Gaia-X - Wegbereiter einer digitalen und wettbewerbsfähigen Zukunft der EU?

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

                     Jana Bernhardt* und Marina Steininger

                     Gaia-X – Wegbereiter einer
                     digitalen und wettbewerbsfähigen
                     Zukunft der EU?

IN KÜRZE                                                                                      Aus handelstheoretischer Sicht gilt, je wettbe­
                                                                                         werbsfähiger ein Unternehmen ist und je agiler es
                                                                                         auf exogene Veränderungen reagieren kann, desto
Aus handelstheoretischer Sicht gilt, je wettbewerbsfähiger                               besser können exogene Schocks kompensiert wer­
und agiler ein Unternehmen ist, desto besser können exogene                              den. Im Licht der genannten Faktoren sollte ein unter­
Schocks kompensiert werden. Mit Blick auf die genannten                                  nehmensfreundliches Klima für EU-Unternehmen ge­
                                                                                         schaffen werden, das sowohl zum Erhalt als auch zur
Faktoren sollte ein unternehmensfreundliches Klima geschaf-
                                                                                         Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit beitragen kann.
fen werden, das sowohl zum Erhalt als auch zur Stärkung der                              Das Projekt Gaia-X könnte einen wichtigen Beitrag
Wettbewerbsfähigkeit beitragen kann. Dieser Beitrag erklärt,                             leisten, um Europa in eine wettbewerbsfähige Zukunft
was unter der Gaia-X-Initiative zu verstehen ist, welche Her-                            zu führen. Dieser Beitrag beleuchtet das Projekt aus
ausforderungen bestehen, und zeigt, inwiefern durch das Pro-                             handelsökonomischer Perspektive, bietet faktenba­
jekt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen                             sierte Hintergrundinformationen zum besseren Ver­
                                                                                         ständnis des Gaia-X-Projekts und zeigt die potenziel­
Unternehmen gestärkt werden könnte. Des Weiteren wird
                                                                                         len Chancen auf, die es für deutsche Unternehmen
aufgezeigt, inwieweit ein solches Projekt aus politikwissen-                             bieten könnte.
schaftlicher Sicht die europäische Integration weiter voran-
treiben kann.                                                                            WAS IST GAIA-X?

                                                                                         Gaia-X – auf europäische Werte gestützt, von der
                     Unternehmen werden mit zunehmenden Heraus­                          Kommission unterstützt: Daten werden nicht selten
                     forderungen konfrontiert. Insbesondere der starke                   als das »Öl des 21. Jahrhunderts« oder als der »Roh­
                     internationale Wettbewerb im Bereich digitaler                      stoff der Zukunft« bezeichnet, weshalb eine vernetzte
                     Dienstleistungen erhöht den Druck auf deutsche                      Dateninfrastruktur mit großem Datenpool und Inter­
                     Unternehmen.                                                        operabilität – der Kooperationsfähigkeit von Systemen
                          Die Europäische Union und insbesondere                         – heutzutage unerlässlich ist. Vom Bundesministerium
                     Deutschland konnten durch die Globalisierung der                    für Wirtschaft und Energie (BMWi) 2019 initiiert, soll
                     letzten Jahrzehnte stark profitieren. Doch bereits                  Gaia-X ein Verbundsystem von Cloud-Anbietern schaf­
                     vor der Corona-Pandemie stagnierte die Weltwirt­                    fen, das eine sichere, vertrauenswürdige und souve­
                     schaft zunehmend. Dabei spielten stets kompli­                      räne Nutzung von Daten ermöglicht, um eine Daten­
                     zierter werdende Herausforderungen, wie exogene                     infrastruktur in und für Europa zu errichten. Gaia-X
                     Schocks (z.B. Naturkatastrophen), und zunehmende                    stellt den größten Zusammenschluss von Unterneh­
                     internationale Handelshemmnisse (z.B. Brexit, Han­                  men in Bezug auf die Schaffung eines gemeinsamen
                     delskriege) eine ausschlaggebende Rolle. Im sel­                    Dateninfrastruktur-Ökosystems innerhalb Europas
                     ben Atemzug sollte jedoch auch die sogenannte in­                   bzw. der Europäischen Union dar. Das Projekt soll
                     dustrielle Revolution 4.0 genannt werden, denn sie                  die europäische digitale Souveränität sicherstellen.
                     stellt Unternehmen vor große Herausforderungen                      Darüber hinaus soll eine Plattform zur Verfügung ge­
                     (z.B. Veränderung des Produktportfolios, hin zur                    stellt werden, mit Hilfe derer das Teilen von und der
                     Servitization1, Digitalisierung und Robotisierung).                 Zugriff auf Daten erleichtert werden soll, mit dem Ziel,
                     Agilität und das Sicherstellen eines dynamischen                    eine breite Datenverfügbarkeit zu generieren.2 Es wird
                     Geschäftsumfelds sind wichtiger denn je, um den                     erwartet, dass so die Investitionsbereitschaft in Eu­
                     Anschluss im internationalen Wettbewerb nicht zu                    ropa gesteigert und Innovationen gefördert werden.
                     verlieren (Braml et al. 2020).                                      Abbildung 1 fasst die wichtigsten Bausteine des Gaia-
                                                                                         X-Projekts zusammen.
                     * Frau Jana Bernhardt ist Staatswissenschaftlerin an der
                                                                                         2
                     Universität Passau.                                                    Unter belgischem Recht wurde eine sogenannte AISBL (»associati­
                     1
                        Unter dem Begriff »Servitization« versteht man die Veränderung   on internationl sans but lucrative«), eine gemeinnützige Vereinigung
                     des Produktportfolios weg von klassischen Produktionsgütern (z.B.   ohne Gewinnerzielungsabsicht, gegründet. Hier arbeiten derzeit Ver­
                     Automobilherstellung) und zunehmend hin zu Dienstleistungen         treterinnen und Vertreter aus der Politik, Wissenschaft, Verwaltung
                     (Ariu et al. 2020).                                                 und Wirtschaft an einer einheitlichen Cloud-Lösung.

                66   ifo Schnelldienst   5 / 2021   74. Jahrgang   12. Mai 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 1
Die wichtigsten Bausteine des Gaia-X-Projekts
                                               Daten-Ökosystem
    Fortschrittliche intelligente
    Anwendungen
                                                                    KI          Internet        Analytik      Auto­            Big Data       Forschung
    (branchenübergreifende) Innovationen,                                      der Dinge                    matisierung
    Marktplätze, Anwendungen
                                                               Industrie     Energie      Mobilität   Finanzen    Green        Agrar      Öffentlicher
                                                                                                                   Deal                     Sektor
    Datenräume
    interoperable und übertragbare
    Datensätze und Dienste                                          Intelligentes       Gesundheits­         Kompe­
                                                                      Wohnen               wesen             tenzen                    ICT

    GAIA-X-Verbunddienstleistungen
    gebündelt und verteilt für Interoperabilität
    Vertrauens­ und Souveränitätsdienste                                 Identität und Vertrauen                   unabhängier
                                                                                                                  Datenaustausch

    Portabilität, Interoperabilität,
    Interkonnektivität                                                       Verbundkatalog                        Compliance
    Technisch: Architektur des Standards
    Kommerziell: Richtlinien

                                                        Netzwerk/                                    HPC            branchen­
    Compliance                                         Verbindungs­             CSP           (z.B. Forschung)     spezifische               EDGE
                                                         anbieter                                                    Clouds
    Rechtlich: Regulierung und Richtlinien
                                                    Infrastruktur
Quelle: BMWI (2020).                                                                                                                                  © ifo Institut

     Die Vision ist es, die europäische Zusammenar­                                 könnten dadurch gesenkt und Innovation und Wettbe­
beit zu stärken, Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen                               werbsfähigkeit der Unternehmen gesteigert werden,
und gleichzeitig Transparenz, Vertrauen und maximale                                denn generierte Datenpools bieten eine Grundlage
Sicherheit zu ermöglichen (BMWi 2020; Europäische                                   für Innovation innerhalb und zwischen Unternehmen.
Kommission 2020). Auf europäischen Werten, wie Si­                                       Gaia-X kann in den Bereichen der Künstlichen
cherheit und Datenschutz, beruhend und in Konformi­                                 Intelligenz (KI), Internet of Things (IoT), aber auch
tät mit der europäischen DSGVO, können so Entschei­                                 Big-Data-Analysen und Unternehmensanalysen ein­
dungen darüber getroffen werden, wie und wo Daten                                   gesetzt werden. Tabelle 1 zeigt ausgewählte Anwen­
gespeichert, verarbeitet und verwendet werden. Dabei                                dungsbeispiele, die aktuell mit Hilfe der Gaia-X-Platt­
handelt es sich bei etwa der Hälfte der Beteiligten um                              form umgesetzt werden könnten. Gaia-X soll als Tool
klein- und mittelständische Unternehmen.3 Die Anfor­                                dienen, um die Industrie 4.0 innerhalb der EU erfolg­
derungen bei einem gemeinsamen Zugriff auf Daten                                    reich umzusetzen4, denn es bietet eine Plattform, um
seitens mehrerer Unternehmen beruhen dabei auf
                                                                                    4
                                                                                       Die Digitalisierung von industrieller Produktion, auch bekannt als
europäischem Datenschutz. Digitale Handelsbarrieren                                 Servitization, könnte als »Krönung« der vorangegangenen industriel­
                                                                                    len Revolutionen bezeichnet werden. Unter der Industrie 4.0 versteht
3
   75% sind private Unternehmen, von Multinationalen bis kleinen                    man die intelligente Vernetzung von Produktionsmaschinen und
Start-Ups. Auch R&D-Programme, Verbände, Wissenschaft und der                       Prozessen im Bereich der Industrie und die Nutzung von Informa­
öffentliche Sektor nutzen und beteiligen sich an der Daten-Cloud.                   tions- und Kommunikationstechnologien (ICT).

    Tab. 1
    Anwendungsbeispiele des Gaia-X-Projekts
    Bereich                                        Anwendungsbeispiele
    Privatunternehmen – Industrie 4.0              Vernetzte Produktion, Collaborative Condition, Monitoring, Smart Manufacturing, Spillover-
                                                   effekte durch verbesserte Zusammenarbeit innerhalb und zwischen Unternehmen
    Gesundheitswesen                               COVID DASHBOARD AND HUB Smart Health Connect für bessere Gesundheitsvorsorge,
                                                   Forschungsplattform »Genomik« (Krebsbekämpfung), Surgical Platform for AI-based Risk
                                                   Identification, EU-weiter patientenbasierten Datenaustausch
    Öffentlicher Sektor und Verwaltung             Chatbots (Bürgerservice), InfraX (Verkehrsinfrastruktur), Space4cities (Erdbeobachtung aus
                                                   dem All für klimafreundlichere Stadtgestaltung), HPC (High Performance Computing) als
                                                   Service
    Smart Living                                   Smart Building, Smart Living für mehr Energieeffizienz, Smart Living und AAL (Alltagsunter-
                                                   stützende Assistenzlösungen)
    Finanzwirtschaft                               Zugang zur FBDC (Financial Big Data Cluster), Nachhaltiges Finanzwesen, Pay-per-use supply
                                                   chain Finance
    Agrarsektor                                    Intelligente Landwirtschaft, Agri-Gaia (Agrarwirtschaftliches KI-Ökosystem)
    Energiesektor                                  Edge Rechenzentren, Intelligente Energieaggregatoren für Quartiere, Infrastrukturdaten für
                                                   neue Geschäftsmodelle
    Mobilität                                      Smart (City) Mobility, Mobility Transport/ Travel, Digitales Parkraummanagement
    Quelle: BMWi (2021).

                                                                                                       ifo Schnelldienst   5 / 2021    74. Jahrgang    12. Mai 2021    67
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 2                                                                                                                            Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unterneh­
Ranking der digitalen Wettbewerbsfähigkeit – Deutschland im internationalen                                                  men kann durch Handel gestärkt werden.5 Insbeson­
Vergleichᵃ                                                                                                                   dere erhöht der durch den digitalen Dienstleistungs­
Rang           Nation                                                                                                        handel hervorgerufene Wettbewerb die Produktivität
 42      Italien                                                      60                                                     der Dienstleistungsunternehmen (Alfaro-Urena et al.
 24      Frankreich                                                            76
 18      Deutschland
                                                                                                                             2020; Bernard und Moxnes (018).
                                                                                     81
 10      Finnland                                                                          91                                     Deutschland gilt aufgrund des starken Mittel­
  9      Norwegen                                                                           92                               standes als eines der wettbewerbsfähigsten Länder
  8      Südkorea                                                                           92
  7      Niederlande                                                                         93                              der Welt. Doch die sogenannte Globalisierung 4.0, die
  6      Schweiz                                                                              94                             Veränderung des Produktportfolios, der sogenann­
  5      Hongkong                                                                              95
  4      Schweden                                                                              95                            ten Servitization – weg von traditionellen Güterpro­
  3      Dänemark                                                                               96                           duktionen und hin zu digitalen Dienstleistungen –,
  2      Singapur                                                                                98
  1      USA                                                                                     100                         stellt zunehmende Herausforderungen für die deut­
                        0             20              40               60             80             100          120        schen Industrien dar (Baldwin 2018; Baldwin 2019).
                                                                                                                Index
ᵃ Die Abbildung zeigt einen digitalen Wettbewerbsindex, der sich aus mehreren Teilaspekten zusammensetzt. Der                Die Gaia-X-Plattform könnte daher einen essenziellen
Index misst die Kapazität und den Stand der Digitalisierung von 63 Nationen. Einer der Hauptparameter ist der Grad           Grundbaustein für die bereits beginnende industrielle
der Adaption digitaler Technologien. Die USA befinden sich mit einem Index i. H. v. 100 auf Platz 1, dicht gefolgt von
Singapur auf Platz 2. Deutschland nimmt Platz 18 ein und ist damit im oberen Mittelfeld der 63 analysierten Länder.          Revolution 4.0 darstellen.
Quelle: IMD (2020); WTO (2019); Berechnung der Autorinnen.                                                  © ifo Institut        Dienstleistungen sind zum Rückgrat der Welt­
                                                                                                                             wirtschaft und zum dynamischsten Bestandteil des
                                   Produktion, Edge und Cloud-Computing zu vernetzen,                                        internationalen Handels geworden. Tatsächlich ist
                                   Rohdaten zu verarbeiten und domänenspezifische                                            der Handel mit Dienstleistungen seit 2011 rascher
                                   Datenpools zu erzeugen.                                                                   gewachsen als der Warenhandel. Mittlerweile ma­
                                                                                                                             chen Dienstleistungen in den Industrieländern im
                                   DEUTSCHE DIGITALE WETTBEWERBSFÄHIGKEIT,                                                   Durchschnitt drei Viertel des BIP aus. Bis vor kur­
                                   DIGITALER DIENSTLEISTUNGSHANDEL UND SEINE                                                 zem wurden Dienstleistungen hauptsächlich physisch
                                   POTENZIALE                                                                                gehandelt, doch dank der Digitalisierung wird es
                                                                                                                             deutlich einfacher, Dienstleistungen virtuell anzubie­
                                   Das Gaia-X-Projekt bietet eine wichtige Plattform für                                     ten. Der zunehmende grenzüberschreitende Handel
                                   Firmen, die im Zuge der digitalen Transformation                                          mit Dienstleistungen eröffnet den Unternehmen neue
                                   auf Daten und deren Verarbeitung angewiesen sind.                                         Möglichkeiten. Seit 2000 vervierfachte sich der welt­
                                   Deutschland belegt im Vergleich zu internationalen                                        weite Dienstleistungshandel (Braml et al. 2020; WTO
                                   Wettbewerbern einen Platz im oberen Mittelfeld in                                         2019).6 Abbildung 3 und Abbildung 4 zeigen die Ver-
                                   der Digitalisierung. Es besteht also noch Wachstums­                                      änderung der Dienstleistungsexporte und -im­
                                   potenzial. Gaia-X könnte ein wichtiger Meilenstein                                        porte für die USA, China und Deutschland von 2005
                                   sein, um den Anschluss nicht zu verlieren. Laut                                           bis 2019.7 Deutschland kann nach wie vor mit den
                                   ifo-Präsident Clemens Fuest spielt die Digitalisierung                                    »Big Playern«, den USA und China, mithalten, doch
                                   eine wichtige Rolle in den unterschiedlichen Wachs­                                       das Wachstum des deutschen Dienstleistungshandels
                                   tumsgeschwindigkeiten zwischen Europa und den                                             verläuft flacher als das der beiden Wettbewerber. Im
                                   USA. Die langfristige Sicherstellung des Wohlstands                                       Vergleich zu den USA und China steigen die deut­
                                   hängt davon ab, digitale Technologien einzusetzen.                                        schen Exporte und Importe langsamer an. Seit 2012
                                   Dabei gewinnen Daten und deren Verarbeitung stets                                         im­portiert China mehr Dienstleistungen als Deutsch­
                                   an Bedeutung (Fuest 2020).                                                                land und holt auch bei den Exporten langsam auf.
                                        Die digitale Transformation bezeichnet den durch                                          Dabei spielte vor allem der Exporthandel im Be­
                                   digitale Technologien initiierten Veränderungspro­                                        reich digitaler Technologien eine ausschlaggebende
                                   zess. Dabei spielen sowohl die digitale Transforma­                                       Rolle.8 Laut einer Studie des ifo Instituts wird aktuell
                                   tion der Unternehmen als auch sich verändernde                                            5
                                                                                                                                Das Konzept des komparativen Vorteils und das Stärken
                                   Kundenerwartungen eine Rolle. Im internationalen                                          einer Volkswirtschaft durch Spezialisierung wurde bereits von
                                                                                                                             David Ricardo vor mehr als 200 Jahren erklärt.
                                   Vergleich der digitalen Wettbewerbsfähigkeit rangiert                                     6
                                                                                                                                Im gleichen Zeitraum verdreifachte sich der Güterhandel.
                                   Deutschland im oberen Mittelfeld (vgl. Abb. 2). Die                                       7
                                                                                                                                Der TiSMoS-Datensatz und andere offizielle Statistiken (z.B.
                                                                                                                             WIOD) unterscheiden sich in einem wichtigen Aspekt. WIOD erfasst
                                   USA und Singapur nehmen die ersten Plätze ein. In                                         ausschließlich die Erbringungsmodi 1 und 2, wohingegen TiSMoS
                                   der EU befinden sich neben den Niederlanden auch                                          zusätzlich umsatzbasierte Dienstleistungen (Modi 3 und 4) miteinbe­
                                                                                                                             zieht. Der TiSMoS-Datensatz erlaubt jedoch keine Aussagen über die
                                   die skandinavischen Länder Schweden, Finnland und                                         Handelspartner, da ausschließlich der gesamte Handel in den jewei­
                                   Dänemark vor Deutschland. Italien fiel im Vergleich                                       ligen Sektoren in den Daten zur Verfügung steht. Aufgrund dessen
                                                                                                                             kann der TiSMoS-Datensatz für die Analyse der Entwicklung der
                                   zu vorherigen Rankings stark zurück und ist nun le­                                       deutschen Dienstleistungsexporte und -importe auf Sektorenebene
                                   diglich auf Platz 42. Die EU als Ganzes befindet sich                                     und nach Erbringungsart analysiert werden (Braml et al. 2020).
                                                                                                                             8
                                                                                                                                Der Exporthandel digitaler Technologien zählt zum Dienstleis­
                                   daher im globalen Mittelfeld. Im Vergleich zur Wett­                                      tungshandel des sogenannten Cross Border Supply, der alle direkten
                                   bewerbsfähigkeit der traditionellen Güterproduktion                                       Dienstleistungsexporte und -importe inkludiert. Dabei müssen Her­
                                                                                                                             steller und Verbraucher ihren Standort zur Erbringung der Dienstleis­
                                   besteht im Bereich der digitalen Transformation noch                                      tung ihren Standort nicht verlassen. Beispiele sind virtuelle Rechts­
                                   viel Potenzial.                                                                           beratung, Finanzdienstleistungen und IT-Dienste.

                            68     ifo Schnelldienst       5 / 2021   74. Jahrgang    12. Mai 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE

jeder siebte Euro im Bereich des ICT-Handels9 in den                 Abb. 3
USA abgesetzt, China konnte seinen Absatz seit 2007                  Veränderung der Dienstleistungsexporte ausgewählter Länder
verdreifachen. Indien und Japan bauten ihren Anteil                                                                                                    China         Deutschland       USA
ebenfalls deutlich aus. Dagegen sank der Anteil der                           Mrd. Euro
                                                                     2500
europäischen Länder (z.B. in Frankreich und dem Ver­
einigten Königreich) im globalen Vergleich. Im inter­                2000
nationalen Ländervergleich befindet sich Deutschland
im Bereich des ICT-Dienstleistungshandels nach wie                   1500
vor auf einem der vorderen Plätzen.
     Eine Studie des ifo Instituts zeigte, dass das                  1000

Handelspotenzial des EU-Binnenmarkts im Bereich
                                                                      500
der digitalen Dienstleistungen noch nicht vollständig
ausgeschöpft ist (Braml et al. 2020). Das Gaia-X-Pro­
                                                                         0
jekt könnte hier insbesondere dazu beitragen, das                              2005            2007             2009              2011             2013          2015              2017
Potenzial durch neue Geschäftsbeziehungen weiter                     Quelle: TISMOS OECD (2021).                                                                                © ifo Institut
auszuschöpfen. Des Weiteren bestehen im Vergleich
zum Güterhandel im Dienstleistungshandel noch re­
                                                                     Abb. 4
lativ hohe Markthürden, die innerhalb der EU durch                   Veränderung der Dienstleistungsimporte ausgewählter Länder
eine gemeinsame Daten-Cloud gesenkt werden könn­
                                                                                                                                                       China     Deutschland           USA
ten. Die genannten Punkte sind wichtig, denn Han­                             Mrd. Euro
del mit Dienstleistungen schafft Wohlfahrtsgewinne                   1800
durch eine effizientere Ressourcenallokation, größere                1600

Skaleneffekte und eine Zunahme der Vielfalt der an­                  1400
                                                                     1200
gebotenen Dienstleistungen (WTO 2019).
                                                                     1000
     Während neue Technologien sowie die Qualität
                                                                      800
und Geschwindigkeit der digitalen Transformation
                                                                      600
eine wichtige Rolle bei der Ausweitung des Dienst­
                                                                      400
leistungshandels spielen, behindern verschiedene
                                                                      200
Hemmnisse weiterhin den (digitalen) Dienstleistungs­
                                                                         0
handel. Abbildung 5 zeigt die Höhe der bestehenden                             2005            2007             2009              2011             2013          2015              2017
digitalen Dienstleistungshandelshemmnisse. Ein Index
                                                                     Quelle: TISMOS OECD (2021).                                                                                © ifo Institut
in Höhe von 0 bedeutet, dass es keine digitalen Han­
delshemmnisse gibt, ein Index von 1 das Gegenteil.
Deutlich wird hier, dass sich Deutschland und die EU                 Abb. 5
im globalen Mittelfeld befinden. In den USA bestehen                 Index des Handels mit digitalen Dienstleistungen in ausgewählten Ländern und
im Vergleich deutlich weniger digitale Handelsbarri­                 Regionen, 2020ᵃ
eren. Das Bereitstellen eines Verbundsystems von
Cloud-Anbietern und damit einer Datenplattform                       Deutschland                         0,14

könnte dazu beitragen, die digitalen Handelsbarri­                            EU27                       0,15
eren zu senken und vor allem den Intra-EU-Handel
                                                                               USA             0,08
zu forcieren.
                                                                              China                                                                                   0,51
KOOPERATION, INTERDEPENDENZ DER
                                                                              OECD                               0,19
WIRTSCHAFT, DIE »SOGKRAFT« DES BINNEN-
MARKTS UND EUROPÄISCHE INTEGRATION AUS                                                0,0             0,1               0,2              0,3              0,4             0,5             0,6
POLITIKWISSENSCHAFTLICHER SICHT                                      ᵃ Der OECD Digital STRI identifiziert, katalogisiert und quantifiziert Hindernisse, die den Handel
                                                                     mit digital Dienstleistungen in 50 Ländern beeinflussen. Der OECD Digital STRI erfasst
                                                                     übergreifende Hemmnisse, die alle Arten von digital gehandelten Dienstleistungen betreffen. Der
                                                                     Index für die EU 27 und die OECD zeigen den Durchschnitt der jeweiligen Mitgliedstaaten. Der
Theorien der europäischen Integration machen sich                    Index bietet politischen Entscheidungsträgern ein evidenzbasiertes Instrument, mit dessen Hilfe
zur Aufgabe, die Entstehung, den Prozess sowie den                   regulatorische Engpässe identifiziert, Richtlinien, die wettbewerbsfähigere und diversifiziertere
                                                                     Märkte für den digitalen Handel fördern, entworfen und die Auswirkungen politischer Reformen
»Status quo« der europäischen Integration zu erklä­                  analysiert werden können.
ren. Der Politikwissenschaftler David Mitrany stellte                Quelle: OECD Services Trade Restrictiveness Index Regulatory Database (2021).                              © ifo Institut

sich die Frage, wie Integration und Friedenssiche­
rung global sichergestellt werde könnte, und kam                     denz sowie Soli­darität sind ihm zufolge die Grund­
zu dem Schluss, dass Integration nicht aufgrund von                  pfeiler auf dem Weg zu mehr Integration, Wohlstand
schlichtweg von oben eingesetzten und etablierten                    und Frieden; poli­tische Aktivität tritt nach anfängli­
Macht- und Herrschaftsstrukturen erfolgen könne.                     chem Anstoß in den Hintergrund (Mitrany 1966). Der
Kooperation und damit einhergehende Interdepen­                      von ihm etablierte Funktionalismus und der später
9
  ICT ist ein Teilbereich des Cross Border Supply und bezieht sich
                                                                     auf Ernst B. Haas – ebenfalls Politikwissenschaftler
auf Kommunikation und IT-Dienstleistungen                            – zurückgehende Neofunktionalismus beruhen auf

                                                                                            ifo Schnelldienst    5 / 2021     74. Jahrgang     12. Mai 2021     69
FORSCHUNGSERGEBNISSE

     der Annahme, dass industriepolitischen, technischen                  FAZIT: SCHRITT ZU EINER DIGITALEN ZUKUNFT
     oder wirtschaft­lichen Projekten, die einen Bezug zum                EUROPAS UND ZU WEITERER EUROPÄISCHER
     Binnenmarkt aufweisen, stark integrative »Sogkraft«                  INTEGRATION
     beigemessen werden könne (Haas 1961; Müller-Graf
     2007).10                                                             Dieser Beitrag stellt das Gaia-X Projekt vor und zeigt
          Ferner entstünde dann über wirtschaftliche                      den Status quo der deutschen digitalen Wettbe­
     Interdependenz tiefere Integration. Als erfolgrei­                   werbsfähigkeit, bestehende Handelsbarrieren und
     che industriepolitische Projekte lassen sich bspw.                   den digitalen Dienstleistungshandel im Vergleich zu
     CERN, AIRBUS und ESA aufführen. Gesellschaftliche                    ausgewählten internationalen Wettbewerben. Beson­
     Herausforderungen und gemeinsame (grenzüber­                         ders im ICT- und IP-Bereich könnten Geschäftsbezie­
     schreitende) Interessen bedürfen der Kooperation.                    hungen durch einen Digitalmarkt erweitert werden.
     Initiierende Vernetzung in einem wirtschaftlichen                    Deutschland belegt im Vergleich zu internationalen
     oder technischen Bereich tritt im Idealfall einen Art                Wettbewerben im digitalen Dienstleistungsbereich
     Domino- oder sogenannten »Spill-over«-Effekt los.                    einen Platz im oberen Mittelfeld, doch die EU als Gan­
     Ist ein Schritt vollzogen, so entsteht zwangsläufig                  zes befindet sich im globalen Mittelfeld. Im Vergleich
     Bedarf nach einem weiteren, was als »expansive Lo­                   zur traditionellen Güterproduktion ist der Bereich der
     gik« bezeichnet wird. Am Ende des dynamischen Pro­                   digitalen Transformation ausbaufähig.
     zesses stehen neu etablierte Institutionen, die die                       Insbesondere ist das Potenzial des EU-Binnen­
     ge­meinsamen Interessen durchsetzen. Der Schlüssel                   markts noch nicht vollständig ausgeschöpft. Gaia-X
     liegt also in der Stärkung der Funktionen im bspw.                   könnte ein wichtiger Meilenstein sein, denn die lang­
     ökonomischen oder technischen Bereich. Zusammen­                     fristige Sicherstellung des Wohlstands hängt davon
     arbeit muss an diese Funktionen geknüpft sein (Wolf                  ab, digitale Technologien einzusetzen und Synergien
     2012). Beispielsweise erfordert grenzübergreifender                  zwischen Unternehmen und Ländern effizient zu
     Handel Abbau von Handelsbarrieren, Zöllen oder –                     nutzen. Das Bereitstellen eines Verbundsystems von
     wie im Beispiel der Eurozone – sogar die Etablierung                 Cloud-Anbietern und damit einer Datenplattform, die
     einer gemeinsamen Währung für einen gemeinsamen                      Inter­operabiltät gewährleistet, könnte dazu beitragen,
     Binnenmarkt.                                                         die digitalen Handelsbarrieren zu senken und vor al­
          Der Fokus sollte nach David Mitrany auf der Zu­                 lem den Intra-EU-Handel zu forcieren.
     sammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft und                            Gaia-X könnte geeignete Rahmenbedingungen
     Technologie liegen. Der Funktionalismus und der                      schaffen, damit Unternehmen von positiven Syner­
     Neofunktionalismus betrachten Regierungen zwar                       gieeffekten profitieren können. Auf der Agenda ste­
     als die anfänglichen Initiatoren, jedoch nicht als die               hen hier Investitionen in schnelle und leistungsfä­
     Hauptakteure in weiterführenden Integrationsschrit­                  hige Netze, Entwicklung technologischer Standards,
     ten (Mitrany 1965; Gehring 1996).                                    weitere Investitionen in die IT-Sicherheit sowie in
          Und wenngleich Gaia-X geschaffen wurde,                         zeitgemäße Datenschutzrichtlinien. Zudem könnte
     um die europäische digitale Souveränität zu stei­                    Gaia-X den europäischen Integrationsprozess weiter
     gern und nicht, um den europäischen Integrations-                    voranbringen.
     prozess weiter voranzubringen, so könnte mit ei­                          Die Diskussion über Gaia-X als Wegweiser für eine
     nem solchen Projekt, dem (Neo-)Funktionalismus                       wettbewerbsfähige, digitale Zukunft Europas wurde
     zufolge, der Nebeneffekt der Förderung europäi­                      hier aus ökonomischer Sichtweise geführt und auf­
     scher Integration einhergehen. Auf dem Bedarf für                    grund der bestehenden Datenlage nur deskriptiv an­
     eine gemeinsame europäische und souveräne Daten-                     geschnitten. Nach Implementierung der Dateninfra­
     infrastruktur schaffte die Politik die Basis dafür. In­              struktur können weitere Analysen folgen. Zukünftige
     dustrie, Wirtschaft und Wissenschaft haben sich zur                  Forschung wird zeigen, ob ein kausaler Zusammen­
     Aufgabe gemacht, das Projekt zu lancieren und grün­                  hang zwischen der entstehenden europäischen Da­
     deten eine Ver­einigung ohne Gewinnerzielungsabsicht                 teninfrastruktur und der tatsächlichen Wettbewerbs­
     unter bel­gischem Recht (AISBL – association inter-                  fähigkeit Europas besteht.
     na­tionale sans but lucratif ). Gemäß Mitranys und
     Haas‘ Theorien könnte Gaia-X dem Dominoeffekt                        LITERATUR
     oder der expansiven Logik folgen, womit das Projekt                  Alfaro-Urena, A., I. Manelici und J. P. Vasquez (2019), »The Effects of
     eine vertiefte europäische Integration herbeiführen                  Joining Multinational Supply Chains: New Evidence from Firm-to-Firm
                                                                          Linkages«, SSRN 3376129.
     könnte.
                                                                          Baldwin, R. (2018), »If this is Globalisation 4.0, What Were the Other
                                                                          Three?«, VOX, CEPR Policy Portan, verfügbar unter:
     10
        Die europäische Integration meint einen »immer engeren Zusam­     https://voxeu.org/content/if-globalisation-40-what-were-other-three,
     menschluss der europäischen Völker«. Das Eigenverständnis der Eu­    aufgerufen am 13. April 2021.
     ropäischen Union findet sich in der Präambel des Vertrags über die
     Arbeitsweise der EU (AEUV). Seit der Gründung der Europäischen       Baldwin, R. (2019), The Globotics Upheaval: Globalization, Robotics, and
     Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ist es die Bestrebung und    the Future of Work, Oxford University Press, Oxford.
     das Primärziel der europäischen Volker. Das Phänomen umfasst ver­    Bernard, A. B. und A. Moxnes (2018), »Networks and Trade«, Annual Re-
     stärkte und immer enger werdende politische und wirtschaftliche      view of Economics 10, 65–85.
     Zusammenarbeit in Europa. Beispiele hierfür sind der Schen­
     gen-Raum oder die Eurozone.

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

BMWI – Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020): Gaia-X:         IMD (2020), »IMD World – Digital Competitiveness Ranking 2020«, verfüg­
Das europäische Projekt startet in die nächste Phase.                       bar unter: https://www.imd.org/wcc/world-competitiveness-center-ran­
                                                                            kings/world-digital-competitiveness-rankings-2020/, aufgerufen am
Braml M., L. Flach, M. Steininger und F. Teti (2020), Globalisierung im     13. April 2021.
Wandel: Chancen und Herausforderungen für die bayerische Wirtschaft,
IHK für München und Oberbayern, München.                                    Mitrany, D. (1965), »The Prospect of Integration: Federal or Functional«,
                                                                            Journal of Common Market Studies 4(2), 119–149.
Europäische Kommission (2020), Mitteilung der Kommission an das Euro-
päische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialaus-    Mitrany, D. (1966), A Working Peace System, Quadrangle Books.
schuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Datenstrategie,
                                                                            Müller-Graff, P.-C. (2007), »›Differenzierte Integration‹: Konzept mit
Brüssel.
                                                                            sprengender oder unitarisierender Kraft für die Europäische Union?«,
Fuest, C. (2020), Wie wir unsere Wirtschaft retten: der Weg aus der         Integration 30(2), 129–139.
Corona­krise, Aufbau, Berlin.
                                                                            Wolf, D. (2012), »Neo-Funktionalismus«, in: H. J. Bieling und M. Lerch
Gehring, T. (1996), »Integrating Integration Theory: Neo-Functionalism      (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, Springer Verlag für Sozial­
and International Regimes«, Global Society 10(3), 225–253.                  wissenschaften, Berlin,
Haas, E. B. (1961), »International Integration: The European and the Uni­   WTO – World Trade Organization (2019), World Trade Report 2019 - The
versal Process«, International Organization 15(3), 366–392.                 future of services trade, verfügbar unter: https://www.wto.org/english/
                                                                            res_e/publications_e/wtr19_e.htm, aufgerufen am 15. April 2021.

                                                                                                ifo Schnelldienst   5 / 2021   74. Jahrgang   12. Mai 2021   71
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