FRANKREICH Aktuelle Entwicklungen der Arbeits- und Tarifvertragsbeziehungen - Ingrid Artus - Gewerkschaft ver.di
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FRANKREICH Aktuelle Entwicklungen der Arbeits- und Tarifvertragsbeziehungen Ingrid Artus 9.Workshop Europäische Tarifpolitik Krise der europäischen Union. Wo bleibt das soziale Europa? 13./14.Mai 2013, Berlin 1
Gliederung ■ Zur Vorgeschichte: Boss-Napping und Streiks gegen die Rentenreform (2009/10) ■ Überblicksinformationen zu Wirtschaft und Arbeitsmarkt ■ Die aktuelle Situation – Regierungswechsel im Juni 2012 – Herbst 2012: Richtungskämpfe und Orientierungssuche – L‘accord sur la securisation de l‘emploi – Zwischen betrieblichen Kämpfen und sozialer Depression ■ Resümee 2
Zur „Vorgeschichte“: Die Ereignisse 2009 - 2011 ■ 2009: Soziale Bewegung während der Wirtschaftskrise – „Verschleppte“ Massenmobilisierung „von oben“ – Zugespitzte, jedoch versprengte Basismilitanz in den Betrieben ■ 2010: Mobilisierung gegen die Rentenreform von Sarkozy: – Drei- bis vierwöchiger unbefristeter Streik im Oktober/November 2010 – Trotz gewerkschaftlicher Einheit und großer Mobilisierung keinerlei materielle Erfolge ■ 2011: Abflauende Mobilisierung und „Warten“ auf den Regierungswechsel – Geringe Beteiligung an einem landesweiten Streik gegen eine lohnpolitische Nullrunde im öffentlichen Dienst (31.5.11) – Gewerkschaften können sich nicht 3 auf eine gemeinsame Haltung gegen die europäische Austeritätspolitik einigen;
Arbeitslosigkeit in Frankreich ■ Seit Mitte 2011steigt die Zahl der Arbeitslosen in Frankreich kontinuierlich; ■ aktuell über 3 Mio. Arbeitslose; ■ ALO-Quote liegt fast doppelt so hoch wie in Deutschland und hat höchsten Stand seit fast 15 Jahren erreicht ■ ALO-Quote der 15-24J. bei ca. 25% Source : Insee, enquête Emploi 4
Einige Strukturdaten ■ BIP stagnierte 2011/2012 nahezu; Einbruch v.a. der Exporte Anteil der Industrie an der Wertschöpfung lag 2012 nur noch bei 12,5% (2000: 18%; Deutschland: 26,2, %) ■ Staatsquote: 57% ■ Frankreich wird Vorgabe des EU-Stabilitätspakts von einem Haushaltsdefizit in Höhe von max. 3% des Bruttoinlandsprodukts für 2013 erneut nicht einhalten; ■ Anstieg der Reallöhne von 2000 bis 2008 um 9,6%; danach tendenziell Stagnation 5
Mögliche Ursachen der wirtschaftlichen Stagnation – Neoliberale Sichtweise: Zu rigider Kündigungsschutz, zu viel Staatsdirigismus, mangelnde Flexibilität des Arbeitsmarktes… – Mangelhafter sozialer Dialog – Klein- und Mittelbetriebe konkurrieren im mittleren Qualitätssegment mit Betrieben aus Italien und Spanien, wo auf Druck aus Brüssel zuletzt die Arbeitskosten massiv gesenkt wurden »Je mehr die Länder der Peripherie reformieren, desto schlechter geht es Frankreich« (Jacob Funk Kirkegaard, Europa-Experte am Peterson Institute in Washington; zit.n. Zeit.online v. 15.11.2012) 6
Kurzzeitverträge und Kündigungsschutz ■ Seit 2000 hat sich die Zahl befristeter Arbeitsverträge mehr als verdoppelt (ca. 14 Mio). ■ Häufig handelt es sich um sog. „Kurzfristverträge“ von wenigen Wochen; drei von vier neu abgeschlossenen Arbeitsverträgen haben eine Dauer von weniger als einem Monat. ■ Viele Arbeitnehmer haben 5, 10 oder 15 Arbeitsverträge pro Jahr. ■ Mit den Kurzzeitverträgen sollen der in Frankreich vergleichsweise gute Kündigungsschutz und die lange Dauer von Kündigungsschutzklagen umgangen werden. 7
Juni 2012: Wahlsieg der Sozialisten ■ (Teil)Rücknahme von Sarkozys „Rentenreform“ ■ „Reichensteuer“: Höchststeuersatz von 75% auf Jahreseinkommen von mehr als 1 Mio. Euro (wird im Dezember 2012 jedoch vom Verfassungsrat für verfassungswidrig erklärt) ■ Ankündigung, wonach man einen anderen Weg gehen wollen als Italien/Spanien, wo Arbeitslosigkeit durch Liberalisierung des Arbeitsmarktes bekämpft wird – Gesetz, wonach profitable Betriebe, die von Schließung bedroht sind, zum Marktwert verkauft werden müssen – Kündigungen sollen so teuer werden, dass sie unrentabel sind 8
Herbst/Winter 2012: Suche nach Orientierung ■ Pakt für Wettbewerbsfähigkeit setzt auf angebotsorientierte Politik und Senkung der Arbeitskosten ■ Internationaler Streik- und Mobilisierungstag in (Süd)Europa am 14.November 2012 ■ Der Fall Arcelor Mittal ■ Die Popularitätswerte für Hollande sinken dramatisch ■ Hollande gibt für 2013 die „Umkehr der Arbeitslosenkurve“ als wichtigstes politisches Ziel ausgegeben; dies soll bevorzugt durch Einigung der Sozialpartner geschehen – „ansonsten mache ich das“ 9
Accord national sur la securisation de l‘emploi ■ am 11.Januar wird das Abkommen von CFDT, CFTC, CGC sowie von Medef, CGPME, UPA unterschrieben; ■ Spaltung der Gewerkschaften – CFDT: • ist nicht grundsätzlich gegen Flexibilisierung • Erinnerungen an 2003, als CDFT aus Allianz gegen Anhebung der Beitragsjahre für Rentenversicherung ausschert und daraufhin ca. 10% ihrer Mitglieder verliert – CGT/CGT-FO: • Abkommen wird Arbeitsmarkt weiter flexibilisieren und prekarisieren; Prekarisierung schafft keine Arbeitsplätze; • Staat soll Verantwortung für Abbau des Arbeitsrechts selbst übernehmen 10
Accord national sur la securisation de l‘emploi Zugeständnisse der Gewerkschaften: ■ Abschluss betrieblicher Vereinbarungen „zur Krisenbewältigung“ mit 1-2 Jahren Laufzeit möglich, die z.B. Lohnreduktionen oder Arbeitszeitveränderungen vorsehen ■ Abbau des Kündigungsschutzes, z.B. – Versetzung an andere Standorte wird wesentlich erleichtert + Reduzierter Kündigungsschutz, z.B. bei verweigertem Wohnortwechsel => Erschwerung von Sozialplänen – Verkürzung der arbeitsrechtlichen Klagefristen von 5 auf 2 Jahre, bzw. von 12 auf 3 Monate bezogen auf die Inhalte von Sozialplänen – Einführung von obligatorischen Vergleichsverfahren; Vorgabe pauschaler Abfindungssummen – Erhebliche Aufweichung der Bestimmungen zur Sozialauswahl bei Kündigungen 11
Accord national sur la securisation de l‘emploi Zugeständnisse der Arbeitgeber: ■ Erhöhte Sozialabgaben für „Kurzzeitbefristungen“ (je nach Typus +0,5 bzw. +3,0%) ABER: Bei unbefristeter Neuanstellung von jüngeren Beschäftigten unter 26 Jahren sind drei Monate lang gar keine Beiträge zur ALO-Versicherung nötig; in kleineren Betriebe unter 50 Besch. sogar 4 Monate ■ „Aufsichtsratsmitbestimmung“ In Unternehmen ab 5.000 Beschäftigten in Frankreich bzw. ab 10.000 Beschäftigten international sitzen ab sofort 1-2 Beschäftigte im beschlussfähigen Organ der Unternehmensleitung ■ Übertragbarkeit bestimmter Rechte der Beschäftigten im Fall eines Arbeitgeberwechsels 12
Reaktionen auf das Abkommen ■ Der Front National/Marine le Pen versucht sich durch eine eigene Petition gegen das Abkommen zu profilieren ■ 5.März: Aktionstag von CGT, FO und SUD gegen das Abkommen hat nur mäßigen Erfolg; ■ Bei den Gewerkschaftswahlen Ende März verliert die CFDT kaum Stimmen. Ergebnis: – CGT 26,77% – CFDT 26% – FO 15,94% – CFE-CGC 9,43% – CFTC 9,3% UNSA (4,26%) und SUD (3,47%) erreichen nicht das Quorum von 8%, um als „repräsentativ“ zu gelten => Die Gewerkschaften, die das Abkommen ablehnen, sind in der Minderheit 13
Zur aktuellen Situation: Zwischen betrieblichen Kämpfen….. ■ bei PSA – Ankündigung der Vernichtung von mehreren Tausend Arbeitsplätzen + Forderung eines Beschäftigungspakts – Streik im Werk Aulnay-sous-Bois – 29.April wird Sozialplan abgeschlossen, der die Schließung des Werks für das Jahr 2014 besiegelt, „die Leute können nicht mehr“ ■ bei Renault – Nach Androhung von Werksschließungen stimmen CGC, CGT- FO und CFDT Beschäftigungspakt zu ■ bei Goodyear – Heftige öffentliche Kontroverse zwischen frz. Regierung und US- amerikanischer Unternehmensleitung 14
Auszüge aus einem Brief des PDG von Titan an Arnaud Montebourg „Ich habe diese Fabrik mehrfach besucht. Die französischen Arbeiter bekommen hohe Löhne, aber arbeiten nur drei Stunden lang. Sie haben eine Stunde für ihre Pausen und ihr Frühstück, diskutieren drei Stunden lang und arbeiten drei Stunden lang. Ich habe das gegenüber französischen Gewerkschaftern angesprochen. Sie haben mir geantwortet, dass das in Frankreich eben so sei! Monsieur, laut Ihrem Schreiben möchten Sie in Gespräche mit Titan eintreten. Glauben Sie, dass wir so dumm sind? Titan besitzt das Geld und das Wissen, um Reifen zu produzieren. Was besitzt diese verrückte Gewerkschaft? Sie hat die französische Regierung. Der französische Bauer will Reifen für einen günstigen Preis. Er schert sich nicht darum, ob die Reifen aus China oder Indien kommen oder ob die Reifen subventioniert werden. Titan wird einen Fabrikanten chinesischer oder indischer Reifen kaufen, weniger als 1 Euro die Stunde Lohn zahlen und alle Reifen exportieren, die Frankreich braucht. In fünf Jahren wird Michelin keine Reifen mehr in Frankreich produzieren können. Sie können die sogenannten Arbeiter behalten. Titan ist nicht an der Fabrik von Amiens- Nord interessiert.“ (zit. und übersetzt nach Le Monde, 22.2.2013) 15
….und sozialer Depression ■ Ca. 750 Suizidfälle in den Jahren 2008-2011, die von Psychologen auf soziale und ökonomische Situation der Betroffenen zurückgeführt werden ■ Selbstverbrennungen von Arbeitslosen ■ Franzosen/ösinnen sind derzeit „EU-MeisterInnen“ des Pessimismus und der Abstiegsängste – 97% aller französischen Haushalte schätzen die aktuelle Situation als „negativ“ ein (Spanien: 94%; Italien 91%) – 85% der Franzosen/Französinnen glauben, dass sich die Situation im Laufe des Jahres 2013 weiter verschlechtern wird (EU: 75%) 16
Welche Probleme sind am dringlichsten, um die Krise zu beenden? Quelle: enquête IPSOS, durchgeführt für Publicis; Datenbasis: 6.198 EuropäerInnen; interviewt per Internet zwischen 14/3/2013 und 7/4/2013 Zit. n. Le Monde, 7.5.2013, S.6 17
Resümee ■ Weit verbreitetes soziales Unbehagen, das jedoch nicht selten verknüpft ist mit nationalen bis nationalistischen Affekten ■ Angst, ‚dass es noch schlimmer kommen könnte‘ wirkt disziplinierend und entsolidarisierend ■ Die typisch französische „Anti-Regierungs- Protesthaltung“ begünstigt derzeit eher rechte soziale Bewegungen ■ Spaltung der Gewerkschaften und eher verhaltener „1.Mai“ ■ Zwar: „Achtungserfolg“ einer Demonstration am 5.Mai, die sich u.a. gegen die EU-Austeritätspolitik richtete 18 ■ Aber: Angesichts einer kriselnden Wirtschaft und
Besten Dank die Aufmerksamkeit! ingrid.artus@soziol.phil.uni-erlangen.de 19
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