Flächenzerschneidung in Baden-Württemberg - Neuer Indikator zeigt: Das Land ist zerstückelt - Webarchiv of ...
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mi tZ Ne eit rei uauf Flächenzerschneidung in he lag n1 e Kurzinfo Baden-Württemberg 93 0- 199 Neuer Indikator zeigt: Das Land ist zerstückelt 8 I n Deutschland ist der Flächenver- brauch nicht zu bremsen: Zwi- schen 1993 und 1997 wurden pro den Maßnahmen nicht ausreichen, um die Entwicklung umzukehren. Sie sind deshalb zu verbessern. Tag 120 Hektar bebaut. Im Jahr 1998 waren es 124 Hektar täglich und Verbesserte Erfassung der 1999 stieg die alltägliche Versiege- Zerschneidungswirkung von lungsrate auf 129 Hektar, das ent- Verkehrswegen spricht einer Fläche von 200 Fußball- feldern. Der Anteil Baden-Württem- Aus diesem Grund wurde an der bergs beträgt dabei rund 11 Hektar Akademie für Technikfolgenabschät- pro Tag. zung in Baden-Württemberg (TA- Diese Entwicklung steht im Kontrast Akademie) eine neue Messgröße, die zu Bemühungen, den Flächenver- „effektive Maschenweite“ ent- brauch einzudämmen: So hatte der wickelt. Mit dem neuen Berechnungs- Sachverständigenrat für Umweltfra- index lässt sich Flächenzerschnei- gen bereits 1974 vor den Folgen des dung besser als bisher quantifizieren ungezügelten Bodenverbrauches und bewerten. Die effektive Ma- und der fortschreitenden Flächen- schenweite kann damit als Zer- zerschneidung gewarnt. Im Jahr schneidungsindikator eingesetzt 1985 forderte auch die Bundesregie- werden und zu einer wirksameren rung in ihrer Bodenschutzkonzep- Kontrolle beitragen. In Zusammen- tion eine Trendwende. Mit einem arbeit mit dem Institut für Land- Schwerpunktprogramm strebt das schaftsplanung und Ökologie, Uni- Bundesministerium für Umwelt, Na- versität Stuttgart (ILPÖ) und der Lan- turschutz und Reaktorsicherheit seit desanstalt für Umweltschutz (LfU) 1998 an, die Flächeninanspruchnah- wendete die TA-Akademie die Mess- me durch Siedlungs- und Verkehrs- größe auf Baden-Württemberg an, flächen bis 2020 auf 30 Hektar pro berechnete Zeitreihen für die ver- Tag zu reduzieren. Auch der aktuelle gangenen 70 Jahre und erstellte ei- Umweltplan Baden-Württemberg ne Karte zur Landschaftszerschnei- empfiehlt, den Flächenverbrauch bis dung. Aus Interviews mit Experten 2010 deutlich zurückzuführen. wurden zudem Verbesserungsvor- Die immer rascher voranschreitende schläge für bestehende Entschei- Versiegelung und Zerschneidung be- dungsverfahren abgeleitet. legen allerdings, dass die bestehen-
In Deutschland beanspruchten Siedlungen und Verkehr 1997 Hauptverkehrsstraße, mit über 65 11,8 % der Flächen. In Baden-Württemberg waren es im Dezibel, zu gesundheitlichen Beein- gleichen Jahr 12,7 %. Den höchsten Anteil an Siedlungs- und trächtigungen und fördert nachweis- Verkehrsflächen weisen das Saarland mit 19 %, Nordrhein- lich das Risiko, an Herzkreislaufer- Westfalen mit 20 % und die Stadtstaaten auf. In Verdichtungs- krankungen, wie Angina Pectoris räumen liegt der Anteil bei rund 50 %. Siedlungs- und Verkehrs- oder Herzinfarkt zu erkranken. nutzung stellen mittlerweile die drittgrößte Art der Bodennut- Lärm, Verkehr und die Zerschnei- zung in der Bundesrepublik dar. Umweltbundesamt 2000 dung der Landschaft wirken sich zu- dem äußerst negativ auf die biolo- Flächenzerschneidung und ihre Auswirkungen gische Vielfalt aus (Glitzner et al., 1999, Holgang et al., 2000). So beein- D ie Flächenzerschneidung hat vielschichtige Ursachen und komplexe Wirkungen (Tab. 1). trächtigt beispielsweise der Verkehrs- lärm das Brutverhalten der Feldlerche: An Straßen mit einem Verkehrsauf- Ihre Zunahme ist eng mit dem wach- kommen von 50 000 Kraftfahrzeugen senden Verkehr verbunden. In der pro Tag wurde bei einer Durch- Autofahrernation Deutschland wird schnittsgeschwindigkeit von 120 km/h Mobilität hoch geschätzt. So wun- ein deutlicher Rückgang der Feldler- dert es auch nicht, dass Deutschland che bis zu einer Entfernung von 1,5 den höchsten Motorisierungsgrad km nachgewiesen (Reijnen, 1995). der Welt aufweist: Im Jahr 2000 wa- ren bundesweit rund 53,6 Millionen Bedrohung der Artenvielfalt Fahrzeuge zugelassen, das entspricht 515 PKW je 1000 Einwohner. Und Für sehr viele Tiere und zum Teil der PKW-Bestand wird weiter wach- auch für Pflanzen sind Straßen und sen: nach Schätzungen ist 2020 mit Eisenbahntrassen kaum zu überwin- über 60 Millionen Fahrzeugen in dende Barrieren. Frösche, Kröten, Deutschland zu rechnen. Igel, Marder, Feldhasen, Fasane, Dachse, Rotwild und sogar Fleder- Kehrseiten der Mobilität mäuse bleiben beim Überqueren von Straßen häufig „auf der Strecke“. Der wachsende Verkehr bringt zu- Auch für Insekten kann die Zerschnei- nehmende Belastungen für Gesund- dungswirkung sehr groß sein, wie heit und Umwelt mit sich. So sind Untersuchungen an einer Heu- Kraftfahrzeuge eine maßgebliche schreckenart exemplarisch belegten: Quelle für Schadstoffemissionen1. so war die Große Goldschrecke am Über den Ausstoß von Treibhausga- Autobahnkreuz Stuttgart nicht in sen beeinflussen sie die globale Kli- der Lage, die Fahrbahn zu überwin- maentwicklung, verursachen regio- den. Bereits Zubringerstraßen mit ei- Deutschland hat nach nale Probleme (bodennahe Ozonbil- ner Breite von 10 Metern verhinder- Belgien und Holland dung) und führen durch Stickoxide, ten, dass die Heuschrecken-Art Le- das dichteste Fernver- Benzol und Dieselruß zu lokalen Be- bensräume auf der „anderen Seite“ kehrsnetz Europas. einträchtigungen in Ballungsgebie- der Straßen dauerhaft besiedeln Zwischen 1991 und ten. Gleichzeitig stresst der Ver- konnte (Reck und Kaule, 1993). 1996 nahmen die kehrslärm die Bevölkerung. Mehr als Die Straßen spalten die Landschaft in Bundesautobahnen und die Hälfte der Deutschen empfinden Inseln, beeinträchtigen die Verbrei- Kreisstraßen um rund Lärm, allem voran den Straßenlärm, tung von Arten und isolieren einzelne 35 % zu. Der Anteil der als Belastung - 15 %, also rund 12 Lebensgemeinschaften von der Ge- Bundes- und Landes- straßen stieg um 25 %. Millionen Bürger, fühlen sich sogar samtpopulation. Inzuchteffekte und Bundesministerium „stark belastet“. So führt bereits der genetische Verarmung sind die Fol- für Verkehr, 1996 dauerhafte Geräuschpegel einer ge. Die Restpopulationen reagieren 1 Siehe TA-Arbeitsbericht Nr. 146 „Art und Menge von stofflichen Emissionen aus dem 2 Verkehrsbereich“ Th. Wiedmann, J. Kersten und K. Ballschmiter, Mai 2000
Tabelle 1: Beispiele für Auswirkungen der Landschaftszerschneidung durch linienhafte technische Infrastrukturen (ohne die Wirkungen der Baustelle wie Erdaushub und -ablagerungen, Erderschütterungen, akustische und optische Störungen). „X“ kennzeichnet den jeweiligen Typ der Landschaftsveränderung. Angegeben sind Folgewirkungen aus nur drei von sieben Problemfeldern. Folgewirkungen von Typ des Landschaftsverbrauchs Problemfeld Linienhaften technischen Flächenbedarf strukturelle Infrastrukturanlagen direkter indirekter Veränderungen Tier- und • Tierverluste durch Straßentod (z. T. auch X Pflanzenwelt infolge Lockwirkung: „Falleneffekt“) • Unruhewirkung, Verlust von Rückzugs- X X räumen • Habitatverkleinerungen und -verluste; X X z. T. auch Neuschaffung • Veränderungen des Nahrungsangebotes X (z. B. infolge von nächtlichen Kaltluftseen verringertes Nahrungsangebot für Fledermäuse) • Barriereeffekt X X • Blockierung von Ausbreitungswegen, X Verhinderung von Wiederbesiedelungen • Trennung und Isolation von Teilhabitaten, X Zerteilung von Populationen • Unterbrechung der Metapopulations- X dynamik, genetische Isolation, Inzucht- effekte, Abbruch evolutionärer Entwick- lungsprozesse • Unterschreitung von Minimalarealen, X Artenverluste • Ausbreitungsbänder, Eindringen neuer X X Arten, z. T. als Infektionswege Landschafts- • Verlärmung, optische Reize X bild • „Verstraßung“, „Vermastung“ und X X „Verdrahtung“ der Landschaft • Gegensätze und Brüche; aber z. T. auch X X X Belebung der Landschaft (z. B. durch Alleen) Folgen für • Folgen der Erschließung durch Straßen X X die Land- (z. B. Verkehrszunahme, erhöhter Sied- nutzung lungs- und Mobilitätsdruck) • Flurbereinigung (v. a. Zweckflurbe- X X reinigung) • Qualitätsveränderungen des Erntegutes X entlang von Straßen • Verlärmung, Verkleinerung und X X Zerteilung von Erholungsgebieten • weitere Nutzungskonflikte X X 3
„In den letzten 100 dadurch weniger flexibel auf Um- zerschneidung damit zu den Haupt- Jahren stieg die Bevöl- weltveränderungen und sterben ursachen für den starken Rückgang kerung in mittleren leichter aus. Der Wegfall einzelner der Arten- und Lebensraumvielfalt in Städten Baden-Würt- Arten kann sich wiederum negativ Mitteleuropa. tembergs um den Faktor auf komplexe Nahrungsnetze aus- 3, der Bodenverbrauch wirken. Schließlich führen das be- Beeinträchtigung von Ressourcen aber um den Faktor 50.“ grenzte Nahrungsangebot und die Prof. Dr. Karl Stahr, Universität Hohenheim geringen Ausweichmöglichkeiten in Die Liste der Folgewirkungen von den „Landschaftsinseln“ zu erhöhter Landschaftszerschneidung lässt sich Konkurrenz zwischen Arten und weiter fortsetzen. So steigt mit dem zwischen den Individuen einer Art. Bau von Siedlungen und Straßen Seltene Spezialisten werden dabei der Bodenverbrauch. Wichtige leicht durch weit verbreitete, an- Funktionen des Bodens - etwa als spruchslose Arten verdrängt. Die Wasserspeicher oder Wasserfilter - Zwischen 1965 und Folge ist eine fortschreitende Ver- werden dadurch blockiert. Auch das 1998 stieg die be- armung der biologischen Vielfalt. Landschaftsbild und der Erholungs- anspruchte Wohnfläche Neben der Intensivierung der Land- wert einer Landschaft werden durch pro Einwohner von wirtschaft, den hohen Stickstoffein- die zunehmende Zerschneidung 22 m2 auf 39 m2. trägen und der Nivellierung der negativ beeinträchtigt. Statistisches Bundesamt Wasserverhältnisse zählt die Flächen- Wie ist die Flächenzerschneidung zu bremsen? I n der Praxis stößt die Kontrolle der Flächenzerschneidung auf Schwie- rigkeiten. Kurzfristig erfahrbare Kri- der Genehmigung neuer Verkehrs- wege häufig höher gewichtet als das individuell kaum erlebbare Kriterium terien, wie die Schaffung von Ar- der biologischen Vielfalt. beitsplätzen, Verkehrsentlastungen, Selbst in Entscheidungs- bzw. Ein- Standortentwicklung oder kommu- griffsverfahren wird der Umwelt- nale Steuereinnahmen werden bei schutz nicht ausreichend berücksich- tigt, wie Experteninterviews zeigten, die von der TA-Akademie durchge- führt wurden (s. Kasten Seite 5). Ist beispielsweise über den Bau einer Straße zu entscheiden, orientiert man sich bislang an den konkreten Aus- wirkungen des Eingriffs. Die ökolo- gischen Folgen lassen sich jedoch nach dem heutigen Stand des Wissens nur zum Teil genau vorher- sagen, da sie auf hoch komplexen Wechselwirkungen beruhen. Das gilt besonders für langfristige Wirkungen und für Summenwirkungen, die sich aus vielen kleinen Eingriffen erge- ben. Unsichere, komplexe und nicht prognostizierbare Auswirkungen werden in der Eingriffsabwägung nur Foto: Andreas Lobe 4
unzureichend berücksichtigt. Davon sind besonders „normale Durch- Leitfaden-Interviews schnittslandschaften“ betroffen. Die TA-Akademie führte mit 14 Fachleuten aus Verkehrspla- nung, Naturschutz und Landschaftsplanung Leitfadeninter- Nachbesserungspflicht views durch. Die Befragten waren mit der Abwägung und der Vorbereitung von landschaftszerschneidenden Eingriffen be- Wenn man die ökologische Wirkung traut. aber nicht exakt analysieren und Die Interviews verdeutlichten, dass die Experten im Rahmen vorhersagen kann, muss man nach der Eingriffsverfahren viele Faktoren bei ihrer Abwägung be- besser geeigneten oder ergänzen- rücksichtigen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den messba- den Konzepten suchen. Eine Alter- ren Auswirkungen. Offene Fragen, die durch die Umweltver- native stellt das Konzept der Um- träglichkeitsprüfung nicht beantwortet werden konnten, so- weltgefährdung dar (Scheringer et wie die verbleibenden Unsicherheiten über die Folgewirkun- al., 1994; Jaeger, 1998 ). Es orientiert gen wurden aber systematisch unterbewertet und aus dem sich am Vorsorgeprinzip. Danach sol- Entscheidungsverfahren ausgeblendet. Im gängigen Verfah- len Eingriffe unterbleiben bzw. im ren bleiben schwer prognostizierbare Folgen auf die Nah- geringst möglichen Umfang durch- rungsnetze oder die genetischen Austauschbeziehungen geführt werden, wenn man ihre Fol- weitgehend unberücksichtigt (Jaeger, 2000b, 2002). Das heißt, gen nicht genau vorhersagen kann, Risiken einer abnehmenden Artenvielfalt führen im Eingriffs- aber ein begründeter Verdacht be- verfahren nicht zu einer Eindämmung der Flächenzerschnei- steht, dass die Tier- und Pflanzen- dung. welt dadurch gefährdet wird. Neben Mehrere Befragte befürworten deshalb die Einführung von einer begründeten Prognose über Richtwerten zur Landschaftszerschneidung. Diese können im Folgewirkungen sollten in der Ein- Eingriffsverfahren zur Bewertung und Begründung herange- griffsabwägung deshalb künftig An- zogen werden und zu einem Ausgleich bestehender Schwä- zeichen bzw. Indikatoren für poten- chen beitragen. Ein Zerschneidungsrichtwert sollte dabei re- zielle Gefahren berücksichtigt wer- gionale Unterschiede berücksichtigen (Jaeger, 2001a). den. Für die Entwicklung solcher Ge- (Siehe Arbeitsbericht Nr. 167 oder Internet www.ta-akademie.de). fährdungsindikatoren besteht weiterer Forschungsbedarf. Zusätzlich müsste im Falle eines Ein- alle kommerziell für Ausgleichsmaß- griffs, etwa dem Bau einer Straße, nahmen angebotenen Amphibien- regelmäßig überprüft werden, wie zäune die gewünschte Leitfunktion sich der Bestand wichtiger Arten im an Straßen erzielten und die zer- betroffenen Gebiet entwickelt. Ist schneidende Wirkung von Straßen tatsächlich ein Artenrückgang zu deshalb nicht genügend ausgleichen verzeichnen, muss der Verursacher (Frey und Niederstraßer, 2000). Die die Verantwortung dafür überneh- Studie hatte zur Folge, dass einige men und den Schaden durch geeig- der getesteten Anbieter ihre Pro- nete Maßnahmen nachbessern bzw. dukte stark verbesserten. Das war ausgleichen. Dies würde bedeuten, möglich, weil in der Studie wichtige dass die Genehmigung eines Ein- Funktionskriterien und Standards er- griffs an eine Nachbesserungspflicht arbeitet worden waren. zu koppeln ist. In der Praxis hat es sich zudem als problematisch erwiesen, dass der Er- folg von Ausgleichsmaßnahmen nicht belegt bzw. überprüft werden muss. „In der Praxis gilt die unausgesprochene Regel: Was nicht nach- So zeigte beispielsweise eine Studie gewiesen werden kann, gilt als Spekulation. Eine Spekulation ist der Bezirksstelle für Natur- und Land- nicht seriös. Und was nicht seriös ist, wird nicht berücksichtigt.“ schaftsschutz in Karlsruhe, dass nicht Dr. Jochen Jaeger, TA-Akademie 5
Der Zerschneidungsindex „effektive Maschenweite“ meff In den Experteninterviews der TA- Der Zerschneidungsindex meff kann Akademie hatten mehrere der Be- interpretiert werden als die Möglich- fragten aus Verkehrsplanung, Natur- keit, dass sich zwei Tiere einer Art in schutz und Landschaftsplanung an- einem Gebiet begegnen können. Je gegeben, dass Richt- und Grenzwer- mehr Barrieren wie Straßen oder te die Bewertung bei der Eingriffs- Schienen die Landschaft zerschnei- abwägung erleichtern würden. Da- den, desto geringer ist die Wahr- für werden aber geeignete Indika- scheinlichkeit eines Kontaktes. Die toren oder Messgrößen benötigt, die meff drückt damit aus, wie viel Le- Zerschneidungssituationen differen- bensraum ein Tier besitzt, um sich ziert beschreiben. In Kooperation zum Beispiel mit Nahrung zu versor- mit der Eidgenössischen Technischen gen, einen Fortpflanzungspartner zu Hochschule Zürich (ETH) entwickelte finden oder einem Konkurrenten Jochen Jaeger von der TA-Akademie auszuweichen. Die Messgröße be- einen neuen Berechnungsindex, die schreibt damit die Überlebensbedin- sogenannte effektive Maschenweite gungen von Arten in der Region. Im meff (s. Kasten unten). Strohgäu, im Landkreis Ludwigsburg, ist seit Beginn des Jahrhunderts die effektive Maschengröße der verblei- Effektive Maschengröße meff benden Lebensräume von acht auf drei Quadratkilometer gesunken. Die Definition der effektiven Maschenweite meff folgt dem Der Wert für ganz Baden-Württem- Begriff des Kohärenzgrades C, der die Wahrscheinlichkeit da- berg sank seit 1930 von 22,9 km2 auf für angibt, dass zwei beliebige Punkte, die in einem Gebiet 13,7 km2 heute. Das ist ein Verlust liegen, nach der Zerteilung des Gebietes noch gemeinsam in von 40 % innerhalb von 70 Jahren. einer Fläche liegen. Dieser Ansatz führt zu folgender Berech- Parallel zur Zerstücklung der Lebens- nungsformel (Jaeger 2001b): räume sank die Artenvielfalt in Ba- den-Württemberg. So verringerte sich etwa der Bestand des Raubwür- gers auf Grund verschiedener Fakto- ren innerhalb der letzen 30 Jahre von 900 auf landesweit 30 Brutpaare. 2. Die Multiplikation mit der Größe 1. Dieser Teil der Formel gibt Neben der Beschreibung der effek- des Gebietes rechnet die Wahr- die Wahrscheinlichkeit an, tiven Lebensraumgröße oder Ma- scheinlichkeit in eine Fläche um. dass die beiden Punkte in Diese Fläche gibt dann die Größe derselben Teilfläche liegen. schenweite weist die Methode deut- der „Maschen“ eines regelmäßigen liche Vorteile gegenüber etablierten Netzes mit dem gleichen Zerschnei- dungsgrad an und lässt sich mit an- Methoden auf, die vor allem die Ge- deren Gebieten vergleichen. samtlänge von Verkehrswegen in ei- nem Gebiet messen oder die Anzahl Dabei bezeichnen n = Zahl der verbleibenden Flächen, Fi = Flä- von unzerschnittenen Räumen abbil- cheninhalt von Fläche i, Fg = Gesamtfläche der untersuchten den, die größer als 100 km2 sind. Da- Region, welche in n Flächen oder „Patches“ zerteilt wurde. bei werden diese Räume von Stra- ßen begrenzt, die eine durchschnitt- Die Berechnung der Flächenzerschneidung in Baden-Württemberg liche Verkehrsmenge von über 1000 beruht auf ATKIS-Daten (Amtliches Topographisches-Kartographisches Fahrzeugen in 24 Stunden aufwei- Informationssystem). Sie wurde mit den GIS-Programmen ArcView sen. Die neue Messgröße fasst die In- und ArcInfo berechnet (GIS: Geographisches Informationssystem).(Sie- formationen über Landschaftszer- he Arbeitsbericht Nr. 214 oder Internet www.ta-akademie.de). schneidung anschaulich in einem einzigen Wert zusammen. Sie liefert 6
zuverlässige Zerschneidungsdaten zur Entwicklung von regionalen auch von großen Räumen, wie Ba- Richt- und Grenzwerten herange- den-Württemberg. Neben Bundes- zogen werden. Sie lässt sich auch als und Kreisstraßen erfasst die effek- Indikator für Artenvielfalt einsetzen. tive Maschenweite zusätzlich Ge- Die Methode besitzt zudem ein meindestraßen und verschiedene hohes Entwicklungspotenzial: sie Schienensysteme. Diese konnten aus kann rechnerisch mit Daten zur Qua- methodischen Gründen bisher nicht lität von Lebensräumen und zur berücksichtigt werden, obwohl sie Stärke von Barrierewirkungen Lebensräume genauso zertrennen (z.B. Straßenbreite oder Verkehrsbe- wie die Bundes- oder Landesstraßen. lastung) verknüpft werden und lässt sich somit auch als Indikator für Indikator für Artenvielfalt Artenvielfalt einsetzen. Bei der Planung einzelner Strecken oder bei Die effektive Maschenweite ist der Konzeption von Verkehrsnetzen damit ein aussagekräftiger Zer- könnte sie Umweltverträglichkeits- schneidungsindikator und kann prüfungen sinnvoll ergänzen. Luftbilder: Weinstadt/Remshalden (1956/1989) aus Südost. Oben ist die neue Bundes- straße B29 gerade im ein- spurigen Bau, unten hat sie sich bereits zum autobahn- artigen Verkehrsverband entwickelt. Bilder: Luftbildarchiv Albrecht Brugger bei der Landesbildstelle Württemberg 7
Flächenzerschneidung in Baden-Württemberg, heutiger Stand G emeinsam mit dem Institut für Landschaftsplanung und Ökolo- gie der Universität Stuttgart (ILPÖ) Trinkwassersituation, indem sie die Grundwasserneubildung fördern und zur Reinigung des Nieder- und der Landesanstalt für Umwelt- schlagswassers beitragen. schutz (LfU) berechnete die TA-Aka- Die Verdichtungsräume Mannheim, demie auf der Basis der Messgröße Stuttgart, Ulm, Karlsruhe, Konstanz meff die Zerschneidungsdaten für und Heilbronn sind am stärksten Baden-Württemberg. parzelliert. Daneben liegen aber auch Kreise an der Spitze der Zer- Ökologischer Flickenteppich schneidungsskala, die jenseits der ur- banisierten Zentren liegen, wie der Der Südwesten Deutschlands ist da- Bodenseekreis oder der Kreis Hohen- nach wesentlich stärker zerstückelt lohe (Abb. 3). In diesen Gebieten als bisher angenommen. Mittler- steht den Arten rechnerisch nur weile existieren nur noch sechs zu- noch eine effektive Maschenweite sammenhängende Flächen im Land, zwischen 1,5 und 5 Quadratkilome- die größer als 100 Quadratkilometer tern zur Verfügung (Jaeger et al., sind und nicht durch Straßen oder 2001). Diese Berechnung belegt, dass Bahnstrecken zerschnitten werden die Flächenzerschneidung nicht pa- (s. Kartenbeilage). rallel zur Bevölkerungsdichte eines Große unzerschnittene Räume beste- Kreises verläuft. So ist die effektive hen in Baden-Württemberg lediglich Maschenweite im Kraichgau höher noch im Nordschwarzwald, auf der als im Bodenseeraum oder dem Schwäbischen Alb und im Schönbuch Westallgäuer Hügelland, obwohl die (Abb. 2). Unzerschnittene verkehrs- Bevölkerungsdichte in beiden Na- arme Räume sind nicht nur für den turräumen wesentlich geringer ist. Erhalt der biologischen Vielfalt be- Die höhere Zerschneidung lässt sich deutsam, sie wirken sich durch Luft- dort auf die mangelnde Verkehrs- zirkulation und Luftaustausch positiv bündelung zurückführen. auf das Klima nahegelegener Bal- lungsgebiete aus. Sie ermöglichen Unzerschnittene Räume im Erholungssuchenden Tageswande- Schwarzwald rungen ohne Störung durch Ver- kehrslärm. Zudem verbessern sie die Die Regierungsbezirke sind unter- schiedlich zerschnitten (Abb. 1): Stutt- gart ist am stärksten, Freiburg am we- nigsten zerteilt. Freiburg und Karls- ruhe profitieren dabei von den unzer- schnittenen Flächen im Schwarzwald, denn große unzerschnittene Räume wirken sich besonders positiv auf die effektive Maschenweite aus. Grafik: Heide Esswein & Jochen Jaeger, TA-Akademie Abbildung 1: Effektive Maschenweite der vier Regierungsbezirke Baden-Württembergs* * als Trennelemente (Barrieren) werden Autobahnen, Bund-, Landes-, Kreis- und Gemeindeverbind- ungsstraßen, Bahnlinien, Flüsse ab 6 m Breite, Siedlungsflächen und Seen berücksichtigt. Die senkrechte Linie bezeichnet die effektive Maschenweite Baden-Württembergs von 13,7 km2. 8
Abbildung 2: Effektive Maschenweite der 66 Naturräume Baden-Württembergs* * als Trennelemente (Barrieren) werden Autobah- nen, Bund-, Landes-, Kreis- und Gemeindeverbin- dungsstraßen, Bahnlinien, Flüsse ab 6 m Breite, Siedlungsflächen und Seen berücksichtigt. Die senkrechte Linie bezeichnet die effektive Maschenweite Baden-Württembergs von 13,7 km2. Grafik: Heide Esswein & Jochen Jaeger, TA-Akademie 9
Abbildung 3: Effektive Maschenweite der 44 Landkreise Baden-Württembergs* * als Trennelemente (Barrieren) werden Autobah- nen, Bund-, Landes-, Kreis- und Gemeindeverbin- dungsstraßen, Bahnlinien, Flüsse ab 6 m Breite, Siedlungsflächen und Seen berücksichtigt. Die senkrechte Linie bezeichnet die effektive Maschenweite Baden-Württembergs von 13,7 km2. Grafik: Heide Esswein & Jochen Jaeger, TA-Akademie 10
Wie sah es vor 70 Jahren aus? G emeinsam mit dem ILPÖ und der LfU hat die TA-Akademie die Zerschneidungsentwicklung bis in das Jahr 1930 zurückverfolgt. Dazu wurden historische Karten zu vier früheren Zeitpunkten analysiert (1930, 1966, 1977, 1989). Die Ergeb- nisse wurden im Juni 2002 in einem Arbeitsbericht veröffentlicht und können dort ausführlich nachgele- sen werden (Esswein et al. 2002). Diese Untersuchung zählt zu den genauesten, welche je für ein deut- sches Bundesland erstellt worden sind. Sie hat das größte zeitliche Untersuchungsfenster und ist die erste Studie, die den Beitrag des steigenden Verkehrsaufkommens zur Landschaftszerschneidung ein- bezieht. Die Zerschneidung der Landschaften in Baden-Württemberg hat seit 1930 drastisch zugenommen und nimmt weiter zu. Der Wert der effektiven Maschenweite ist landesweit um 40 % Abbildung 4: zurückgegangen, von 22,9 km2 auf Entwicklung des Zerschneidungsgrades in Baden-Württem- 13,7 km2 (Tab. 2). Es kommt noch berg, gemessen mit der effektiven Maschenweite, meff (in km2), im Vergleich mit und ohne Berücksichtigung der Lärm- hinzu, dass der Ausbaustandard und bänder um Straßen. Als Trennelemente (Barrieren) werden damit die Nutzung der Straßen heu- Autobahnen, Bundes-, Landes-, Kreis- und Gemeindeverbin- te weitaus höher sind als vor 50 Jah- dungsstraßen, Bahnlinien, Flüsse ab 6 m Breite, Siedlungsflä- chen und Seen berücksichtigt. Der Wert für 1998 mit Berück- ren. Die Zerschneidungswirkung hat sichtigung der Lärmbänder liegt noch nicht vor, er wird an- somit in Wirklichkeit noch stärker lässlich der kommenden Ausgabe des Statusberichtes 2003/04 berechnet werden. zugenommen, als es die Werte der effektiven Maschenweite aufzeigen. (Grafik: Heide Esswein & Jochen Jaeger, TA-Akademie) Zeitpunkt Effektive Größte Flächen > 100 km2 Flächen > 50 km2 Maschenweite verbleibende Anzahl (Gesamtfläche / in Anzahl (Gesamtfläche / in meff Fläche % der Landesfläche) % der Landesfläche) 1930 22,92 km2 206,2 km2 11 (1497 km2 / 4,2 %) 52 (4067 km2 / 11,8 %) 1966 19,46 km 2 161,5 km 2 7 (975 km / 2,7 %) 2 39 (3068 km2 / 8,6 %) 1977 17,80 km2 161,4 km2 7 (973 km2 / 2,7 %) 36 (2875 km2 / 8,0 %) 1989 13,99 km 2 146,8 km 2 6 (753 km / 2,1 %) 2 23 (1941 km2 / 5,4 %) 1998 13,66 km2 146,7 km2 6 (752 km2 / 2,1 %) 22 (1880 km2 / 5,3 %) Tabelle 2: Daten zur Entwicklung der Landschaftszerschneidung Baden-Württemberg. Angegeben sind die effektive Maschenwei- te, die Größe der größten verbliebenen unzerschnittenen Fläche, die Zahl der Flächen >100 km2 und >50 km2 (die letzte Spalte „Flächen >50 km2“ bezieht die Flächen >100 km2 mit ein). Als Trennelemente (Barrieren) werden Autobahnen, Bundes-, Landes-, Kreis- und Gemeindeverbindungsstraßen, Bahnlinien, Flüsse ab 6 m Breite, Siedlungsflächen und Seen berücksichtigt (ohne Berücksichtigung des steigenden Verkehrsaufkommmens). 11
Berücksichtigung der Lärmbänder Einen Teil dieser zusätzlichen Zer- schneidungswirkung kann die effek- tive Maschenweite zum Ausdruck bringen, wenn die Verlärmungs- korridore um die Straßen berück- sichtigt werden. Die Breite der Lärm- bänder wird in Abhängigkeit von der Verkehrsstärke und der durch- schnittlichen Geschwindigkeit der Fahrzeuge berechnet. Für ein Ver- kehrsaufkommen von 50000 Kfz/Tag beträgt sie zum Beispiel zu jeder Seite 460 Meter für 90 km pro Stun- de und 870 Meter für 130 km pro Stunde (Reijnen et al. 1995). Damit ergibt sich landesweit in Baden- Württemberg bereits für 1989 ein Wert von 13,3 km2, d.h., unterhalb des aktuellen Wertes ohne Berück- sichtigung der Verkehrsstärke. Der heutige Wert mit Berücksichtigung der Verkehrs-stärke konnte aus Abbildung 5: technischen Gründen noch nicht Entwicklung der effektiven Maschenweite in den vier Regierungsbezirken ermittelt werden und wird zur Neu- von 1930 bis 1998. Als Trennelemente (Barrieren) werden Autobahnen, Bundes-, Landes-, Kreis- und Gemeindeverbindungsstraßen, Bahnlinien, ausgabe des Statusberichtes „Nach- Flüsse ab 6 m Breite, Siedlungsflächen und Seen berücksichtigt (ohne Be- haltige Entwicklung in Baden-Württ- rücksichtigung des steigenden Verkehrsaufkommmens). temberg” 2003/04 berechnet wer- (Grafik: Heide Esswein & Jochen Jaeger, TA-Akademie) den. Die Zahl der unzerschnittenen Gebiete größer als 100 km2 ist von elf im Jahr 1930 auf sechs reduziert worden. Der Anteil dieser Gebiete an der Landesfläche hat sich hal- biert: Er sank von 4,2 % auf 2,1 %. Der gleiche Trend ist bei den un- zerschnittenen Gebieten größer als 50 km2 zu beobachten, deren Anzahl Tabelle 3: Daten zur Entwicklung der Landschaftszerschneidung in den von 52 auf 22 verringert wurde. 4 Regierungsbezirken. Als Trennelemente (Barrieren) werden Autobahnen, Bundes-, Landes-, Kreis- und Gemeindeverbin- dungsstraßen, Bahnlinien, Flüsse ab 6 m Breite, Siedlungs- flächen und Seen berücksichtigt (ohne Berücksichtigung des steigenden Verkehrsaufkommmens). Regierungsbezirk Effektive Maschenweite (km2) Veränderung 1930 1966 1977 1989 1998 gegenüber 1930 Stuttgart 15,45 13,20 9,63 8,73 8,08 -48 % Tübingen 16,73 14,77 14,25 10,87 10,62 -37 % Karlsruhe 18,93 17,90 16,33 15,15 14,99 -21 % Freiburg 33,63 28,83 28,16 20,01 19,49 -42 % 12
In allen vier Regierungsbezirken ist der rückläufige Trend der effektiven Maschenweite zu beobachten. Die Reduktion der effektiven Maschen- weite seit 1930 liegt zwischen 21 % im Bezirk Karlsruhe und 48 % im Be- zirk Stuttgart (Tab. 3). In den 44 Landkreisen ist die Verrin- gerung der effektiven Maschenwei- te seit 1930 unterschiedlich stark. Die Verringerung übersteigt in man- chen Gebieten 60 %, und zwar in den Landkreisen Ulm, Karlsruhe/ Stadt und Göppingen (Tab. 4). Im Bodenseekreis, Hohenlohekreis und Rems-Murr-Kreis sowie in Heiden- heim, Heilbronn/Stadt, Pforzheim, Schwäbisch-Hall, Stuttgart und Waldshut wurde die effektive Ma- schenweite in den letzten 70 Jahren noch um mehr als die Hälfte redu- ziert. Lediglich in Freudenstadt, Ba- den-Baden und Rastatt ist die Ma- schenweite um weniger als 20 % verringert worden. In mehreren Kreisen sieht die Ent- wicklung noch deutlich negativer Abbildung 7: Zeitreihe zur Entwicklung der effektiven Maschenweite inner- aus, wenn man die Lärmbänder mit halb der Kreise Esslingen, Böblingen, Pforzheim und Mannheim berücksichtigt. Bereits 1989 liegen im Vergleich mit und ohne Berücksichtigung der Verkehrsstärke von 1930 bis 1998. (Grafik: Heide Esswein & Jochen Jaeger, TA-Akademie) Abbildung 6: Entwicklung der effektiven Ma- schenweite in 11 ausgewählten Landkreisen von 1930 bis 1998. Als Trennelemente (Barrieren) werden Autobahnen, Bundes-, Landes-, Kreis- und Gemeindeverbindungs- straßen, Bahnlinien, Flüsse ab 6 m Breite, Siedlungsflächen und Seen berücksichtigt (ohne Berücksichti- gung des steigenden Verkehrsauf- kommens). (Grafik: Heide Esswein & Jochen Jaeger, TA-Akademie) 13
dann die Werte der effektiven Ma- nach. Zunächst scheint sich nach dem schenweite tiefer als für 1998 ohne Bau neuer Verkehrswege nicht viel Lärmbänder. Beispiele sind Esslin- zu verändern. Erst mit der Zeit wird gen, Böblingen, Pforzheim und erkennbar, dass wichtige Prozesse im Mannheim. Ökosystem nicht mehr so ablaufen Was diese Daten für die Tier- und wie zuvor, was auf Dauer dazu führt, Pflanzenwelt bedeuten, wird da- dass sich die Artenzusammensetzung durch deutlich, dass die Roten Listen verschiebt und Arten verschwinden. der bedrohten Arten immer länger Es muss daher mit erheblichen Zeit- werden. Ausgestorben oder akut ge- verzögerungen zwischen dem Bau fährdet sind in Baden-Württemberg der Verkehrswege und erkennbaren heute unter anderem 75 % der Am- Auswirkungen für Populationen ge- phibien, 47 % der freilebenden Säu- rechnet werden. Insbesondere sind getiere, 38 % der Vogelarten, 38 % in den kommenden Jahrzehnten der Schmetterlinge und 28 % der weitere Artenverluste als Folge der Farn- und Blütenpflanzen (Gastel et bereits durchgeführten Landschafts- al., 1995). Die Abschätzung der Fol- eingriffe wahrscheinlich. Ein Reagie- gen wird dadurch erschwert, dass ren auf beobachtete Rückgänge von zahlreiche Tierarten auf die Habi- Populationen kann daher schon zu tatzerschneidung und -zerstückelung spät sein, weil die Landschaft bereits oft erst nach Jahrzehnten sichtbar so stark verändert worden ist, dass es reagieren. Für den Artenreichtum in sich nicht mehr rückgängig machen Feuchtgebieten weist dies die Arbeit lässt und Ersatzmaßnahmen nicht von Findlay und Bourdages (2000) mehr rechtzeitig wirksam werden. Kreis effektive Veränderung Kreis effektive Veränderung Maschenweite gegenüber Maschenweite gegenüber meff (km ) 2 1930 meff (km ) 2 1930 1930 1998 1930 1998 Alb-Donau-Kreis 14,49 8,98 -38 % Ludwigsburg 6,21 4,29 -31 % Baden-Baden 14,25 13.05 -8 % Main-Tauber-Kreis 14.06 8,69 -38 % Biberach 11,17 7,13 -36 % Mannheim 2,98 1,69 -43 % Böblingen 9,67 7,46 -23 % Neckar-Odenwald-Kr. 13,18 8,09 -39 % Bodenseekreis 9,38 3,82 -59 % Ortenaukreis 48,56 30,26 -38 % Brg.-Hochschwarzwald 24,48 18.65 -24 % Ostalbkreis 14,69 8,87 -40 % Calw 20,12 14,16 -30 % Pforzheim 6,08 2,55 -58 % Emmendingen 44,06 24,61 -44 % Rastatt 21,33 17,26 -19 % Enzkreis 7,38 5,42 -27 % Ravensburg 9,56 6,17 -35 % Esslingen 12,29 7,24 -41 % Rems-Murr-Kreis 14,57 6,21 - 57 % Freiburg im Brg.; St. 11,38 7,78 -32 % Reutlingen 22,32 15,91 -29 % Freudenstadt 26,63 24,60 -8 % Rhein-Neckar-Kreis 9,98 6,61 -34 % Göppingen 21,62 7,69 -63 % Rottweil 14,72 8,18 -44 % Heidelberg, Stadt 7,63 4,62 -39 % Schwäbisch Hall 11,31 5,51 -51 % Heidenheim 21,80 10,22 -53 % Schwarzwald-Baar-Kr. 15,86 10,25 -35 % Heilbronn 10,23 6,89 -33 % Sigmaringen 10,86 7,11 -35 % Heilbronn, Stadt 6,50 2,67 -59 % Stuttgart 3,59 1,63 -55 % Hohenlohekreis 10,26 5,01 -51 % Tübingen 20,20 14,80 -27 % Karlsruhe 13,21 7,25 -45 % Tuttlingen 20,20 11,61 -43 % Karlsruhe, Stadt 6,48 2,37 -63 % Ulm 7,02 2,30 -67 % Konstanz 9,20 4,95 -46 % Walshut 18,18 8,83 -51 % Lörrach 19,48 12,17 -38 % Zollernalbkreis 23,75 15,48 -35 % Tabelle 4: Daten zur Entwicklung der effektiven Maschenweite in den 44 Kreisen. 14
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Eine Trendwende - aber wie? D ie Flächenzerschneidung ist ein gesellschaftliches Problem. Um sie wirksam zu reduzieren, muss das Verursacher übernimmt im Rah- men des Genehmigungsverfahrens die Verantwortung für die Folgen Problembewusstsein und die Akzep- des Eingriffs. Diese Verpflichtung tanz von regulierenden Maßnahmen kann mit einer Versicherung für verbessert werden. unerwartete Folgen verbunden Zudem sollte die im Bereich der Ver- werden. Nachbesserungsmaß- kehrsplanung und der Raument- nahmen von Summenwirkungen, wicklung gängige bedarfsorientierte die keinem einzelnen Eingriff zu- Planung auf eine leitbildorientierte zuweisen sind, könnten aus der Planung umgestellt werden. Dabei Mineralölsteuer finanziert werden. wäre drei Entwicklungen entgegen- Die ökologischen Kosten der zuwirken, die die Flächenzerschnei- Zerschneidung könnten so allen dung maßgeblich fördern: Verkehrsteilnehmern entspre- 1. die fortschreitende Zersiedlung, chend ihrer Fahrleistung angelas- 2. die zunehmende Entmischung tet werden. von einst eng verflochtenen · Erarbeitung von Richtwerten für Standorten für Wohnen, Arbei- die Landschaftszerschneidung. ten, Einkauf und Freizeit und · Für den Zerschneidungsindex meff 3. das daraus resultierende Ver- könnten regionale Richtwerte kehrswachstum. entwickelt werden, die sich an der Parallel dazu wären die Einstufung Art des Naturraumes orientieren von unzerschnittenen Räumen als z. B. für verdichtete, ländliche schutzwürdiges Gut und die Einfüh- oder naturnahe Räume (Jaeger, rung eines Verschlechterungsverbots 2001a). für den Verbund von Biotopkomple- · Erstellen von bundesweiten Karten xen (landscape connectivity) sinnvoll. zur Landschaftszerschneidung so- Dabei könnte man sich bei der Netz- wie von Zeitreihen. Für andere betrachtung an der europäischen Flo- Bundesländer existieren derzeit ra-und-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH- noch keine so differenzierten Un- Richtlinie) orientieren. Zusätzlich zur tersuchungen wie für Baden- Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) Württemberg. für Einzeleingriffe könnte eine UVP für Summenwirkungen eingeführt Auf der Basis dieser Maßnahmen werden (Strategische Umweltprü- könnte das Wachstum des Flächen- fung), wie sie derzeit auf europäischer verbrauchs merklich reduziert und Ebene diskutiert wird. die damit verbundenen Umweltbe- Auf Basis der Experteninterviews lastungen begrenzt werden. schlägt die TA-Akademie darüber hinaus für bestehende Eingriffsver- fahren folgende Erweiterungen vor: Maßnahmen zur Verbesserung bestehender Eingriffsverfahren: · Regelmäßiges Monitoring der Ein- griffsfolgen und Erfolgskontrollen von Ausgleichsmaßnahmen. · Nachbesserungspflicht für nach- träglich festgestellte Schäden. Der 16
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Wissenschaftliche Leitung des Projekts Dr. Jochen Jaeger Wissenschaftliche Mitarbeit Heide Esswein (TA-Akademie), Dr. Hans-Georg Schwarz-von-Raumer (ILPÖ) Manfred Müller (LfU) Ausführliche Informationen zum Zerschneidungindex “effektive Maschenweite” und zu den Experteninterviews finden sich in Jaeger, Jochen: Quantifizierung und Bewertung der Landschaftszerschneidung. Arbeitsbericht Nr. 167 der TA-Akademie, Stuttgart Januar 2001 oder als pdf-download im Internet. Ausführliche Informationen zu den Zeitreihen finden sich in Esswein, Heide; Jaeger, Jochen; Schwarz-von-Raumer, Hans-Georg; Müller, Manfred: Landschaftszerschneidung in Baden-Württemberg. Zerschneidungsanalyse zur aktu- ellen Situation und zur Entwicklung der letzten 70 Jahre mit der effektiven Maschen- weite. Arbeitsbericht Nr. 214 der Akademie für Technikfolgenabschätzung, Stuttgart Juni 2002. oder als pdf-download im Internet. Die Ergebnisse zum aktuellen Zustand in Baden- Württemberg sind außerdem in Jaeger et al. (2001) dargestellt. Detaillierte Erläuterun- gen zum Zerschneidungsmaß „effektive Maschenweite“ und zu den Experteninter- views sind in Jaeger (2002) veröffentlicht. Die Arbeitsberichte können gegen eine Schutzgebühr von 7,70 EURO pro Exemplar zzgl. Porto- und Verpackungung bestellt werden bei: Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg Industriestraße 5 70565 Stuttgart Tel. 0711/9063-0 Fax 0711/9063-299 http://www.ta-akademie.de E-Mail: info@ta-akademie.de 19
Die TA-Akademie Die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg hat 1992 als Stiftung des öffentlichen Rechts in Stuttgart ihre Arbeit aufgenommen. Die Konzeption der TA-Akademie ist Resultat des Wunsches von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und gesellschaftlichen Gruppen, ein Forum für die Technik- folgenabschätzung im Land und eine Plattform für den öffentlichen Diskurs über die Chancen und Risiken von Technik zu institutionalisieren. Die Satzung der TA-Akademie legt als Aufgaben fest, „Technikfolgen zu erforschen, diese Folgen zu bewerten und den gesellschaftlichen Diskurs über Technikfolgenab- schätzung zu initiieren und zu koordinieren“. Die Stiftung ist in vier wissen- schaftliche Funktionsbereiche, den Bereich „Geschäftsführung und Öffentlich- keitsarbeit“ sowie den Querschnittsbereich „Diskurs“ gegliedert. Der Stiftungs- rat und das Kuratorium setzen sich aus Vertretern der Politik, der Wissenschaft und unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zusammen. Impressum Autoren der Kurzinfo: Dr. Brigitte Kranz Überarbeitung für die Neuauflage: Dr. Jochen Jaeger, Heide Esswein Layout: Antje Schöder Druck: Rudolph-Sophien-Stift gGmbH, Stuttgart a klein, Filderstadt (beigelegte Karte)
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