Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

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Sonntag, 15. August 2021
                                                                         15.03 – 17.00 Uhr

                       Franz Schubert
         Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

         Ha, ein Ich! Das Biedermeier als erste Moderne (7/21)

Für das Wahre der Kunst fühlt hier keine Seele. Ich bin also allein mit meiner Geliebten, und
muss sie in mein Zimmer, mein Klavier, in meine Brust verbergen.“

Schubert an seinen Freund Franz von Schober im Frühherbst 1818, geschrieben aus Zseliz,
während seines ersten Aufenthalts dort als Hauslehrer beim Fürsten Eszterházy. Natürlich
lassen sich diese Worte auf die konkrete Situation beziehen: aufs ungeliebte Unterrichten,
auf die Ferne zu Wien und den Freunden; klar, dass Schubert sich mit seiner Kunst allein
fühlt. Genauso gut aber gilt dieses Alleinsein, der Rückzug in sich selbst fürs Leben, für das
Zeitalter, das frühe 19. Jahrhundert – und das soll heute mein Thema sein: „Ha, ein Ich! Das
Biedermeier als erste Moderne“.

 1    Orfeo               Franz Schubert                                                   7‘52
      LC 08175            „Claudine von Villa Bella“ D 239
      C 109 971 A         Ouvertüre
      CD 1, Track 1       Symphonieorchester des ORF
                          Ltg.: Lothar Zagrosek
                          (1984)

Eine Ouvertüre in E-Dur, leicht und beschwingt: So beginnt das Schauspiel mit Musik „Clau-
dine von Villa Bella“ nach einer Vorlage von Goethe, eine Vorlage, die Schubert 1815 vertont.
Erzählt wird die Geschichte zweier ungleicher Brüder, die um die selbe Frau kämpfen, um
Claudine. Ästhetisch wirbelt hier einiges durcheinander: im Sujet Sturm und Drang, in der
Musik Singspiel, Opéra comique und Opera buffa. Ein rechter Hybrid also. Nach Schuberts
Tod geht die Partitur in den Besitz Josef Hüttenbrenners über und wird in den Wirren der
Revolution von 1848 offenbar zum Anzünden eines Kaminfeuers benutzt. Was für ein Schick-
sal. Heute jedenfalls kennen wir nur den ersten Akt. Mit den genannten Jahreszahlen aber,
Entstehung 1815, Verfeuerung 1848, markiert „Claudine von Villa Bella“ ziemlich genau die
Epoche des Biedermeier, und man könnte sich jetzt fragen, ob man sich das Biedermeierliche
in dieser Musik nur einbildet oder ob es tatsächlich besteht.
„Fröhlicher, seliger, herrlicher Tag“ – es dirigiert noch einmal Lothar Zagrosek, es singen und
spielen Edith Mathis, Gabriele Sima, Heiner Hopfner und Robert Holl sowie der Chor und das
Symphonieorchester des Österreichischen Rundfunks.

 2    Orfeo             Franz Schubert                                                       4‘25
      LC 08175          „Claudine von Villa Bella“ D 239
      C 109 971 A       „Fröhlicher, seliger, herrlicher Tag“
Franz Schubert – 7. Folge               Seite 2 von 8

       CD 1, Track 3         Edith Mathis, Sopran
                             Gabriele Sima, Mezzosopran
                             Heiner Hopfner, Tenor
                             Robert Holl, Bass
                             Chor und Symphonieorchester des ORF
                             Ltg.: Lothar Zagrosek
                             (1984)

Hätten Sie Schubert hier erkannt? Ich nicht, ehrlich gesagt. Das war ein Ensemble aus seinem
Schauspiel mit Musik „Claudine von Villa Bella“, wir hörten eine Aufnahme unter der Leitung
von Lothar Zagrosek.

Und noch einmal die Frage: Ist das jetzt biedermeierliche Musik? Dieser halb neckische, halb
betuliche Ton, dieser konventionelle Gestus? Man sollte, denke ich, vorsichtig sein mit dem,
was man als Klischee im Kopf oder im Ohr hat – und prompt so gar nicht mit Schubert iden-
tifiziert. Denn natürlich ist Schubert ein Komponist des Biedermeier, das lässt sich nicht leug-
nen. Das Ende des Wiener Kongresses, die Neuordnung Europas nach Napoleon, die politi-
sche Restauration, all das erlebt er hautnah mit, und wie sollte seine Musik, je nicht darauf
reagieren? Biedermeierliche Musik aber und Musik des Biedermeier sind zwei Paar Schuhe.

Stellen wir uns kurz folgende Gleichung vor: Wo Schubert scheitert, auf der Theaterbühne,
in der Oper, da versucht er die Konvention zu bedienen; und wo er Erfolg hat, im Lied, in der
Kammermusik, später auch im großen Repertoire, da hebelt er die Konvention aus. Ist es so,
ist es so einfach? Das Lied „Nähe des Geliebten“ komponiert er ebenfalls 1815, sogar noch
vor der „Claudine“ – und in dieser Musik ist nichts Biedermeierliches.

 3     EMI                 Franz Schubert                                                       2‘59
       LC: 0               „Nähe des Geliebten“ D 162
       5 62980 2           Brigitte Fassbaender, Mezzosopran
       Track 4             Erik Werba, Klavier
                           (1974)

Ein Lied fast mit angehaltenem Atem zu singen: „Nähe des Geliebten“, nach Goethe. Brigitte
Fassbaender und Erik Werba waren die Interpreten. Ein Strophenlied, ja mehr noch: eine
Musik, die immer wieder neu ansetzt, als ringe sie um ihre Fassung und den richtigen Ton.
Und alles eher verhalten, mit innerer Emphase, nicht mit äußerer.

Die Jahre 1815/16 sind für Schubert ausgesprochen produktiv – und das, obwohl seine
Lebensumstände nicht gerade so sind, wie er sie sich erträumt. Er ist Schulgehilfe beim Vater
und steht buchstäblich unter dessen Fuchtel. Der Vater, der das Komponierenwollen des
Sohnes argwöhnisch betrachtet und in aller Strenge versucht, ihn von diesem krummen Pfad
wieder abzubringen. Das Leben als freier Künstler, so viel ist klar, verspricht keine gesicherte
Existenz und keinen gesellschaftlichen Stand. Oder muss man sagen: gerade weil Schubert in
so großer Bedrängnis lebt, ist er so produktiv? 250 Lieder (über ein Drittel aller seiner Lieder
also!) komponiert er in diesen beiden Jahren, daneben zwei Singspiele und vier Sinfonien.
Unglaublich. Schubert trotzt den äußeren Umständen, indem er sich ins Innere zurückzieht,
in seine Kunst, in sein Ich. Und das ist typisch fürs Biedermeier.

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Franz Schubert – 7. Folge             Seite 3 von 8

Die Kammerakademie Potsdam und Antonello Manacorda mit dem ersten Satz aus Schu-
berts vierter Sinfonie, seiner ersten in einer Moll-Tonart. Adagio molto – Allegro vivace.

 4     SONY                  Franz Schubert                                                   9‘13
       LC: 06868             Sinfonie N° 4 c-Moll D 417 „Tragische“
       88875 ...             1. Adagio molto – Allegro vivace
       CD 2, Track 5         Kammerakademie Potsdam
                             Ltg.: Antonello Manacorda
                             (2015)

Der Kopfsatz aus Schuberts Sinfonie N° 4 in c-Moll D 417, seiner so genannten „Tragischen“.
Es spielte die Kammerakademie Potsdam unter Antonello Manacorda.

Der Beiname „die Tragische“ hat dieser Sinfonie nichts Gutes beschert. Einmal aufgerufen,
will Beethovens mächtiger Schatten nicht mehr weichen. Auch seine Fünfte steht in c-Moll
und gilt als die „tragische“ Sinfonie schlechthin, an wem oder was sonst also will der junge
Schubert sich hier messen? Unter Beethovenschen Kriterien kann seine Vierte nur verlieren,
bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fällt das Urteil über sie fast einhellig negativ aus. Der
berüchtigte Kritiker Eduard Hanslick macht hier den Anfang, wenn er meint, der erste Satz
sei nicht eben „selbständig oder glänzend in der Erfindung“. Andere, wie der Musikwissen-
schaftler Walther Vetter, sprechen dem Ganzen die „künstlerische Einheit“ ab oder empfin-
den die Tonart c-Moll als „Fassade“. Ist das wirklich so? Wir haben in der vergangenen
Woche gehört, wie Schubert komponiert und was für einen anderen Blick er bisweilen auf
die Tradition wirft, auf eingeschliffene Schemata. Das traditionelle Spannungsverhältnis zwi-
schen Tonika und Dominante etwa erweitert er mit der Terz – und etwas Ähnliches könnte
auch in der Vierten der Fall sein: Indem Schubert die Spannung zwischen Dur und Moll nicht
als Gegensatz begreift, als Polarität, sondern eher als einen Wechsel der Klangfarbe. Schu-
bert, dieser Komponist des Biedermeier, denkt nicht in Hierarchien, er wertet nicht. Das
macht ihn modern.

Und das kann er nur sein, modern, wenn er die Tradition kennt. Dass er sie kennt und wie
gut er sie kennt, zeigt das Jahr 1817, sein so genanntes „Klaviersonatenjahr“. Schubert
nimmt eine Gattung ins Visier – und plant als erstes eine Sammlung von sechs Sonaten, ein
Konvolut also, in der Art wie Clementi, Haydn und Mozart es hinterlassen haben. Aus dem
Plan wird am Ende nichts, aber in der Mitte der Sammlung sollte eine Moll-Komposition ste-
hen, die Sonate N° 4 in a-Moll. Und die hat es in sich: mit ihrem Spagat zwischen klassischer
Proportion und typischen Schubertschen Eigenheiten, dem Versiegen jeder Bewegung in
Generalpausen zum Beispiel oder den vielen bohrenden Tonwiederholungen.

Allegro ma non troppo – es spielt Mitsuko Uchida.

 5     Philips/Decca         Franz Schubert                                                   7‘30
       LC: 0171              Klaviersonate Nr. 4 a-Moll D 537
       CD 2                  1. Allegro ma non troppo
       Track 1               Mitsuko Uchida, Klavier
                             (1996)

Der Kopfsatz aus Schuberts früher a-Moll Klaviersonate, Mitsuko Uchida war die Interpretin.

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Franz Schubert – 7. Folge             Seite 4 von 8

Das hervorstechende Merkmal der Musik im Biedermeier, so formuliert es der Musikwissen-
schaftler Carl Dahlhaus, sei die „Anpassung an das Gegebene“. Der Komponist richtet sich
nach den Anforderungen der Gesellschaft und ihrer Institutionen, der Kirchen also und der
Theater, er wählt je nach Anlass den richtigen Ton, mehr volkstümlich oder mehr kunstge-
tragen, er „beliefert“ Tanzvergnügungen genauso wie Salons oder Musikvereine – kurzum:
Er arbeitet mit am bürgerlichen Projekt. Identifizieren sollen sich die Menschen mit sich
selbst, mit dem, was sie aus eigener Kraft schaffen und sich leisten können. Selbstbewusst
sollen sie werden. Wenn schon die großen politischen Ideen der französischen Revolution
gescheitert sind – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und das Rad der Geschichte von Met-
ternich & Co. zurückgedreht wird, dann will man es wenigstens unter seinesgleichen zu
etwas bringen. All das gilt auch für Franz Schubert. Mit einer intimen Gattung wie der Kla-
viermusik, scheint es, rüstet er sich fürs größere Repertoire, bahnt er sich seinen „Weg zur
Sinfonie“. Das allerdings dauert noch.

Der zweite Satz aus seiner Klaviersonate Nr. 4 – Allegretto quasi Andantino.

 6     Philips/Decca           Franz Schubert                                                 7‘45
       LC: 0171                Klaviersonate Nr. 4 a-Moll D 537
       CD 2                    2. Allegretto quasi Andantino
       Track 2                 Mitsuko Uchida, Klavier
                               (1996)

Mitsuko Uchida mit dem langsamen Satz aus der Klaviersonate Nr. 4 in a-Moll D 537. Wenn
Ihnen das Thema bekannt vorgekommen ist, dann haben Sie sich nicht verhört: Später, viel
später nimmt Schubert es noch einmal auf, im Finale seiner A-Dur Sonate D 959, in einer
seiner drei letzten großen Klaviersonaten also.

Überhaupt lassen sich durch Schuberts Œuvre diverse rote Fäden spannen, Themen, die
wandern, sind da nur eine Möglichkeit. Eine andere: Tonarten. Zweifellos hat Schubert zu a-
Moll eine besondere Beziehung. Noch zwei weitere Klaviersonaten komponiert er in a-Moll,
außerdem eine Geigensonate, die Arpeggione-Sonate, das „Rosamunde“-Quartett und das
späte Klavierduo „Lebensstürme“. In der Tonartencharakteristik steht a-Moll für Ernsthaf-
tigkeit und Traurigkeit, beides erschiene einem für Schubert nicht untypisch. Das Lakonische
seiner 14. Klaviersonate aber, D 784, geht weit darüber hinaus. Leere Quinten, Oktaven von
beiden Händen im Pianissimo zu spielen, Marschrhythmen im tiefsten Bassregister: was für
eine Ödnis, wieviel Resignation!

„Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz vorhan-
den; jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen am wenigsten die Welt zu
erfreuen“, schreibt Schubert 1824 in sein Tagebuch.

Allegro giusto – Andras Schiff mit dem Kopfsatz aus der Sonate N° 14 in a-Moll.

 7     Decca               Franz Schubert                                                   12‘23
       LC: 00171           Klaviersonate Nr. 14 a-Moll D 784
       Track 4             1. Allegro giusto
                           Andras Schiff, Klavier

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Franz Schubert – 7. Folge              Seite 5 von 8

                           (1992)

Zu dieser Musik gibt es mehrere Thesen. Eine sagt, Schubert habe hier, im Februar 1823,
nichts als die nackte Verzweiflung über seine Syphilis-Infektion in Töne gesetzt; eine andere
meint, der Klaviersatz dieser Sonate sei so orchestral, so unpianistisch, dass es sich nur um
eine Vorstudie zu einer Sinfonie handeln könne, zur „Unvollendeten“ nämlich. Veröffentli-
chen jedenfalls wollte Schubert seine 14. Klaviersonate nicht. Wir hörten den ungarischen
Pianisten Andras Schiff mit dem ersten Satz daraus.

Epochen zu definieren, ist schwer. In der Kulturgeschichte fallen gewöhnlich keine Schlag-
bäume, die sagen, bis hier hin heißt das Ganze Klassik oder Sturm und Drang, und ab da
haben wir es mit Romantik oder Biedermeier zu tun. Das gilt für die Literatur, für die Bildende
Kunst, für die so genannte Lebenswelt und für die Musik. Die Grenzen zwischen den Zeiten
und Stilen sind fließend. Trotzdem gibt es Eckpfeiler, historische Eckpfeiler, an denen man
sich orientieren kann. Das Ende des Wiener Kongresses im Sommer 1815, wie gesagt, und
die Juli-Revolution von 1848 – dazwischen spannt sich das Biedermeier. In der Musik hat man
sich immer schwer getan, diese Epoche nicht negativ zu charakterisieren: mit allerlei Klein-
geistigem und Kleinkariertem, mit Spießigkeit und Putzigkeit. Für all das lassen sich Beispiele
finden, gewiss. Allerdings spielt auch die Rezeption eine Rolle. Spätere Epochen projizieren
gern aufs Biedermeier, was ihnen selber fehlt, Innigkeit, Harmonie, die heile Welt im Kleinen.
Und das verändert das Biedermeier-Bild, stilisiert es zu einer Art Über-Biedermeier – und
zum Klischee seiner selbst. Bis heute.

 8     EMI                 Franz Schubert                                                      2‘01
       LC: 06047           „Lachen und Weinen“ D 777
       5 62980 2           Brigitte Fassbaender, Mezzosopran
       Track 10            Erik Werba, Klavier
                           (1974)

1823, die Zeit nach der großen persönlichen Krise: Schubert vertont Friedrich Rückert,
„Lachen und Weinen“. Es sang Brigitte Fassbaender, es spielte Erik Werba.

Wie sieht das Biedermeier aus? In der Kleidung: ziemlich elegant. Bei den Damen dominiert
die „Sanduhrsilhouette“, man trägt knöchellange Röcke, Schinken-, Hammerkeulen- oder
Elefantenärmel (die beim Klavierspielen sicher stören), außerdem weite Krägen und die so
genannte „Schute“, eine Haube, die wie ein Lautsprecher zu tragen ist (hinten zu, vorne
offen). Die Herren wählen Gehrock oder Frack, gestreifte oder geblümte Westen und gerne
„Pantalons“, lange, eng geschnittene Hosen. Die Köpfe zieren Zylinder, die Hälse Halstücher
oder Vatermörder, und um den Bauch trägt man „Schnürgürtel“, die männliche Variante des
Korsetts, wenn man so will. Auch die Wohnungen zeigen, dass man es hier mit einer wohl-
habenden, ja neureichen Schicht der bürgerlichen Gesellschaft zu tun hat: die Möbel sind
schnörkellos und schlicht, man legt Wert auf Handwerkskunst, auf Tapeten und Vorhänge
und darauf, dass möglichst nichts an den aristokratischen Schwulst vergangener Tage
erinnert. Schuberts Wohn- und Arbeitsstätten haben mit solchem Luxus nichts zu tun; sie
sind ärmlich und kärglich und oft finster und feucht. Ein Hungerleiderleben – ganz wie der
Vater es ihm prophezeit hat. „Übrigens werde ich mit meinen Herzensgefühlen niemals

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Franz Schubert – 7. Folge                  Seite 6 von 8

berechnen und politisieren, so wie‘s in mir ist, so geb ich‘s heraus und damit Punctum“,
schreibt der Komponist 1818 fast trotzig an seinen Bruder Ferdinand. Geld ist für ihn kein
Argument; Politik erst recht nicht. Trotzdem weiß er natürlich, dass er ein Kind seiner Zeit
ist, jener „miserablen Wirklichkeit“, die sich allein durch „Phantasie“ verschönern lässt. Hin-
ter „Phantasie“ setzt Schubert an dieser Stelle in seinem Notizbuch ein „Gott sei‘s gedankt“,
in Klammern.

Seine frühen Sinfonien beschließt er mit der intimen, mozartischen Fünften und einer Sechs-
ten à la Rossini. Schubert nennt die Sechste seine „Große Sinfonie in C“ und bezieht den Titel
auf die Besetzung, mit Klarinetten, Trompeten und Pauken. Heute gilt diese Sinfonie als die
„Kleine C-Dur Sinfonie“; klein, weil ihr Jahre später eine größere Sinfonie, ebenfalls in C, fol-
gen wird – die „Große C-Dur Sinfonie“, D 944. Die Dimensionen wachsen, die Ansprüche
auch.

Hören Sie aus der „Kleinen“ den singspielartigen ersten Satz, Adagio – Allegro. Claudio
Abbado und das Chamber Orchestra of Europe sind die Interpreten.

 9     DG                                Franz Schubert                                            9‘55
       LC 00173                          Sinfonie N° 6 C-Dur D 589 „Kleine C-Dur“
       479 2627                          1. Adagio – Allegro
       CD 3 Track 5                      Chamber Orchestra of Europe
                                         Ltg.: Claudio Abbado

Das Chamber Orchestra of Europe mit dem Kopfsatz aus Schuberts Sinfonie N° 6 in C-Dur D
589, der so genannten „Kleinen C-Dur Sinfonie“. Es dirigierte Claudio Abbado.

„In der itzigen Welt kann man nur unter zwei Dingen wählen“, bekannte der Dichter Clemens
Brentano schon 1798, „man kann entweder ein Mensch oder ein Bürger werden, und man
sieht nur, was man vermeiden, nicht aber, was man umarmen soll. Die Bürger haben die
ganze Zeitlichkeit besetzt, und die Menschen haben nichts für sich selbst als sich selbst.“ In
Worten wie diesen ist auch Schubert leicht wiederzuerkennen. Zwar nutzt er die bürgerli-
chen Vereine und musikalischen Institutionen, wo er nur kann; aber er beugt sich ihnen
nicht, er macht keine Zugeständnisse (oder nur in seiner Tanz- und Gesellschaftsmusik).
Schuberts Maßgabe sind und bleiben die eigenen „Herzensgefühle“. Das sieht man auch an
dem Repertoire, das Schuberts Zeitgenossen gar nicht kannten, weil es zu seinen Lebzeiten
nicht aufgeführt wurde. Dazu gehören zentrale Werke wie die Unvollendete oder auch sein
Streichquintett in C. Aus heutiger Sicht: unvorstellbar.

Aber es gibt auch den umgekehrten Fall: das Auftragswerk, das alle Anforderungen erfüllt,
das auch sofort gespielt wird – und lange verkannt bleibt. Schuberts Arpeggione-Sonate ist
so ein Fall. Das Instrument, der Arpeggione (ein sechssaitiges Cello mit Bünden wie eine
Gitarre), das rasch wieder in Vergessenheit gerät, trägt sicher dazu bei, dass diese Sonate
lange nicht ernst genommen wird. Man findet sie konventionell bis kunstlos und überhört
geflissentlich, mit welchem Erfindungsreichtum Schubert hier zu Werk geht. Eine Musik wie
eine Flaschenpost ins Innere. Auch das ist Schubert, auch das ist Biedermeier. Pieter Wispel-
wey und Paolo Giacometti mit dem ersten Satz der Sonate für Arpeggione und Klavier.

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Franz Schubert – 7. Folge                Seite 7 von 8

 10     Onyx               Franz Schubert                                                      11‘30
        LC: 19017          Sonate für Arpeggione und Klavier a-Moll D 821
        4046               1. Allegro moderato
        Track 5            Pieter Wispelwey, Violoncello
                           Paolo Giacometti, Hammerflügel
                           (2007)

Nicht leicht zu spielen auf einem viersaitigen Cello: Wir hörten den ersten Satz aus Schuberts
Arpeggione-Sonate von 1824, Pieter Wispelwey und Paolo Giacometti waren die Interpre-
ten.

Den Menschen des Biedermeier bleibt keine Wahl. Die Politik ist rückwärtsgewandt, alle
liberalen, freiheitlichen Bestrebungen werden unterdrückt, es herrschen Zensur und Über-
wachung. Die Folge? Man zieht sich zurück, meidet die politische Öffentlichkeit und sucht
sein Heil in der kleinsten gesellschaftlichen Zelle, der Familie. Oder in der Kunst, die bietet
immerhin den Vorteil, subversiv zu sein. Ist Schubert subversiv? Sicher nicht im Wortsinn,
nicht im Sinn von umstürzlerisch oder aufrührerisch. Schubert ist kein Revolutionär. So wie
er mit der musikalischen Tradition nicht bricht, so bricht er nicht mit dem öffentlichen Leben.
Er nimmt, was er brauchen kann und braucht, und geht ansonsten seiner Wege. Schubert
distanziere sich, schreibt die Musikhistorikerin Veronica Beci in ihrem Schubert-Buch, weil er
nicht anders könne, weder künstlerisch noch menschlich. Er geht auf Distanz zum Vater, zur
Kirche, zum ewigen Vokalquartetteschreiben, zu den Frauen, zur Stadt, zu Wien und, wenn
es sein muss, auch zu seinen Freunden. Was bleibt, ist das Ich. Und die Musik.

Wie jede gute Kunst aber, die auf den Schultern der Tradition steht und nach vorne blickt,
ist auch seine gespickt mit Botschaften. Mit dieser hier zum Beispiel: Was hören Sie da?

 11     MDG                             Franz Schubert                                  0‘30
        LC 06768                        Sinfonie N° 8 C-Dur D 944 „Große C-Dur“
        901 2053-6                      4. Allegro vivace
        Track 4                         Brandenburger Symphoniker
        7‘47 – 8‘16 bl                  Ltg.: Peter Gülke
                                        (2017)

Ein winziger Ausschnitt aus Schuberts Großer C-Dur Sinfonie, ein Ausschnitt aus dem Finale,
und natürlich hören wir hier: Beethoven. Wir hören Schubert, wie er sich Beethoven stellt,
der „Ode an die Freude“ aus dessen Neunter Sinfonie. Aber hören wir auch Schubert, wie er
sich mit Beethovens Idealen und Utopien solidarisiert? Der Horizont dieser Musik, das Poli-
tisch-Revolutionäre, muss ihm jedenfalls klar gewesen sein – und das Musikalisch-Revoluti-
onäre, die Öffnung der Sinfonie hin zum Wort, zum Gesang, sowieso. Was macht Schubert
damit, was macht er daraus? Der Dirigent und Musikforscher Peter Gülke sagt: eine Erwide-
rung, eine Art „Gegen-Sinfonie“. Eingerahmt vom „Freude“-Thema (das schon im ersten Satz
der C-Dur Sinfonie präsent ist) tritt Schubert hier sozusagen den Beweis an (ausgerechnet
Schubert!), dass eine große Sinfonie auch ohne das Wort möglich ist, ja möglich sein muss.
Und das ist ein sehr biedermeierliches Moment: die Botschaft wohl zu vernehmen – „alle
Menschen werden Brüder“ – und in ihr nur eine Chiffre zu sehen, ein Beethovensches Wie-
dererkennungssignal, das er dazu verwendet, den eigenen ästhetischen Standort zu bestim-
men. Schubert sucht Anlässe für Musik. Und findet sie. Und damit immer wieder sich selbst.

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Franz Schubert – 7. Folge                Seite 8 von 8

Hören Sie jetzt den ganzen Satz, das Finale aus der Sinfonie Nr. 8 in C-Dur D 944, Allegro
vivace. Es spielen die Brandenburger Symphoniker, es dirigiert Peter Gülke.

 12     MDG                             Franz Schubert                                  15‘27
        LC 06768                        Sinfonie N° 8 C-Dur D 944 „Große C-Dur“
        901 2053-6                      4. Allegro vivace
        Track 4                         Brandenburger Symphoniker
                                        Ltg.: Peter Gülke
                                        (2017)

Der Schlusssatz aus der Großen C-Dur Sinfonie, Peter Gülke leitete die Brandenburger Sym-
phoniker.

„Ha, ein Ich! Das Biedermeier als erste Moderne“: das war die siebte Folge unserer Sen-
dereihe über Franz Schubert. Nächsten Sonntag steht Schuberts Persönlichkeit hier im
Fokus: einsam, wirtshausselig, dickköpfig, manisch getrieben – was ist Schubert für ein
Mensch, frage ich mich dann, und wie können wir uns von ihm überhaupt ein Bild machen?
Ich bin Christine Lemke-Matwey und hoffe, Sie haben noch einen schönen Sonntagabend.

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