Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...

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Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
TITELTHEMA

STREIK
Warum Frauen
genug haben
Frauen werden bis heute ungleich behandelt.
Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen
sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise.
Fünf Frauen erzählen, wo sie an Grenzen stossen.
FOTOS: LEA MEIENBERG

Die Neurowissenschaft kann einem Gehirn nicht ansehen, ob es einem Mann oder einer Frau gehört.   Beobachter 12/2019   15
Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
CHRISTIANE BRUNNER                                                                                                                           «Man darf

«Männer, legt
                                                                                                                                             nie aufhören
                                                                                                                                             mit dem
                                                                                                                                             Aufbegehren.
                                                                                                                                             Sonst geht es
                                                                                                                                             rückwärts.»

eure Löhne offen!»
ARBEIT. Christiane Brunner, Grande Dame der Frauenbewegung, organisierte vor 28 Jahren
                                                                                                                                             Christiane Brunner, 72,
                                                                                                                                             SP-Politikerin
                                                                                                                                             und Pionierin

den grössten Streik in der Schweizer Geschichte. Der Kampf sei noch lange nicht vorbei, sagt sie.

INTERVIEW: BIRTHE HOMANN UND DANIEL BENZ

Was machen Sie am 14. Juni, am Frauenstreiktag?                                         Ein gutes Zeichen. Aber Frauen müssen noch
Christiane Brunner: Ich werde am Computer sit-                                          mehr gefördert werden. Man darf nie aufhören
zen und das Ganze im Internet verfolgen. Am                                             mit dem Aufbegehren. Sobald man aufhört, geht
Frauenstreik von 1991 sah ich all die Bilder, die                                       es rückwärts. Die Frauen müssen immer weiter-
ganze Vielfalt, erst im Nachhinein in den Medien.                                       kämpfen, dranbleiben.
Heute kann ich alles online live anschauen.
                                                        Christiane Brunner wird         Wieso wurde denn nicht früher wieder gestreikt?
Sie sind eine Ikone der Frauenbewegung –                1947 in Genf geboren. Sie       Wieso blieb es fast 30 Jahre lang so ruhig?
                                                        arbeitet als Juristin beim
warum gehen Sie nicht auf die Strasse?                                                  Es hat sich einiges bewegt in den letzten Jahr-
                                                        Bundesamt für Sozial­
Ich bin 72 und nicht mehr so fit. Wegen meiner          versicherungen, später als      zehnten, aber doch viel zu wenig. Fortschritte gab
Gehbehinderung kann ich nicht den ganzen Tag            Anwältin in einer Kanzlei.      es beim Eherecht oder beim AHV-Splitting. Aber
draussen rumlaufen. Als Ikone sehe ich mich             1981 wird sie für die SP        gerade beim Lohn herrscht Stillstand – von Lohn-
                                                        in den Genfer Kantonsrat
übrigens nicht. Ich habe mich mein ganzes               gewählt, 1991 in den Na­-       gleichheit sind wir immer noch weit entfernt. Die
­Leben für Frauen eingesetzt und für sie ge-            ti­onalrat. 1991 orga­nisiert   Gleichstellung ist zwar seit 1981 in der Bundes-
 kämpft, das ist alles.                                 sie den ersten Frauen­          verfassung verankert, aber die Realität sieht
                                                        streik mit einer halben
                                                        Million Teilnehmerinnen.        ­anders aus. Arbeitgeber, die Frauen tiefere Löhne
Sie haben fünf Buben grossgezogen. Werden Ihre          1993 sorgt ihre Nichtwahl        zahlen, müssten von Gesetzes wegen sanktio-
Söhne streiken?                                         in den Bundesrat für             niert werden können. Da gibt es noch viel zu tun.
                                                        Aufruhr – Ruth Dreifuss
Na ja, eigentlich geht es ja mehr um meine
                                                        rückt nach. 1995 wird
Schwiegertöchter. Meine Söhne helfen ihren              Brunner Ständerätin und         Was hat den Ausschlag gegeben, dass die Frauen
Frauen natürlich, sie werden die Kinder betreu-         gehört dem Rat bis 2007         jetzt wieder laut werden?
en, damit die Frauen den Rücken frei haben.             an. Im Jahr 2000 über-          Ein Auslöser war sicher die MeToo-Debatte. Sie
                                                        nimmt sie das Präsidium
Eine ist Radiojournalistin, sie wird streiken. Alle     der SP für vier Jahre.          hat der Frauenbewegung grossen Aufwind be-
Frauen in ihrer Redaktion werden das tun, die           Brunner ist die erste Frau      schert. MeToo hat gezeigt: Wenn Frauen zusam-
Sendungen an jenem Tag werden nur von Män-              an der Spitze einer             menstehen, bekommen sie Macht und können
                                                        grossen Gewerkschaft
nern gemacht. Das finde ich grossartig.                                                 etwas bewirken. Die ganze Bewegung, die aus
                                                        und des Gewerkschafts­
                                                        bunds. Sie hat fünf Buben       den USA stammt und in vielen Ländern nach-
Wieso braucht es genau jetzt einen Frauenstreik?        grossgezogen, einen             hallt, hat ja etwas Tabubrechendes. Das hat den
Nur schon durch die Ankündigung des neuen               eigenen, einen Adoptiv­         Frauen sehr geholfen. 1991 war es eher Wut, die
                                                        sohn und drei Stiefsöhne.
Streiks wurden Frauen plötzlich sichtbarer, in          Sie lebt mit ihrem Mann         uns angestachelt hat, heute ist es diese Macht.
den Medien, der Kultur, in fast allen Branchen.         Jean Queloz in Genf.            Zusammen sind wir stark.	

16 Beobachter 12/2019       1971 brauchten verheiratete Frauen in der Schweiz noch die Erlaubnis ihres Mannes, um einem Beruf nachzugehen.
Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
Was der erste Frauenstreik bewirkt hat
1991                    1993                                                                    1996                     2002                                                                                                                                             2004              2005                  2010                                          2017              2019
Am 14. Juni ruft der    Die offizielle SP-Bundesrats­                                           Das Gleichstel­          Die Fristenrege­                                                                                                                                 Die Vergewal­     Nach drei erfolg­     Mit der Wahl von Simonetta Sommaruga          Women’s           Die 1.-Mai-Demonstrationen
Schweizerische          kandidatin Christiane Brunner                                           lungsgesetz tritt        lung wird mit                                                                                                                                    tigung in der     losen Anläufen        in den Bundesrat wird die Schweiz erst­       March auch in     in der ganzen Schweiz
Gewerkschafts­          wird nach einer politischen                                             in Kraft. Es stellt      72 Prozent Ja-                                                                                                                                   Ehe und in        findet die Vorlage    mals von einer Frauenmehrheit regiert.        Zürich und        stehen im Zeichen des
bund den ersten         Schlammschlacht nicht ge­                                               verbindliche             Stimmen ange­                                                                                                                                    hetero- oder      für eine Mutter­                                                    Genf. Die         zweiten Frauenstreiks.
landesweiten            wählt. Tausende Frauen gehen                                            Regeln für die           nommen. Sie                                                                                                                                      homosexuel­       schaftsversiche­                                                    MeToo-Bewe­
Frauenstreik der        auf die Strasse. Die breite                                             Umsetzung des            erlaubt einen                                                                                                                                    len Partner­      rung eine                                                           gung (gegen
Schweiz aus. Unter      Protestbewegung führt eine                                              Gleichstellungs­         straffreien                                                                                                                                      schaften          Volksmehrheit.                                                      Gewalt an
dem Motto «Wenn         Woche später zur Wahl der                                               artikels auf und         Schwanger­                                                                                                                                       wird zum          Damit wird ein                                                      Frauen, sexu­
Frau will, steht        SP-Gewerkschafterin Ruth                                                enthält auch ein         schaftsabbruch                                                                                                                                   Offizialdelikt.   Verfassungsartikel                                                  elle Belästi­
alles still» de­        Dreifuss als Bundesrätin. Der                                           Verbot der sexuel­       während der                                                                                                                                                        aus dem Jahr                                                        gung und
monstrieren rund        sogenannte Brunner-Effekt                                               len Belästigung          ersten 12 Wochen.                                                                                                                                                  1945 endlich                                                        Sexismus)
500 000 Frauen.         prägt die Schweizer Politik                                             am Arbeitsplatz.                                                                                                                                                                            umgesetzt.                                                          geht viral.
Es ist der bisher       in den folgenden Jahren.
grösste politische
Streik des Landes.

Die Wut ist weg?                                                                      Wie haben Sie damals die Frauen mobilisiert?                                                                                                                                        Feministin outen. Aber insgesamt ist zu wenig                                     Was ist Ihre Hauptforderung?
Sie ist schon noch da. Weil alles so langsam                                          Wir mussten alle Flyer und Plakate selber ver­                                                                                                                                      passiert, und das nervt mich gewaltig.                                            Meine höchste Forderung ist und bleibt die nach
geht. Das Parlament und der Bundesrat machen                                          teilen. Das war sehr zeitaufwendig, ich reiste                                                                                                                                                                                                                        Lohngleichheit. Der Lohn hat Einfluss darauf,
zum Beispiel nur kleine Revisionen am Gleich-                                         durch die ganze Schweiz und führte unzählige                                                                                                                                        Damit sich etwas bewegt, braucht es auch                                          wie gut sich Beruf und Familie vereinen lassen.
stellungsgesetz, bremsen alles aus. Das macht                                         Gespräche. Wir hatten kein Handy, kein Internet.                                                                                                                                    die Männer. Wie haben sie sich verändert?                                         Sobald das Kind da ist, steckt meist derjenige
mich immer noch wütend.                                                               Heute ist es natürlich via Social Media viel ein-                                                                                                                                   Jetzt brauche ich eine Zigarette. (Sie steht auf                                  Elternteil zurück, der weniger verdient. Und das

                                                         18,3
                                                                                      facher, und deshalb erwarte ich auch noch viel                                                                                                                                      und zündet sich am Fenster eine Brunette rot                                      ist fast immer die Frau. Sie bleibt also zu Hause
Wie gross ist die Solidarität unter den Frauen?                                       mehr Frauen am diesjährigen 14. Juni. Eine Mil-                                                                                                                                     an.) Ohne Männer geht die Gleichberechtigung                                      oder arbeitet Teilzeit, während der Mann durch-
Sehr gross. Wenn sie sich selber bewusst sind,                                        lion wäre doch schön.                                                                                                                                                               nicht, das stimmt. Die Männer müssten ihre Löh-                                   startet. Das hat aber Auswirkungen auf die
was für Ungerechtigkeiten sie in der Ehe, in der                                                                                                                                                                                                                          ne offenlegen. So simpel. Das ist immer noch ein                                  ­zweite Säule, die Rente der Frau wird geringer.
Familie, im Arbeitsleben erlebt haben, werden            Prozent                      Vertreten Frauen ihre Anliegen anders                                                                                                                                               Tabu in der Schweiz. Man kann ja keinen Prozess                                    Diese Lohnungleichheit zieht sich eben durch
sie sich immer wieder dagegen wehren und                 ­beträgt der                 als Männer?                                                                                                                                                                         anstossen, wenn man nicht weiss, wie viel der                                      das ganze Leben. Es braucht ganz dringend
­anderen helfen. Mein Leben lang waren Frauen                                         Streiks in Männerkreisen sind oft sehr aggressiv,                                                                                                                                   andere verdient. Lohntransparenz ist zentral.                                      eine Kontrollinstanz, die da draufschaut. Diese
                                                          Lohnunter­

                                                                                                                                                QUELLEN: TASCHENSTATISTIK 2019, GLEICHSTELLUNG BFS | FOTOS: KEYSTONE, ALEX SPICHALE/KEYSTONE, ENNIO LEANZA/KEYSTONE
 mit mir solidarisch. Durch MeToo ist nun auch                                        Frauen sind spielerischer, weniger hart, mehr                                                                                                                                                                                                                          ­Option wurde ja vor ein paar Monaten im Par­
 Sexismus ein Thema geworden. 1991 wäre das
                                                          schied                      lustbetont. Oft viel kreativer.                                                                                                                                                     Sind die Männer denn nicht offener geworden?                                        lament verworfen. Das hat mich sehr geärgert!
 undenkbar gewesen.
                                                          ­zwischen                                                                                                                                                                                                       Sie engagieren sich mehr in der Familienarbeit,                                     Wir Frauen hätten sofort den Bundesplatz stür-
                                                           Frauen und                 Wofür müssen die Aktivistinnen von heute                                                                                                                                            das ist schön. Aber das reicht halt nicht.                                          men müssen.
Was war Ihr grösster Erfolg beim ersten                    Männern                    denn kämpfen?
Frauenstreik?                                              in der                     Die Forderungen haben sich teilweise etwas ge-
Ich wusste ja nicht, ob der Streik klappt oder             Gesamt­                    ändert. Auf Gesetzesebene ist heute eigentlich
nicht. Wenn es ein Flop geworden wäre, wäre ich            wirtschaft                 alles da, es müsste «nur» noch umgesetzt wer-

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                E,T&H LSA
schuld gewesen. Es war etwas total Neues. Dass             (2016).                    den. Es geht jetzt mehr um Respekt und Integri-

                                                                                                                                                                                                                                                                        Ein g utes
dann so viele Frauen mitgemacht haben, habe                                           tät. Sachen, die die MeToo-Bewegung ans Licht

                                                                                                                                                                                                                                                                                        ie.
                                                         44
ich nicht erwartet. Eine halbe Million Teilneh-                                       gebracht hat.
merinnen! Das war sehr emotional. Und sogar

                                                                                                                                                                                                                                                                                    amil                                                                                  Jedem sin
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Liebling.
das Wetter spielte mit.                                                               Ist es heute schwieriger oder einfacher,

                                                                                                                                                                                                                                                                                 k F
                                                                                                                                                                                                                                                                           Stüc
                                                                                      Frauenanliegen zu vertreten?
Viele männliche Kritiker sagten damals,                  Prozent                      Es war immer schwierig und bleibt es auch. Das
das war ja gar kein richtiger Streik. Das war            dieser Lohn­                 Gleichstellungsgesetz ist zwar da, aber seine
                                                                                      Anwendung – oder besser Nicht-Anwendung – ist
nur ein farbiges Happening mit vielen lila
                                                         differenz sind
Luftballons. Hat Sie das getroffen?                                                   schlimm. Sogar Richter und Anwälte kennen es
Für mich war die Hauptsache, dass so viele
                                                         nicht zu er­                 oft nicht. Wir haben dafür gekämpft, aber es ist
­Frauen mitgemacht haben. Wie sie sich betei­
                                                         klären durch                 ernüchternd, wie damit umgegangen wird. Ein-
 ligten, war mir ehrlich gesagt egal. Ich fand die       objektive                    facher macht den heutigen Kampf, dass das
 bunte Mischung toll. Ein Happening ist ja etwas         Faktoren                     ­Engagement für Frauenrechte besser akzeptiert
 Schönes. Wenn die Wut der Frauen und ihre               (Bildung,                     ist. Ich habe zwar nie einen Genderkurs besucht,
 ­Forderungen mit Freude rübergebracht werden            Dienstjahre,                  aber mich schon mein Leben lang als Feministin                                                                                                                                                           Für Jung
  konnten, umso besser! Ernsthaftes und Augen-           Führungs­                     bezeichnet, auch als das noch als Schimpfwort                                                                                                                                                            und Alt.
  zwinkerei schliessen sich doch nicht aus. Im           funktion).                    galt. «Rote Emanze» nannten sie mich damals.
  Gegenteil.                                                                           Heute können sich junge Frauen problemlos als

18 Beobachter 12/2019                     Die erste Frau im Weltall war die Russin Valentina Tereschkowa. 1963 umkreiste sie die Erde 48-mal.                                                                                                                         www.tilsiter.ch
Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
NICOLE JANOUSCHEK

«Unbezahlte Arbeit                                                                                                                                                                                                                                                              «In struben
                                                                                                                                                                                                                                                                                Zeiten
                                                                                                                                                                                                                                                                                beneide ich

gehört entschädigt!»
                                                                                                                                                                                                                                                                                meinen
                                                                                                                                                                                                                                                                                Mann. Ich
                                                                                                                                                                                                                                                                                stelle mir
PFLEGE. Nicole Janouschek hat ihren Beruf aufgegeben, um ihre schwerbehinderte Tochter
                                                                                                                                                                                                                                                                                dann vor, wie
zu pflegen. Die Care-Arbeit reisst ein Loch in ihre Altersvorsorge. Das muss sich ändern.
                                                                                                                                                                                                                                                                                er in Ruhe zu
                                                                                                                                                                                                                                                                                Mittag isst.»
                                                                                                                                                                                                                                                                                Nicole Janouschek, 36,
                                                                                                                                                                                                                                                                                widmet sich ganz der
         Es gibt Tage, da fürchte ich um meine                                    schränkt? Wie viel Unterstützung hat man wofür                                                                                                                                                Pflege ihrer schwer­
         psychische Gesundheit. Die Sorgen, die                                   zugut? Wir brauchen eine Anwältin, um den                                                                                                                                                     behinderten Tochter.
         ständigen Arztbesuche, die Erschöp-                                      Durchblick zu behalten. Es gibt Momente, in
fung. Wie meine Situation aussehen würde,                                         ­denen mich das enorm wütend macht.
wenn unsere Ehe nicht halten würde – darüber                                          Wir haben aber Glück im Unglück – unsere
darf ich gar nicht nachdenken. Es bleibt mir                                       Tochter ist so schwer behindert, dass wir Hilfe
nichts anderes, als zu hoffen, dass mein Mann                                      bekommen, wenn wir sie am richtigen Ort bean-
bei einer Trennung fair wäre. Solange es keine                                     tragen. Doch ich wünschte mir eine Case-Mana-
Entschädigung gibt für Care-Arbeit, reissen die                                    gerin, die uns den Papierkram abnimmt. Jara
Betreuungsjahre eine Lücke in die Vorsorge.                                        muss gewaschen und künstlich ernährt werden,
Wie viele Frauen ziehe ich den Kürzeren.                                           täglich inhalieren, braucht ein Korsett und Un-
    Der Moment, als uns die Ärzte das Bild von                                     terschenkelschienen, muss ins Stehbrett. Im

                                                      80
Jaras Hirn zeigten, ist präsent wie am ersten Tag.                                 Moment kriegen wir 40 Stunden Kispex pro
Jara und Jael sind Zwillinge, fünf Jahre alt. Drei                                 Woche durch die IV. Die Hälfte davon brauchen
Wochen vor der Geburt wurde Jaras Grosshirn                                        wir für die Nacht­wachen. Und dann habe ich

                                                                                                                                         QUELLEN: EIDGENÖSSISCHES BÜRO FÜR GLEICHSTELLUNG VON MANN UND FRAU, BUNDESAMT FÜR STATISTIK, BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN 2016
durch Sauerstoffmangel fast vollständig zerstört.                                  habe ja noch zwei andere Kinder, die ihre Mama
Als Pflegefachfrau wusste ich sofort, was das         Prozent der                  brauchen.
heisst. In mir tat sich ein Abgrund auf.              Care-Arbeit
    Zeit zum Trauern blieb nicht. Meine drei          werden nicht                Bei zu viel Stress ‹chlöpft› es. Kürzlich waren wir
­Kinder – mein Sohn war erst zwei – brauchten
                                                      bezahlt.                    wieder fünf Tage im Spital. Solche Zeiten bringen
 mich. Die Ärzte gaben Jara eine Lebens­                                          uns alle an die Grenzen: Schlechte Nächte, die
 erwartung von Tagen, maximal Wochen. Sie                                         Angst, nicht herauszufinden, was Jara fehlt, las-

                                                      5,6
 war vollständig gelähmt, trank kaum, litt unter                                  sen Wut, Trauer und Ohnmacht aufkommen.
 Epilepsie und starken Spasmen. Sie hatte                                         Dann werde ich dünnhäutig, es ‹chlöpft› in der
 Schmerzen und schlief nachts keine Minute. Wie                                   Familie. Wenn ich krank würde, bräche unser
 sollten wir das schaffen?                                                        ganzes System zusammen. Ich kenne Jara
                                                      Milliarden                  am besten und habe ein Sensorium dafür ent-
Das Leben auf den Kopf gestellt. Erst als wir nach    Stunden                     wickelt, wie es ihr geht. Das ist eine unglaubliche
Hause durften, hatten mein Mann und ich Zeit,                                     Verantwortung.
uns bewusst zu werden, dass unser Leben nie
                                                      unbezahlte                     In ganz struben Zeiten werde ich neidisch auf
mehr so sein würde wie vorher. Jan ging wieder
                                                      Arbeit leisten              meinen Mann. Ich sehe ihn vor mir, wie er in
arbeiten, ich blieb daheim. Jara brauchte mich        die Frauen in               Ruhe zu Mittag isst, sich ungestört unterhalten
rund um die Uhr. Natürlich hatte ich Angst, den       der Schweiz                 kann. In solchen Momenten würde ich sofort
Anschluss im Beruf zu verlieren. Bis zur Geburt       pro Jahr.                   tauschen, obwohl ich natürlich weiss, dass er im
der Zwillinge war ich zu 40 Prozent berufstätig                                   Geschäft unter Druck steht.

                                                      37
gewesen. Und jetzt? Mein Mann führt ein Inge-                                        Was wirklich helfen würde, wäre ein Hospiz,
nieurbüro und sagt, er könne als Selbständiger                                    ein Ort, an dem Fachleute unser krankes Kind
nicht Teilzeit arbeiten. Und ohne sein volles                                     begleiten. Dann könnte ich einmal ein paar Tage
Gehalt würden wir finanziell nicht durch­
­                                                                                 Yogaferien machen. Jan sagt heute schon: Geh!
kommen. Für meine eigenen Ambitionen fehlt                                        Mach! Aber ich traue mich nicht. Was, wenn
mir die Kraft. Ich beruhige mich damit, dass ich      Prozent                     Jara genau dann krank wird?
dank Jara pflegerisch am Ball bleibe.                 weniger                        Ins Heim? Diese Frage stellt man uns immer
   Zur Pflege des schwerbehinderten Kindes            Altersrente                 wieder. Natürlich würde das einiges verein­
kommt die Bürokratie. Kaum hat man das                erhalten                    fachen. Ich kann es nicht rational erklären, aber:
Würmchen auf dem Arm, muss ein IV-Antrag              Frauen                      Das kommt für mich nicht in Frage. Es
gestellt werden. Von diesem Moment an ist             im Schnitt.                 würde mir das Herz abdrücken. Jara ge-
man in der Mühle: Wie stark ist das Kind einge-                                   hört zu uns. AUFGEZEICHNET VON TANJA POLLI

20 Beobachter 12/2019                      Frauen haben jeden Monat im Schnitt 1455 Franken weniger auf der Lohnabrechnung als Männer.
Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
NORA BIENZ

«Talentierte
Ärztinnen
kommen                                                                                 «Mehr Frauen
                                                                                       in die Chefetage!»
nicht weiter.
Obwohl
sie alles
mitbringen.»
Nora Bienz, 33, Ärztin
                                                                                       KARRIERE. Nora Bienz ist angehende Intensivmedizinerin. Die Diskriminierung von Frauen
                                                                                       am Arbeitsplatz ist in der Medizin besonders ausgeprägt – auch weil die Chefs Männer sind.

                                                                                       AUFGEZEICHNET VON ANINA FRISCHKNECHT UND BIRTHE HOMANN

                                                                                                Ich hatte einen Plan. Ich wusste, wo ich                                     sind es bloss 10 Prozent Frauen. Und diese Zahl
                                                                                                hinwollte. Schon während des Studiums                                        hat wenig damit zu tun, dass sich Frauen halt
                                                                                                habe ich meine praktischen Ausbildun-                                        eher für typisch ‹weibliche› Fachrichtungen wie
                                                                                       gen so gelegt, dass ich irgendwann einmal an                                          Kinder- oder Hausarztmedizin interessieren. So
                                                                                       einem Operationstisch in der Gynäkologie ste-                                         erklärte es der oberste Schweizer Arzt, FMH-
                                                                                       hen konnte. Die Chirurgie, dafür brannte mein                                         Präsident Jürg Schlup, letzten Herbst in der
                                                                                       Herz. Die manuelle Herausforderung, die Inten-                                        ­Sendung ‹10 vor 10›. Bei solchen Aussagen geht
                                                                                       sität der Arbeit, die knappe Zeit für wichtige                                         mir der Laden runter. Sie stimmen einfach nicht.
                                                                                       ­Entscheidungen, der ganze Druck ­– darin bin ich                                      In meinem Umfeld häufen sich die Fälle von
                                                                                        aufgegangen.                                                                          ­jungen und talentierten Ärztinnen, die alles mit-
                                                                                           Ich bin heute, acht Jahre nach dem Studium,                                         bringen, was es für eine steile Karriere braucht,
                                                                                        nicht Chirurgin. Trotz meines Plans, trotz meiner                                      aber einfach nicht weiterkommen. Oder dort
                                                                                        Leidenschaft. Ein chirurgischer Chefarzt würde                                         nicht weiterkommen, wo sie ursprünglich wei-
                                                                                        mit Blick auf meine medizinische Laufbahn                                              terkommen wollten. Warum? Weil die Spital-
                                                                                        wohl sagen: Sie hat es einfach zu wenig gewollt.                                       strukturen noch immer von Männern für Män-
                                                                                        Das stimmt. Wenn Wollen bedeutet, dass man                                             ner geprägt sind.

                                                                                                                                                63
                                                                                        alles andere dafür aufgeben soll, dann habe ich
                                                                                        die Chirurgie zu wenig gewollt. Ich sage mit Blick                                   Besser qualifiziert, aber nicht gewählt. Ein Bei-
                                                                                        auf meine medizinische Laufbahn: Es gibt eine                                        spiel: Eine junge Chirurgin aus meinem Umfeld
                                                                                        Reihe von Gründen, warum ich meinen Traum                                            ist lange gut vorwärtsgekommen. Eigentlich hat-
                                                                                        von der Chirurgie aufgegeben habe. Dass ich             Prozent der                  te sie das Niveau einer Oberärztin, aber nicht sie
                                                                                        eine Frau bin, ist einer davon.                         Studierenden                 wurde befördert, sondern ein männlicher Kol­
                                                                                           Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin                 im Bereich                   lege. Einer, der jünger war als sie, mit weniger
                                                                                        glücklich, wo ich heute bin. Fachärztin der Inne-       Humanmedi­                   Erfahrung. Meiner Kollegin hatte man gesagt,
                                                                                        ren Medizin. Wenn alles gut geht, habe ich den          zin (Bachelor)               dass gerade keine Oberarztstelle frei sei. Die
                                                                                        zweiten Facharzt für Intensivmedizin Ende 2021
                                                                                                                                                sind Frauen.                 Wahrheit ist: Frauen in den Dreissigern haben
                                                                                        in der Tasche. Aber ich kann und will mich nicht                                     einfach schlechte Karten. Meine Kollegin hätte
                         QUELLEN: ÄRZTESTATISTIK FMH, BAG LOHNSTUDIE ZUR ÄRZTESCHAFT    länger damit zufriedengeben, dass wir Frauen                                         irgendwann Mutter werden können, dann hätte

                                                                                                                                                27
                                                                                        in der Medizin immer wieder an die gläserne                                          sie gefehlt. Da wählte man lieber den weniger
                                                                                        Decke stossen.                                                                       qualifizierten Mann.
                                                                                                                                                                                 Das Hauptproblem ist: Die ältere Generation
                                                                                       In der Mehrheit, aber nicht im Kader. Aktuell be-                                     von Chefärzten oder leitenden Ärzten sind mehr-
                                                                                       trägt der Frauenanteil bei den Staatsexamen
                                                                                                                                                Prozent                      heitlich Männer. Die meisten haben eine Frau zu
                                                                                       rund 60 Prozent. Die Medizin ist zunehmend
                                                                                                                                                weniger                      Hause, die ihnen den Haushalt und die Kinder
                                                                                       weiblich. Doch die Chefarztetage bleibt männ-            verdienen                    abnimmt, das Sozialleben organisiert. Dafür
                                                                                       lich. Die Frauen kommen oben nicht an. Am                Ärztinnen                    können sie praktisch im Spital leben. Das sind
                                                                                       ­Inselspital in Bern beträgt der Frauenanteil im         im Vergleich                 oft Chefs, die denken, dass man nur ein guter
                                                                                        Kader gerade mal 14 Prozent. Das grösste Spital         zu ihren                     Arzt sein kann, wenn man immer präsent ist. Für
                                                                                        in der Deutschschweiz. Das darf nicht sein.             männlichen                   Ärztinnen ist das schwierig. Genau in der Zeit, in
                                                                                           Ähnlich klein ist der Frauenanteil in den            Kollegen.                    der Familienplanung eine Rolle spielt, müssen
                                                                                        ­Fachbereichen der Chirurgie. In der Orthopädie                                      sie in ihre medizinische Karriere investieren.

                                                                                       50,5 Prozent der Männer und 32 Prozent der Frauen haben ein zu hohes Körpergewicht.                                Beobachter 12/2019   23
Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
Logisch, man kann im Leben nicht alles ha-                                        kam zu kurz. Ich rechnete nicht damit, dass sich
                              ben. Das ist ein Fakt. Aber ganz ehrlich? Mutter                                       die Arbeitsbedingungen in der Chirurgie bald
                              sein und Karriere machen sind jetzt weiss Gott                                         grundlegend ändern würden. Mein damaliger
                              nicht wahnsinnige Ansprüche ans Leben. Für                                             Chef hatte mir seine Arbeitseinstellung vorge-
                              Väter funktioniert es ja auch.                                                         lebt. Er war Chirurg durch und durch. Ferien
                                   Auch wenn sich Chirurginnen gegen eine                                            bedeuteten für ihn, dass er nicht am Klinikalltag
                              ­Familie entscheiden, ist ihre Situation anders als                                    teilnehmen, keine Sprechstunden durchführen
                               die der Chirurgen. Das wird vielen Ärztinnen im                                       musste, sondern nur operieren durfte. Am frü-
                               Laufe der Facharztweiterbildung bewusst. In der                                       hen Nachmittag war er fertig, dann machte er
                               Chirurgie braucht man einen Förderer, man                                             Feierabend. Das waren Ferien für ihn. Er war
                               muss ellbögeln, drängen und schauen, dass man                                         glücklich. Aber ich hätte so niemals glücklich
                               zu den spannenden Operationen kommt. Wenn                                             werden können.
                               eine Frau diese Ader zeigt, wird sie nicht selten                                          Wir Ärztinnen sollten uns die männlich ge-
                               als karrieregeile Zicke wahrgenommen. Ein                                             prägten Strukturen und Kulturen in der Medizin
                               Mann mit denselben Eigenschaften gilt hin­                                            weniger gefallen lassen. Aber das Problem ist
                               gegen als ehrgeizig und zielstrebig. Das ist nicht                                    halt: Mindestens bis wir die Facharztprüfung

                                                                                        58,6
                               nur in der Medizin ein Problem. Ähnliches höre                                        geleistet haben, sind wir abhängig von unseren
                               ich auch aus anderen Branchen.                                                        Chefs. Sie nehmen die Prüfung ab. Das führt
                                   Ein anderes Beispiel aus meinem Umfeld:                                           ­dazu, dass man Sachen schluckt, die eigentlich
                               Beim Mitarbeitergespräch hielt der Chef einer                                          nicht in Ordnung sind.
                               Kollegin vor, dass ihr eine der wichtigsten Eigen-       Prozent der                       Den Männern geht es in dieser Hinsicht nicht
                               schaften eines Chirurgen fehle: Sie sei einfach          Ärztinnen                     besser. Es gibt immer mehr Ärzte, die sich einen
                               zu wenig von sich selbst überzeugt. Genau wie            und Ärzte                     Ausgleich neben dem Beruf wünschen. Mehr
                               ich wusste sie bereits seit dem Studium, dass sie        sind Frauen.                  Zeit für Hobbys und soziale Kontakte. Oder
                               Chirurgin werden wollte. Sie legte ihre Praktika                                       einen Familientag für die Väter. Aber leider gibt

                                                                                        47,9
                               zielstrebig darauf aus, inklusive Wahlstudien-                                         es noch immer jene, die bereit sind, für ihre
                               jahr in den USA. Für die beste Chirurgin hielt                                         ­Karriere alles zu opfern. Und wenn man als Chef,
                               sie sich nicht, sie war ja erst am Anfang der                                           der alles geopfert hat, die Auswahl hat, dann
                               ­praktischen Ausbildung. Ihre männlichen Kol-                                           wählt man natürlich den, der genauso bereit ist,
                                legen hatten offenbar weniger Probleme, sich            Prozent                        alles zu opfern.
                                selbst richtig gut zu finden. Die Kollegin hat sich
                                                                                        sinds bei
                                mittlerweile für eine andere Fachrichtung mit                                        Das Warten auf den Kulturwandel. Es gibt aber
                                weniger Hierarchie und mehr Flexibilität ent-
                                                                                        den Ober­                    auch Geschichten, die Hoffnung machen. In
                                schieden. Auch sie ist eine der vielen talentierten
                                                                                        ärztinnen.                   ­Solothurn teilen sich zwei Frauen eine stell­
                                Ärztinnen, die auf dem Weg in die Chefetage                                           vertretende Chefarztstelle mit je einem 60-Pro-

                                                                                        24,5
                                rausgeekelt wurden.                                                                   zent-Pensum. Und es funktioniert gut. Wie lange
                                                                                                                      es wohl geht, bis auch die mehrheitlich männli-
                              400 Stunden Überzeit reichen nicht. Ich selber                                          chen Chefärzte erkennen, dass die Medizin drin-
                              begann an meiner Fachrichtung zu zweifeln, als                                          gend frische Strukturen und einen Kulturwandel
                              mich der Chef beim Bewerbungsgespräch für                 Prozent                       braucht, damit talentierte Ärztinnen nicht auf
                              die gynäkologische Anschlussstelle fragte, ob             bei leitenden                 halbem Weg ausscheiden?
                              ich denn bereit sei, privat zurückzustecken. In           Ärzten.                          Jetzt bin ich 33. Ich habe hohe Ansprüche.
                              meinem ersten Jahr habe ich zusätzlich zu mei-                                          An mich als Ärztin, aber auch an die Arbeits­

                                                                                        12,4
                              ner 50-Stunden-Woche 400 Stunden Überzeit                                               bedingungen in der Medizin. Das Ziel: den Fach-
                              gemacht. Ausserdem hatte ich damals fast keine                                          arzt bis 2021 machen. Wenn ich irgendwann
QUELLEN: ÄRZTESTATISTIK FMH

                              weiblichen Vorbilder in der Chefetage, oder                                             noch Kinder will, dann muss ich mich in den
                              ­keine, die glücklich waren. Ich klettere viel, gehe                                    nächsten zwei, drei Jahren dafür entscheiden.
                               bergsteigen und mache Skitouren. Das braucht             Prozent                       Mit kleinen Kindern müsste ich meine Karriere
                               Freizeit, die ich nicht mehr wirklich hatte. Auch        auf Chefarzt-                 sicher für einige Zeit einfrieren. Ich liebe
                               meine Arbeit als Präsidentin der Berner Sektion          ebene.                        meinen Beruf. Ehrlich gesagt weiss ich
                               des Verbands von Assistenz- und Oberärztinnen                                          nicht, wie ich mich entscheiden werde.

                              1864 wurde in Zürich die erste Frau zum Studium zugelassen. Sie war Russin und studierte Medizin.                   Beobachter 12/2019   25
Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
FRANZISKA ZEMP
                                                                                                                                                                                                   «Ich wünsche

«Stellt Mütter ein,
                                                                                                                                                                                                   mir, dass
                                                                                                                                                                                                   mehr Väter
                                                                                                                                                                                                   ihr Pensum
                                                                                                                                                                                                   reduzieren.

sie sind ein Gewinn!»                                                                                                                                                                              Und mehr
                                                                                                                                                                                                   Firmen Teil-
                                                                                                                                                                                                   zeitstellen
FAMILIE. Franziska Zemp ist Neuropsychologin und hat zwei kleine Kinder.                                                                                                                           anbieten.»
Sie ärgert sich, dass Muttersein in der Berufswelt nicht positiver gewertet wird.                                                                                                                  Franziska Zemp, 38,
                                                                                                                                                                                                   Neuropsychologin

         Seit ich Mutter bin, bin ich viel effizienter                                   Ich habe viel Energie, bin ehrgeizig und suche
         im Job. Ich gebe Vollgas, bin total mo­                                      die Herausforderung. Deshalb habe ich mich
         tiviert. Ich kann mich besser organisie-                                     entschlossen, eine zweijährige Weiterbildung zu
ren, weil ich muss. Und ich habe meinen Perfek-                                       machen neben meinem 50-Prozent-Job am Kin-
tionismus abgelegt. Die Firmen müssten sagen:                                         derspital St. Gallen. Zusammen mit dieser Aus-
‹Wow, so cool, eine Teilzeitmutter. Die stellen wir                                   bildung arbeite ich 60 Prozent. Für mich ist die

                                                         59
an.› Doch es heisst immer wieder: ‹Die muss                                           Belastungsgrenze damit erreicht.
doch früh nach Hause und fehlt wegen kranker
Kinder.› Die Gesellschaft sollte endlich merken,                                      Der Mann kocht häufiger. Mein Mann ist in In­dien
wie wertvoll arbeitende Mütter sind. Ihre Effi­                                       aufgewachsen und fürs Studium an der ETH in
zienz und Motivation sind gewinnbringend. Die                                         die Schweiz gekommen. Er arbeitet zu 100 Pro-
Firmen sollten mehr Mütter einstellen.                   Prozent der                  zent als Umweltingenieur, aber den Haushalt
    Die hohen Kosten für die Kita ärgern mich            Frauen gehen                 teilen wir uns. Wenn ein Kind krank ist, wechseln
ebenfalls. Sie fressen fast die Hälfte meines            einer Teil­                  wir uns ab mit Zu-Hause-Bleiben. Er kocht viel
Lohns weg, obwohl wir zwei vergünstigte Plätze           zeitarbeit                   häufiger als ich. Ich organisiere mehr die Freizeit
haben. Dass ich arbeiten gehe, rechnet sich              nach. Bei den                mit den Kindern. Oft müssen wir am Sonntag-
­momentan also nicht. Der Staat gibt mir einen           Männern                      abend noch schnell sauber machen, bevor am
 Anreiz, ein Studium zu machen, damit ich da-            sind es                      Montag früh meine Eltern aus Wattwil kommen,
 nach Vollzeit Kinder grossziehe. Das ist absurd.
                                                         18 Prozent.                  um den Tag mit den Kindern zu verbringen. Sie
    Bevor ich schwanger wurde, haben mein                                             sind sehr engagiert. Ohne sie ginge es nicht.
 Mann und ich nie über die Arbeitsteilung gespro-                                     Unsere Kinder lieben ihre Grosseltern.

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 chen. Es war selbstverständlich, dass ich als                                            Meinem Mann war immer klar, dass er
 Neuropsychologin weiterarbeiten würde. Aus                                           100 Prozent arbeiten würde. Als Ausländer hatte
 dem Berufsleben aussteigen könnte ich nicht.                                         er grosse Probleme, nach dem Studium eine
 Nach sechs Monaten Mutterschaftsurlaub mit                                           Festanstellung zu finden. Ich finde es gut, dass
 dem zweiten Kind war ich sehr glücklich, wieder         Prozent der                  er Vollzeit arbeitet. Ihm hat sich nun unerwartet
 arbeiten zu können. Mit den Kindern war es
                                                         Frauen mit                   eine 80-Prozent-Stelle aufgetan. Das freut uns
 schön, aber anstrengend. Es war, als hätte ich                                       sehr. Bald übernimmt er einen Tag pro Woche
 sechs Monate pausenlos durchgearbeitet. Dass
                                                         Kindern                      die Kinder. Das wird für uns alle vier lehrreich.
 der Haushalt so einen grossen Stellenwert er-
                                                         unter vier                       Ich finde nicht, dass Mütter und Väter zwin-
 hielt, hat mir aufs Gemüt geschlagen.                   sind nicht                   gend je gleich viel Zeit mit den Kindern verbrin-
                                                         erwerbstätig.                gen müssen. Ich glaube, Mütter haben häufig das
Zwei Tage Fremdbetreuung reichen. Ich bin pro                                         grössere Verlangen nach Kinderzeit. Das heisst

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Kita. Aber es ist genug, wenn meine Kinder zwei                                       aber nicht, dass sie besser mit Kindern umgehen
Tage pro Woche fremdbetreut werden. Wenn                                              können als Väter.
                                                                                                                                              QUELLEN: TASCHENSTATISTIK 2019, GLEICHSTELLUNG BFS

mein Mann und ich zur Arbeit pendeln, sind sie                                            Ich wünsche mir jedenfalls, dass mehr Väter
bis zu elf Stunden dort. Das ist sehr lang. Den                                       ihr Pensum reduzieren und mehr Firmen Teil-
dritten Tag übernehmen meine Eltern. Die an-                                          zeitstellen anbieten. An den Frauenstreik gehe
deren zwei Wochentage schaue ich den Kindern.
                                                         Prozent                      ich deswegen aber nicht. Das ist mir zu einseitig.
   Mehr als drei Tage will ich derzeit nicht arbei-      der Frauen                   Die Männer müssten mitlaufen. Ich ziehe per-
ten. Die dreijährige Tochter und der einjährige          übernehmen                   sönliche Überzeugungsarbeit dem Demonstrie-
Sohn würden mir zu sehr fehlen. Als die Ältere           in Familien                  ren vor. Wenn Männer erst einmal Teilzeit ar­
in der Trotzphase war, warf ich mir ab und zu vor,       mit kleinen                  beiten, werden sie schnell merken, wie viel ihnen
ich hätte zu wenig Zeit für sie. Es ist noch immer       Kindern die                  das Jonglieren zwischen Job und Kind
herausfordernd. Aber ich bin sicher, dass meine          Hausarbeit.                  persönlich bringt.
Familie von meiner Freude am Beruf profitiert.                                        AUFGEZEICHNET VON YVES DEMUTH

26 Beobachter 12/2019                               117 Männer und 5 Frauen haben in der Schweiz eine Michelin-Stern-Auszeichnung als Koch.
Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
ANNE-SOPHIE KELLER

                                                                                                                                                   «Frauen, seid mal
                                                                                                                                                   dreist wie Männer!»
                                                                                                                                                   GENDER. Anne-Sophie Keller kämpft gegen stereotype Rollenbilder. Frauen sollen mehr
                                                                                                                                                   Chuzpe zeigen, sagt die Autorin und Journalistin.

                                                                                                                                                            In meinem Kinderzimmer herrschte                                             Frau, die sich nie Gedanken macht über ihr
                                                                                                                                                            das Matriarchat: zwei Dutzend Barbies,                                       ­Gewicht oder ihr Aussehen. Ich sehe es in mei-
                                                                                                                                                            ein Ken. Mehr männliche Rollen waren                                          nem Kolleginnenkreis. Alles gut ausgebildete,
                                                                                                                                                   nicht vorgesehen in diesem Kosmos. Natürlich                                           emanzipierte und intelligente Frauen. Doch das
                                                                                                                                                   verstehe ich die Kritik an Barbie. Ihre Körper­                                        Gefühl, nicht zu genügen, das Gefühl, sich
                                                                                                                                                   masse sind komplett unrealistisch, das kann Gift                                       ­anpassen zu müssen, kennen wir alle. Eltern
                                                                                                                                                   sein fürs Selbstvertrauen junger Mädchen. Ich                                           müssen sich bewusst sein: Es macht etwas mit
                                                                                                                                                   fand aber einen gesunden Umgang mit der                                                 der Tochter, wenn sie ihr Kinderzimmer mit ei-
                                                                                                                                                   ­Plastikpuppe. Ich steckte sie nicht einfach in                                         nem gertenschlanken Püppchen teilen muss. Im
                                                                                                                                                    hübsche Kleidchen und bürstete pausenlos ihr                                           schlimmsten Fall entwickelt ein junges Mäd-
                                                                                                                                                    blondes Haar. Nein, ich schickte meine Barbie                                          chen eine Essstörung.
                                                                                                                                                    zur Arbeit – in einem rosaroten Auto.
                                                                                                                                                       Baumhütten bauen, Flüsse stauen, Sachen                                           Plötzlich Sachen tun, die frau gar nicht will. Beim
                                                                                                                                                    halt, die man gemeinhin Buben zuschreibt, das                                        Job, auf Festivalbühnen, in der Politik: Frauen

                                                                                                                                                                                                            28
                                                                                                                                                    war nicht so meine Welt. Ich leitete das Prin­                                       sind überall untervertreten. Die Gründe dafür
                                                                                                                                                    zessinnen-Ressort in unserer Familie. Ein Grund                                      sind bereits in der Kindheit zu finden. Mädchen
                                                                                                                                                    dafür war sicher der Mangel an starken Frauen-                                       bekommen später Sackgeld, sie müssen viel
                                                                                                                                                    figuren, die Vorbild hätten sein können. Es gab                                      ­öfter zu ihren jüngeren Geschwistern schauen.
                                                                                                                                                    Pippi Langstrumpf aus den Büchern – damit                                             Viele lernen nie, ihre Bedürfnisse zu kommuni-
                                                                                                                                                                                                            Prozent der
«Männer

                          QUELLEN: SCHWEIZER TASCHENGELD-STUDIE, CREDIT-SUISSE 2017, BEFRAGUNG SEXUELLE GEWALT 2019 (AMNESTY INTERNATIONAL, GFS)
                                                                                                                                                    hatte es sich aber schon.                                                             zieren. So gleiten sie in eine passive Rolle, und
                                                                                                                                                                                                            Mädchen
krallen                                                                                                                                                Mein Vater ging Alimente verdienen, die allein
                                                                                                                                                    erziehende Mutter bestritt ein kleines Sekreta-         zwischen
                                                                                                                                                                                                                                          plötzlich machen sie Dinge, die sie eigentlich gar
                                                                                                                                                                                                                                          nicht wollen.
sich die                                                                                                                                            riatspensum. Normale, mittelständische Welt in          fünf und                          Auch ich bin vor diesen Klischees nicht
interessanten                                                                                                                                       Thun. Meinen Eltern mache ich keinen Vorwurf,           sieben                        gefeit. Mit zwanzig zog ich nach Zürich. In der
Jobs. Frauen                                                                                                                                        ihrer Generation schon. Damals dachte man:              bekommen                      WG-Sprache heisst Rollenverteilung ‹Ämtliplan›.

räumen                                                                                                                                              Alles kommt gut. Dabei lief wenig bis gar nichts        Taschengeld.                  Mit meinem Mitbewohner, einem ETH-Stu­
                                                                                                                                                    in den Neunzigern. In Sachen Gleichstellung             Bei den                       denten, teilte ich die Putzarbeit. Eine Woche er,
die Tassen                                                                                                                                          sind wir meilenweit vom Ziel entfernt. Ich bin
                                                                                                                                                                                                            Buben sind                    eine Woche ich. Klar war hingegen, wer kaputte
vom Sitzungs-                                                                                                                                       noch täglich daran, mich zu emanzipieren.
                                                                                                                                                                                                            es 43 Prozent.                Sachen repariert: er.
tisch.»                                                                                                                                            Frühe Gehirnwäsche. Wenn ich Mädchen sehe,
                                                                                                                                                                                                                                              Wer denkt, Sexismus finde bei der Arbeit
                                                                                                                                                                                                                                          nicht statt, hat Tomaten auf den Augen. Ich wur-

                                                                                                                                                                                                            59
Anne-Sophie Keller, 29,                                                                                                                            die mit Glitzerschuhen und Handtäschchen in                                            de noch drei Jahre nach Stellenantritt ‹Schätze-
Kolumnistin
                                                                                                                                                   den Kindergarten spazieren, irritiert mich das.                                        li› genannt. Es gab anzügliche Bemerkungen,
                                                                                                                                                   Die Nachfrage für geschlechterspezifische Pro-                                         übergriffige, grenzwertige Sprüche. Auch von
                                                                                                                                                   dukte scheint ungebrochen. Da findet ganz früh                                         Chefinnen. Wer aufmuckt, begibt sich nicht sel-
                                                                                                                                                   im Leben eine Gehirnwäsche statt. In den Läden
                                                                                                                                                                                                            Prozent der                   ten in Teufels Küche. Als ich einmal wie ein Mann
                                                                                                                                                   bekommt man ja kaum mehr ein Unisex-Dusch-                                             meinen Lohn verhandelt hatte, gab es Stunk:
                                                                                                                                                   gel. Entweder das rosa Glitzer-Prinzessinnen-
                                                                                                                                                                                                            Frauen haben                  ‹Hast du deine Tage?› Wenn sich frau als durch-
                                                                                                                                                   Bad oder das blaue Piraten-Abenteurer-Bad. Für
                                                                                                                                                                                                            schon Beläs­                  setzungsfähig zeigt, gilt frau sofort als zickig.
                                                                                                                                                   Eltern ist es schwierig, diesen Mist nicht zu kau-       tigungen in                       Männer krallen sich die interessanten Jobs,
                                                                                                                                                   fen. Kinder wollen das! Dazugehören wollen ist           Form uner­                    Frauen räumen die Tassen vom Sitzungstisch.
                                                                                                                                                   menschlich, klar. Schnell wird daraus schädli-           wünschter                     Man will nett sein – und wird nicht ernst genom-
                                                                                                                                                   cher Gruppendruck. Die Mädchen, die ich hüte,            Berührungen,                  men. Den ‹toughen Shit›, den traut man dir dann
                                                                                                                                                   haben ein iPad-Spiel, bei der sie einer Figur Pickel     Umarmungen                    nicht mehr zu. Frauen brauchen die Chuzpe,
                                                                                                                                                   und Falten wegretuschieren können. Furchtbar.            oder Küsse                    auch mal dreist zu sein. Sie sollten öfter
                                                                                                                                                      Wer früh in eine Rolle gezwängt wird, kämpft          erfahren.                     sagen: ‹Ich mache das jetzt. Punkt.›
                                                                                                                                                   ein Leben lang mit den Folgen. Ich kenne keine                                        AUFGEZEICHNET VON PETER AESCHLIMANN

                                                                                                                                                   Auf der Rangliste der Geschlechtergleichheit liegen Ruanda, Nicaragua und Namibia vor der Schweiz.                 Beobachter 12/2019   29
Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ... Frauen werden bis heute ungleich behandelt. Am 14. Juni protestieren sie dagegen. Die Parolen sind lautstark, die Geschichten dahinter oft leise ...
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