Forschungsbedarf in der Ergotherapie - Delphi-Studie
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Annette Nauerth / Ursula Walkenhorst Forschungsbedarf in der Ergotherapie – Delphi-Studie Forschung in der Ergotherapie am Beginn der Entwicklung Bisher gibt es in Deutschland verglichen mit den angelsächsischen Ländern wenig Forschung aus der Ergotherapie für die Ergotherapie. Stattdessen wird gelegentlich über die Ergotherapie geforscht von Nicht-Ergotherapeu- ten. Mit der Etablierung von Studiengängen im Bereich der Ergotherapie wird sich dies ändern. Dann wird auch im Bereich der Ergotherapie eine eigene Forschung entwickelt werden (müssen). Allerdings wird es noch ei- nige Zeit dauern, bis sich eine ausgedehnte Forschungstätigkeit zeigen wird, denn die Aufbauarbeit von Studiengängen an Fachhochschulen lässt zu- nächst viel Energie in die konkrete Planungsarbeit am Aufbau der Studien- gänge selbst fließen. Der Aufbau einer neuen wissenschaftlichen Disziplin erfordert einerseits die Beschäftigung mit grundlegenden Themen, Theorien und Begrifflichkeiten (Grundlagenforschung), und andererseits die Erforschung konkreter, prakti- scher Fragestellungen und Themen (anwendungsorientierte Forschung). Die Grundlagenforschung bildet dabei die wissenschaftliche Fundierung im Sin- ne eines eigenen „body of knowledge“ während die anwendungsorientierte Forschung die Lösung und Bewältigung von Praxisproblemen in den Blick nimmt. Anwendungsorientierte Forschung wird auch als Praxisforschung bezeich- net, wobei der Begriff der Praxisforschung in der allgemeinen Diskussion in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Nach Sommerfeld (2003), der dies Problem für den Bereich der sozialen Arbeit analysiert hat, ist allen unterschiedlichen Bedeutungen gemeinsam, dass es um die Anwendungs- orientierung des gewonnenen Wissens, die gemeinsame Zielsetzung einer verbesserten Praxis, den Wunsch, die Lücke zwischen Wissenschaft und Praxis zu verringern und letztlich um die Reflexion von Wissen in personen- bezogenen sozialen Dienstleistungen geht (vgl. Sommerfeld, 2003). Er schlägt daher vor, diese Bedeutungen zu synthetisieren und entwickelt eine Konzeption der „kooperativen Praxisentwicklung“ für den Bereich der So- zialen Arbeit (Sommerfeld 2003, 232). Gemeint ist damit ein Ansatz, der voraussetzt, dass die jeweiligen Akteure aus Wissenschaft und Praxis als Träger je unterschiedlicher Wissensformen und Wissenskulturen in einem konkreten kooperativen Problemlösungsprozess zeitlich begrenzt zusam- 113
Annette Nauerth / Ursula Walkenhorst menarbeiten. Die entwickelten Erkenntnisse werden jeweils wieder in das eigene System zurückgeführt. Ziel ist es, die unmittelbare Problemlösungs- kapazität der Praxis zu steigern bzw. Impulse für die weitere Wissenspro- duktion zu liefern. Dabei werden die Vorteile einer Praxisforschung u. a. in folgenden Aspek- ten gesehen (Kirkevold 2002, 73): a) sie legitimiert die Praxis bzw. macht die Legitimation für die existieren- de Praxis sichtbar, b) sie schafft eine Grundlage für die Reflexion der existierenden Praxis, c) sie ist ein Ausgangspunkt für Veränderungen durch die Erkenntnis neuer Handlungsmöglichkeiten, d) sie gibt einen Einblick in die Patientenperspektive und ermöglicht de- ren Berücksichtigung im professionellen Handeln. Forschung sollte jedoch nicht nur die Themen der Praxis aufgreifen und Lösungen für Praxisprobleme aus der Hochschulperspektive suchen, son- dern Forschungsprojekte sollten in und mit der Praxis gemeinsam entwik- kelt und durchgeführt werden. Ein solches Vorgehen sichert das Interesse an Forschung in der Praxis und erleichtert so den Transfer von Forschungs- ergebnissen in die berufliche Praxis. Darüber hinaus bewirkt eine enge Zu- sammenarbeit die Möglichkeiten eines evidenz-basierten Vorgehens in der Praxis und sichert somit der Ergotherapie sowohl die Akzeptanz im wissen- schaftlich medizinischen Umfeld als auch auch langfristig die Existenzgrund- lage. Um in einer solchen Weise zu einer Vernetzung von Praxis und Forschungs- landschaft beizutragen, bedarf es einer ersten Analyse möglicher For- schungsthemen und Problemlagen, die für die Praktiker vor Ort relevant sind. Aus diesem Grund wurde eine Delphi-Studie initiiert, die sich speziell diesem Thema widmet. Methodik der Befragung der Praxis Das Instrument „Delphi-Studie“ Unter einer Delphi – Befragung wird „eine Methode für die systematische Sammlung von Urteilen zu einem bestimmten Gegenstand mit Hilfe einer sorgfältig designten, wiederholten Fragebogenaktion, in die zusammenge- fasste Informationen und Feedback über die Meinungen der anderen Teil- nehmer eingestreut werden.“ verstanden (vgl. Murry und Hammons, 1995, zitiert nach Häder, 2002, 20). Eine Delphi-Studie ist also eine strukturierte und kontrollierte Möglichkeit mit Experten der Praxis zu zukünftigen Entwicklungen ins Gespräch zu kom- 114
Forschungsbedarf in der Ergotherapie – Delphi-Studie men. Die Ergebnisse sollen darüber hinaus nachvollziehbar und von ande- ren überprüfbar sein, um einem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden. Nach kritischer Sichtung haben wir uns für folgendes klassisches Design entschieden: Kombination einer Befragung von Experten mit einem Konsensprozess zu wesentlichen Fragen, aufgeteilt in folgende Phasen: 1. Runde: Befragung von Experten mittels Fragebogen 2. Runde: Rückmeldung der Ergebnisse der ersten Runde und Bitte um ein Ranking der Ergebnisse 3. Runde: Expertendiskussion der so gewonnenen Ergebnisse in einem Wokshop. Durchführung Zunächst wurde das Thema festgelegt und ein kurzer Fragebogen entwik- kelt, der sowohl Fragen zur Person als auch eigentliche inhaltliche Fragen miteinander verband. Zusätzlich wurden die zugehörigen Schreiben entwik- kelt: Anschreiben, Infoblatt mit Erklärung der Studie und Datenschutzerklä- rung, Rückmeldung mit Anschrift für die nächste Runde. Das komplette Materialpaket wurde dann einem Pretest unterworfen. Aus- gewählte Experten wurden angeschrieben mit der Bitte, die Materialien zu lesen, probehalber auszufüllen, Schwierigkeiten zu benennen und Verän- derungsvorschläge zu machen. Diese Vorschläge wurden eingearbeitet und erst dann die endgültigen Materialien versandt. Bei unserer Versendung haben wir auf Adressen des Deutschen Verbandes der Ergotherapeuten zurückgegriffen. Als Kriterium galt, die Zugehörigkeit von mehr als 3 Jahren zum Berufsverband. Auf diese Weise wollten wir sicherstellen, dass Erfah- rung und Expertise im Beruf bestand. Insgesamt haben wir 1500 solcher Praxisexperten angeschrieben und 117 Fragebögen zurückerhalten, die wir in die Auswertung übernehmen konnten. Nach Trennung von personenbe- zogenen Daten und Fragebogen, wurden die Adressen der Teilnehmer fest- gehalten, um die zweite Runde durchführen zu können. Die sozialdemographischen Daten zur Stichprobe wurden mit dem Soft- wareprogramm SPSS ausgewertet. Alle Antworten auf die inhaltlichen Fra- gen wurden in den PC eingegeben und dazu eine Excel-Tabelle angelegt. Die Hauptarbeit bestand in einer Auswertung dieser Daten mit dem Ziel, ein Kategoriensystem zu erstellen. Das so entwickelte Kategoriensystem mit seiner Struktur und den Ober- und Unterpunkten stellte schließlich den Aus- gangspunkt für eine zweite Befragungsrunde dar, in der dieses Kategorien- system mit den verschiedenen Überschriften den Experten vorgelegt wur- de, mit der Bitte, eine Einschätzung der Themen nach Wichtigkeit vorzu- nehmen. In der zweiten Befragungsrunde wurden 117 Fragebögen verschickt. Es erfolgte ein Rücklauf von 90 Fragebögen. Nach Auszählung der vergebe- 115
Annette Nauerth / Ursula Walkenhorst nen Punktzahlen in Bezug auf die verschiedenen Forschungsthemen wurde das Ergebnis in einem Workshop präsentiert. Dieser Workshop, sozusagen die 3. Runde der Befragung, sollte die bisher erreichten Ergebnisse diskutieren und weiterentwickeln. Ergebnisse Soziodemographische Daten: An der Studie beteiligten sich 117 Ergotherapeutinnen und Ergotherapeu- ten. Davon waren 21,9 % männlich und 78,1 % weiblich, 27,2 % waren zwischen 20 und 30 Jahre, 33,0 % zwischen 31 und 40, 30,1 % zwischen 41 und 50 und 9,3 % über 50 Jahre alt. Die Studienteilnehmer sind zu 24,8 % 1-3 Jahre, 24,8 % 4-7 Jahre, 17,1 % 8-12 Jahre und 30,8 % mehr als 12 Jahre im Beruf. Alle Bundesländer bis auf Bremen und Mecklenburg-Vorpommern sind ver- treten, der Schwerpunkt liegt allerdings deutlich in Nordrhein-Westfalen (23,9 % der Angaben). 67 % arbeiten in privaten Einrichtungen, 33 % in öffentlichen Einrichtungen. 11,4 % haben Auslandserfahrungen im Bereich der Ergotherapie. Fachbereiche 60 Abb. 1: Fachbereiche aus 50 denen die Studi- enteilnehmerInnen stammen 40 30 20 Summe 10 0 P N N A A S F syc e F eu F rbe us bi Fac nst o ac h Fa uro ac ro ac it l c s d i o hb s h p hb sp h be the un hb ge er oz be hys er yc gs ere ei ia re io ei ho rei rap be ic ch le ic lo ch lo ch e r h gi gi ut re he sc sc is ic he he ch h r r er 116
Forschungsbedarf in der Ergotherapie – Delphi-Studie Interessant ist die Verteilung auf die verschiedenen Arbeitsbereiche: Der Neurophysiologische Bereich ist mit mehr als 55 Nennungen (mehr als 50%) am stärksten vertreten, es folgen der Psychosoziale und Neuropsychologi- sche Fachbereich mit jeweils 38 Nennungen, der Ausbildungsbereich mit 25 und der arbeitstherapeutische Fachbereich mit 7 Nennungen. Sonstige Einrichtung 5,3 % Schule für Ergotherapie Klinischer Bereich 13,7 % 24,4 % Werkstatt für Behinderte 3,1 % Einrichtung der beruflichen Rehabilitation 2,3 % Wohnheim 4,6 % Komplementärer Bereich 0,8 % Praxis für ET 45,8 % Abb. 2: Arbeitsinstitutionen in denen StudienteilnehmerInnen arbeiten Die überwiegende Mehrheit (60 Nennungen von 107) der Teilnehmer und Teilnehmerinnen arbeitet in einer Praxis für Ergotherapie, der klinische Be- reich ist mit 32 Nennungen vertreten, es folgen die Schule für Ergotherapie (18 Nennungen), das Wohnheim (6 Nennungen) etc. Wir erhoben auch, ob schon eine Beschäftigung mit Ergotherapie-Forschung stattgefunden hat. 46,2 % bejahen diese Frage, 53,8 % verneinen sie, 21,9 % waren überhaupt schon an Forschungsprojekten beteiligt, 15% waren schon an ergotherapeutischen Forschungsprojekten beteiligt. 44,1 % haben be- reits mit Forschungsergebnissen im beruflichen Alltag gearbeitet. 117
Annette Nauerth / Ursula Walkenhorst Forschungsbereiche aus der Sicht der Praxis – Ergebnisse der ersten Runde Wir haben in der ersten Auswertung eine Kategorisierung der Antworten vorgenommen, und ein mehrschichtiges Kategoriensystem entwickelt. Wir nahmen eine Unterteilung auf vier Ebenen vor und bezeichneten die ver- schiedenen Ebenen mit den Begriffen: Oberkategorie, Kategorie, Unterka- tegorie und Feinkategorie, wie aus der folgenden Tabelle hervorgeht. 1. Ebene 2.Ebene 3.Ebene 4.Ebene 1. Oberkategorie 1.1 Kategorie 1.1.1 Unterkategorie 1.1.1.1 Feinkategorie Tab. 1: Kategorien und Ebenen Aus dem empirischen Material konnten entsprechend 7 Oberkategorien ent- wickelt werden: 1. PatientIn im Zentrum 2. Therapie im Zentrum 3. TherapeutIn im Zentrum 4. Position in der Gesellschaft 5. Wissenschaft 6. Bildungsforschung 7. Forschung über Forschung Diese Kategorien beanspruchen natürlich nicht ein gesamtes Gliederungs- system der ergotherapeutischen Praxis zu sein, sondern es ist lediglich das Kategoriensystem, das sich aus der empirischen Erhebung zum Thema Forschungsbedarf ergab. Jede dieser Kategorien lässt sich in mehrere Un- terkategorien aufteilen. Um dies Gliederungssystem jedoch noch deutlicher vorzustellen, wird im Folgenden das System anhand der einzelnen Oberka- tegorien ausführlicher dargestellt. Zu 1: PatientIn im Zentrum der Aufmerksamkeit Die erste Oberkategorie beschreibt den Bereich, in dem der/die PatientIn bzw. KlientIn im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. In diesem Bereich konn- ten wir aus den Antworten der Praktiker drei Kategorien entwickeln, die wir benannten als Handlungsdysfunktionen, Rolle des Patienten und System / Umwelt des Patienten. Damit soll nicht ausgeschlossen, dass unter dieser Überschrift weitere Unterpunkte möglich und sinnvoll wären, sie konnten jedoch vom empirischen Material her nicht gebildet werden. Zu den Katego- rien Handlungsdysfunktionen und System / Umwelt des Patienten konnten wir eine weitere Untergliederung vornehmen, für die Rolle des Patienten war dies aufgrund des Datenmaterials nicht möglich. 118
Forschungsbedarf in der Ergotherapie – Delphi-Studie Das Bild in diesem Bereich sieht also folgendermaßen aus: 1. PatientIn im Zentrum 1.1 Handlungsdysfunktionen 1.1.1 Bereich der Körperfunktionen 1.1.1.1 geistig / seelische Funktionen 1.1.1.2 sensorische Funktionen 1.1.1.3 Stimm- und Sprechfunktionen 1.1.1.4 neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen 1.2 Rolle des Patienten 1.3 System / Umwelt des Patienten 1.3.1 Bezugspersonen 1.3.2 Häusliches Umfeld 1.3.3 Schule / Kindergarten / Arbeitsplatz 1.3.4 Kultureller Hintergrund 1.3.5 andere therapeutische Kontexte 1.3.6 ergotherapeutisches Umfeld Abb. 3: PatientIn im Zentrum Zu 2: Therapie im Zentrum der Aufmerksamkeit In dieser Oberkategorie entwickelten wir aus dem Material sechs Kategori- en: Methodisches Vorgehen, Diagnostik, Behandlungsverfahren, Interakti- onsmuster, Materialien / Medien, Dokumentation. Während wir die ersten vier Kategorien in Unterkategorien gliedern und damit eine weitere Ebene des Kategoriensystems erstellen konnten, blieben die letzten beiden Kate- gorien Materialien / Medien und Dokumentation ohne weitere Unterteilung. Das Gesamtbild stellt sich wie folgt dar. 2. Therapie im Zentrum 2.1 Methodisches Vorgehen 2.1.1 Klientenzentrierung 2.1.2 Motivation von Patienten 2.1.3 Anleitung von Patienten 2.1.4 Methodenmix / Methodenwechsel 2.1.5 Zeitfaktoren der Therapie 2.1.6 Gruppenangebote 2.1.7 Modelle der Ergotherapie 2.1.8 Relevante Therapiefaktoren 119
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