Geist-Körper-Interdependenz in der osteopathischen Behandlung

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Osteopathische Medizin
     ORIGINALIA

Geist-Körper-Interdependenz
in der osteopathischen Behandlung
Torsten Liem, Patrick Van Den Heede

Zusammenfassung                               genden wollen wir für die Behandlung we-         of physical, viral, bacterial or chemical loads.
In Dysfunktionen beeinträchtigen Störun-      sentliche zu berücksichtigende Interaktio-       The importance of disturbed physical regula-
gen der physischen Anpassungsfähigkeit        nen in der Geist-Körper-Interdependenz           tion as a possible cause of physical symptoms
eines biologischen Systems die Fähigkeit      diskutieren.                                     is the subject of many a debate in osteopa-
zur Aufrechterhaltung der Homöostase, z. B.                                                    thy. The role of the mind as a possible cause
im Falle von physikalischen, viralen, bak-    Schlüsselwörter                                  of bodily disorders, however, is less studied
teriellen oder chemischen Belastungen. Die    Körper-Geist-Interdependenz, Geist-Körper-       in osteopathy and often metaphysically in-
Bedeutung gestörter körperlicher Regulati-    Interdependenz, Dysfunktion, Behandlungs-        terpreted. In this article, we want to discuss
onen als mögliche Ursache für körperliche     interaktion, Körperkonzept, psychosomati-        the interactions in mind-body interdepen-
Symptome ist in der Osteopathie Gegen-        sche Osteopathie                                 dence that are essential for treatment.
stand zahlreicher Diskussionen. Die Rolle
des Geistes als mögliche Ursache für kör-     Abstract                                         Keywords
perliche Störungen ist in der Osteopathie     In dysfunctions, disturbances in the physical    body-mind interdependencemind-body inter-
hingegen weniger untersucht und nicht         adaptability of a biological system impair the   dependence, dysfunction, treatment interac-
selten metaphysisch interpretiert. Im Fol-    ability to maintain homeostasis, e.g. in case    tion, body concept, psychosomatic osteopathy

Geistkonzept                                  assoziierten, fluktuierenden Prozess
                                              des Bewusstseins in allen Arten von                Anpassungsfähigkeit an eine sich
Geist definieren wir als eine Interdepen-      Formen und Evolutionen einhergeht,                 ständig verändernde und integra-
denz von Gedanken, Vorstellungen, Er-         der gleichzeitig auch eine relative Au-            tive Verfeinerung der zunehmenden
                                                                                                 Komplexität aussetzt. Insbeson-
wartungen, Erinnerungen etc. mit der          tonomie aufzeigt. Die jeweilige thera-
                                                                                                 dere die evolutive Gehirnentwick-
physischen Quelle des bewussten Funk-         peutische Kompetenz, die Interferenzen
                                                                                                 lung (als Körpersubstrat) tritt bei
tionierens, durch die sie ausgedrückt         und Wechselwirkungen von Geist und
                                                                                                 der Menschheitsentwicklung in den
wird (z. B. der Körper als physiologische     Form unter Berücksichtigung ontogene-
                                                                                                 Vordergrund.
Einheit). Damit ist gemeint, dass wir den     tischer und organogenetischer Aspekte
Geist als eine Funktion betrachten, die       des – sowie phylogenetischer und evo-
zwei verschiedene Eigenschaften oder          lutionärer Einflüsse im – jeweiligen*r
Ausdrucksweisen aufweist:                     Patient*in haben unserer Erfahrung nach          Dabei ist das Körperkonzept im Laufe
• eine, in der der Geist von physischen       Einfluss auf die im Hier und Jetzt einer          der Menschheitsentwicklung selbst
   Parametern abhängig ist, und               Behandlungsinteraktion stattfindenden             evolutiven Wandlungen unterworfen,
• eine, in der der Geist eine relativ         Prozesse.                                        z. B. von einem abstrakten Konstrukt
   unabhängige Qualität der Informa-                                                           hin zu einem zunehmend konkreten
   tion erworben hat, die ihrerseits mit                                                       Körper, der bedeutungsvolle Erfahrun-
   physikalischen Faktoren interferie-        Körperkonzept                                    gen ermöglicht, einhergehend mit zu-
   ren kann.                                                                                   nehmender Integration der Wahr-
                                                                                               nehmung von sowohl Zuständen wie
Information kann aus unserer Sicht                                                             Prozessen, auch jenseits mechanis-
                                                Das Konzept des „Körpers“ oder der
sowohl als physikalische als auch als                                                          tischer Sichtweisen, von Äußerlichem
                                                „Verkörperung“ verstehen wir als
begriffliche, abstrakte Austauschein-                                                           zum Innerlichen, von Zuständen zu
                                                einen adaptiven Prozess zunehmen-
heit begriffen werden, die sich in be-          der Komplexität, bei dem Informa-              Prozessen, von Analyse zum Holismus,
stimmten Zeitskalen der Evolution mit           tionen in die Materie integriert und           von mechanischer isolierter Ganzheit
Modalitäten der Form (Erscheinung)              diese integrierten Informationen               zu einer Betrachtung systemischer in-
konstelliert und interferiert. Wir pos-         einem evolutiven Wellenmuster der              teraktiver Kontextdynamik ([2], in An-
tulieren, dass diese Prozesse mit einem                                                        lehnung an Levin u. Solomon 1990).

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Osteopathische Medizin
                                                                                           ORIGINALIA

Körper-Geist-Beziehung                      Als Endergebnis sehen wir die Entste-       Zeug und Körper-Zeug nicht, d. h.
                                            hung eines sich ständig selbst erneu-       Informationsumbau ist nie nur
In Abhängigkeit von evolutionären und       ernden Verstandes, der beginnt, mit         Körper-bezogen, nie nur Geist-
ontogenetischen Evidenzen sollten nach      zunehmender relativer Autonomie sein        bezogen, sondern abhängig von
unserer Ansicht die Körper-Geist-Inter-     eigenes Leben zu leben (ein „ursprüng-      Umgebungskontexten, in denen
aktion und die Geist-Körper-Interaktion     licher“ informierter Teil, der nun be-      die Körper-Geist Einheit evoluiert.
als zwei aufeinander folgende Episoden      ginnt, sich mit einer abstrahierenden
ontogenetischer Differenzierung betrach-    Tendenz der Verstandeseinstellung zu
tet werden.                                 verbinden, sich von körperlichen Ein-     Das bedeutet, dass jedes lebende Sys-
                                            schränkungen relativiert und emanzi-      tem davon abhängt, wie es sich in
                                            piert). Dieses neue Potenzial des Geis-   Bezug zum jeweiligen Kontext entwi-
                                            tes hat auch die Fähigkeit – wenn auch    ckelt und entwickelt hat. Das bedeutet
  Ontogenese bezeichnet die Entwick-        immer in Abhängigkeit zu wechselwir-      auch, dass die Möglichkeiten für trans-
  lung eines Einzelwesens, in Abgren-
                                            kenden Dynamiken zur Körperlichkeit       formatorische Prozesse in der Behand-
  zung zum Begriff der Phylogenese.
                                            und zu Lebenskontexten –, die „Materie“   lung von einem gemeinsamen und
                                            des Körpers zu beeinflussen und zu         kombinierten Muster der Interferenz
                                            reorganisieren.                           und des Ausdrucks der Komponenten
Körper-Geist-Medizin und Geist-Kör-                                                   von Körper-Geist- und Geist-Körper-
per-Medizin erscheinen dementspre-          Wir beobachten in unserer osteopa-        Interaktionen bestimmt wird, die ei-
chend als zwei Facetten derselben           thischen Behandlung, dass, wenn der       nerseits auf die Vergangenheit rück-
Medaille, wobei deren Tiefe und Hei-        Geist sich zunächst mittels wie auch      geführt werden können und sich
lungspotenzial mit der Identifizierung,      in Wechselwirkung mit einer zuneh-        andererseits auf die Wahrscheinlichkeit
Differenzierung und Integration von         menden Komplexität des Körperlichen       einer sich entwickelnden Zukunft be-
„Bottom-up“- wie auch „Top-down“-           evoluiert, um an Tiefe und Bedeutung      ziehen.
Informationen und -Prozessen zu-            zuzunehmen und konkret und aus-
nimmt.                                      drucksstark zu werden, er beginnt, den
In diesem Sinne scheint die Spezifität       Körper über wechselnde Raum-Zeit-         Morphodynamik
des Geistes mit einer spezifischen Trans-    Einheiten des Bewusstseins und des        in der Osteopathie
formation der implizierten Materie zu-      Gewahrseins in den „subtilsten und
sammenzuhängen, der Geist beginnt,          feinsten Bestandteilen seiner Konsti-     Einerseits ist Evolution ein Prozess der
quasi „personalisiert“ zu werden bzw. zu    tuenten“ zu informieren und zu trans-     Selbsttranszendenz, der über das Be-
erscheinen, wenn er mit einer bestimm-      formieren.                                stehende hinausführt [1], wobei jede
ten Form von Materie verbunden ist.         Dementsprechend sehen wir die Onto-       neue Emergenz ihre Vorläufer transzen-
Für das Verständnis der Krankheitsent-      logie des Geistes als eine Geschichte     diert und inkorporiert und dabei das
stehung und der osteopathischen Annä-       des Aufbaus und der Reifung des Geis-     Niedrigere die Möglichkeiten des Hö-
herung im Behandlungssetting sind für       tes auf einer genetischen und epige-      heren setzt und das Höhere die Wahr-
uns folgende Interaktionen bedeutsam:       netischen Landschaft der Proto-Onto-      scheinlichkeiten des Niedrigeren setzt
Wenn Energie und Materie sich gegen-        genese des Körpers (präinformierte        und jede weitere evolutionäre Stufe
seitig beeinflussen, schaffen sie ein        Ontogenie), während die Phänomeno-        größere Tiefe erzeugt. Andererseits
evolutives Muster der Raum-Zeit-Be-         logie des Geistes als eine Geschichte     existiert in seiner Form als (relativ)
ziehung, das für diese bestimmte Form       der Verdichtung der Raum-Zeit in die      autonomes Ganzes ein definiertes Telos
spezifisch ist. Der Geist kann als ein       feinsten Fraktale des Körperbewusst-      dieses Ganzen. In seiner Eigenschaft
interaktiver Ausdruck zwischen diesen       seins erscheint.                          als Teil einer anderen Ganzheit wird es
beiden Komponenten aufgefasst wer-          In diesem Sinne potenziert der Körper-    jedoch von einem Telos außerhalb ih-
den, der je nach Evolutionsstufe eine       stoff zunächst die Reifung des Geistes,   rer selbst beeinflusst. So üben Attrak-
zunehmende Wahrscheinlichkeit von           während später der Geiststoff den Kör-    toren quasi Muster erhöhter Wahr-
Bewusstsein und schließlich Bewusst-        perstoff reorganisiert.                   scheinlichkeit und als prägende Züge
heit schafft.                                                                         gewissermaßen eine Art Antrieb für die
Insbesondere in der Behandlung von                                                    Entwicklung aus bzw. eine Art Zug, der
Menschen ist uns dabei wesentlich,                                                    die Entwicklung in eine bestimmte
                                              In der Tat gibt es unserer Ansicht
dass der Verstand von spezifiziertem                                                   Richtung „zieht“.
                                              nach am Ende keine Trennung von
und spezialisiertem Bewusstsein aus-          Geist und Körper (Materie). Es gibt     Eine aufsteigende Kausalität zuneh-
geht und Bewusstsein schafft sowie zu         so etwas wie getrenntes Geist-          mender Komplexität der materiellen
verändern in der Lage ist.                                                            Welt geht mit einer gleichermaßen

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absteigenden Kausalität von Bewusst-      durch das Mittelgehirn. Zu berücksich-     tion im bewussten Feld abläuft. Inten-
sein einher. Beide sind Ausdruck einer    tigen sind dabei außerdem regulative       tion scheint eine „Gedankenbewe-
ständig wechselnden Information, die      oder dysfunktionelle Einflüsse sozialer     gung“ zu sein, die auf einer subtilen
gleichzeitig als Impulsgeber für diese    Systeme, Normen, Regeln und Kultur         Kombination von unbewussten Antrie-
auf- und absteigenden Kausalitäten        auf präfrontale Aktivitäten und Funk-      ben beruht, die sich mit dem bewuss-
wirkt.                                    tionen, die zunehmend differenziert        ten Feld der tatsächlichen Interaktion
In diesem Sinne hat sich Geist ein sehr   untersucht werden können (was in der       auf eine Spur bringen.
ausgewähltes Gewebe (Ektoderm) „aus-      Entstehungszeit der Osteopathie noch       In diesem Sinne sind das neurokogni-
gesucht“, auf dem er sein geistiges       nicht möglich war).                        tive Gehirn und seine funktionelle Or-
Zeug erschaffen kann. Embryologisch       Neuronale Netze werden selbst kombi-       ganisation von einer Vielzahl von Ein-
wurde das Gehirn quasi auf zwei ande-     niert und bilden Netzwerke über Netz-      flüssen abhängig.
ren Geweben (Entoderm und Mesoderm)       werke, bis sich ein enaktives Gehirn       Das Frontalhirnfeld der Intention und
aufgebaut, um seine endgültige Form       bildet. Damit ist gemeint, dass Gehirn,    Entscheidungsfindung wird ständig
und Funktion darzustellen. In dieser      Körper und Kontext (Umwelt) sich in        vom limbischen, integrativen Hirnfeld
Hinsicht wirkt das Gehirn als eine Art    dynamischer Wechselwirkung zueinan-        informiert, während es diese gleichzei-
Transformator von Körpergewebe in         der bilden und miteinander in ständi-      tig zu relativieren und inhibieren in
Geistgewebe. Es wurde durch eine „Evi-    gem Bezug stehen und nur aus diesem        der Lage ist. Dieses Feld interferiert
denz“ der Afferenz geschaffen und kon-    zu verstehen sind. Schließlich ist die     wechselseitig mit allen Konvergenz-
struiert. Mehrere Bahnen der Afferenz     neuronale Aktivität so komplex ver-        zonen, die über und in den Hirnober-
wurden während seiner Ontogenese          drahtet, dass ihre Aktivität eine sub-     flächen verstreut sind, und mit allen
aufgebaut und setzen dies bis zur voll-   tile Feldkohärenz von Frequenzwellen       sensorischen, sensomotorischen und
ständigen Reifung fort. Die neurologi-    erzeugt, die in der Lage ist, Bilder von   interozeptiven Inputs, die in das lim-
schen Bahnen scheinen die offensicht-     Repräsentationen des Geistes zu schaf-     bische System eingehen.
lichsten zu sein, aber die vaskulären     fen. Der Geist entsteht auf der Grund-
Bahnen beispielsweise sind mindestens     lage einer Frequenzkohärenz, die ih-
genauso informativ, wenn nicht anfangs    rerseits von einer subtilen elektrischen
noch wesentlicher.                        und elektromagnetischen Hirnfeldor-          Es gilt dabei aus unserer Sicht
                                                                                       insbesondere therapeutisch zu
                                          ganisation abhängig ist.
                                                                                       beachten, dass länger bestehende
Während der neurologischen Reifung        So ist die Hirnfeldorganisation unserer
                                                                                       Muster – seien es gewebige, psy-
(bis zu den ersten 22 Lebensjahren)       Ansicht durch verschiedene Eigenschaf-
                                                                                       chische, neuroendokrine, meta-
wird ein synergistisches Störfeld mit     ten gekennzeichnet:                          bole, immunitäre oder Haltungs-
dem reifenden immunologischen Feld        • Sie organisiert ein Gedächtnisfeld.        und Verhaltensmuster – zu neuen
(bis zum 10. Lebensjahr) aufgebaut.       • Sie schafft progressiv ein Gedächtnis      Stabilitäten und Dysfunktionen
So ist es auch nicht überraschend, dass      des „Selbst“.                             werden, die sich nicht einfach auf-
die Neurologie und das Immunsystem        • Sie schafft die Möglichkeit oder Pro-      lösen, nur weil die Bedingungen
bei der Unterscheidung zwischen Selbst       babilität eines freien Willens.           für deren Entstehen verschwunden
und Nicht-Selbst funktionell zusammen-    • Sie beginnt, die „Absicht“ zu kont-        sind! Es bedarf spezifischer Stra-
hängen.                                      rollieren, die zur kognitiven Kompe-      tegien zu deren Auflösung.
Dabei weist Evolution eine Richtung          tenz der Erstellung von Probabilitä-
auf, die durch zunehmende Differen-          ten über die Welt führt.
zierung, Vielgestaltigkeit, Komplexität
und Organisation gekennzeichnet ist       Das Gehirn hat sich in verschiedenen
[2]. Dies zeigt sich beispielsweise da-   Ebenen der Funktionalität entwickelt.      Grenzerfahrungen
rin, wie alle die eben genannten Infor-   Wir unterscheiden                          als Trigger für Geist-
mationen zunächst in geordneten und       • ein Überlebensgehirn,
untergeordneten Hirnarealen gestapelt     • ein emotionales Gehirn und               Körper-Desynchroni-
und später nach und nach komplexer        • ein kognitives Gehirn.                   sierungen
kombiniert werden und äußert sich         Der Nettoausdruck des „freien Willens“
u. a. in einer zunehmenden Verinnerli-    ist wahrscheinlich eine subtile Kombi-     Herausforderungen und Stress und an-
chung von Außerweltlichem sowie der       nation dieser drei Eigenschaften.          dere Grenzerfahrungen im Leben kön-
Inhibierung und Relativierung älterer     Manchmal wird die Intention stärker        nen einerseits Wachstum ermöglichen,
von jüngeren Hirnstrukturen, wie z. B.    von unbewussten Antrieben geladen          indem wir neue Kompetenzen erwer-
des limbischen Systems durch den prä-     als von bewussten, obwohl wir den          ben, neue Verschaltungen im Gehirn
frontalen Cortex oder des Hirnstamms      Eindruck haben, dass unsere Interak-       sich bilden und neue Sichtweisen sich

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Osteopathische Medizin
                                                                                            ORIGINALIA

entwickeln. Es kann jedoch vorkommen,       Die gleiche Überlegung kann man              tolerablem oder toxischen Stress
dass Herausforderungen zu schnell, in-      auch über das „Denken“ anstellen.            konfrontiert wurden, neuroendokrine
tensiv oder komplex sind und uns            Wenn man weiß, dass der Teil, den            und neurovegetative Stressachsen
überfordern und wir nicht in der Lage       man während eines Denkvorgangs               etc. beeinflussen diese unbewussten
sind, darauf angemessen zu reagieren,       denkt, nur der „sichtbare“ Teil des          Prozesse.
sondern im Gegenteil, das Erleben           kompletten Gedankens ist, der bereits      • Der bewusste Teil des Denkens inter-
möglicherweise von Kontrollverlust,         eine halbe Sekunde früher begonnen           agiert aktiv mit der Körperfeldorga-
Hilf- und Hoffnungslosigkeit geprägt        hat, dann sollte man die Möglichkeit         nisation, teilweise durch die unbe-
ist und nachhaltige Auswirkungen in         in Betracht ziehen, dass zumindest           wussten Antriebe, die sich hinter
der Geist-Köper-Interdependenz hin-         Teile eines Gedankens auf einer un-          „freiem Willen“ und „Absicht“ ver-
terlassen.                                  bewussten oder vorbewussten Ebene            bergen.
                                            stattfinden.
                                            Dies sieht zwei Möglichkeiten vor:
Geist-Körper-Einfluss                        • Der unbewusste Teil eines Gedanken-
                                              prozesses hängt mit der Organisation       Es ist nun klar, dass das „Denken“
in der Behandlung                                                                        nicht so frei ist, wie man vielleicht
                                              des Körperfeldes und seiner nachfol-
Es ist wichtig zu beachten, dass der          genden afferenten Tonalität zusam-         „denken“ würde. Dies hat aller-
freie Wille und die Absicht von unter-        men (z. B. das, was die endgültige         dings den Vorteil der Energie- und
                                                                                         Ressourcenersparnis, indem nicht
bewussten Bewusstseinsebenen „ge-             Kohärenz bestimmter Hirnareale or-
                                                                                         jede Erfahrung mittels komplexen
steuert“ werden. Der Teil, der als freier     ganisiert). Wiederholt gemachte Er-
                                                                                         Reflektierens analysiert werden
Wille definiert werden könnte, ist der         fahrungen, familiäre Sozialisationen
                                                                                         muss.
scheinbar bewusste Teil der Absicht,          und Bindungsmuster, soziokulturell
den man quasi als vom „Selbst“ orga-          geprägte Interpretationen, prä-, peri-
nisiert interpretiert.                        und postnatale Erfahrungen, inwie-
                                              weit wir im Leben mit positivem,

                                                                                                                                 Anzeige

22. Jahrg., Heft 3/2021, S. 28–32, Elsevier GmbH, www.elsevier.com/locate/ostmed                                            31
Osteopathische Medizin
     ORIGINALIA

Der Verstandesprozess besitzt unserer      Klinisch relevante                         Wenn sich das dysfunktionelle Muster
Ansicht nach zwei Möglichkeiten, das       Konklusion                                 in einer zeitlich und räumlich begrenz-
Körpergeschehen zu beeinflussen.                                                       ten Geist-Körper-Interaktion in dem*r
• Erstens, indem der Körper aktiv am       Das eigene innere Gewahrsein, gekop-       Patient*in ändert, kann sich das Ver-
  Verstandesprozess teilnimmt, in-         pelt mit der Fähigkeit der Koregulation    hältnis des Ganzen sowie die Kontext-
  dem er die unterstützenden Hin-          („co-regulation“), ist aufs Engste mit     dynamiken verändern. Das wiederum
  weise für alle kognitiven und phy-       der Wahrnehmung, dem Verstehen, der        kann potenziell zu weiteren Änderun-
  siologischen Ebenen anbietet, die        Auseinandersetzung, dem Akzeptieren        gen im Organismus führen. Dieser Pro-
  für einen scharfen Ausdruck des          und dem Integrieren dieser Bewusst-        zess beginnt während der therapeuti-
  „freien Willens“ des Verstandes          seinsinhalte, Erlebnisse und somato-       schen Interaktion, findet aber vor allem
  notwendig sind.                          energetisch-psychischen Dysfunkti-         auch nach der Konsultation, im behand-
• Zweitens der unterbewusste Unter-        onsmuster verknüpft, ebenso wie mit        lungsfreien Intervall statt.
  strom – inkl. der Informationsspei-      der Kompetenz, Patient*innen in An-
  cherung durch das zelluläre System,      sätzen der psychosomatischen Osteo-
  das u. a. als Tensegrity-Struktur fun-   pathie zu unterstützen. Dies umfasst       Zusatzinfos
  giert –, durch den unbewusste Teile      die Wahrnehmung multipler dynami-          Van Den Heede P. The emotional landscape
  des Denkens das vegetative und           scher Wechselwirkungen von Gewebe-         in the osteopathic field. (voraussichtliches
  neuroendokrine Gleichgewicht des         mustern, Körperempfindungen, neu-           Erscheinen Anfang 2022)
                                                                                      Liem T. Psychosomatische Osteopathie.
  Körpers beeinflussen.                     rovegetativer Erregung, endokrinem,
                                                                                      München: Elsevier; im Druck (voraussicht-
                                           metabolem und immunitärem Wirken,          liches Erscheinen Anfang 2022)
                                           Emotionen, Mentalisierungen und Glau-
                                           bensmustern im konkreten Alltag un-
  Gerade diese Beeinflussung ist es,        serer zahlreichen Lebensbezüge [3]. So     Interessenkonflikt
  die das Gleichgewicht des Körpers
                                           könnte mittels osteopathischer Be-
  und seine homöostatische Anpas-                                                     Torsten Liem bietet eine Kursreihe zur
                                           handlung ein Gleichgewichtszustand,        Psychosomatischen Osteopathie an.
  sungsfähigkeit beeinträchtigt.
                                           eine Lösung der gebundenen Kräfte          Informationen sind zu erhalten unter:
                                           in somato-energetischen-psychischen        www.osteopathie-schule.de.
                                           Spannungsmustern begünstigt werden,        Patrick Van Den Heede gibt an, dass
                                                                                      keine Interessenkonflikte bestehen.
In diesem Sinne gehen somato-ener-         indem es dem „Geist-Körper-Zeug“ er-
getisch-psychische Dysfunktionen mit       möglicht wird, seine Beziehung zuein-
physiologischen Veränderungen, ener-       ander zu klären [3].                       Korrespondenzadressen
getischen Erscheinungen, körperlichem
Erleben inkl. neurovegetativen Zeichen                                                Torsten Liem
                                                                                      Osteopathie Schule Deutschland
sowie emotionalen Regungen und                                                        Mexikoring 19
mentalen Deutungen einher. So kann                                                    22297 Hamburg
beispielsweise emotionaler Stress in         Indem die mit der Dysfunktion            tliem@torstenliem.de
                                             assoziierten Aspekte, Kräfte und
der Kindheit, insbesondere in der frü-
                                             Erlebniswelten auf gewisse Arten         Patrick Van Den Heede
hen Kindheit (beispielsweise in Form                                                  Rue Deflière, 26
                                             und Weisen quasi „eingeladen“
von Missbrauch, Vernachlässigung,                                                     7750 Orroir
                                             werden – die vorher ein von der
Verletzung oder grenzverletzenden Er-                                                 Belgien
                                             Ganzheit relativ getrenntes Eigen-       patrick.van.den.heede@skynet.be
eignissen), zu bestimmten Strategien         leben geführt haben bzw. unbe-
führen, wodurch Loyalitätsgesetze zur        rücksichtigt, unterdrückt, verdrängt
Anwendung kommen, um das Überle-             oder nur fragmentiert und unvoll-        Literatur
ben sicherzustellen und die unbe-            ständig integriert wurden –, kann        [1]   Jantsch E. Die Selbstorganisation des Universums.
dingte Liebe der Eltern weiterhin emp-       ein osteopathischer Zugang ge-                 München: Hanser; 1992
                                                                                      [2]   Liem T. Paradigms of healing. In: Liem T. Van den
fangen zu können, wobei gleichzeitig         nutzt werden, um tiefere Resonanz-             Heede P (eds) Foundations of morphodynamics in
                                                                                            osteopathy: an integrative approach to cranium,
Körperbedürfnisse untergeordnet wer-         und Heilungsräume entstehen zu                 nervous system, and emotions; 1. Aufl.Pencaitland:
den (= Überleben auf Kosten relativer        lassen.                                        Handspring Publishing Limited; 2017
                                                                                      [3]   Liem T. Psychosomatische Osteopathie. München:
Geist-Körper-Synchronisierung).                                                             Elsevier; im Druck (voraussichtlich Anfang 2022)

32                                             22. Jahrg., Heft 3/2021, S. 28–32, Elsevier GmbH, www.elsevier.com/locate/ostmed
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