gewerblichen Ausblick PAK-Expositionen der Fall sein kann (Marczynski et al. 2009). Entsprechend ist davon auszugehen, dass auch das Die in der IPA-Biobank eingelagerten Blut- und Urinproben daraus resultierende Gesundheitsrisiko erheblich geringer werden in einem Folgeprojekt auf weitere Schadstoffe wie ist, als bei regelmäßig langjährig gegenüber PAK-exponier- Dioxine und Benzol untersucht. Zudem sollen zusätzliche ten Beschäftigten, z. B. im Bereich von Kokereien oder der Biomonitoringdaten bei Vegetationsbränden erhoben wer- Herstellung von feuerfesten Materialien. den. Durch die Klimaerwärmung kam es auch in Deutsch- land in den letzten Jahren vermehrt zu diesen Brandereig- nissen. Hierzu bedarf es ebenfalls fundierter Erkenntnisse Fazit über die Exposition der Einsatzkräfte, um eine wirksame Expositionsvermeidung im Einsatzalltag zu erreichen. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Humanbiomonito- ringuntersuchung, dass die derzeit eingesetzten Präven- tionsmaßnahmen, zu denen im Wesentlichen korrekt ein- Die Autoren: gesetzte persönliche Schutzausrüstung gehört, geeignet Prof. Dr. Dietmar Breuer, Birgit Heinrich sind, Belastungen gegenüber PAK zu minimieren. Hin- IFA sichtlich der PAK-Exposition ist die Tätigkeit als Feuer- Prof. Dr. Thomas Brüning, Dr. Heiko U. Käfferlein, wehreinsatzkraft unter den gegenwärtigen Schutzbedin- Stephan Koslitz, Dr. Dirk Taeger gungen als sicher anzusehen. Einen weiteren Beitrag zum IPA Minimierungsgebot nach Gefahrstoffverordnung liefern Tim Pelzl die Ergebnisse des anderen Teilprojektes „Entwicklung Fachbereich Feuerwehren, Hilfeleistungen, Brandschutz von Expositionsvermeidungsstrategien im Feuerwehr- der DGUV einsatz”. Dieses wurde bereits im Jahr 2020 in Form der Literatur Casjens S et al. Cancer risks of firefighters: a systematic review and Hoppe-Jones C et al. Evaluation of fireground exposures using urina- meta-analysis of secular trends and region-specific differences. Int ry PAH metabolites. J Exp Sci Environ Epidemiol 2021; in press. Arch Occup Environ Health 2020; 93: 839–852. IARC. Painting, firefighting, and shiftwork. IARC Monographs on the Casjens S et al. Das Krebsrisiko von Feuerwehreinsatzkräften. Evaluation of Carcinogenic Risks to Humans, vol. 98, IARC 2010, Lyon. Ein systematisches Review und Metaanalyse epidemiologischer Keir JLA et al. Elevated exposures to polycyclic aromatic hydrocar- Studien. ASU 2021; ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2019; bons and other organic mutagens in Ottawa firefighters participating 56: 359–366. in emergency, on-shift fire suppression. Environ Sci Technol 2017; 51: Caux C et al. Determination of firefighter exposure to polycyclic 12745–12755. aromatic hydrocarbons and benzene during firefighting using mea- Koslitz S et al. Krebsrisiko im Feuerwehrdienst – Studie und Empfeh- surement of biological indicators. Appl Occup Environ Hyg 2002; 17: lungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, BRAND- 379–86. SCHUTZ 2020; 8: 17–23. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV): DGUV Information Marczynski B et al. Occupational exposure to polycyclic aromatic 205-035 „Hygiene und Kontaminationsvermeidung bei der Feuerwehr“. hydrocarbons and DNA damage by industry: a nationwide study in https://publikationen.dguv.de/regelwerk/dguv-informationen/3730/ Germany. Arch Toxicol 2009; 83: 947–957. hygiene-und-kontaminationsvermeidung-bei-der-feuerwehr 12
IPA-Journal 02 | 2021 · Arbeitsmedizinischer Fall Harnblasenkrebs infolge einer beruflichen PAK-Einwirkung in der ehemaligen Sowjetunion Vorgehen bei fehlender Datenlage Tobias Weiß, Thomas Brüning Bei der BK-Nr. 1321 „Harnblasenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe“ ist eine beruflich bedingte inhalative Mindesteinwirkung Voraussetzung zur Anerkennung einer Berufskrankheit. In vielen Fällen wird im Rahmen der arbeitstechnischen Ermittlungen die ku- mulative Höhe der inhalativen Einwirkung anhand des BK-Reports „BaP-Jahre“ ermittelt. Dies ist jedoch nicht immer möglich, insbesondere wenn – wie im hier beschriebenen Fall – keine oder nur unzureichende Expositionsdaten für die gefährdenden Tätigkeiten vorhanden sind. Im vorliegenden Fall wurde bei einem Versicherten im hierzu ein Zusammenhangsgutachten unter der Frage- Jahr 2017 im Alter von 86 Jahren ein Harnblasentumor stellung einer BK-Nr. 1321 „Schleimhautveränderungen, diagnostiziert (Tumorstadium pTa G3 (high grade)). Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch Therapeutisch wurde das erkrankte Gewebe abgetragen polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nach- (transurethrale Resektion, TUR). Tumorrezidive waren weis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von min- zwischenzeitlich nicht aufgetreten. Das IPA erstellte destens 80 Benzo[a]pyren-Jahren [(µg/m³) x Jahre]“. 13
IPA-Journal 02 | 2021 · Arbeitsmedizinischer Fall Gefährdende außerberufliche Einwirkungen BK-Nr. 1321 Zigarettenrauchen ist ein bedeutender Risikofaktor für PAK können gemäß der wissenschaftlichen Begründung die Entstehung von Harnblasenkrebs. So ist bereits der des Ärztlichen Sachverständigenbeirats (ÄSVB) beim Konsum in Höhe von 15 Packungsjahren, dies entspricht Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beim einem Konsum von täglich einer Schachtel beziehungs- Menschen Harnblasenkarzinome auslösen (BMAS 2016). weise 20 Zigaretten über einen Zeitraum von 15 Jahren, Gemäß dieser Begründung kann eine Anerkennung als Be- mit einem verdoppelten Risiko für die Entwicklung ei- rufskrankheit Nr. 1321 bei Einwirkung einer kumulativen ner Harnblasenkrebserkrankung assoziiert (Pesch et al. Dosis von mindestens 80 Benzo[a]pyren-Jahren [(μg/m3) 2000). Der Versicherte gab an, dass er zeitlebens Nicht- x Jahre] erfolgen. In der Begründung zur Berufskrankheit raucher war. Auch weitere außerberufliche Risikofaktoren heißt es, dass die inhalative Mindestdosis von 80 BaP-Jah- wie zum Beispiel Schmerzmittelmissbrauch, eine Psoria- ren epidemiologisch über das verdoppelte Harnblasen- sisbehandlung mittels Teerprodukten oder eine durch- krebsrisiko in zwei Kohorten aus der Aluminiumherstel- gemachte Bilharziose, hierbei handelt es sich um eine lung nach dem Söderberg-Verfahren abgeleitet wurde. Wurmerkrankung, die durch Larven von Saugwürmern Beim Söderberg-Verfahren bestehen neben der PAK-Ex- der Gattung Pärchenegel (Schistosoma) verursacht wer- position auch erhebliche Expositionen gegenüber den den, wurden im Rahmen der Anamnese nicht ermittelt. aromatischen Aminen 2-Naphthylamin, 4-Aminobiphenyl und o-Toluidin, die ebenfalls beim Menschen Harnblasen- karzinome auslösen können (BK-Nr. 1301). Die genannten Gefährdende berufliche Einwirkungen aromatischen Amine stammen ebenso wie die PAK aus den steinkohlenteerpech-haltigen Elektroden, die bei diesem Der Versicherte war zwischen 1950 und 1991 in der ehe- Verfahren Anwendung finden. Daher beinhaltet die mit maligen Sowjetunion in verschiedenen Unternehmen als einem verdoppelten Risiko assoziierte BaP-Luftkonzentra- Traktorist, Straßenbauer, Chemikalienverarbeiter und tion beziehungsweise die daraus abgeleitete kumulative Schornsteinreiniger tätig. Nach eigenen Angaben hatte BaP-Dosis der BK-Nr. 1321 gleichzeitig eine Einwirkung er über 32 Jahre regelmäßig in den Monaten Oktober bis von humankanzerogenen aromatischen Aminen. Eine Ex- April Altreifen, Altöl und/oder Kautschuk in einer Tonne position gegenüber aromatischen Aminen wurde seitens zur Beheizung einer Werkstatt verbrennen müssen. Dabei des zuständigen Unfallversicherungsträgers allerdings im war er täglich in erheblichem Umfang Treibstoffen, ver- vorliegenden Fall nicht festgestellt. Auch konnte die Be- schiedenen Chemikalien, Teer und Ruß ausgesetzt. Daher rechnung einer kumulativen inhalativen Einwirkung von sei von einer jahrzehntelangen erheblichen inhalativen PAK in Form sog. BaP-Jahre durch den Präventionsdienst wie auch dermalen Exposition gegenüber polyzyklischen aufgrund nicht vorhandener Expositionsdaten für die Ex- aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) auszugehen. positionssituation des Versicherten nicht erfolgen. Die Berechnung der kumulativen PAK-Exposition nach BK-Report 2/2013 „BaP-Jahre“ war nach Angaben des zu- Im vorliegenden Fall ließ sich jedoch orientierend abschät- ständigen Unfallversicherungsträgers aufgrund fehlender zen, inwieweit es wahrscheinlich ist, dass der Versicherte Expositionsdaten jedoch nicht möglich. gegenüber PAK in Höhe von 80 BaP-Jahren inhalativ expo- niert war. Für diese Wahrscheinlichkeits-Abschätzung war es Die Tochter des Versicherten gab ergänzend an, dass zunächst notwendig, die in der Begründung zur BK-Nr. 1321 der Vater während des gesamten Berufslebens deutlich in der Mengeneinheit µg/m3 x Jahre vorliegende Mindestdo- mehr als 40 Stunden pro Woche gearbeitet hatte. Es sei sis in eine absolute, kumulative Dosis (in µg) umzurechnen. regelmäßig an Samstagen, teilweise auch an Sonntagen, in den Sommermonaten auch von morgens bis Sonnen- untergang gearbeitet worden. An beziehungsweise in der Umrechnung BaP-Jahre in eine kumulative Dosis Nähe der Feuertonne habe der Vater in der Winterzeit von 1945 bis 1968 von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang 80 BaP-Jahre [µg/m3 x Jahre] entsprechen einer Arbeits- und von 1969 bis 1972 sechs Mal pro Woche 8 Stunden platzkonzentration von 80 µg/m3 an BaP für die Dauer von täglich gearbeitet. einem Arbeitsjahr mit 240 Arbeitstagen beziehungsweise im Mittel 2 µg/m3 für die Dauer von 40 Jahren bei fünf Acht- stunden-Arbeitsschichten pro Woche. Pro Achtstunden- Arbeitsschicht werden etwa 10 m3 eingeatmet (DFG 1998). 14
IPA-Journal 02 | 2021 · Arbeitsmedizinischer Fall Dies entspricht einem Atemvolumen von 2.400 m3 pro Jahr. Daher stand die aufgetretene Harnblasenkrebserkrankung Das heißt, es werden bei 80 BaP-Jahren etwa 192 mg an nach unserer Auffassung mit hinreichender Wahrschein- BaP eingeatmet (80 µg/m3 x 2.400 m3 = 192.000 µg). lichkeit in einem rechtlich wesentlichen Ursachenzusam- menhang mit der beruflichen Tätigkeit des Versicherten. Es wurde deshalb die Anerkennung einer Berufskrankheit Orientierende Abschätzung der inhalativen Exposition nach Nr. 1321 der Anlage zur Berufskrankheitenverord- nung (BKV) vorgeschlagen. Der Versicherte hat nach den vorliegenden Unterlagen an beziehungsweise in der Nähe der Feuertonne jeweils in der Winterzeit von Oktober bis April in den Jahren zwi- Fazit schen 1945 und 1968 von Sonnenaufgang bis Sonnen- untergang und von 1969 bis 1972 (4 Jahre) sechsmal pro Bei der BK-Nr. 1321 handelt es sich um eine Dosis-BK, bei der Woche acht Stunden täglich gearbeitet. Interpretiert man gemäß der Begründung des ärztlichen Sachverständigen- die Angabe „von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang“ beirats für eine Anerkennung eine inhalative Mindestexpo- als im Mittel 6 x 8 Stunden pro Woche, so ergibt sich eine sition in Höhe von 80 BaP-Jahre [µg/m3 x Jahre] vorhanden Dauer von etwa 4.540 Tagen unter Exposition. Dies wie- gewesen sein muss. Sofern im Rahmen der arbeitstechni- derum entspricht einem Atemvolumen unter Exposition schen Ermittlungen aufgrund mangelnder Informationen von etwa 45.400 m3. 80 BaP-Jahre entsprechen einer abso- eine Bestimmung der beruflichen PAK-Exposition anhand luten Menge an BaP von 192.000 µg (s.o.). Um dieser Men- des BK-Reports „BaP-Jahren“ nicht möglich ist, kann gemäß ge inhalativ ausgesetzt gewesen zu sein zu sein, hätte die obiger Vorgehensweise alternativ geprüft werden, inwieweit Arbeitsplatzluft an der Heiztonne im Mittel etwa 4,2 µg/m3 die Wahrscheinlichkeit besteht, dass die zu begutachtende an BaP enthalten müssen (192.000 µg / 45.400 m3). Person im Bereich der geforderten Mindestdosis von 80 BaP-Jahren inhalativ exponiert gewesen sein konnte. Bewertung der Expositionssituation Die Autoren: 1989 wurde in Deutschland erstmals ein Grenzwert für BaP Prof. Dr. Thomas Brüning, Dr. Tobias Weiß festgelegt, der bis Ende 2004 gültig war. Der Grenzwert war IPA als Technische Richtkonzentration (TRK) definiert. Für die Strangpechherstellung und -verladung sowie den Ofenbe- reich von Kokereien galt ein Wert von 5 μg/m3 und im Übri- gen von 2 μg/m3. Der Wert von 5 μg/m3 konnte in Kokereien Literatur an Arbeitsplätzen im Bereich des Oberofens sowie bei der Strangpechherstellung und der Strangpechverladung in die- Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Merkblatt sem Zeitraum zum Teil technisch nicht eingehalten werden. zur BK 1321 Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neu- bildungen der Harnwege durch polyzyklische aromatische Koh- Die obige orientierende Abschätzung und deren Vergleich lenwasserstoffe bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 80 Benzo(a)pyren-Jahren [(µgm³) x Jahre]. mit dem ehemaligen TRK-Wert sowie mit Messwerten aus BMAS 2016 https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte- dem BK Report 2/2013 machen deutlich, dass es sich bei und-Technische-Regeln/Berufskrankheiten/pdf/Begruendung- den 4,2 µg/m3 aus der orientierenden Abschätzung um Blasenkrebs-PAK.pdf?__blob=publicationFile&v=6. einen vergleichsweise geringen Wert handelt (DGUV Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Die Bedeutung der 2013). Daher erscheint es als wahrscheinlich, dass durch Arbeitsleistung für die Inhalationskinetik. Toxikologisch-DFG – Deutsche Forschungsgemeinschaft, Senatskommission zur das offene Beheizen des Arbeitsplatzes mittels einer mit Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe: Die Bedeutung Altreifen, Altöl und Diesel befeuerten Tonne wahrschein- der Arbeitsleistung für die Inhalationskinetik. Toxikologisch- lich im Mittel BaP-Konzentrationen im Bereich oder eher arbeitsmedizinische Begründungen von MAK-Werten. Loseblatt- sammlung, 27. Lieferung. Verlag Wiley-VCH, Weinheim 1998 noch oberhalb von 4,2 µg/m3 vorlagen. Somit ist es auch Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV). BK Report wahrscheinlich, dass im vorliegenden Fall durch die über BaP-Jahre. 2013 www.dguv.de/publikationen mehrere Jahrzehnte andauernde Exposition die geforder- Pesch B et al. Occupational risk factors for renal cell carcinoma: te kumulative Dosis für die BK-Nr. 1321 erreicht wurde. agent-specific results from a case-control study in germany. Int J Konkurrierende Ursachen, insbesondere ein Tabakkon- Epidemiol 2000; 29: 1014-1024 sum lagen nach Aktenlage nicht vor. 15
IPA-Journal 02 | 2021 · Aus der Forschung Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“ Neue S2k-Leitlinie berücksichtigt verstärkt Fragen zur Reproduktion und zum Mutterschutz Sylvia Rabstein, Claudia Terschüren, Volker Harth In der neuen S2k-Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“ wurden verschiedene gesundheitliche Endpunkte beleuchtet. In einem der Kapitel, an dessen Erarbeitung das IPA besonders beteiligt war, ist der wissenschaftliche Sach- stand zum Thema Schichtarbeit und möglichen Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit und Fort- pflanzung zusammengetragen. Anhand der Ergebnisse der Literaturrecherche wurde abgeleitet, was es hinsichtlich der Reproduktion bei Beschäftigten in Schichtarbeit zu beachten gibt. In Deutschland arbeiten etwa ein Fünftel aller Arbeit- breit: Bei der Betrachtung der Zusammenhänge zwischen nehmer und Arbeitnehmerinnen in Schichtarbeit (Sta- Schichtarbeit und Gesundheit müssen sowohl die direk- tistisches Bundesamt (2020). Vor allem die Arbeit in der ten Auswirkungen wie Schläfrigkeit oder Unfallrisiken, Nacht beansprucht viele Beschäftigte stark. Seit Jahr- mögliche mittelfristige Endpunkte zum Beispiel Ge- zehnten werden sowohl die potentiellen Risiken als auch wichtszunahme, Schlafstörungen oder Zyklusstörungen Präventionsansätze für die Verbesserung von Schichtar- als auch der potentielle Zusammenhang mit chronischen beit wissenschaftlich untersucht. Das Spektrum ist dabei Erkrankungen – hierunter auch Krebserkrankungen und 16
IPA-Journal 02 | 2021 · Aus der Forschung Diabetes – bedacht werden (Nielsen et al. 2018; IARC Kurz gefasst 2019; Sun et al. 2018). Das IPA befasst sich seit einigen Jahren im Rahmen von Kohorten-, Fall-Kontroll- und Feld-Studien mit den gesundheitlichen Auswirkungen Rund ein Fünftel der Beschäftigten arbeitet in der Schichtarbeit (Rabstein et al. 2019; Rabstein et al. Deutschland in Nacht- oder Schichtarbeit. 2014; Lehnert et al. 2018; Behrens et al. 2017). Es hat sich Ende 2020 wurde die S2k-Leitlinie „Gesundheitliche mit seiner breiten Expertise intensiv in die Erstellung der Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schicht- neuen Leitlinie zu Schichtarbeit eingebracht. arbeit“ veröffentlicht. Neben den verschiedenen Themenfeldern wie z. B. Entstehung der Leitlinie „Schichtarbeit“ Unfällen oder Krebserkrankungen behandelt die Leit- linie auch Fragen zum Einfluss auf die Reproduktion. Eine erste Leitlinie zum Thema Schichtarbeit in der Stufe S1 wurde bereits im Jahr 2006 publiziert. Sie ent- hielt einen ersten Überblick zu verschiedenen Definitio- nen, Schichtsystemen, Rechtsnormen, Wirkungen von Zyklusstörungen, Endometriose und Fruchtbarkeit Schichtarbeit auf den Menschen und präventive und kompensatorische Maßnahmen (Seibt et al. 2006). Systematisch und anhand von zuvor festgelegten Krite- rien für die Einschätzung der methodischen Qualität der Federführende Fachgesellschaft für die neue Leitlinie Originalstudien (nach SIGN) wurde in einem eigenen Ka- „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- pitel auch die wissenschaftliche Evidenz zum Thema Re- und Schichtarbeit“ mit Klassifikationsgrad S2k war die produktion zusammengefasst. In der dazu gefundenen Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umwelt- Literatur wird berichtet, dass durch die mit Schichtarbeit medizin (DGAUM), weitere fünf Fachgesellschaften wa- verbundenen Störungen im Metabolismus – möglicher- ren beteiligt (AWMF online 2020). Die systematische weise durch veränderte Lichtexpositionen in der Nacht – Aufbereitung der Evidenz wurde in vielen Kapiteln auf hormonelle Veränderungen und Störungen im Menstru- S2e-Niveau umgesetzt. So wurden nicht nur die Schlüs- ationszyklus verbunden sein können. Eine verringerte selfragen und Suchstrings definiert, sondern zum Teil Fruchtbarkeit wird in verschiedenen wissenschaftlichen auch die Originalstudien nach formaler Methodik SIGN Studien auch mit Endometriose in Verbindung gebracht begutachtet, so dass die Auswahl der vorgestellten Lite- oder zum Teil sogar gleichgesetzt. Die Endometriose ist ratur systematisch erfolgte (SIGN 2020). An der Erstellung eine der häufigsten gynäkologischen Erkrankungen, die – der Leitlinie im Zeitraum zwischen 2013 bis 2020 waren wenn auch gutartig – oftmals sehr schmerzhaft ist. Sie über dreißig Expertinnen und Experten ehrenamtlich be- kann durch das organübergreifende infiltrative Wachstum teiligt. Koordiniert wurde die Arbeit durch Prof. Dr. Vol- endometriumartiger Zellverbände außerhalb der Gebär- ker Harth und Dr. Claudia Terschüren vom Zentralinsti- mutterhöhle zu Unfruchtbarkeit führen. tut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin in Hamburg (ZfAM). Die Leitlinie umfasst insgesamt 16 Kapitel. Zehn In nur wenigen Studien, die den Zusammenhang zwi- Kapitel befassen sich inhaltlich mit gesundheitlichen schen unterschiedlichen Schichtsystemen und der Zeit Themenfeldern, die die wissenschaftlichen Kenntnisse bis zum Auftreten einer Schwangerschaft untersuchten, zum Zusammenhang zwischen Schichtarbeit, gesund- wurden die jeweiligen Schichtsysteme der Beschäftigten heitlichen Endpunkten und Erkrankungen beschreiben. nach Berufstätigkeiten im Detail erfasst. Die Ergebnisse Die Themenfelder r eichen von Schlafstörungen über dieser Studien sind zudem widersprüchlich. Insbesonde- Unfälle, Work-Life-Balance, Herz-Kreislauf-Störungen, re wenn man weitere Faktoren, die mit Unfruchtbarkeit Stoffwechselerkrankungen, psychische und neuronale in Verbindung gebracht werden können, berücksich- Erkrankungen, muskuloskelettale Erkrankungen sowie tigt, zeigen sich keine erhöhten Effektschätzungen für Krebserkrankungen bis hin zu Reproduktion (Harth und Schichtarbeit mehr. Einschränkungen in der Qualität der Terschüren 2021). Originalstudien in Bezug auf die Bewertung der Frage- stellung sind im Wesentlichen darin zu sehen, dass diese verschiedenen weiteren Einflussfaktoren oftmals nicht ausreichend untersucht wurden. Gerade bei länger an- dauerndem unerfülltem Kinderwunsch wäre nicht nur 17
IPA-Journal 02 | 2021 · Aus der Forschung die aktuelle Tätigkeit, sondern auch die retrospektive Er- Info hebung der Schichtarbeitsbiografie – zumindest der letz- ten Jahre – wichtig. Ein Zusammenhang kann anhand der Evidenz aus den vorliegenden Studien jedoch auch Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft- nicht ausgeschlossen werden. Insbesondere für Wechsel- lichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) schichten mit Nachtschichten gibt die Literatur Hinweise werden nach einem festgelegten Regelwerk für die auf einen Zusammenhang mit Zyklusstörungen, die mit Zusammenstellung der wissenschaftlichen Kennt- Unfruchtbarkeit in Verbindung gebracht werden kön- nisse erarbeitet. Nach einer speziellen Systematik (S) nen. Zu einem möglichen Zusammenhang zwischen der werden die Leitlinien in verschiedene Klassifikations- Tätigkeit in Schichtarbeit und der Entwicklung einer En- grade unterteilt – von S1 über S2e oder S2k nach S3. dometriose gibt es nur sehr wenige Studien. Die wissen- schaftliche Datenlage muss insgesamt als unzureichend eingeschätzt werden. Zugleich gibt es in den recherchier- ten Studien aber auch Anhaltspunkte für einen entspre- verschiedene circadiane Rhythmen neben Blutdruck und chenden Zusammenhang, insbesondere bei häufigen Körpertemperatur auch intra-amniotischen Flüssigkeits- Nachtschichten. In der S2k-Leitlinie wird daher bei be- druck und Gebärmutterkontraktion. Unter anderem modu- stehendem Kinderwunsch mit entsprechender Behand- liert mütterliches Melatonin in der Schwangerschaft auch lung der Frau, insbesondere bei diagnostizierten Zyklus- den Redox-Status in der Plazenta. Vor diesem Hintergrund störungen oder Endometriose, empfohlen, die Tätigkeit wurde in der Leitlinie entsprechend die wissenschaftliche in Schichtarbeit mit dem behandelnden Gynäkologen zu Literatur zu veränderten Schwangerschaftsverläufen wie thematisieren und gegebenenfalls darauf hinzuwirken, Prä-Eklampsie, beziehungsweise zu Neugeborenen wie zu die Tätigkeit in Schichtarbeit auszusetzen. klein für Gestationsalter (small for gestational age, SGA), geringes Geburtsgewicht und Frühgeburt zusammengetra- gen. Während aufgrund der wissenschaftlichen Sachlagen zu Prä-Eklampsie und SGA keine Empfehlungen gegeben werden konnten, zeigten sich für geringes Geburtsgewicht und für Frühgeburten Hinweise auf tendenziell erhöhte Risiken bei Schicht- und Nachtarbeit in der Schwanger- schaft. In der Leitlinie wird daher für Schwangere empfoh- len, eine Tätigkeit in Nachtarbeit zu vermeiden. Aktuelle Sachlage und Ausblick Als eines der früh ausgewählten Themen bei der Erstel- lung der Leitlinie wurde das evidenzbasierte Kapitel zu Reproduktion bereits im Jahr 2016 finalisiert. Neuere Stu- dien zeigen weiterhin ein inkonsistentes Bild der Risiko- schätzer. So zeigte beispielsweise im Hinblick auf Früh- geburten eine registerbasierte dänische Studie keinen Zusammenhang mit Schichtarbeit (Specht et al. 2019). Verschiedene neuere Studien legen Zusammenhänge zwischen Schlaf- und Zyklusstörungen bei Schichtarbei- Schwangerschaft, Fötus und Mutterschutzgesetz terinnen und unerfülltem Kinderwunsch nahe, die man in zukünftigen Studien detaillierter untersuchen sollte Verschiedene Studien untersuchten auch, ob ein gerin- (Willis et al. 2019; Kang et al. 2019). Nicht unerwähnt ges Wachstum eines Fötus, das Geburtsgewicht oder der bleiben sollte, dass im Verlauf der Leitlinienerstellung Zeitpunkt der Entbindung mit Schicht- oder Nachtarbeit das Mutterschutzgesetz (MuSchG) reformiert wurde. Es assoziiert sind. Hintergrund ist auch hier, dass circadiane trat zum 1. Januar 2018 in Kraft und sieht vor, dass Betrie- Störungen das hormonelle Gleichgewicht möglicherwei- be eine schwangere oder stillende Frau nicht zwischen se beeinflussen könnten. In der Schwangerschaft regeln 20 und 6 Uhr beschäftigen dürfen. Unter bestimmten 18
IPA-Journal 02 | 2021 · Aus der Forschung Voraussetzungen kann eine Beschäftigung zwischen 20 Die Leitlinie ist auf der Website der AWMF unter und 22 Uhr jedoch genehmigt werden: Wenn sich die Frau → www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/002-030.html dazu ausdrücklich bereit erklärt und keine gesundheitli- abrufbar. chen Gründe oder auch Gefährdungen durch Alleinarbeit der Frau dagegensprechen. Die informierte Selbstbestim- mung steht hier besonders im Vordergrund. Auch in Zei- Die Autoren: ten mit gesteigerter Erreichbarkeit und Homeoffice sollten Dr. Sylvia Rabstein Schwangere darauf achten, dass überlange Arbeitszeiten IPA und Arbeiten bis in den späten Abend vermieden werden. Prof. Dr. Volker Harth, Dr. Claudia Terschüren Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin (ZfAM); Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf (UKE) Literatur AWMF. Leitlinie Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- Rabstein S, Harth V, Justenhoven C, Pesch B, Plöttner S, Heinze E et und Schichtarbeit. Registernummer 002 - 030. 2020. https://www. al. Polymorphisms in circadian genes, night work and breast cancer: awmf.org/leitlinien/detail/ll/002-030.html, zuletzt geprüft am results from the GENICA study. Chronobiol Int 2014; 31: 1115–1122. 05.05.2021. DOI: 10.3109/07420528.2014.957301. Behrens T, Rabstein S, Wichert K, Erbel R, Eisele L, Arendt M et al. Seibt A, Knauth P, Griefahn B. Arbeitsmedizinische Leitlinie der Shift work and the incidence of prostate cancer. A 10-year follow-up Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. of a German population-based cohort study. Scand J Work Environ Nacht- und Schichtarbeit. ASU 2006; 41: 390–397. Online verfügbar Health 2017; 43: 560–568. DOI: 10.5271/sjweh.3666. unter https://www.asu-arbeitsmedizin.com/sites/default/files/ ulmer/de-asu/document/file_201155.pdf. Harth V, Terschüren C. AWMF-Leitlinie „Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit“. Zusammenfassung der SIGN. Scottish Intercollegiate Guideline Network. Checklists. 2020. Leitlinie. ASU 2021; 5: 291–292. https://www.asu-arbeitsmedizin. Online verfügbar unter https://www.sign.ac.uk/what-we-do/metho- com/wissenschaft/zusammenfassung-der-leitlinie-awmf-leitlinie- dology/checklists/, zuletzt geprüft am 09.07.2021. gesundheitliche-aspekte-und-gestaltung. Specht IO, Hammer PE, Flachs EM, Begtrup LM, Larsen AD, Hougaard IARC Monographs Vol 124 group. Carcinogenicity of night shift KS et al. Night work during pregnancy and preterm birth – A large work. Lancet Oncol 2019; 20: 1058–1059. DOI: 10.1016/S1470- register-based cohort study. PloS one 2019; 14: e0215748. DOI: 2045(19)30455-3. 10.1371/journal.pone.0215748. Kang WY, Jang KH, Hyeong M, Ahn JS, Park WJ. The menstrual cycle Statistisches Bundesamt (Destatis). Bevölkerung und Erwerbs- associated with insomnia in newly employed nurses performing shift tätigkeit. Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung. Ergebnisse des work: a 12-month follow-up study. Int Arch Occup Environ Health Mikrozensus zum Arbeitsmarkt – 2019. Fachserie 1, Reihe 4.1. 2020. 2019; 22: 227–235. DOI: 10.1007/s00420-018-1371-y. Online verfügbar unter https://www.destatis.de/DE/Service/Biblio- thek/_publikationen-fachserienliste-1.html, zuletzt aktualisiert am Lehnert M, Beine A, Burek K, Putzke S, Schlösser S, Pallapies D et al. 28.08.2019, zuletzt geprüft am 20.07.2021. Vitamin D supply in shift working nurses. Chronobiol Int 2018; 35: 724–729. DOI: 10.1080/07420528.2018.1424719. Sun M, Feng W, WangF, Li P, Li M et al. Meta-analysis on shift work and risks of specific obesity types. Obesity Rev 2018: 28–40. DOI: Nielsen HB, Larsen AD, Dyreborg J, Hansen AM, Pompeii LA, Conway 10.1111/obr.12621. SH et al. Risk of injury after evening and night work – findings from the Danish Working Hour Database. Scand J Work Environ Health Willis SK, Hatch EE, Wesselink AK, Rothmann KJ, Mikkelsen EM, Wise 2018; 44: 385–393. DOI: 10.5271/sjweh.3737. LA. Female sleep patterns, shift work, and fecundability in a North American preconception cohort study. Fertil Steril 2019; 111: 1201- Rabstein S, Burek K, Lehnert M, Beine A, Vetter C, Harth V et al. Dif- 1210.e1. DOI: 10.1016/j.fertnstert.2019.01.037. ferences in twenty-four-hour profiles of blue-light exposure between day and night shifts in female medical staff. Sci Total Environ 2019; 653: 1025–1033. DOI: 10.1016/j.scitotenv.2018.10.293. 19
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