Frühkindliche Bildung braucht Freiräume! - nds-zeitschrift.de
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nds 2-2019 Fridays for Future: Demos in NRW Shareducation zum Nachmachen Wirtschaft als Schulfach? Tarifrunde 2019: Landesweite Streiks Unterrichtsausfall erfassen: So nicht! DIE ZEITSCHRIFT DER BILDUNGSGEWERKSCHAFT Hochschule: Exzellent kaputtgespart 71. Jahrgang Februar 2019 ISSN 0720-9673 Frühkindliche Bildung braucht Freiräume! K 5141
GEW NRW auf der didacta Vielfalt bereichert. Mit gleich zwei Ständen war die GEW NRW vom 19. bis zum 23. Februar 2019 auf der didacta in Köln. So vielfältig wie die Bildungsgewerkschaft selbst waren auch die Fragen der Besucher*innen an die GEW-Expert*innen. Besonders gut kam in diesem Jahr eine Fotobox an, mit der die Besucher*innen der Bil- dungsmesse sich für ihre bildungspolitischen Forderungen starkmachten. Zu Gast am Stand war auch NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer, die von der Landesvorsitzenden Dorothea Schäfer und ihrer Stellvertreterin Maike Finnern begrüßt wurde. GEW-Bundesvorsitzende Marlis Tepe diskutierte beim „Forum Bildung“ zum Thema Wirtschaft und Schule. Mehr unter www.gew-nrw.de/ didacta Text: kue, Fotos: A. Etges
nds 2-2019 3 Die frühe Kindheit braucht Spielwiesen! Bildung beginnt mit der Geburt – eine Erkenntnis, mit der um die Jahrtausendwende die „Entdeckung der frühen Jahre“ einsetzte. Sie wertet die frühe Kindheit nicht nur sozial- und bil- dungswissenschaftlich auf. Sie strapaziert sie auch als nicht zu versäumende Entwicklungsphase, in der pädagogisches Handeln nicht allein das Wohl der pädagogisch Behandelten fokussiert, sondern vielmehr deren ökonomischen Nutzen und lebenslange Verwertbarkeit. Institutionalisierung der frühen Kindheit Prof. Dr. Andrea Platte Aufgefordert, sich als Kindheitspädagogik zu „disziplinieren“ und zu akademisieren, entstanden Professorin für Bildungs- seit 2004 bundesweit über 100 neue Studiengänge, deren Absolvent*innen inzwischen in 13 didaktik an der Fakultät für Bundesländern staatlich anerkannte Kindheitspädagog*innen sind. Die zunehmende Multipro- Angewandte Sozialwissen- fessionalität erweitert Perspektiven und Expertisen, fordert die Kollegialität aber auch heraus: Die schaften der TH Köln Anerkennung für die eingebrachte Arbeitskraft, die pädagogische Kompetenz und Engagiertheit drückt sich nach wie vor nicht in der Entlohnung aus – und das für Bachelor-Absolvent*innen und Erzieher*innen im Gruppendienst gleichermaßen. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bedarf steigert sich die Würdigung pädagogischer „Fach-Kraft“ mit dem Lebensalter ihrer Zielgruppe und divergiert zudem zwischen formalen und non-formalen Bildungssettings. Dem Ruf nach umfassenderer und früher einsetzender Betreuung folgend wurde die Pädagogik der frühen Kindheit ausgebaut und die der mittleren Kindheit durch non-formale Bildung ergänzt. Dadurch hat sich die institutionelle Verantwortung ausgedehnt, haben sich die informellen, dem (kindlichen) Belieben überlassenen Spielräume zurückgebildet und haben sich pädago- gische Professionen multipliziert. Seitdem sind Erzieher*innen, Kindheitspädagog*innen und Sozialarbeiter*innen oft diejenigen, denen die Zuständigkeit für genuin pädagogische Fragen übertragen wird: für Fragen der Übergänge, der Konflikte, des Sozialverhaltens, der Elternberatung, der Mehrsprachigkeit, der Inklusion ... Zwischen Anerkennung und Vereinnahmung Als erste institutionalisierte und fremdbetreute Station in der Bildungsbiografie setzen Kitas oft den Startpunkt sozialer Orientierungen und damit erste Erwartungen bezüglich individueller Leistungsentwicklungen, Neigungen und Förderbedarfe. Gesellschaftlich relevante Themen wie Inklusion, Migration, Armut und soziale Unterschiede spielen sich in ihnen ab und sie übernehmen dort Verantwortung, wo sie zum Beispiel als Familienzentren explizit sozialräumlich eingebunden sind, auch über das pädagogische Handeln hinaus. Interventionen werden von ihnen ebenso erwartet wie die angemessene Vorbereitung auf eine wünschenswerte Schullaufbahn. Als Kita gilt es dabei, sich zu positionieren: zwischen dem Vermögen, einerseits die einst wild gewachsenen Felder frühkindlicher Entdeckungsreisen zu erhalten und nur mit größter Zurück- haltung zu institutionalisieren, und der Erwartung, andererseits keine Lernzeit zu versäumen und die sich öffnenden Fenster kindlicher Entwicklung effizient zu nutzen. Tatsächlich liegen Kraft und „Wir spielten und Alleinstellungsmerkmal der Kindheitspädagogik in deren pädagogischem (Selbst-)Verständnis und spielten und spielten, der weitgehenden Unabhängigkeit vom formalen Bildungssystem, das sie weder zu Platzierungen sodass es das reine und Zuweisungen von Kindern verpflichtet, noch an Bildungspläne und Entwicklungsvorstellungen Wunder ist, dass wir zwingend bindet. Es ist ihr zu wünschen, dass sie sich erlaubt, auf Spielwiesen (sich) selbst gestalten zu dürfen und Kindern Freiräume zu erhalten. Vielleicht liegt der Kern pädagogischen Handelns uns nicht totgespielt weniger in der Beobachtung der „zu erziehenden“ Kinder als in der wachsamen Beobachtung haben.“ bildungspolitischer Entwicklungen mit ihren Verpflichtungen und Vereinnahmungen. // Astrid Lindgren
4 INHALT THEMA BILDUNG 16 10 Frühkindliche Bildung Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention braucht Freiräume! Wo bitte geht’s zur Inklusion? Seite 8 Kita Thomaszentrum in Bochum „Inklusion beginnt bei uns an der Tür.“ Fridays for Future Seite 16 Die Stimme der jungen Generation zum Klimawandel Seite 10 U3-Betreuung Notstand bei den Allerkleinsten „Shareducation“-Projekt der Gesamtschule Langerfeld Seite 20 Soft Skills lernen in Stadt, Land oder Fluss Seite 12 Interessengemeinschaft Kindertagespflege in Essen e. V. „Wir setzen uns ein für Anerkennung und gute Arbeitsbedingungen.“ „Wirtschaft“ als Schulfach? Sozialwissenschaftliche Disziplinen gehören zusammen Seite 21 Seite 14 Reform des Kinderbildungsgesetzes Zahlenspiele sind nicht genug! Seite 22
nds 2-2019 5 ARBEITSPL ATZ IMMER IM HEFT Nachrichten Seite 6 Weiterbildung Seite 33 Infothek Seite 34 Termine Seite 38 Impressum Seite 39 GEW-Kino Seite 40 24 Tarifrunde 2019: Warnstreiks in NRW Tausende Kolleg*innen streikten lautstark für mehr Geld Seite 24 Unterrichtsausfall Digitale und schulscharfe Erfassung ist nicht sinnvoll Seite 26 Vereinfachter Beihilfeantrag Weniger Bürokratie durch die Beihilfe-App? Seite 28 JA 13: Musterklagen für eine gerechte Bezahlung Ich möchte anderen Mut machen! Seite 29 Kürzungen an Hochschulen Exzellent kaputtgespart Seite 30
6 NACHRICHTEN Betreuungsplätze für unter Dreijährige deutlich ausgebaut Die Anzahl der Plätze für unter Dreijährige (U3) und über Drei- Entwicklung der beantragten U3- und Ü3-Plätze in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege jährige (Ü3) in Kitas und in der Kindertagespflege stieg von 2010 bis 2019 deutlich an. Im Kindergartenjahr 2010 / 2011 waren es unter Dreijährige über Dreijährige insgesamt 555.339 Plätze, neun Jahre später waren es 684.725 Plätze. Das geht aus einer aktuellen Statistik des Ministeriums 600.000 für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in NRW hervor. Aufgeteilt nach Plätzen für unter Dreijährige und über Dreijährige 466.675 493.404 500.000 460.982 455.384 458.561 469.832 479.361 ist die Entwicklung sehr unterschiedlich: Die U3-Plätze haben sich 457.436 454.701 400.000 in den neun Jahren mehr als verdoppelt von 88.664 auf 191.321. Die Anzahl der Plätze für ältere Kinder ist nahezu gleich geblieben. 300.000 2010 / 2011 waren es 466.675 Plätze, im Kitajahr 2018 / 2019 200.000 155.571 161.510 168.742 179.472 191.321 493.404 Plätze. Für das Kindergartenjahr 2018 / 2019 waren 117.079 144.831 88.664 100.901 von den 191.321 zur Verfügung stehenden U3-Plätzen 134.173 100.000 Betreuungsplätze für unter dreijährige Kinder in Tageseinrichtungen 0 und 57.148 in der Kindertagespflege. Bei den über Dreijährigen 2010/11 2011/12 2012/13 2013/14 2014/15 2015/16 2016/17 2017/18 2018/19 entfallen 489.158 Plätze auf Kindertageseinrichtungen und 4.246 auf die Kindertagespflege. Mehr ab Seite 16. KiBiz.web Quelle: Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration NRW, KiBiz.web, 2019 Kitazeiten Mehr geförderte Studierende Wie lange Kitas in NRW geöffnet Die Anzahl der Stipendiat*innen aus bislang unterrepräsentierten Gruppen Begreifen sind, geht aus der Antwort auf eine wie Frauen, Migrant*innen oder Kindern aus Arbeiter*innenhaushalten zum Eingreifen Kleine Anfrage der SPD NRW hervor. nimmt zu. Bei den jährlichen Neuaufnahmen ist die Zahl der Migrant*innen Demnach öffnen mehr als die Hälfte von rund 11 Prozent im Jahr 2010 auf rund 24 Prozent im Jahr 2017 der 5.230 einbezogenen Einrich- gestiegen. 2017 lag der Gesamtanteil von geförderten Studierenden tungen vor oder um 7.00 Uhr, mit Migrationshintergrund über alle Begabtenförderungswerke hinweg www. Prekäre Beschäftigung 1.480 öffnen um 7.15 Uhr und bei rund 21,4 Prozent. Auch bei den Neuaufnahmen von Menschen Wie viele Menschen leben 2.689 um 7.30 Uhr. Damit ist aus nicht-akademischen Haushalten hat sich der Anteil von rund 29 dauerhaft in prekärer Beschäfti- im Vergleich zum vergangenen Prozent im Jahr 2010 auf rund 36 Prozent im Jahr 2017 erhöht. Verant- gung? Die Hans-Böckler-Stiftung Jahr eine leichte Verschiebung der wortlich dafür ist unter anderem die Hans-Böckler-Stiftung, die gezielt hat dazu eine Studie in Auftrag Öffnungszeiten auf vor 7.00 Uhr Arbeiter*innenkinder unterstützt. Aktuell stammt etwa die Hälfte der gegeben. Die Ergebnisse zeigen: Jeder*r Achte ist betroffen. festzustellen. 1.844 Einrichtungen Stipendiat*innen aus nichtakademischen Familien. Nicht nur die Zahl www.tinyurl.com/prekaere- schließen um 16.00 Uhr, 4.322 um der Studierenden, auch die der Stipendien ist seit 1998 bundesweit stark jobs 16.30 Uhr und 2.093 schließen gestiegen: von 10.000 auf rund 29.500 im Jahr 2017. Mehr unter www. Sozialstaat www. nach 16.30 Uhr. Landtag NRW tinyurl.com/hbs-stipendiumDGB Was passiert mit Menschen, die nicht arbeiten können? Die KiBiz-Bündnis Europawahl: Wahlbeteiligung steigt Bundeszentrale für politische Bildung hat in dem interaktiven Im Januar 2019 hat sich das 65 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland wollen an der Euro- Tafelbild „Sozialstaat“ für die Bündnis „Mehr Große für die pawahl am 26. Mai 2019 teilnehmen. Das hat eine aktuelle Befragung Grundschule und die Sekundar- Kleinen – #M23“ gegründet. Mit- im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zur politischen Stimmung vor der stufe I das Prinzip des Umlage- systems erklärt. arbeiter*innenvertretungen der Wahl des europäischen Parlaments ergeben. Mit der Prognose deutet www.tinyurl.com/bpb-sozial- Kirchen, Betriebsräte von AWO sich eine höhere Wahlbeteiligung an als beim letzten Urnengang im Jahr staat und FRÖBEL, ver.di und GEW 2014. Damals gaben in Deutschland rund 48 Prozent der potenziellen www. NRW, Berufsverbände, Personalräte Wähler*innen bei der Europawahl ihre Stimme ab. Der positive Trend Armut und Reichtum der kommunalen Kitas sowie der der vergangenen Jahre, dass die Wahlbeteiligung steigt, würde sich Die Kluft zwischen Arm und Landeselternbeirat wollen aktiv in damit fortsetzen. Rund 31 Prozent der knapp 2.700 wahlberechtigten Reich ist in Deutschland weiter die Debatte um die Neufassung Befragten hatten eine Präferenz für die CDU / CSU. 17 Prozent gaben ein Problem. Das geht aus dem aktuellen Ungleichheitsbericht des Kinderbildungsgesetzes (KiBiz) an, die GRÜNEN wählen zu wollen. 16 Prozent äußerten eine Vorliebe der Organisation Oxfam hervor. in NRW eingreifen. Für den 23. Mai für die SPD, 15 Prozent für die AFD. Die LINKE und die FDP kommen auf www.tinyurl.com/ungleich- 2019 ruft das Bündnis zu einer jeweils 9 Prozent der potenziellen Wähler*innenstimmen. Mehr unter heitsbericht Großdemo auf. #M23 www.tinyurl.com/europawahl-2019 Hans-Böckler-Stiftung
nds 2-2019 7 Fridays for Future Sprachunterricht Petition zum Einschulungsstichtag Das NRW-Schulministerium Die NRW-Landesregierung plant, Mit ihrem Vorstoß gegen eine allzu frühe Einschulung von Kindern hat nimmt die Proteste der internationa- Englisch an Grundschulen erst wie- eine Mutter aus Essen den Nerv vieler Eltern getroffen: Ihre Onlinepetition len Klimabewegung „Fridays for Fu- der ab der dritten Klasse zu unter- mit der Forderung, den Einschulungsstichtag zu verschieben, unterstütz- ture“ nicht mehr hin, an denen auch richten. Daraufhin forderte der ten bereits mehr als 33.000 Menschen. Die Initiatorin Sylvia Montanino in NRW viele Jugendliche freitags in Vorsitzende des NRW-Integrations- will erreichen, dass Kinder mit Geburtstag im Spätsommer nicht schon der Schulzeit teilnehmen. In einer rats, Tayfun Keltek, dass Englisch mit fünf Jahren zur Schule gehen müssen. Bislang ist jedes Kind, das bis zum 30. September sechs Jahre alt wird, nach den Sommerferien schul- Schulmail an alle Lehrer*innen hat- erst in der weiterführenden Schu- pflichtig. Aus Sicht der Petitionsinitiatorin ist das für manche Kinder zu te das Ministerium auf einen Rund- le unterrichtet werden soll. Statt- früh. Die Essenerin will erreichen, dass Eltern mit Kindern, die zwischen erlass aus dem Jahr 2007 zur dessen sollten Grundschulen wech- Juli und Ende September geboren sind, selbst entscheiden können, ob Überwachung der Schulpflicht selnde Sprachkurse ermöglichen, sie ihr Kind schon für alt genug halten. Bisher müssen gravierende ge- verwiesen. Darin werden Sank- die sich an der Zusammensetzung sundheitliche Gründe vorliegen, um die Einschulung eines Kindes um ein tionen beschrieben, die möglich der Klasse orientieren. Gebe es un- Jahr zurückzustellen. Das NRW-Schulministerium sieht keinen Grund, die sind, wenn Schüler*innen nicht am ter den Kindern mit Migrationshin- Regelungen zu ändern. Eltern können inzwischen auch zusätzliche Gut- Unterricht teilnehmen. Die GEW tergrund eine Mehrheit türkischer achten vorlegen, wenn sie ihr Kind später einschulen möchten. Dorothea NRW setzt hingegen auf kreative Kinder, würde demnach ihre Mutter- Schäfer, Vorsitzende der GEW NRW, unterstützt die Initiative: „Wir haben Lösungen beim Umgang mit dem sprache angeboten. GEW NRW und schon beim Regierungswechsel im Jahr 2010 die Rückkehr zum Stichtag Engagement der Schüler*innen. das Schulministerium weisen diesen 30. Juni gefordert mit einer Antragsregelung für jüngere Kinder.“ Mehr Mehr ab Seite 10. WDR/kue Vorschlag entschieden zurück. kue unter www.tinyurl.com/einschulung-petition dpa Lehrkräftemangel bleibt ein Problem Weiterbildung sichert den Job Die Vorsitzende der GEW NRW, Dorothea Schäfer, stellte der NRW- Wer das Abitur nachholt, neben dem Job noch ein Studium absolviert Landesregierung anlässlich der Halbjahreszeugnisse ein Zwischenzeugnis oder den Meister macht, hat gute Chancen auf einen höher dotierten aus: „Die Landesregierung muss sich mehr anstrengen. Der Lehrkräfte- Posten im Unternehmen. Ob das auch für die vielen kleineren Fortbil- mangel ist keine Eintagsfliege, sondern ein Dauerphänomen. Wenn jetzt dungen gilt, an denen Arbeitnehmer*innen regelmäßig teilnehmen, nicht gehandelt wird, verschärft sich die Situation in den kommenden haben die Forscher Christian Ebner vom Karlsruher Institut für Technologie Jahren weiter.“ Diese Einschätzung belegen auch Meldungen aus den und Martin Ehlert vom Wissenschaftszentrum Berlin untersucht. Knapp Personalvertretungen, wonach die Lage weiterhin angespannt bleibt 83 Prozent der Teilnehmer*innen betrieblicher Weiterbildung haben im und erneut viele Stellen nicht besetzt werden konnten. Zum 1. Februar gesamten Untersuchungszeitraum dieselbe Tätigkeit verrichtet, stellten 2019 wurden zwar neue, aber immer noch zu wenige Lehrkräfte an den die Wissenschaftler fest. Bei den übrigen Beschäftigten waren es nur Schulen in NRW eingestellt. „Insbesondere die Schulen in Stadtteilen mit rund 63 Prozent. Etwa fünf Prozent der Fortgebildeten sind beruflich besonderem Erneuerungsbedarf müssen besser mit Lehrkräften versorgt aufgestiegen, bei den anderen waren es knapp 13 Prozent. „Betriebliche werden“, fordert Dorothea Schäfer. Die GEW NRW schlägt deshalb vor, Weiterbildung scheint den Verbleib auf der aktuellen Position zu fördern für drei Jahre das schulscharfe Einstellungsverfahren für Grundschulen und Mobilität – egal in welche Richtung – entgegenzustehen“, fassen zugunsten eines landesweiten Listenverfahrens auszusetzen. Mehr unter die Forscher die Ergebnisse ihrer Studie zusammen. Mehr unter www. www.tinyurl.com/zwischenzeugnisbp tinyurl.com/hbs-weiterbildung Hans-Böckler-Stiftung Azubi-Ticket kommt im Sommer Gewonnen! Das NRW-Verkehrsministerium plant, nach den Sommerferien ein Azubi- Ticket einzuführen. Die DGB-Jugend NRW begrüßte diese Entscheidung: Für die neue Mitgliederzeitschrift der GEW NRW haben Sie viele „Seit 2017 machen sich die Jugendverbände der Gewerkschaften in NRW kreative Namensvorschläge eingereicht! Als Dankeschön haben wir für ein landesweites Azubi-Ticket stark“, sagt Eric Schley, Jugendsekretär des unter allen Einsendungen 20 mal 2 Kinotickets verlost. Gewonnen DGB NRW. „Unser Druck hat Wirkung gezeigt! Ab diesem Sommer können haben: Julian Schad, Katrin Disselhoff, Mia Feldmann, Jürgen nicht nur Studierende, sondern auch Azubis mit einem vergünstigten Ticket Kamenschek, Marvin Stutzer, Philipp Einfalt, Joachim Krause, Petra öffentliche Verkehrsmittel in ganz NRW nutzen.“ Ein Wermutstropfen des Hillnhütter, Michael Kaysers, Monika Scharf, Ulrich Dierkes, Christine neuen landesweiten Tickets ist allerdings der Preis: „Für Auszubildende Pannhorst, Willi Köchling, Horst-Manfred Gerngreif, Monika Voigt, sind 80,- Euro monatlich sehr viel Geld“, erklärt Eric Schley. Ein Semester- Ömer Yorgun, Britta Schwingel, Uwe Reich, Bärbel Sibbing und Simone ticket für Studierende ist deutlich günstiger. „Azubis bleiben hier gegen- Flissikowski. Wir gratulieren allen Gewinner*innen und wünschen über Studierenden benachteiligt, das ist nicht fair.“ Die GEW NRW wird viel Spaß im Kino! Die Tickets machen sich bereits mit der Post auf sich ihrerseits dafür einsetzen, dass auch Lehramtsanwärter*innen und den Weg zu Ihnen. Alle eingereichten Namensvorschläge für das Referendar*innen einbezogen werden. Mehr unter www.tinyurl.com/ neue Magazin zum Nachlesen auf Seite 23. nds-Redaktion azubiticket-dgb DGB NRW
8 BILDUNG Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention Wo bitte geht’s zur Inklusion? Die Politik in NRW hat die Aufgabe Länder wie Bremen und Schleswig-Holstein, mit haft, es gebe eigentlich kaum Handlungsbedarf, des Gemeinsamen Lernens völlig unter- Abstrichen auch Berlin und Hamburg, zumindest irgendwie sei jetzt schon alles inklusiv oder schätzt. Der Weg aus der Krise gelingt eine beeindruckende inklusive Schulstatistik „dual-inklusiv“ wie es der Rehabilitationswis- nur, wenn die Probleme benannt und vorweisen. Auf der Habenseite sei außerdem senschaftler Otto Speck beschreibt. gemeinsam gelöst werden. vermerkt: Seitdem die Konvention verabschiedet Die andere Seite der Zange bilden gleich zwei ist, wird über die Bildungschancen der Menschen Fehlinformationen: Das Gemeinsame Lernen Die protokollierten Bundestagsreden wer- mit Behinderung und die pädagogische Antwort habe sich per se als vorteilhaft erwiesen und es ten das Ereignis als „Meilenstein“ und „Grund der Schulen immerhin öffentlich gestritten. sei kostenlos zu haben. Diese Thesen wurden lan- zum Feiern“. Das ist ziemlich untertrieben. Die Die Separierung in Förderschulen steht unter ge von vielen Inklusionsoptimist*innen verbreitet UN-Behindertenrechtskonvention, die im März Rechtfertigungsdruck. und führten in ambitionierten Bundesländern 2009 in Deutschland geltendes Recht wurde, Diese Fortschritte können aber nicht darüber wie NRW geradewegs in die Misere. So war ist nichts Geringeres als der vorläufig jüngste hinwegtäuschen, dass die schulische Inklusion die Debatte und in der Folge auch die Politik Spross der allgemeinen Menschenrechte. Sie in der Krise steckt. „Lotta Schultüte“ heißt das geprägt von zwei pädagogischen Todsünden: steht in einer Reihe mit den Menschheits- geradezu paradigmatische Buch dazu, in dem mangelnder Ehrlichkeit gepaart mit einer aus- errungenschaften der Vereinten Nationen gegen die inklusionsbegeisterte Autorin Sandra Roth geprägten Bereitschaft, nur das in den Blick zu Rassendiskriminierung (1965), für die Rechte der für ihre behinderte Tochter zunehmend verzwei- nehmen, was man sehen will. Frauen (1979) und der Kinder (1989). Zehn Jahre felt einen guten Bildungsort sucht – und sich später? Ausgerechnet beim Thema Inklusion, am Ende für eine Förderschule entscheidet. Ist der Leitidee der Konvention: Katzenjammer. das ganze Projekt also am Ende ein „Märchen Zum Weiterlesen Wie konnte es so weit kommen? Und wie geht von der Inklusion“ ohne Happy-End, wie es die Wie wir das gemeinsame Lernen retten können es jetzt weiter? aktuelle ARD-Doku suggeriert? Inklusion: Ganz oder gar nicht Schulische Inklusion steckt in der Krise Zangengeburt mit Folgeschäden Zunächst einmal sei anerkannt: Vieles hat die Die Rückschau offenbart eine schwierige UN-Behindertenrechtskonvention in Deutsch- Geburt mit gravierenden Folgeschäden. In weit land in Bewegung gebracht. Angefangen von konkreterem Sinne als es Uwe Becker mit seiner Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, 2018 der mittlerweile in der Kita real praktizierten Grundsatzkritik „Die Inklusionslüge“ intendierte, ISBN 978-3-525-70248-2 Inklusion bis hin zu weniger gesetzlicher Dis- geriet Inklusion hierzulande von Anfang an in die 183 Seiten kriminierung in den Schulgesetzen der Länder Zange absichtsvoll verbreiteter Unwahrheiten. 19,- Euro oder mehr verbrieften Rechten für Menschen mit Auf der einen Seite lautet die These: In Deutsch- Ist Inklusion nicht möglich? Oder liegt ihr Behinderung durch das Bundesteilhabegesetz. land entspreche die Realität bereits weitgehend schlechter Ruf am fehlenden Veränderungswillen der Schulen? Autor Tillmann Nöldeke zeigt auf, Und während die Inklusion im Berufsleben der Konvention, selbst in den Schulen. Bis heute wie Inklusion gelingen kann. noch fast gar nicht angekommen ist, können argumentieren Inklusionsskeptiker*innen ernst-
nds 2-2019 9 ansehen. Gut ausgestattet und von überzeugten pädagogisch-therapeutischen Fachkräften getra- gen, könnten sie sich zu Orten ganzheitlicher Bildung entwickeln, die Kinder und Jugendliche unabhängig vom sozioökonomischen Status ihrer Elternhäuser stark machen für die mehr denn je ungewisse Zukunft. Ermöglichen könnte das eine nationale Bil- dungskommission, in der sich nach dem Vorbild der Kohlekommission Vertreter*innen aus Wis- Fotos: go2 / photocase.de, iStock.com / Khosrork senschaft, pädagogischer Praxis, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzen. Sie hätte verbindlich zu klären, wohin die in- klusive Reise gehen soll, und müsste endlich einen konkreten, realitätsnahen Reiseplan samt Finanzierung liefern. Das allerdings steht wohl – vorsichtig gesagt – nicht ganz oben auf der politischen Agenda. Reha für die behinderte Gesellschaft So bleiben die Hoffnungen bescheiden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ausgerechnet das Thema Inklusion bislang mehr polarisiert als verbindet, selbst unter Betroffenen. Das Widerspenstige Wirklichkeit gesellschaftlichen Tendenzen, die sich in unserem Reformvorhaben wird jedoch nur gelingen, wenn Wahr ist: Bereits in den 1990er-Jahren hat selektiven Schulsystem widerspiegeln – samt Menschen mit Handicap unabhängig von der man in NRW die auf Amtsdeutsch personalkos- Bildungsstandards und permanenten PISA-Tests. Schulfrage wieder zu neuer Gemeinsamkeit tenneutral genannte Integration von Kindern Schule für das 21. Jahrhundert finden und sich zusammen mit reformbereiten mit Behinderung in der Schule erprobt mit dem Pädagog*innen für echte Veränderungen ein- Was müssen inklusive Schulen leisten? „Lottas Ergebnis, dass sie nicht möglich ist. Ebenso wahr setzen. Helfen könnte die Erkenntnis, dass es Schule sollte ein Kind unterrichten wollen, das, ist: Es gibt in Deutschland seit den 1980er- wenig sinnvoll ist, die Förderschulen zu bekämp- wie [ ihr älterer Bruder, Anm. d. Red.] Ben sagen Jahren erfolgreiches Gemeinsames Lernen – an fen, weil sie nicht Feind sind, sondern Gehhilfe würde, ‚so richtig behindert‘ ist. Ich wünsche ihr Schulen, die sich mit großem Engagement und einer menschlich noch ziemlich behinderten eine Schule, wo das Trinken aus einem Becher klugen pädagogischen Konzepten dieser großen Gesellschaft. Schmeißt jemand mit gelähmten ein genauso ernst zu nehmendes Lernziel sein Aufgabe stellten und genug Lehrer*innen hat- Beinen einfach seine Krücken weg, fällt er auf kann wie Bruchrechnen, wo Physiotherapie ten, um sich den Kindern individuell widmen die Schnauze. Klammert er sich dran fest, wird zu können. Ausgerechnet diese Schulen wur- und Sport sich ergänzen, wo eine mühsam er nie auf eigenen Füßen laufen lernen. Wenn’s den in den vergangenen Jahren im Zuge der geöffnete Hand genauso gelobt wird wie ein was werden soll mit der Inklusion, braucht der flächendeckend verordneten Inklusion immer sauber geschriebener Text“, schreibt Sandra Roth. Patient Geduld, Achtsamkeit, Mut und eine mehr kaputtgespart. Damit das klappen kann, brauchen Schulen ziemlich gute Reha. // Um zu verstehen, vor welchen Aufgaben die weit mehr als ausreichende Ressourcen und Schulen stehen, hilft ein unverstellter Blick auf Lehrer*innen mit der richtigen Einstellung. Sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Um nur müssen ihre ganze pädagogische Konzeption, ihre Organisation, ihren Unterricht und sogar www. GEW NRW: Themenseite „Inklusion“ einige zu nennen: www.gew-nrw.de/inklusion ◆◆ Die Gefahr ist real, dass durch Gemeinsames ihre Bildungsziele neu ausrichten. Nur wenn das www. Sandra Roth: Leseprobe „Lotta Schultüte“ Lernen das Lernniveau absinkt, wenn die tatsächlich geschieht, wird Gemeinsames Lernen www.tinyurl.com/leseprobe-lotta Schulen ohnehin viele sozial benachteiligte verantwortbar. Dabei muss ihnen der Ausgleich Uwe Becker: Leseprobe „Inklusionslüge“ Schüler*innen unterrichten und schlecht zwischen Bildungsstandards und individueller PDF www.tinyurl.com/leseprobe-inklusionsluege vorbereitet sind. persönlicher Entfaltung, der Spagat zwischen www. ARD: Dokumentation „Märchen von der ◆◆ Förderkinder mit kognitiven Schwächen oder Förderung der Fähigkeiten und Chancenvertei- Inklusion“ www.tinyurl.com/ard-maerchen-inklusion Verhaltensproblemen werden bis zu dreimal lung gelingen. Je „besonderer“ die Kinder und häufiger sozial ausgegrenzt als ihre Peers. Jugendlichen, desto schwieriger ist das. ◆◆ Schulen, die schlecht in die Inklusion gestartet Wo geht’s jetzt lang zur Inklusion? Die Chance Tillmann Nöldeke sind, haben sich oft auch nach vielen Jahren bestünde darin, inklusive Schulen so attraktiv zu Lehrer an einer Gesamtschule, Autor und Pflegevater eines Jungen mit kaum weiterentwickelt. machen, dass die Kinder gerne dort lernen und Behinderung Aber vor allem steht der Inklusionsgedanke im Eltern wie Lehrkräfte sie als zeitgemäße Antwort eklatanten Widerspruch zu den exkludierenden auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
10 BILDUNG Fridays for Future Die Stimme der jungen Generation zum Klimawandel Jeden Freitag demonstrieren bundesweit Schüler*innen nach dem Vorbild von das sollten ja Politiker*innen mitbringen, die Klimaaktivistin Greta Thunberg für wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel. Verantwortung für unsere Zukunft tragen. Wenn In NRW organisiert Studentin Carla Reemtsma aus Münster viele Demos mit. Im Deutschland seiner wirtschaftlichen Vorreiter- Interview erklärt sie, warum ihr das Thema so wichtig ist und welche Pläne die rolle noch länger entsprechen möchte, muss es junge Klimabewegung für 2019 hat. das auch klimapolitisch tun und international ein echtes Vorbild werden. nds: Die Kohlekommission hat im Januar 2019 Braunkohleverstromung, Förderung des öffent- einen stufenweisen Ausstieg bis 2038 vorge- lichen Nahverkehrs und des Fahrradverkehrs, Um den politisch Verantwortlichen klar und schlagen. Warum seid ihr mit dem Ergebnis ein Umdenken in der Landwirtschaft und in deutlich eure Meinung zu sagen, demonstriert nicht einverstanden? der Industrieproduktion, eine Reduktion des ihr freitags in unterschiedlichen Städten gegen Flugverkehrs und vieles mehr. Nur dann kann die aktuelle Klimapolitik. Wie seid ihr auf die Carla Reemtsma: Mit der Entscheidung für Deutschland nicht nur wirtschaftlicher, sondern Idee gekommen mitzumachen? einen Kohleausstieg weit nach 2030 zeigt die Kohlekommission, dass ihr kurzfristige wirt- auch klimapolitscher Vorreiter sein und inter- Die Idee der Schulstreiks stammt ja gar nicht schaftliche Interessen wichtiger sind als eine national zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels beitra- von uns, sondern von Greta Thunberg. Die 16-jäh- konsequente, generationengerechte Klimapolitik. gen. Wir können nicht länger ideologisch über rige Schwedin streikt seit August jeden Freitag Die Kohlekommission versucht, den Bericht als den Klimawandel reden wie über Steuersätze. vor dem schwedischen Parlament und hat damit gelungenen Kompromiss darzustellen, allerdings Dass sich das Klima verändert, ist wissenschaft- eine weltweite Bewegung angestoßen. Wie die ist diese Entscheidung kein Konsens: Die Stimme licher Fakt. Auch Maßnahmen sind längst be- Leute zu uns gekommen sind, ist sehr unter- der jungen Generation, die mit den Folgen des kannt, allerdings mangelt es an politischem schiedlich. Ich selbst bin schon länger klimapoli- Klimawandels leben muss, wurde nicht gehört. Willen, sie umzusetzen. Das braucht Vorstellungs- tisch engagiert und habe über Social Media von Dass jetzt führende Unionspolitiker auch noch kraft und vielleicht auch etwas Mut, aber genau den Streiks erfahren. Spätestens nach dem Hitze- diese Entscheidung in Frage stellen, zeigt, dass hier eine auf Konzerninteressen ausgerichtete Politik betrieben wird, anstatt endlich angemes- Demos gegen Klimawandel sen auf die seit Jahrzehnten bekannte Klimakrise zu reagieren. Wir fordern die Einhaltung der GEW NRW begrüßt Klimaengagement Klimaziele – sowohl des deutschen bis 2030 als Mehr als 30 Ortsgruppen der Klimabewegung die Schüler*innen für ihre Überzeugung einstehen. Fridays for Future haben sich in NRW schon zusam- Androhungen von Sanktionen bei Verletzung der auch des internationalen 1,5-Grad-Ziels. Schon mengefunden. Ihr Ziel: die Politik aufzurütteln und Schulpflicht, wie der Eintrag von unentschuldigten jetzt kommt die Klimakrise schneller und mit zum Handeln zu bewegen. Fehlstunden ins Zeugnis, halten wir nicht für den gravierenderen Konsequenzen als erwartet, wes- Die Demonstrationen fanden unter anderem in Düssel- richtigen Weg. Wir begrüßen, wenn Schulleitungen wegen gerade die international beschlossenen dorf, Aachen, Münster, Bochum und Dortmund statt. und Lehrkräfte verantwortungsvoll mit den Protest- Ziele nicht verhandelbar sein dürfen. Die Bildungsgewerkschaft GEW NRW begrüßt, dass bedürfnissen der Schüler*innen umgehen und mit junge Menschen sich Gedanken um ihre Zukunft ma- Projektunterricht, außerschulischem Lernen und De- Gleichzeitig bedarf es einer entschlossenen chen. GEW-Landesvorsitzende Dorothea Schäfer sagt: mokratiebildung die aktuellen Themen behandeln. Klimapolitik in allen Bereichen. Das heißt kon- „Es ist beeindruckend, mit welcher Entschlossenheit Das ist gelebte Schulkultur.“ bp kret: ein schnellstmöglicher Ausstieg aus der
nds 2-2019 11 Die Reaktionen von Lehrer*innen, Schul- sie in dieser Form noch nie hatte und die wir leitungen und Behörden sind sehr unterschied- jetzt nutzen werden. lich: Teilweise wurde es ihnen verboten, Be- Innerhalb der Bewegung passiert gerade urlaubungsanträge von Schüler*innen anzuneh- viel: Wir diskutieren über mögliche Ausrich- men. Die Schulleitungen stecken oft in einem tungen und konkrete Forderungen. Bleiben Dilemma, da die rechtliche Lage unklar ist. wir eine reine Protestbewegung oder vertreten Viele Lehrer*innen unterstützen das Anliegen wir gewisse Positionen? Sollen andere Alters- und freuen sich über das Engagement. Viele gruppen eingebunden werden und soll eine Schüler*innen suchen das direkte Gespräch mit gesamtgesellschaftliche Bewegung entstehen? der Schulleitung, um eine Lösung zu finden, die Wie wollen und können wir politisch agieren? es allen ermöglicht, ohne Angst vor Strafen am Auch über Organisationsstrukturen wird viel Streik teilzunehmen. Im persönlichen Austausch gesprochen, da momentan vieles wegen der verstehen die Schulleitungen und Lehrer*innen kurzen Entstehungszeit etwas chaotisch läuft. Carla Reemtsma studiert Politik und Wirtschaft in Münster. viel besser, wie sehr den Schüler*innen das Daneben tragen viele von uns ihren eigenen In ihrer Freizeit engagiert sie sich für Klimaschutz und Teil zum Kampf gegen den Klimawandel bei, organisiert die Demos der Klimabewegung Fridays for Thema am Herzen liegt und oft kann ein Kom- achten schon jetzt in ihrem persönlichen Kon- Future in NRW mit. promiss gefunden werden. sumverhalten, bei der Ernährung oder der Wahl An einer Schule in Münster ist es beispiels- sommer und der ziemlich ergebnislosen Klima- der Fortbewegungsmittel auf Nachhaltigkeit. weise so geregelt, dass die Schüler*innen ohne konferenz „COP24“ wollte ich etwas bewegen Die Schüler*innen tragen das Thema in die Probleme am Streik teilnehmen können, wenn und den Politiker*innen zeigen, dass klima- Schulen, wo es noch einmal wissenschaftlich sie den Stoff nacharbeiten und einen Aufsatz politisches Nichthandeln keine Möglichkeit aufgearbeitet wird, aber auch in ihre Familien. abgeben, warum und wofür sie streiken. Andere Dort werden plötzlich Überlegungen angestellt, mehr ist. Über eine bundesweite WhatsApp- Schulen gestalten die Teilnahme auch als Projekt wie das Leben klimafreundlicher gestaltet wer- Gruppe habe ich Mitstreiter*innen in Münster der Schüler*innenvertretung oder als Ausflug mit den kann. Hierbei gilt das, was Greta Thunberg gefunden, mit denen wir die Streiks ganz klein allen interessierten Schüler*innen und greifen in ihrer Rede auf der Klimakonferenz gesagt hat: begonnen haben und von da an sind wir stetig die Themen noch einmal im Unterricht auf. „Man ist nie zu klein dafür, um einen Unterschied gewachsen. Einige sind natürlich bereits bei Welche Pläne habt ihr für dieses Jahr, um zu machen.“// Klimainitiativen oder Nichtregierungsorganisa- Die Fragen stellte Jessica Küppers. den Kampf gegen den Klimawandel weiter tionen aktiv, gleichzeitig erreichen wir durch die voranzubringen und die Politik unter Druck breite Mobilisierung viele Schüler*innen: Die zu setzen? Jugendlichen werden nicht nur für die klima- Zuerst einmal werden wir weiter streiken. Die politischen Fehler sensibilisiert und überdenken www. Klimabewegung „Fridays for Future“ Stimme der jungen Generation ist im politischen www.fridaysforfuture.de ihr eigenes Verhalten, viele engagieren sich auch Diskurs unterrepräsentiert, bei der Diskussion www. Berthold Paschert: GEW NRW zur zum ersten Mal politisch und lernen dadurch über Klimapolitik aber umso wichtiger, denn Schüler*innenbewegung „Fridays for viel über Demokratie und Partizipation. Future“ wir sind die letzte Generation, die noch etwas www.tinyurl.com/klimabewegung Wie reagieren Lehrer*innen auf die Freitags- ändern kann. Gleichzeitig sind wir die Ersten, www. Bundesregierung: Kommission „Wachstum demos? Zeigen sie Verständnis dafür? Wie die mit den Folgen der Klimakrise leben müssen. Strukturwandel und Beschäftigung“ überzeugt ihr sie? Die Streiks geben der Jugend eine Stimme, die www.kommission-wsb.de Hunderte Schüler*innen streikten unter anderem am Zeugnistag in unterschiedlichen NRW-Städten für ein besseres Klima und ihre Zukunft. Fotos: J. Michaletz
12 BILDUNG „Shareducation“-Projekt der Gesamtschule Langerfeld Soft Skills lernen in Stadt, Land oder Fluss Durch die Eifel wandern, Street-Art entwerfen oder ein Floß bauen – im neuen Gelernte wirkt lebenslang und wird nicht nur in Projekt „Stadt Land Fluss“ (SLF) gehen die Achtklässler*innen der Gesamtschule der Berufswelt geschätzt und gesucht, sondern Langerfeld an ihre Grenzen. Die Jugendlichen stellen sich ein Jahr lang einer ist auch für die persönliche Entwicklung von selbst gewählten Herausfo(e)rderung und entdecken außerhalb ihrer Komfortzone großem Vorteil. Welches Potenzial in der Heraus- neue, persönliche Fähigkeiten. forderung liegt, haben Reformpädagog*innen wie Kurt Hahn und Maria Montessori oder die Über Berge kraxeln, mit einem selbstge- im Zeichen von Street-Art, einer journalistischen Initiator*innen des Projekts „Schule im Aufbruch“ bauten Floß gegen den Strom paddeln oder Herausforderung in Zusammenarbeit mit dem schon lange erkannt und in ihren pädagogischen mit dem Elektronenmikroskop in fremde Welten Westdeutschen Rundfunk in Köln oder einer Konzepten angeboten. Warum ist das Langer- eintauchen: Ganz egal, für welche Heraus- wissenschaftlichen Expedition in Kooperation felder Modell also neu? Was unterscheidet „Stadt forderung sich die Schüler*innen der Gesamt- mit dem naturwissenschaftlichen Zweig der Land Fluss“ von bisherigen Ideen? schule Langerfeld in dem neuen Projekt „Stadt Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Land Fluss“ entscheiden – sie kommen heraus, Projekt ist gleich vierfach innovativ Schüler*innen erweitern ihre sie fordern sich und die individuelle Förderung Erstens ist das Projekt an alle Schüler*innen persönlichen Fähigkeiten kommt dabei ganz von selbst. gerichtet und überall umsetzbar. Dank der Entwicklungspsychologisch und neurobiolo- Durch die Art der Herausforderung, welche Struktur und des Engagements der Kolleg*innen gisch ist die Pubertät genau das Alter, in dem die Schüler*innen gemeinsam und selbstständig sowie der lokalen und administrativen Partner Erfahrungslernen besonders prägend ist. Mit ein Jahr lang vorbereiten und anschließend gewährleistet das Langerfelder Modell, dass der Auseinandersetzung mit der eigenen Posi- bewältigen, lernen sie, wie Entscheidungen und Schüler*innen aller sozialen Herkünfte am tion im Leben und in der Gesellschaft beginnt Wirkungen zusammenhängen sowie Entwick- Projekt teilnehmen können und zwar unab- für die jungen Menschen die Suche nach sich lungen auf ihr eigenes Handeln zu beziehen. hängig von der Finanzkraft ihrer Familien. selbst und nach den eigenen Fähigkeiten vor Sie tragen als Handelnde direkte Verantwortung Zudem machen alle Jugendlichen der inklusiven allem im Hinblick auf ihre mögliche berufliche und müssen die heute erforderlichen Soft Skills Klassen und der internationalen Förderklassen Orientierung. An dieser Stelle setzt das Projekt wie Selbstorganisation, Eigenverantwortlichkeit, mit, sodass Integration und Inklusion integrale an und bietet den rund 170 Schüler*innen der Selbstständigkeit, Problemlösefähigkeit, Team- Bestandteile des Projekts sind. achten Klassen verschiedene Herausforderungen fähigkeit und Stressresistenz einsetzen und weiter- Zweitens ist die intensive Auseinanderset- an. Der Fokus liegt darauf, sie intellektuell, entwickeln. Gleichzeitig erfahren sie ein hohes zung mit der Wirksamkeit des Projekts relevant. konditionell, sozial und emotional aus ihren Maß an Selbstwirksamkeit. Dadurch werden die So begleitet Bildungsforscher Dr. Matthias persönlichen Komfortzonen herauszuholen und Schüler*innen handlungsfähiger und können in Rürup die Schule für eine nationale Studie der ihre Grenzen zu verschieben. Situationen wie Klausurstress oder Vorstellungs- School of Education der Bergischen Universität Wählen können die Schüler*innen zwischen ei- gesprächen zielgerichteter, selbstbewusster und Wuppertal bei der Umsetzung. Die Zusammenar- ner Survival-, Berg-, Floß- oder Fahrradexpedition, lösungsorientierter agieren. beit führte zu einem gezielten Lehrangebot, das einer sozialen Herausforderung in Zusammenar- Der Ausbau der genannten Fähigkeiten be- die Realisierung von Herausforderungsprojekten beit mit den Wuppertaler Tafeln, einer künst- deutet eine Verbesserung der Lernsituation in der an Regelschulen in der Lehramtsausbildung ab lerischen oder musikalischen Herausforderung Schule, geht aber noch weit darüber hinaus: Das dem Sommersemester 2019 zum Inhalt hat.
nds 2-2019 13 Dies führt zur vierten Innovation: dem Jugendliche entwickeln sich persönlich deutschlandweit ersten Schüler*innenfirmen- und in der Gesellschaft weiter Franchise-System namens „stuffal“. Die Firma SLF orientiert sich mit seinem Profil und seinen betreibt einen Pool, aus dem jede*r Equipment Zielen an den Biografien seiner Schüler*innen. für seine nächste Eifelexpedition, Floßfahrt Alle Beteiligten bekommen eine in jeder Hinsicht oder Bike-Tour ausleihen kann. Das Warenwirt- individuelle und lebensnahe Herausforderung schaftsprogramm der Homepage ermöglicht und damit die Möglichkeit, sich persönlich termingenaues Reservieren der gewünschten weiterzuentwickeln. Außerdem haben die Ausrüstungen und macht es den Mitgliedern Schüler*innen die einmalige Möglichkeit, selbst denkbar einfach, ihre Projekte umzusetzen. Ist gestaltend und nachhaltig auf ihre Schullauf- man Schüler*in einer Netzwerkschule, erhält bahn einwirken zu können. Darüber hinaus man einen Sozialtarif, der die Ausleihgebühr lernen die jungen Menschen, sich sicher im erheblich senkt. nachhaltigen Umgang mit anderen Menschen Schüler*innen pflegen einen und ihrer Umwelt zu bewegen sowie sich als Teil eigenen Materialpool einer erfolgreichen, inklusiven, integrativen und kulturoffenen Gesellschaft zu entwickeln. Wer Der Materialpool von SLF wird von Schüle- diese Ziele verfolgen möchte und Unterstützung r*innen organisiert, geleitet, gepflegt und aus- braucht, ist im SLF-Netzwerk genau richtig. // gebaut. Selbst das Warenwirtschaftssystem des Pools wurde von ihnen programmiert und ein- gerichtet. Neben der Betreuung der Kundenkon- takte, Terminvergabe und Ausleihe kümmern sich Die größte Innovation aber ist mit dem www. Projekt: Stadt Land Fluss – die Schüler*innen der Firma um die Instandset- Herausfo(e)rderung angenommen Begriff „Shareducation“ – also Bildung teilen – zung aller Ausleihgüter, deren Katalogisierung, www.stadtlandfluss-online.de verbunden. Die Idee, eine Herausforderung für die Organisation des Lagersystems und den Aus- www. Gesamtschule Langerfeld eine Klasse, einen Jahrgang oder gar für die www.ge-langerfeld.de bau durch kreative Ideen für Neuanschaffungen. ganze Schule zu organisieren, ist eine anspruchs- Daneben entwickeln sie eigene Geschäftsideen volle Aufgabe für Organisator*innen und wie Jugendcamps, digitale Dienstleistungen oder das System Schule: Ablaufplanung, Material, Mathias Hugo Pfeiffer die Gestaltung von Werbeaufträgen. Im Rahmen Finanzierung, Sicherheitserlasse, Organisation, Netzwerkkoordinator an der Gesamt- des Netzwerks entstehen so an SLF-Standort- Betreuungsschlüssel, Elternbriefe und vieles schulen bundesweit neue Materialpools, die schule Langerfeld mehr wollen bedacht werden. Ein enormer ihrerseits Schüler*innenfirmen im Sinne eines Aufwand, der Zeit, Personal und Ressourcen Franchise-Systems bilden können. bindet. Doch was wäre, wenn all das bereits vorbereitet wäre? Wenn man das Outdoor- material zu einem sozialverträglichen Preis mieten könnte? Und wenn die Organisation, Dokumentation und Kommunikation mit den Eltern einfach über eine bereits vorhandene und für die Schule nutzbare Homepage zur Verfügung stünden? Dafür wurde 2018 das Herausforderungs- netzwerk SLF gegründet, das über die Kon- sequenzen und die Herausforderungen bei der Etablierung eines solchen Projekts im Schulalltag informiert. Ein spezielles Fortbil- dungsprogramm für Lehrkräfte setzt sich mit Finanzierungen, Sponsoring und Qualifizie- rung für verschiedene Angebote auseinander. In einem digitalen Austauschbereich finden die Mitglieder des Netzwerks vorformulierte Elternbriefe, Wanderrouten, Erfahrungsberichte, Sponsorenschreiben und anderes Material. Darüber hinaus unterstützt das Netzwerk Schulen beim Aufbau weiterer Netzwerke. So profitieren die Schulen einer Region sozialver- träglich vom vorhandenen Material. Die Qual der Wahl: Die Schüler*innen müssen sich aus verschiedenen Projekten für eins entscheiden. Sie können zum Beispiel wissenschaftlich, journalistisch, künstlerisch oder handwerklich arbeiten. Fotos: Gesamtschule Langerfeld
14 BILDUNG „Wirtschaft“ als Schulfach? € Sozialwissenschaftliche Disziplinen gehören zusammen Soll „Wirtschaft“ ein neues Schulfach werden? Wenn es nach der NRW-Landes- regierung geht, ja. Betrachtet man allerdings den Anteil ökonomischer Bildung im Unterricht, ist der Bereich schon jetzt – ohne ein zusätzliches Fach – überrepräsentiert. Politik und Gesellschaft kommen dagegen viel zu kurz, stellen die Bildungsforscher Prof. Dr. Reinhold Hedtke und Mahir Gökbudak in ihrer aktuellen Untersuchung fest. nds: Die Landesregierung plant, „Wirtschaft“ Aber das will es ausgerechnet dadurch errei- als neues Schulfach einzuführen. Warum ist chen, dass es Ökonomiethemen aus dem bis- das aus Ihrer Sicht nicht sinnvoll? herigen Fach „Politik“ beziehungsweise „Politik Reinhold Hedtke: Jahrelang haben Wirt- und Wirtschaft“ herausnimmt und in ein neues schaftsverbände, Kammern, unternehmensnahe Fach verschiebt. Tatsächlich wird eine sinnvolle Stiftungen und Wirtschaftsredaktionen die For- politisch-ökonomische Bildung durch die Auf- derung nach einem separaten Schulfach „Wirt- spaltung des integrativen Fachs massiv erschwert. schaft“ wiederholt. Aber niemand hat geprüft, Reinhold Hedtke: Das Fehlen von empirischer Mahir Gökbudak, Lehrer im Hochschuldienst an der Fakul- wie viel Lernzeit tatsächlich für ökonomische Evidenz für die Einrichtung eines Separatfachs tät für Soziologie der Universität Bielefeld Foto: privat Bildung vorgesehen ist. Wir haben das mit zwei „Wirtschaft“ räumt auch das Schulministerium ein. In einem Interview mit dem Campusradio Themen stehen je nach Schulform zwischen empirischen Studien für die Sekundarstufe I in 56 und 69 Prozent der Gesamtlernzeit des Hertz 87.9 begründet der zuständige Staats- NRW nachgeholt. sozialwissenschaftlichen Lernbereichs – also sekretär das neue Fach vor allem damit, dass viele Mahir Gökbudak: Die Daten belegen: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft – zur Verfügung. Unternehmer*innen sowie Ausbilder*innen dem Vor allem an Gesamtschulen, aber auch an Für Politik schwankt dieser Wert zwischen Ministerium Hinweise geben, dass die Schule Gymnasien sind wirtschaftliche Inhalte in den 20 und 28 Prozent. beim Wirtschaftswissen nacharbeiten müsse. Lehrplänen bereits heute besser vertreten als Das durchschnittliche Zeitbudget für die politische oder gesellschaftliche. Nimmt man Welchen Anteil nehmen ökonomische Inhalte vorgeschriebenen Maßnahmen zur Berufs- das obligatorische wirtschaftliche Lernen für die denn im Vergleich zu politischen und gesell- orientierung ist deutlich größer als das für die Berufsorientierung außerhalb des Unterrichts schaftlichen im Unterricht ein? Behandlung politischer Themen in der gesam- hinzu, hat der Inhaltsbereich Wirtschaft sogar Reinhold Hedtke: Zunächst einmal muss ten Sekundarstufe I. Mindestens dreieinhalb ein starkes Übergewicht. Angesichts knapper man wissen, dass der Anteil der Wirtschafts- Wochen sind für die außerunterrichtliche und Lernzeit und vieler neuer Bildungsaufgaben themen in den höheren Jahrgangsstufen außerschulische ökonomische Bildung für alle spricht nichts dafür, das Wirtschaftslernen zunimmt, das Gewicht politischer und ge- Schüler*innen obligatorisch. Gesellschaftliche noch weiter auszubauen. Wer die Demokratie sellschaftlicher Themenbereiche sinkt also Themen haben dagegen laut Lehrplan nur und den Zusammenhalt der Gesellschaft stär- mit zunehmendem Alter. Wenn wir uns die marginale Bedeutung, ihr Lernzeitanteil im ken will, sollte vielmehr die politische und die Sekundarstufe I genauer anschauen, entfällt pro sozialwissenschaftlichen Lernbereich liegt gesellschaftliche Bildung besser fördern. Schulwoche bis zu dreimal so viel Lernzeit auf zwischen 11 und 18 Prozent. Gemessen am Wie die meisten Expert*innen findet es auch die ökonomische Bildung wie auf die politische Lernzeitanteil für Wirtschaftsthemen ist die das NRW-Schulministerium wichtig, Wirtschaft Bildung: 17 bis 20 Minuten für Politik, 41 bis Gesamtschule die Schulform mit der höchsten und Politik im Zusammenhang zu behandeln. 63 Minuten für Wirtschaft. Für ökonomische Wirtschaftsaffinität.
nds 2-2019 15 Domäne nicht nur die verbindlichen Vorgaben in Stundentafeln und Lehrplänen, sondern erstmals auch die außerunterrichtlichen Pflichtveran- staltungen. Beim außerschulischen Lernen hat die ökonomische Bildung ein Alleinstellungs- Illustrationen: Bogyofunk, Crocolot / shutterstock.com merkmal. Denn im Rahmen der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss (KAoA)“ sind die Schulen in NRW verpflichtet, vier außerschu- € lische Maßnahmen zum ökonomischen Lernen durchzuführen: das Betriebspraktikum, die Be- rufsfelderkundung, die Potenzialanalyse sowie die Berufsorientierung bei der Bundesagentur für Arbeit. Dafür stehen mindestens dreieinhalb Schulwochen zur Verfügung. Dagegen fehlen Prof. Dr. Reinhold Hedtke, Professor für Wirtschafts- festgelegte außerunterrichtliche Lernformen soziologie und Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld Foto: Universität Bielefeld bei der politischen, gesellschaftlichen oder hi- storischen Bildung. Welches Fach beziehungsweise welche Inhalte Kontinuität über die gesamte Schullaufbahn der würden Sie der Landesregierung anstelle eines Lernenden hinweg verleiht und den Bildungs- Mahir Gökbudak: Wir haben für unsere neuen Wirtschaftsfachs empfehlen, damit anspruch der Domäne endlich auf Augenhöhe Studie aber nur Instrumente analysiert, mit keiner der genannten Themenbereiche zu kurz mit den Naturwissenschaften definiert. Wir denen Bildungspolitik gemacht wird: die amt- kommt und Schüler*innen möglichst umfas- raten auch, über den Ausbau der Subdomäne lichen Stundentafeln, die Kernlehrpläne für die send und ausgewogen ausgebildet werden? „Recht“ im Rahmen von Sozialwissenschaften einschlägigen Schulfächer sowie ministerielle Reinhold Hedtke: Bildung in der sozial- nachzudenken, ohne die anderen drei Teilbe- Erlasse, etwa zum Berufspraktikum. Über das, wissenschaftlichen Domäne bezieht sich auf reiche zu beschränken. // was Schulen freiwillig machen, liegen keine Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Gesell- Die Fragen stellte Jessica Küppers. repräsentativen Daten vor. Wir messen also die schaftliche, ökonomische und politische Bildung bildungspolitischen Vorgaben, nach denen sich sind am besten in einem gemeinsamen Fach www. Reinhold Hedtke, Mahir Gökbudak: Studie die Schulen und Lehrkräfte zu richten haben. aufgehoben, so kann man die Zusammenhän- „Wirtschaft gut, Politik mangelhaft“ Auf der Basis dieser Vorgaben berechnen wir die ge besser lehren und lernen. Wir empfehlen www.tinyurl.com/wirtschaft-politik anteilige Lernzeit für die großen Inhaltsbereiche dringend, die große Ähnlichkeit der schul- www. Reinhold Hedtke, Mahir Gökbudak: Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Unsere formspezifischen Lehrpläne für diesen Bereich Politische Bildung: 17 Minuten Politik, 20 Sekunden Redezeit (in nds 2-2018) Daten zeigen, welche Bedeutung Gesetzgeber auch in einer einheitlichen Fachbezeichnung an www.tinyurl.com/17-minuten-politik und Schulministerium den Wirtschaftsthemen allen Schulformen abzubilden. Dafür schlagen www. Berthold Paschert: GEW NRW lehnt Schul- tatsächlich zumessen und wie sie die Prioritä- wir für die Sekundarstufen I und II den Namen fach „Wirtschaft“ ab ten hinsichtlich ökonomischer, politischer und „Sozialwissenschaften“ vor, weil dies dem Fach www.tinyurl.com/gew-nrw-wirtschaft gesellschaftlicher Bildung setzen. Woran liegt es, dass wirtschaftliche Themen Foto: iStock.com / skynesher in den Lehrplänen so stark überrepräsentiert sind? Reinhold Hedtke: Das Fach „Politik“ bezie- hungsweise „Politik und Wirtschaft“ besteht laut den curricularen Vorgaben für allgemein- bildende Schulen in NRW aus den drei Be- reichen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Die Kernlehrpläne legen die Inhaltsfelder und Inhalte fest. Darin kommt Politik seltener vor als Wirtschaft. Die Bildungspolitik bewertet die Wichtigkeit der beiden Bereiche offensichtlich unterschiedlich. Mahir Gökbudak: Zusätzlich zum Fachun- terricht gibt es in NRW außerunterrichtliche Veranstaltungen, an denen gesetzlich verpflichtet alle Schüler*innen teilnehmen müssen. Unsere Erhebung erfasst für die sozialwissenschaftliche
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