Fünf Jahre Grün-Schwarz - Landtagswahl in Baden ...
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BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENLANDSCHAFT Baden-Württembergs Parteiensystem im Wandel Ulrich Eith Baden-Württemberg hat die Regierung Kretschmann in Baden-Württembergs Parteienlandschaft hat sich im dieser ersten Legislaturperiode bewiesen, dass sie das Re- letzten Jahrzehnt verändert. Umbrüche und Zäsuren gierungshandeln beherrscht. Bei der Landtagwahl am prägten die vergangenen Legislaturperioden. Ulrich Eith 13. März 2016 errangen die Grünen unter Kretschmann zeichnet die Entwicklung des Parteiensystems in Baden- 30,3 Prozent der Wählerstimmen und lagen als stärkste Württemberg mithilfe des Instrumentariums der Wahl- Partei 3,3 Prozentpunkte vor der CDU. Seitdem sind Grüne und Parteienforschung nach. Politische Kultur, Wähler- und CDU die direkten Gegenspieler in den landespoliti- verhalten und Parteiensystem lassen sich mit der Entwick- schen Auseinandersetzungen. Die SPD steht angesichts lung der Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen aber auch dieser Polarisierung in der Gefahr, in den öffentlichen De- mit der Konfessionsstruktur des Südwestens erklären. batten nur unzureichend präsent zu sein. Als lediglich Die Analyse dieser Faktoren und der Blick auf die Ver- viertstärkste Kraft im Landtag liegt sie in den Umfragen änderungen der Zusammenhänge zwischen Sozialstruk- derzeit konstant unter 15 Prozent. tur und Wählerverhalten tragen wesentlich zum Ver- Ein weiteres kennzeichnet die veränderten Koordinaten ständnis des baden-württembergischen Parteiensystems des aktuellen politischen Wettbewerbs. Nach der NPD bei. Ulrich Eith fokussiert mehrere Fragen: Welche Ent- 1968 und den Republikanern 1992 und 1996 konnte mit der wicklungslinien des parteipolitischen Wettbewerbs las- AfD 2016 zum dritten Mal eine rechtspopulistische Partei in sen sich für Baden-Württemberg identifizieren? Wie den Stuttgarter Landtag einziehen. Mit einem Wahlergeb- lässt sich die langjährige dominierende Stellung der CDU nis von 15,1 Prozent ist die AfD zudem in Stuttgart derzeit erklären, wie der Umbruch seit 2011? Wie lässt sich die die stärkste Oppositionspartei. Im Vergleich zu den Land- aktuelle Situation der Parteienlandschaft mit Blick auf die Landtagswahl 2021 einschätzen? Umbrüche und Zäsuren Der Parteienwettbewerb in Baden-Württemberg hat im letzten Jahrzehnt einen zuvor kaum denkbaren strukturel- len Wandel erfahren. Über Jahrzehnte hinweg prägte die CDU maßgeblich die Politik des Landes. Mit Ausnahme des ersten Ministerpräsidenten stellten die Christdemokraten bis 2011 stets den Regierungschef, von 1972 bis 1992 so- gar aus eigener Kraft ohne Koalitionspartner. Und für die Liberalen galt der Südwesten einst als liberales Stamm- land mit zweistelligen Wahlergebnissen. Seit 2011 jedoch regiert mit Winfried Kretschmann als Ministerpräsident ein Grüner Baden-Württemberg, zunächst in Koalition mit der SPD, seit 2016 zusammen mit der CDU. Bei der Landtags- wahl 2021 stellt sich Kretschmann erneut dem Wählervo- tum und strebt, durchaus chancenreich, eine dritte Amtszeit an. Eine entscheidende Zäsur stellte die Landtagwahl vom 27. März 2011 dar. Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit der SPD lagen die Grünen am Wahlabend erstmals knapp vor den Sozialdemokraten und errangen zusammen mit diesen zudem die Mehrheit im Stuttgarter Landtag. Die CDU musste nach 58 Jahren in der Regierungsverantwor- tung auf die Oppositionsbänke. Während manche CDU- Politiker diesen Machtwechsel noch als einen Betriebsun- fall infolge der Ereignisse von Fukushima ansahen, schaffte Sogar der Bildzeitung war das spektakuläre Wahlergebnis es der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann in vom 13. März 2016 eine Schlagzeile wert. Bei der Landtags- kurzer Zeit, sich weit über seine eigenen Wählerkreise hin- wahl errangen die Grünen unter Winfried Kretschmann 30,3 aus Respekt und Anerkennung zu erwerben. In den Augen Prozent und lagen als stärkste Partei 3,3 Prozentpunkte vor einer überwiegenden Mehrheit der Wahlberechtigten in der CDU. picture alliance/dpa 261 bis2020_04_inhalt.indd 261 30.11.20 08:43
Ulrich Eith tagswahlen in den anderen Bundesländern hat die AfD konservativer Katholizismus geht hier einher mit einer ins- damit in Baden-Württemberg ihr bislang bestes Ergebnis gesamt barocken Liberalität der Lebensführung. in einem westdeutschen Bundesland erzielt. Und im Ge- Die pietistischen Milieus Alt-Württembergs mit ihrer Enge gensatz zu früheren Protestparteien am rechten Rand hat und Strenge der Lebensführung stehen zudem im deutli- die AfD zudem durchaus Chancen, sich als Repräsentantin chen Gegensatz zum weitaus liberaleren Baden. Die dort einer neuen gesellschaftspolitischen Konfliktlinie mittelfris- ebenfalls vorfindbare Teilung zwischen einem mehrheit- tig zu behaupten. lich protestantischen Norden und einem eher katholischen In diesem Beitrag wird nachfolgend die Entwicklung des Süden hat in diesem Fall jedoch nicht zum Aufkommen reli- Parteiensystems in Baden-Württemberg mit dem analyti- giöser Sonderbewegungen geführt. Vielmehr ist das nach schen Instrumentarium der Wahl- und Parteienforschung fast allen Seiten offene Durchgangs- und Grenzland Ba- nachgezeichnet. Aus dieser Sicht stehen Strukturen und den entlang des Rheins für seine aufgeschlossenere Geis- Akteure gleichermaßen im Mittelpunkt. teshaltung bekannt (vgl. Bausinger 1996). Die direkt nach Zentrale Kontextfaktoren des politischen Wettbewerbs dem Zweiten Weltkrieg von den Besatzungsmächten vor- bilden zunächst die sozio-ökonomischen Strukturen. Immer genommene Aufspaltung der beiden Länder Württemberg wieder hat die Wahlforschung die Bedeutung etwa der und Baden in einen nördlichen Teil und zwei südliche Teile Wirtschafts-, Siedlungs- oder auch Konfessionsstruktur für hat alte territorial-kulturelle Gegensätze und somit das das Wählerverhalten nachweisen können. Allerdings ent- Denken in regionalen Zugehörigkeiten erneut akzentuiert, wickeln strukturelle Ausgangsbedingungen keinen Auto- am stärksten angesichts der Diskussionen im Vorfeld der matismus. Hinzu kommen ganz entscheidend die Fähigkei- Staatsgründung 1952 wohl in Südbaden. ten und das Geschick von Parteien, Kandidaten und Kandi- Die politischen Auswirkungen dieser konfessionell-regio- datinnen, durch ein entsprechendes Programmangebot nalen Gegensätze in Baden-Württemberg sind bis in die und zielgerichtetes politisches Handeln Strukturvorteile für späten 1970er-Jahre im Wählerverhalten unübersehbar sich nutzen und mögliche Nachteile ausgleichen zu kön- und verlieren auch in den folgenden Jahrzehnten nur lang- nen. Stabile Parteibindungen und konstante Wahlerfolge sam ihre Bedeutung. Zudem bestimmte ein vor allem auf sind keine Naturereignisse. Sie sind vor allem das Resultat die Region und Konfession ausgerichtetes Proporzdenken einer erfolgreichen Vertretung und Umsetzung politischer stets die Zusammensetzung der CDU-Ministerriege im Interessen. Nicht zuletzt stehen Landtagswahlen sodann Land (vgl. Eith 2001). auch unter dem Einfluss der bundespolitischen, manchmal Zu diesen Strukturmustern kommen die Effekte einer klein- sogar der internationalen Großwetterlage. Gerade die städtisch-ländlichen Siedlungsform, die durch die im Süd- baden-württembergischen Landtagswahlen lagen bis ein- westen verspätet einsetzende Industrialisierung lediglich schließlich 1980 im direkten Vorfeld von Bundestagswah- geringfügige Veränderungen erfahren hat (vgl. Mielke len und galten häufig als entsprechende Testwahlen. 1991). Nur ansatzweise hat die schnelle Ausdifferenzie- Welche Entwicklungslinien des politischen Wettbewerbs rung und Spezialisierung des produzierenden Sektors zur in Baden-Württemberg lassen sich nun aus dieser Perspek- Herausbildung einer Industriearbeiterschaft und den in tive identifizieren? Welche Erklärung findet sich für die anderen Teilen Deutschlands damit verbundenen großen langjährige dominierende Stellung der CDU in diesem städtisch-industriellen Zentren geführt. Nennenswerte In- Bundesland, welche für den Umbruch seit 2011? Die Ana- lyse der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ermöglicht eine fundierte Einschätzung der aktuellen Situation des Parteiensystems in Baden-Württemberg und der Aus- gangslage kurz vor der Landtagswahl 2021. Region, Konfession und Industrialisierung als sozio- ökonomische Kontexte des Parteienwettbewerbs in Baden-Württemberg Das Königreich Württemberg und das Großherzogtum Ba- Die Heiligkreuzkapelle in den entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge Amtzell in Oberschwaben. der Neuordnung Europas durch Napoleon und umfassen Der südliche Teil Baden- jeweils Gebiete ganz unterschiedlicher politisch-kulturel- Württembergs wird durch die ler Prägungen (vgl. Wehling 2006). In beiden Landesteilen katholischen Milieus Ober- existiert ein bis heute spürbarer Nord-Süd-Gegensatz. schwabens bestimmt. Ein durch Württemberg wird zudem von starken konfessionellen Ge- die Gegenreformation gefes- gensätzen bestimmt. Der nördliche Teil ist geprägt durch tigter, konservativer Katholizis- die protestantisch-pietistischen Milieus Alt-Württembergs mus geht hier einher mit einer rund um Stuttgart. Im Zusammenspiel mit der dort einstmals barocken Liberalität der geltenden erbrechtlichen Realteilung hat der rigide Pietis- Lebensführung. Die im Kultur- mus die Herausbildung solch sprichwörtlich schwäbischer kampf zusammengeschweißten Tugenden wie Fleiß, Selbstdisziplin und Erfindungsreich- katholischen Milieus bildeten tum, aber auch eine hohe soziale Kontrolle und gewisse in Oberschwaben bis in die Risikoscheue hervorgebracht. Der südliche Teil Württem- 1980er-Jahre unüberwindliche bergs wird durch die katholischen Milieus Oberschwabens Bastionen der Union. bestimmt. Ein durch die Gegenreformation gefestigter, picture alliance/dpa 262 bis2020_04_inhalt.indd 262 30.11.20 08:43
dustrieagglomerationen finden sich in Baden-Württem- BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENSYSTEM berg bestenfalls im Mannheimer sowie im Stuttgarter IM WANDEL Raum. Die bis heute dominierende kleinstädtische Lebens- weise federte die üblichen sozialen Verwerfungen der In- dustrialisierung größtenteils ab und verhinderte weitge- Milieus Baden-Württembergs – insbesondere Ober- hend das Aufkommen eines proletarischen Klassenbe- schwabens – bildeten bis in die 1980er-Jahre unüberwind- wusstseins. Entsprechend verbreitet ist die Bereitschaft, bare Bastionen der Union. zwischen Wohn- und Arbeitsort zu pendeln. Viele Arbeiter Demgegenüber entwickelte die Sozialdemokratie letztlich konnten so in ihren traditionellen Bezügen verbleiben und weder zum liberalen noch zum pietistischen Protestantis- von Fall zu Fall sogar ihre bisherige Lebensform als nun- mus in Baden-Württemberg eine vergleichbare Nähe. mehr „Nebenerwerbs-Landwirte“ fortführen. Maßgebend für das Abschneiden der SPD war zudem we- Die politischen Wirkungen dieser spezifischen Industriali- niger der Konfessionsgegensatz als vielmehr der die Wirt- sierung sind offenkundig. Die kleinstädtisch-ländliche schafts- und Erwerbsstruktur bestimmende Gegensatz von Strukturierung hat die Chancen der Parteien der Arbeiter- Kapital versus Arbeit. Entsprechend erzielten die Sozialde- bewegung in Baden-Württemberg von Beginn an stark be- mokraten bei den ersten Landtagswahlen ihre besten Er- schränkt. Demgegenüber stellten die auch nach dem Zwei- gebnisse in den industrieller geprägten Ballungszentren ten Weltkrieg noch intakten katholischen und evangeli- des Großraums Stuttgart sowie Nord- und Mittelbadens. schen Milieus im ländlichen Südwesten eine strukturell Überdurchschnittliche Wahlergebnisse gelangen aber günstige Ausgangssituation für die politische Arbeit kon- auch im protestantisch-pietistischen Nordschwarzwald servativ-bürgerlicher Parteien – einerseits der CDU, ande- (Calw, Freudenstadt) sowie in kleineren Industriestädten rerseits der FDP – dar. mit einer überwiegend protestantischen Bevölkerung wie Lörrach, Reutlingen oder auch Mühlacker. Und dennoch war die Verankerung der SPD in der Arbeiter- Der Aufstieg der CDU zur dominierenden schaft in den 1950er- und 1960er-Jahren deutlich schwä- „Landespartei“ in den 1970er-Jahren cher ausgeprägt als etwa der Rückhalt der CDU bei den Katholiken. Bei den katholischen Arbeitern profitierten von Wie auch andernorts konnte die nach dem Zweiten Welt- dieser sozialdemokratischen Schwäche vor allem die krieg als überkonfessionell gegründete CDU zunächst an Christdemokraten, bei den protestantischen Arbeitern die durch den Katholizismus geprägten Traditionen der CDU, FDP und 1968 auch die NPD (vgl. Biege 1972). Weimarer Zentrumspartei anknüpfen. Bereits in den ersten Den konfessionellen Gegenpart zur CDU stellte vielerorts Wahlen der 1950er-Jahre kristallisierten sich die katholi- zunächst die FDP dar. In den Landtagswahlen bis 1968 er- schen Wahlkreise im Süden des Landes, in Mittelbaden zielten die Liberalen Stimmenanteile von teilweise über 30 zwischen Offenburg und Rastatt sowie diejenigen des Prozent im protestantisch geprägten Nordwürttemberg, Main-Tauber- und Ostalbkreises als verlässliche christde- überdurchschnittliche Anteile aber auch in Pforzheim, Sins- mokratische Hochburgen heraus (vgl. Sepaintner 2002). heim, Calw, Freudenstadt und Reutlingen. Am erfolgreichs- Die im Kulturkampf zusammengeschweißten katholischen ten waren die Liberalen in protestantischen Wahlkreisen mit einem hohen Anteil von kleinen und mittleren Selbst- ständigen, Gewerbetreibenden oder auch Beschäftigten im öffentlichen Dienst (vgl. Adam 1979). Damit banden die Liberalen gerade im neuen Mittelstand Wählergruppen, die letztlich wiederum der SPD in der Endabrechnung zur CDU fehlten. Nur geringen Zuspruch erfuhr die FDP in ka- tholischen Gegenden sowie von der Arbeiterschaft. Mit Beginn der sozial-liberalen Ära in Bonn 1969 fiel der lan- desweite FDP-Stimmenanteil in Baden-Württemberg dann dauerhaft unter die Zehnprozentmarke. 1968 zog die rechtsextreme NPD mit einem Wahlergebnis von 9,8 Prozent für vier Jahre in den Stuttgarter Landtag ein, nachdem sie bereits zuvor in Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Bremen die Fünfpro- zenthürde hatte überspringen können. Gewählt wurde sie überdurchschnittlich von den mittleren Generationen, von Männern weitaus stärker als von Frauen. Die höchsten Stimmenanteile erzielten die Rechtsextremen wie früher bereits die Nationalsozialisten in protestantischen Wahl- kreisen Nordwürttembergs und Nordbadens. Hinzu ka- men im Süden Lörrach, Calw, Balingen und Reutlingen, die katholisch dominierten nordbadischen Wahlkreise Mos- bach und Tauberbischofsheim sowie der südbadische, ebenfalls katholische Wahlkreis Offenburg. Sozialstruktu- relle Zusammenhänge waren neben diesen konfessionell- regionalen Zuordnungen von nur nachrangiger Bedeutung (Mielke 1987), offenkundig hingegen war das Protestmo- ment gegen die große Koalition in Bonn. Nach der bundes- 263 bis2020_04_inhalt.indd 263 30.11.20 08:43
Ulrich Eith politischen Weichenstellung zur sozial-liberalen Koalition 1969 war die Oppositionsrolle im Bundestag wieder ver- nehmbarer besetzt und die Unterstützung für die NPD fiel rasch in sich zusammen. Der entscheidende Aufstieg der Union zur Landespartei Baden-Württembergs gelang dann zu Zeiten der sozial- liberalen Koalition in Bonn und beruhte auf organisatori- schen und wahlsoziologischen Faktoren (vgl. Eith 2001). Organisatorisch führte der seit 1966 amtierende Minister- präsident Hans Filbinger 1971 die im Land bislang aus vier unabhängigen Verbänden bestehende Union zu einem schlagkräftigen Landesverband mit strafferen Führungs- strukturen zusammen. Ab 1972 wurde das Staatsministe- rium zum Leit- und Koordinierungszentrum ausgebaut, während sich die CDU-Fraktion in den folgenden Jahren zunehmend zu einem selbstbewussten und eigenständi- gen Machtfaktor in der Landespolitik entwickelte. Als Re- gierungspartei mit absoluter Mehrheit war die Union in den 1970er-Jahren zudem in der günstigen Lage, ihren neuen Status als Landespartei auch durch eine bis heute zu beobachtende gezielte Personal- und Versorgungspolitik absichern zu können. Von wahlstrategischer Bedeutung für den christdemokrati- schen Aufschwung war der strikt konservative Abgren- zungskurs der Regierung Filbinger gegen die seit 1969 in Bonn regierende sozial-liberale Koalition. 1972 gelang Nach seiner Wiederwahl am 4. Juni 1980 erhielt der alte diese Polarisierung hauptsächlich durch einen Frontalan- und neue Ministerpräsident Lothar Späth von drei Abgeord- griff auf die Ost- und Gesellschaftspolitik der Regierung neten der Grünen (Elsbeth Mordo, Wolf-Dieter Hasenclever Brandt, 1976 erfolgte sie auf eher ideologisch-symboli- und Holger Reimann; von links nach rechts) einen Kaktus. scher Ebene unter dem Motto „Demokratischer Staat oder Bereits 1980 gelang den Grünen der Sprung über die Fünf- sozialistische Gesellschaft“ (vgl. Biege/Mann/Wehling prozenthürde, von 1984 bis zur Wahl 2011 stellten die Grü- 1976). Zudem setzte die CDU mit den Slogans „Mit uns für nen mit Ausnahme von 1992 (Republikaner) und 2001 (FDP) Baden-Württemberg“ und „Die liberale und soziale Volks- die drittstärkste Landtagsfraktion. partei der Mitte“ bereits 1976 erfolgreich auf die Selbstin- picture alliance/dpa szenierung als „Baden-Württemberg-Partei“. In besonderer Weise profitierten die Christdemokraten auch vom linksliberalen Schwenk der FDP im Bund 1969. wie in der Hochrhein-Bodensee-Region. Bereits 1980 ge- Das nunmehr verwaiste protestantisch-altliberale Wähler- lang der Sprung über die Fünfprozenthürde, von 1984 bis milieu Baden-Württembergs konnte durch die konservative zur Wahl 2011 stellten die Grünen mit Ausnahme von 1992 Politik Filbingers in großen Teilen für die CDU gewonnen (Republikaner) und 2001 (FDP) die drittstärkste Landtags- werden, die 1972 erstmals die absolute Mehrheit errang. fraktion. Als stabile Hochburgen haben sich bis heute im- Darüber hinaus gelangen entscheidende Stimmenge- mer wieder die Dienstleistungs- und Universitätsstädte des winne in städtischen Wahlkreisen, den bisherigen Hoch- Landes erwiesen. Die grüne – dem studentischen Dasein burgen der Sozialdemokratie. Deren Kurskorrektur in Rich- mittlerweile zumeist entwachsene – Wählerschaft weist tung alternative Themen der neuen sozialen Bewegungen die höchste formale Bildung auf, viele arbeiten in Human- unter ihrem langjährigen Landes- und Fraktionsvorsitzen- dienstleistungsberufen, häufig in gehobenen Angestell- den Erhard Eppler (vgl. Mann 1972) – vielfach übrigens in ten- oder Beamtenpositionen. Opposition zur eigenen Bundesregierung unter Helmut Der Aufschwung der Grünen verringerte nochmals die Schmidt – hat der Union in den 1970er-Jahren unverhofft Chancen der SPD auf eine eigenständige Machtperspek- neue Zuwachsmöglichkeiten sowohl unter der städtischen tive in Baden-Württemberg. Gleich von zwei Seiten gerie- Arbeiterschaft als auch im protestantischen Bürgertum er- ten die Sozialdemokraten unter Druck. Unter der Arbeiter- öffnet. Die SPD hatte es während ihrer Regierungsbeteili- schaft hatte bereits der von Erhard Eppler vollzogene post- gung 1966–1972 versäumt, ein für Volksparteien unver- materialistische Schwenk zu massiven Verlusten in den zichtbares mehrheitsfähiges politisches und personelles städtischen Ballungsgebieten geführt, deren Nutznießer Profil zu entwickeln. Selbst bei den Arbeitern wurde sie nun in erster Linie zunächst die Christdemokraten und mit Ab- von der Union überflügelt. strichen dann auch die Republikaner waren. Im neuen Mit- telstand verloren die Sozialdemokraten seit den 1980er- Jahren vor allem bei den jüngeren Generationen zuguns- Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems seit den ten der Grünen. Über nunmehr drei Jahrzehnte hinweg hat 1980er-Jahren die SPD den Spagat zwischen der traditionellen Arbeiter- schaft und den postmaterialistischen Bildungseliten nicht In den 1980er-Jahren etablierten sich die Grünen. Die erfolgreich auflösen können. Hieran änderten auch zwi- größte Unterstützung mobilisierten sie im badischen Süd- schenzeitliche Positionsverbesserungen in ländlichen und westen rund um Freiburg, in Tübingen und Heidelberg so- katholischen Wahlkreisen kaum etwas. 1996 erzielte die 264 bis2020_04_inhalt.indd 264 30.11.20 08:43
BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENSYSTEM IM WANDEL gierungskurs im katholischen Oberschwaben an der Frage des Schwangerschaftsabbruchs und der als bedrohlich empfundenen Situation der Bauern. Ab 1992 konnten sich dann die rechtsextremen Republikaner für zwei Legislatur- perioden im Stuttgarter Landtag einrichten. Starke Unterstützung erfuhren die Republikaner vor allem im Nordschwarzwald und in Nordwürttemberg rund um Stuttgart. Hinzu kamen einzelne Regionen in Oberschwa- ben. Die niedrigsten rechtsextremen Stimmenanteile wa- ren hingegen in Südbaden zu verzeichnen. Überdurch- schnittliche Ergebnisse erzielten die Republikaner stets in Wahlkreisen mit einem hohen Anteil an produzierendem Gewerbe, bei Arbeitern, Gewerkschaftsmitgliedern, jün- geren Männern und Kirchenfernen. Katalysatorisch wirkte 1992 die von der Union inszenierte Asyldebatte, 1996 die von der SPD forcierte Aussiedlerdiskussion. Auffällig ist darüber hinaus, dass die republikanischen Hochburgen der 1990er-Jahre – von wenigen Ausnahmen im katholischen Oberschwaben einmal abgesehen – vor allem in protestantisch-pietistisch geprägten Wahlkreisen liegen. Dies legt die Frage nach möglichen Besonderhei- ten der dortigen regionalen politischen Kultur nahe (vgl. Eith 2008). Vieles deutet darauf hin, dass der zunächst re- SPD nach vierjähriger Regierungsbeteiligung mit ihrem ligiös begründete rigide moralische Anspruch zusammen Spitzenkandidaten, dem amtierenden Wirtschaftsminister mit der hohen sozialen Kontrolle in seiner säkularisierten und stellvertretenden Ministerpräsidenten Dieter Spöri ge- Form die Ausprägung von stark gesinnungsethischen poli- rade noch 25,1 Prozent, 2006 waren es aus der Opposition tischen Orientierungen befördert hat. Im günstigen Fall heraus ebenfalls nur 25,2 Prozent. führt dies zu politischem Engagement, im ungünstigen Fall Die FDP hat im Verlauf der 1980er-Jahre ihre ehemals ge- zu Formen ausgeprägter politischer Frustration und dicho- festigte strukturelle Verankerung in Baden-Württemberg tomen Freund-Feind-Wahrnehmungen. Letzteres bietet ge- weitgehend verloren. Der erneute Koalitionswechsel auf rade bei ungenügender (partei-)politischer Eingebunden- Bundesebene 1982 – diesmal zurück zur Union – führte in heit vielfache Anknüpfungspunkte für autoritäre Politikfor- den darauffolgenden Wahlen zu starken Verlusten nun derungen und Sündenbocktheorien. auch bei linksliberalen Wählern in den städtischen Dienst- In der Summe bleibt somit festzuhalten, dass sich die Zu- leistungszentren. Ihr früherer Alleinvertretungsanspruch sammenhänge zwischen Sozialstruktur und Wählerverhal- bürgerlich-protestantischer Interessen war somit weitge- ten in Baden-Württemberg im Verlauf der drei Jahrzehnte hend relativiert, auch wenn die liberalen Hochburgen – al- nach 1980 schrittweise verändert haben. Im Verhältnis von lerdings auf inzwischen deutlich niedrigerem Niveau – Christ- und Sozialdemokraten profitierte von diesen Ent- noch immer im protestantischen Württemberg liegen. Wie wicklungen letztlich die CDU, die trotz zeitweiliger Mobili- auch in anderen Teilen der Bundesrepublik wird die FDP in sierungsschwächen in katholisch-ländlichen Wahlkreisen ihrem „Stammland“ seit den 1990er-Jahren vor allem noch und absoluten Stimmenverlusten im Land inzwischen selbst als wirtschaftsliberale Funktionspartei wahrgenommen. bei Arbeitern und kleineren Angestellten eine zunehmend Hieran konnte auch die erneute Regierungsbeteiligung klarere Vormachtstellung gegenüber der SPD behaupten 1996–2011 unter den Ministerpräsidenten Erwin Teufel, konnte. Günther Oettinger und Stefan Mappus nichts Entschei- dendes ändern. Den Wendepunkt des christdemokratischen Integrations- 2011: Eine neue Zeitrechnung beginnt prozesses markiert die Regierungsübernahme von Lothar Späth 1978. Sein wirtschaftlich durchaus erfolgreicher, al- Die Landtagwahl 2011 führte dann zum ersten vollständi- lerdings stark auf den Stuttgarter Raum konzentrierter Mo- gen Regierungswechsel in Baden-Württemberg und dernisierungskurs stellte vor allem die vermeintlich allein brachte zugleich mit Winfried Kretschmann den ersten wahlentscheidenden neuen Mittelschichten in den größe- Grünen ins Amt des Ministerpräsidenten eines Bundeslan- ren Städten in den Mittelpunkt. Die kleinstädtisch-ländliche des. Dieser Machtwechsel beruht auf kurz- und längerfris- Struktur Baden-Württembergs geriet damit zu sehr aus dem tigen Ursachen (vgl. Roth 2013). Blick. Folgerichtig wurde das Image Baden-Württembergs Die Landtagswahl fand vor dem Hintergrund der Ereig- als modernes „Musterländle“ letztlich auch mit massiven nisse um Stuttgart 21 sowie der Reaktorkatastrophe in Fu- Abkopplungstendenzen unter den Traditionswählern in der kushima statt, was in beiden Fällen das sowieso schon ländlichen Peripherie und in den städtischen Problemzonen schlechte Ansehen des seit Februar 2010 amtierenden erkauft (vgl. Oberndörfer/Mielke/Eith 1992). 1988 entzün- CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus verstärkte. Die dete sich der zunehmende Unmut über den Stuttgarter Re- Auseinandersetzungen um den Bahnhofsneubau in Stutt- 265 bis2020_04_inhalt.indd 265 30.11.20 08:43
Ulrich Eith gart hatten ihren unrühmlichen Höhepunkt am 20. Septem- in bewährten sowie in neuen Formaten. Und schließlich ber 2010 durch den massiven Einsatz von Wasserwerfern konnte die Landesregierung Vorbehalte gegen grünes Re- gegen friedliche Demonstrierende. Verantwortlich ge- gierungshandeln bereits in der ersten Legislaturperiode macht wurde dafür in der Öffentlichkeit Ministerpräsident abbauen. Aus Sicht der breiteren Öffentlichkeit zeichnete Mappus, der in den Auseinandersetzungen mit den Geg- sich Grün-Rot 2011–2016 im Großen und Ganzen durch nern des Projekts Stuttgart 21 stets eine harte Linie vertrat eine geräuschlose und kompetente Regierungsarbeit aus. und wenig Kompromissbereitschaft erkennen ließ. Über Die Landtagswahl im März 2016 wurde thematisch überla- den Jahreswechsel 2010/2011 gelang es durch die Schlich- gert durch die bundesweiten Auseinandersetzungen um tungsverhandlungen von Heiner Geißler, die Situation et- die gestiegenen Flüchtlingszahlen und die damit verbunde- was zu beruhigen. nen enormen Herausforderungen der Kommunen, zunächst Am 11. März 2011 nahm dann die Reaktorkatastrophe in Unterbringung und Versorgung sicherstellen zu müssen. Die Fukushima ihren Anfang. Nur wenige Tage später reagier- Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin polarisierte, wovon ten Bundes- und Landesregierung mit der Ankündigung vor allem Grüne und AfD profitieren konnten. Ministerpräsi- des Atomausstiegs. Insbesondere im Falle der Landesre- dent Kretschmann unterstützte mit großer Zustimmung der gierung war diese Kehrtwende des bisherigen Atombefür- Wählerinnen und Wähler in Baden-Württemberg die Kanz- worters Mappus für viele Wählerinnen und Wähler höchst lerin, während Guido Wolf als CDU-Spitzenkandidat eher unglaubwürdig. als Kritiker Merkels wahrgenommen wurde. Die Grünen ge- Hinzu kam, dass die CDU und insbesondere ihr Minister- wannen 46 von 70 Wahlkreisen, erzielten mit 30,3 Prozent präsident Mappus bereits vor diesen Ereignissen schlechte ihr bestes Ergebnis und lagen damit über drei Prozent- Umfrageergebnisse erzielten. In der CDU-Wählerschaft punkte vor der Union. Der Protest gegen die Flüchtlingspo- hatte sich den verfügbaren Umfragedaten zufolge über litik von Merkel war hierbei ein entscheidender Faktor, Jahre hinweg das Gefühl verstärkt, dass die Regierung den gleichwohl fügt sich dieser bestens ins Bild einer neuer po- Kontakt zu den eigenen Wählerinnen und Wählern immer litischen Konfliktkonstellation, kosmopolitische versus nati- stärker vermissen ließ und zunehmend selbstbezogen, ab- onale Politikgestaltung (vgl. Merkel 2017; Eith 2018). In ide- gekoppelt von ihrer Basis handelte. Insbesondere in den altypischer Zuspitzung stehen Kosmopoliten für offene größeren Städten und bei Frauen traf die CDU immer Grenzen, für gesellschaftliche Vielfalt und multilaterale Ab- weniger das vorherrschende Lebensgefühl. Stefan Map- kommen angesichts der Auswirkungen von Klimawandel pus verstärkte mit seinem brachialen Regierungsstil dieses und fortgeschrittener Globalisierung. Demgegenüber for- Unbehagen. Seit dem Herbst 2010 hatte sich eine Wech- dern nationalstaatlich Orientierte eine homogenere natio- selstimmung im Land aufgebaut, die zusammen mit den nale Kultur, das Ende von Multikulturalismus und starke Na- Auswirkungen von Stuttgart 21 und der Reaktorkatastro- phe in Fukushima letztlich dann zur Abwahl der amtieren- den Regierung führte. Nutznießer dieser Entwicklungen waren in erster Linie die Grünen, die zeitweise bereits im Verlaufe der Auseinan- dersetzungen um Stuttgart 21 und dann ab der Reaktorka- tastrophe in den Umfragen vor den Sozialdemokraten la- gen. Unter dem Eindruck von Fukushima kam es bei der Landtagswahl zu einer Steigerung der Wahlbeteiligung von über zwölf Prozentpunkten. Die Tatsache, dass die Grünen in der Endabrechnung vor der SPD lagen und somit den Ministerpräsidenten stellen konnten, ist in hohem Maße dem zu diesem Zeitpunkt hochaktuellen Thema Atomausstieg geschuldet. Am 14. März 2016, einen Tag Der Ausgang der Landtagswahl 2016 belegt jedoch, dass nach der Landtagswahl, wird die grün-rote Regierung unter Kretschmann keineswegs ei- ein Wahlplakat des CDU-Spit- nen Betriebsunfall in der baden-württembergischen Ge- zenkandidaten Guido Wolf schichte darstellte, verursacht vor allem durch sehr spezifi- abgebaut. Innerhalb der CDU sche Umstände bei der Landtagswahl 2011. Eine solche war die Kandidatur Wolfs auf- Sicht vernachlässigt den enormen Vertrauensverlust der grund seines geringen CDU-Regierungen vor 2011 sowie den Verlauf der ersten Bekanntheitsgrades, seiner Regierungsperiode Kretschmann 2011–2016. Sehr schnell fehlenden landespolitischen ist es Ministerpräsident Kretschmann gelungen, in die Rolle Erfahrung sowie seiner man- des weithin geschätzten Landesvaters hineinzuwachsen. gelnden Attraktivität für Sein bürgerlicher Habitus, als Indizien seien sein litera- urbane Wählermilieus nicht risch-philosophischer Bildungshintergrund, seine Kirchen- unumstritten. Der inhaltliche bindung und sein Engagement in der Fastnacht genannt, Pendelkurs und die nicht ein- geht zusammen mit einer klaren, durchaus pragmatisch ge- deutige Positionierung des handhabten politischen Zielsetzung, Baden-Württembergs CDU-Spitzenkandidaten zur Stärken durch eine nachhaltige Verbindung von Ökonomie Flüchtlingspolitik der Bundes- und Ökologie auch für die Zukunft zu sichern. Hinzu kommt kanzlerin trugen ebenfalls zum ein verändertes Verhältnis von Politik und Bürgerschaft auf Verlust von Wählerinnen- und Landes- und besonders auch kommunaler Ebene durch den Wählerstimmen bei. Ausbau von Bürgerbeteiligung und Bürgermitentscheidung picture alliance/dpa 266 bis2020_04_inhalt.indd 266 30.11.20 08:43
tionalstaaten bei der Bekämpfung globaler Herausforde- BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENSYSTEM rungen. Parteipolitisch besetzen in Deutschland am klarsten IM WANDEL Grüne und AfD die entgegengesetzten Pole. Die AfD er- zielte aus dem Stand in Mannheim und Pforzheim zwei Di- rektmandate und konnte mit 15,1 Prozent die SPD hinter sich erfolgreichen politischen Handelns in Baden-Württem- lassen. berg deutlich werden lassen. Der Erfolg der CDU gründete Die Landtagswahl 2016 bekräftigte somit die bereits 2011 zum einen auf einer sorgsam ausgewogenen Berücksichti- erkennbaren strukturellen Veränderungen des politischen gung der politischen Interessen im Koordinatensystem von Wettbewerbs in Baden-Württemberg. Somit kann die Konfessionen, sozialer Lage und territorialen Zugehörig- Landtagswahl von 2011 aus heutiger Perspektive durchaus keiten, auf einem Ausgleich zwischen Traditionsbewusst- als „critical election“, als Wahl des Umbruchs und einer sein und Modernisierungswillen. Hinzu kam zum anderen Neustrukturierung des politischen Wettbewerbs in Baden- die Notwendigkeit, die anstehenden Führungswechsel in Württemberg gelten. den politischen Spitzenpositionen des Landes mit größt- möglichem Konsens erfolgreich zu bewältigen. Als dies nicht mehr optimal klappte, erfolgte der Abschwung. Dem Fazit und Ausblick auf die Landtagswahl 2021 Verlust der Regierungsverantwortung 2011 gingen eine im- plizite Spaltung der Parteispitze in rivalisierende Lager Die in diesem Beitrag diskutierten Entwicklungslinien des und – damit verbunden – ein schleichender Prozess der politischen Wettbewerbs in Baden-Württemberg verdeut- Entfremdung der politischen Spitze von ihren Wählerinnen lichen, dass strukturelle Voraussetzungen keine Zwangs- und Wählern voraus. Ob Kultusministerin Susanne Eisen- läufigkeiten begründen. Sie stellen Entwicklungspoten- mann als CDU-Spitzenkandidatin 2021 in den nächsten tia le dar, die durch zielgerichtetes politisches Handeln ak- Monaten erfolgreich Boden zurückgewinnen und eine in- tiviert und genutzt werden müssen (Eith 2001; Weber nerparteiliche Befriedung herbeiführen kann, bleibt abzu- 2006). warten. Die CDU konnte im Verlauf der Jahrzehnte die sich ihr Der SPD ist es über Jahrzehnte hinweg nicht gelungen, die in Baden-Württemberg bietenden Strukturvorteile zu- Strukturnachteile für klassische Arbeitnehmerparteien in nächst nutzen und in den 1970er-Jahren zur beherrschen- Baden-Württemberg durch eine aktive Erschließung neuer den Landespartei aufsteigen. Die mit dem Modernisie- Wählersegmente entscheidend auszugleichen. In traditio- rungskurs unter Ministerpräsident Lothar Späth einsetzen- nelle Arbeitermilieus konnte zwischenzeitlich die Union den Wahlverluste haben allerdings auch die Bedingungen eindringen, in der Auseinandersetzung um die strategi- schen Stimmenanteile bei den neuen Mittelschichten ist den Sozialdemokraten in Gestalt der Grünen ein neuer Konkurrent erwachsen. Zudem gelang es den Sozialde- mokraten selbst in Zeiten der Regierungsverantwortung nicht, im größeren Umfang neue Wählergruppen hinzu- zugewinnen. Im politischen Wettbewerb fehlt der SPD auch bundesweit inzwischen ein prägnantes Alleinstel- lungsmerkmal. Für soziale Gerechtigkeit steht auch die Linke, für Ökologie und Umweltschutz die Grünen, für Wirtschaft die CDU. In der aktuellen baden-württember- gischen Polarisierung zwischen CDU und Grünen droht der SPD ein weiterer Bedeutungsverlust. Wenig deutet derzeit darauf hin, dass die Sozialdemokraten 2021 ge- genüber ihrem schwachen Ergebnis von 2016 entschei- dend zulegen können. Die Grünen haben sich in Baden-Württemberg als neue Milieupartei des urbanen Bildungsbürgertums mit inzwi- schen respektablen Ergebnissen auch in den ländlichen Regionen (vgl. Haas 2013) fest etabliert. Erfolgreich nutz- ten sie die Chance, durch Abwahl der CDU seit 2011 den Ministerpräsidenten stellen zu können. Mit Winfried Kretschmann an der Spitze gelangen beachtliche Ver- trauenszuwächse und der Abbau alter Vorurteile bei Wählerkreisen der politischen Konkurrenz. Dass die Grü- nen in sämtlichen Umfragen seit 2011 konstant vor der SPD und seit 2016 auf Augenhöhe zur CDU stehen, ver- deutlicht das Ausmaß dieser Veränderungen. Zudem sind Koalitionen mit allen demokratischen Parteien der politi- schen Mitte denkbar. Deutlich ist aber auch, dass der enorme Aufschwung der Grünen im letzten Jahrzehnt eng verbunden ist mit der hohen Wertschätzung von Minister- präsident Kretschmann. Der Nachweis einer strukturellen Mehrheitsfähigkeit der Grünen in Baden-Württemberg steht somit noch aus. 267 bis2020_04_inhalt.indd 267 30.11.20 08:43
Ulrich Eith Darüber hinaus liegt es ganz entscheidend an den demo- kratischen Parteien, das rechtspopulistische Wählerpo- tential zu begrenzen. Nur durch eine verlässliche Politik der Interessenvertretung für untere und mittlere soziale Schichten, durch regelmäßigen Dialog auf Augenhöhe und umfassende Beteiligungsanreize lassen sich die Aus- wirkungen von Bedrohungs-, Sündenbock- und Verschwö- rungsideologien reduzieren. Dringend nötig sind zudem Bildungs- und Ausbildungsprogramme, Arbeitseingliede- rungsmaßnahmen und sozialer Wohnungsbau, damit so- zial Schwächere und Flüchtlinge nicht unnötig zu Konkur- renten werden. Die in den aktuellen Umfragen zum Ausdruck kommende Zufriedenheit mit dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und seiner grün-schwarzen Landesregierung ist auch wenige Monate vor der Landtagswahl ausgespro- chen hoch. Sein bedächtiger Politikstil zusammen mit seiner Fähigkeit, politisches Handeln auch nachvollziehbar zu er- klären, hat sich auch in der Corona-Krise bewährt. Im per- sönlichen Vergleich liegt Kretschmann derzeit deutlich vor seiner Herausforderin, der christdemokratischen Kultusmi- nisterin Susanne Eisenmann. Dennoch ist der Wahlausgang aus heutiger Sicht offen. Bei den letzten beiden Landtags- wahlen konnten die Grünen von der jeweils aktuellen The- Es bleibt spannend! Letztlich bleiben einige Unwägbarkeiten menagenda profitieren. Die mit der Corona-Krise ausge- für die Landtagswahl 2021, wenngleich die Meinungsumfra- sprochen hohe Wertschätzung der Arbeit der Bundesre- gen eine deutliche Sprache sprechen. Bleiben die Werte der gierung und insbesondere die hohen Popularitätswerte der Parteien auf dem aktuellen Niveau, ist eine Regierungsbil- Kanzlerin Angela Merkel sollten aktuell wohl eher der CDU dung gegen die Grünen kaum möglich. Die hohen Beliebt- zugute kommen. Es bleibt wohl spannend, zumal unter die- heitswerte für Ministerpräsident Kretschmann im Vergleich sen Umständen selbst kleinere Fehler in der Wahlkampffüh- zu seiner CDU-Herausforderin Eisenmann lassen derzeit rung letztlich wahlentscheidend sein können. wohl keine grundlegenden Veränderungen dieser Konstella- tion erwarten. picture alliance/dpa LITER ATUR Adam, Uwe Dietrich (1979): Politischer Liberalismus im deutschen Südwes- Von den kleineren Parteien in Baden-Württemberg weisen ten 1944–1978. In: Rothermund, Paul/Wiehn, Erhard R. (Hrsg.): Die derzeit insbesondere FDP und Linke keine gefestigten F. D.P./DVP in Baden-Württemberg und ihre Geschichte. Stuttgart, Strukturverankerungen auf, die sie sicher über die Fünfpro- S. 220–253. Bausinger, Hermann (1996): Zur politischen Kultur Baden-Württembergs. zenthürde bringen. Wie auch bei den letzten Landtags- In: Bausinger, Hermann/Eschenburg, Theodor (Hrsg.): Baden-Württem- wahlen sind beide Parteien darauf angewiesen, von aktu- berg. Eine politische Landeskunde. 4. Auflage, Stuttgart, S. 14–42. ellen Themen zu profitieren. Den Liberalen kommt hierbei Biege, Hans-Peter (1972): Wer wählt was in Baden-Württemberg? Wähler, Wahlkampf und Wahlerfolg im Lichte der Wahlforschung. In: Der Bür- die Medienpräsenz ihres Fraktionsvorsitzenden Hans-Ul- ger im Staat, Heft 1/1972, S. 27–32. rich Rülke zugute. Biege, Hans-Peter/Mann, Hans Joachim/Wehling, Hans-Georg (1976): Bessere Chancen hat demgegenüber die rechtspopulisti- Die Landtagswahl vom 4. April 1976 in Baden-Württemberg. Bewäh- rungsprobe für die Thematik des Bundeswahlkampfes? In: Zeitschrift für sche AfD, die sich auch in Baden-Württemberg auf Wäh- Parlamentsfragen, Heft 4/1976, S. 329–352. lerkreise stützen kann, die gesellschaftliche Modernisie- Eith, Ulrich (2001): Regierungsperioden und politische Dominanz in Ba- rung und vor allem weitere Zuwanderung strikt ablehnen. den-Württemberg: Die CDU als „Landespartei“. In: Hirscher, Gerhard/ Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Aufstieg und Fall von Regierungen. München, In den Umfragen erzielt sie zweistellige Ergebnisse und S. 249–277. konkurriert mit der SPD um Platz drei im Landtag. Länger- Eith, Ulrich (2001): Zur Ausprägung des politischen Wettbewerbs in ent- fristig profitiert sie in erster Linie von der Flüchtlings- und wickelten Demokratien. Zwischen gesellschaftlichen Konflikten und dem Handeln politischer Eliten. In: Eith, Ulrich/Mielke, Gerd (Hrsg.): Gesell- Integrationsthematik, wo sie als Protestpartei und Projekti- schaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder und Regionalstudien. onsfläche für Fremdenängste und für Bedrohungsgefühle Opladen, S. 17–33. wahrgenommen wird (Eith 2020). Abzuwarten bleibt aller- Eith, Ulrich (2004): Wählerverhalten in Baden-Württemberg – Strukturen, Akteure, Entwicklungslinien. In: Eilfort, Michael (Hrsg.): Parteien in Ba- dings, wie sich der innerparteiliche Machtkampf zwischen den-Württemberg. Stuttgart, S. 219–229. der nationalliberal-konservativen Parteiführung unter Jörg Eith, Ulrich (2008): Das Parteiensystem Baden-Württembergs. In: Jun, Meuthen und den inzwischen offen rechtsextremen Krei- Uwe/Haas, Melanie/Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Parteien und Partei- ensysteme in den deutschen Ländern. Opladen, S. 103–123. sen innerhalb der Partei entwickelt. Für eine längerfristige Eith, Ulrich (2018): Stabilité et changement. Portraits régionaux et socio- Etablierung zumindest in Westdeutschland muss es der structurels des élections au Bundestag 2017. In: Allemagne d´aujourd´hui AfD allen bisherigen Erfahrungen nach gelingen, zum (Aa) Nr. 223 1/2018, S. 12–21. Eith, Ulrich (2020): Regierungszufriedenheit und Protestdemos – Parteien- Rechtsextremismus eine klare Grenze zu ziehen. Solange demokratie und demokratische Stabilität nicht nur in Zeiten von Corona. also die Corona-Thematik die politische Agenda bestimmt In: Außerschulische Bildung, Heft 4/2020 (im Erscheinen). und die AfD ihr innerparteiliches Extremismusproblem nicht Haas, Stefanie (2013): Wandern ins Grüne: Veränderungen im Elektorat. In: Wagschal, Uwe/Eith, Ulrich/Wehner, Michael (Hrsg.): Der histori- lösen kann, sind ihre Aussichten auf Zugewinne eher be- sche Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg. Baden-Baden, scheiden. S. 43–57. 268 bis2020_04_inhalt.indd 268 30.11.20 08:43
Mann, Hans-Joachim (1992): Die SPD in Baden-Württemberg von 1952 bis zur Gegenwart – Politik, innere Entwicklung, Organisation. In: Schadt, BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENSYSTEM Jörg/Schmierer, Wolfgang (Hrsg.): Die SPD in Baden-Württemberg und IM WANDEL ihre Geschichte. Stuttgart, S. 233–299. Merkel, Wolfgang (2017): Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie. In: Harfst, Philipp et al. (Hrsg.): Parties, Governments and Elites. The Comparative Study of Democracy. Wies- baden, S. 9–23. Mielke, Gerd (1987): Sozialer Wandel und politische Dominanz in Baden- Württemberg. Eine politikwissenschaftlich-statistische Analyse des Zu- sammenhangs von Sozialstruktur und Wahlverhalten in einer ländlichen Region. Berlin. UNSER AUTOR Mielke, Gerd (1991): Alter und neuer Regionalismus: Sozialstruktur, politi- sche Traditionen und Parteiensystem in Baden-Württemberg. In: Oberndörfer, Dieter/Schmitt, Karl (Hrsg.): Parteien und regionale poli- tische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, S. 299– 313. Oberndörfer, Dieter/Mielke, Gerd/Eith, Ulrich (1992): Die These vom Denkzettelvotum greift viel zu kurz. Der Erfolg der Rechtsradikalen re- sultiert aus der Entfremdung der Traditionsparteien von der Lebenswelt ganzer Bevölkerungsschichten. Analyse der Landtagswahl in Baden- Württemberg. In: Süddeutsche Zeitung vom 11.04.1992, S. 9. Roth, Dieter (2013): Baden-Württemberg 2011: Was entschied die Wahl? In: Wagschal, Uwe/Eith, Ulrich/Wehner, Michael (Hrsg.): Der histori- sche Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg. Baden-Baden, S. 15–29. Sepaintner, Fred Ludwig (2002): 50 Jahre Landtagswahlen in Baden- Prof. Dr. Ulrich Eith studierte Politikwissenschaft, Mathematik und Württemberg. Grundzüge und Tendenzen. In: Der Bürger im Staat, Heft Soziologie in Freiburg. Nach Promotion und Habilitation in Poli- 1/2002, S. 79–88. tikwissenschaft lehrte er zunächst in Freiburg und Göttingen. Heu- Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Hrsg.): Baden-Württem- berg in Wort und Zahl, (Berichterstattung zu den Landtagswahlen). te ist er Direktor des Studienhauses Wiesneck, Institut für politische Verschiedene Jahrgänge. Stuttgart, Bildung Baden-Württemberg e. V. in Buchenbach und Professor Wagschal Uwe/Eith, Ulrich/Wehner, Michael (Hrsg.) (2013): Der histori- für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg. Seine For- sche Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg. Baden-Baden. Weber, Reinhold (2006): Politische Kultur, Parteiensystem und Wählertra- schungsschwerpunkte sind insbesondere die Wahl- und Einstel- ditionen im deutschen Südwesten. In: Weber, Reinhold/Wehling, Hans- lungsforschung, die Parteienforschung und das deutsche Regie- Georg (Hrsg.): Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Politik. rungssystem im Systemvergleich. Darüber hinaus ist er als Fach- Stuttgart, S. 56–89. Wehling, Hans-Georg (2006): Baden-Württemberg: Zur Geschichte eines gutachter für politische Stiftungen und Fachzeitschriften sowie als jungen Bundeslandes. In: Weber, Reinhold/Wehling, Hans-Georg wissenschaftlicher Kommentator in Printmedien, Rundfunk und Wehling (Hrsg.): Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Poli- Fernsehen aktiv. tik. Stuttgart, S. 9–32. Marco Brenneisen Schlussstriche Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen und lokale Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Erinnerungskulturen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945 Marco Brenneisen Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945 Marco Brenneisen legt eine umfassende Darstellung der „zweiten Geschichte“ der südwestdeutschen Natzweiler-Außenlager vor, in der er den gesellschaftlichen, politischen, administrativen und historiogra- phischen Umgang mit diesen Orten des Terrors seit der Besatzungs- zeit analysiert. Er zeichnet Phasen und Zäsuren der Aufarbeitung und des Gedenkens nach und nimmt geschichts- und erinnerungspolitische Auseinandersetzungen auf lokaler und regionaler Ebene in den Blick. Aus der Zusammenschau dieser spezifisch lokalen Erinnerungskul- turen entsteht ein differenziertes Bild, das zum besseren Verständnis der heutigen Gedenkstättenlandschaft Baden-Württembergs beiträgt. 6.50 Euro zzgl. Versand, Bestellung ausschließlich im Webshop der Landeszentrale für politische Bildung: www.lpb-bw.de/shop E-Book (kostenlos) unter www.lpb-bw.de/e-books.html 269 bis2020_04_inhalt.indd 269 30.11.20 08:43
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