Gerechtigkeit im Übergang (Transitional Justice): Gerechtigkeitskonzeptionen im Kontext der Vergangenheitsaufarbeitung
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111 Brigitte Weiffen Gerechtigkeit im Übergang (Transitional Justice): Gerechtigkeitskonzeptionen im Kontext der Vergangenheitsaufarbeitung How can you measure justice against all that I have suffered? It’s just a word. It means nothing.1 1 Einleitung Nach Gewalterfahrungen in Kriegen oder Diktaturen wird seitens der Überlebenden und Familienangehörigen der Opfer, politischer und gesellschaftlicher Akteure sowie der internationalen Gemeinschaft die Forderung nach Gerechtigkeit laut. Für Bemühungen um Gerechtigkeit in solchen Übergangssituationen ist der Terminus Transitional Justice gebräuchlich, der in der deutschen Sprache mit ›Übergangsgerechtig- keit‹ oder ›Übergangsjustiz‹ wiedergegeben wird. Der Begriff justice hat hier eine Doppelbedeutung und umfasst sowohl Gerechtigkeit als auch Justiz. Doch auch weniger wörtliche Übertragungen wie ›Vergan- genheitsbewältigung‹ oder ›institutionalisierte Aufarbeitung der Ver- gangenheit‹ werden verwendet, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass das semantische Feld der Transitional Justice nicht nur rechtliche, sondern auch politisch-historische Instrumente umfasst (Boraine 2005; Buckley-Zistel/Oettler 2011). Gegenstand solcher Aufarbeitung sind Verstöße gegen die Menschen- rechte, die entweder nach nationalem oder nach internationalem Recht ein Verbrechen darstellen. Oftmals wird explizit auf schwere Men- schenrechtsverletzungen Bezug genommen, d. h. Verletzungen der kör- perlichen Unversehrtheit, die als so gravierend erachtet werden, dass sie nicht nur Individuen, sondern die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren. Die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegs- verbrecher des NS-Regimes von 1945 prägten hierfür den Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seit den 1990er-Jahren wurde 1 Aussage einer Zeugin aus dem ehemaligen Jugoslawien, deren Mann und zwei Söhne bei einem Angriff auf ihr Dorf umgebracht wurden; zit. in Stover 2004, 115.
112 Brigitte Weiffen dieses Konzept in den Statuten der UN-Tribunale für Jugoslawien, Ru- anda und Sierra Leone sowie im Statut des Internationalen Strafgerichts- hofs weiter ausgearbeitet und beinhaltet Taten wie Mord, Auslöschung, Versklavung, Deportation, Gefangenschaft, Folter und Vergewaltigung, insofern sie systematisch und in großem Umfang verübt werden und gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind. Obgleich in Situationen des Übergangs nach Diktaturen und Bür- gerkriegen ›Gerechtigkeit‹ als grundlegendes Bedürfnis anerkannt ist, bleibt der Begriff in der Substanz häufig unklar. Bedeutet Gerechtigkeit, dass die Täter der Strafverfolgung und Bestrafung zugeführt werden? Geht es primär um Genugtuung für die Opfer, die Wiederherstellung ihres Ansehens und die Anerkennung ihres Leidens? Ist mit Gerechtig- keit ein Ausgleich zwischen Tätern und Opfern gemeint, gar eine Ver- söhnung zwischen den Gruppen mit dem Ziel, das künftige soziale Zu- sammenleben zu ermöglichen? Oder geht es um die Wiederherstellung der Rechtsordnung? Angesichts dieser Unschärfen arbeitet der Beitrag verschiedene Kon- zeptionen von Gerechtigkeit in Übergangssituationen heraus. Einige dieser Konzeptionen bringen allerdings auch Probleme mit sich. Zum einen kollidiert das jeweilige Verständnis von Gerechtigkeit häufig mit anderen Gerechtigkeitskonzeptionen. Zum anderen steht Gerechtig- keit in einem Spannungsverhältnis zu anderen wichtigen Desideraten in Übergangssituationen wie Wahrheit und Versöhnung, der Wahrung des Friedens, der Etablierung demokratischer Institutionen und der Schaffung wirtschaftlicher Prosperität. Im Anschluss an die Diskussion der verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen soll der Versuch einer Systematisierung dahingehend unternommen werden, ob die Ansätze eher vergangenheits- oder zukunftsorientiert sind und ob sie eher auf die Täter, die Opfer oder die gesamte Gesellschaft Wirkung entfalten. Der folgende Überblick beginnt mit einem als täterzentriert geltenden Gerechtigkeitstypus, betrachtet danach drei vornehmlich opferzentrier- te Varianten und stellt zuletzt zwei Ansätze vor, die das Interesse der Gesellschaft in den Vordergrund stellen.
Gerechtigkeit im Übergang (Transitional Justice) 113 2 Formen der Übergangsgerechtigkeit 2.1 Übergangsgerechtigkeit als rechtlicher Imperativ Häufig werden in der Literatur zu Transitional Justice vergeltende und wiederherstellende Gerechtigkeit (retributive vs. restorative justice) ei- nander gegenübergestellt (Minow 1998; Buckley-Zistel/Oettler 2011). Die erste Variante beruht auf einer individualisierten Vorstellung von Schuld und Verantwortung und will Vergehen mit Strafe ausgleichen. Als primitiver Racheinstinkt der Gesellschaft verfemt, gerät die Vergel- tung immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik. Sie ist jedoch ein notwen- diges Übel in Reaktion auf einen Rechtsverstoß (Höffe 2010, 79–80). Die vergeltende Gerechtigkeit manifestiert sich in Form von strafrechtli- chen Ermittlungen und Gerichtsverfahren. Übergangsgerechtigkeit als rechtlicher Imperativ resultiert somit aus den Rechtsnormen, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt allgemein verbindlich sind. Bezogen auf Verbrechen wäh- rend Diktaturen oder Kriegen bildet vor allem internationales Recht die Basis für eine Strafverfolgung massiver Menschenrechtsverletzungen. Das humanitäre Völkerrecht (Genfer Konventionen von 1949), eine wachsende Anzahl internationaler Menschenrechtsverträge (wie die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 oder die Anti-Folter-Konvention von 1984) sowie internationales Gewohnheitsrecht verlangen den Regierungen nicht nur den Schutz der Menschenrechte, sondern auch die Ahndung von Menschenrechts- verletzungen durch ein Vorgängerregime ab (Orentlicher 1991; Sikkink 2011). Das Prinzip der universalen Rechtsprechung schließt für Staaten sogar die Berechtigung ein, die strafrechtliche Verfolgung schwerwie- gender Verbrechen gegen die Menschlichkeit unabhängig vom Tatort und der Nationalität der Täter und Opfer an sich zu ziehen (Macedo 2004; Sriram 2005). Das Paradebeispiel ist der Fall des ehemaligen chi- lenischen Diktators Augusto Pinochet, der 1998 auf Betreiben des spa- nischen Richters Baltasar Garzón in London festgenommen wurde und in Spanien vor Gericht gestellt werden sollte. Die daran anknüpfende Welle von Initiativen in mehreren europäischen Ländern, ehemalige la- teinamerikanische Militärführer juristisch zur Verantwortung zu ziehen, ist daher unter dem Schlagwort »Pinochet-Effekt« bekannt geworden (Roht-Arriaza 2005). Aus Sicht der Rechtsphilosophie hat sich das heutige Verständnis von Strafgerechtigkeit von Rachevorstellungen, denen zufolge ein Übergriff
114 Brigitte Weiffen durch eine gleichartige Verletzung vergolten werden soll, verabschie- det. Stattdessen stützt sich die Legitimation von Strafe auf Prinzipien wie Individualprävention, Generalprävention und Reintegration in die Gesellschaft (Holzleithner 2009, 97). Jon Elster als einer der Pionie- re der Forschung zur Übergangsjustiz weist darauf hin, dass retributive Gerechtigkeit aus utilitaristischen Erwägungen resultieren kann, etwa der Annahme, dass eine Bestrafung abschreckende Wirkung entfaltet (Elster 1998, 36 f.). In gleicher Weise legt Otfried Höffe (2010, 79) dar, dass das staatliche Strafrecht neben der Vergeltung drei weitere Zwecke erfüllt: negative Prävention, positive Prävention sowie Resozialisierung des Täters. Die verschiedenen Strafzwecke beziehen sich somit auf den Täter und die Gesellschaft. Der Täter, der nachweislich eine Rechtsübertre- tung begangen hat, erhält seine gerechte Strafe und damit indirekt Leit- linien für sein künftiges Verhalten, um eine spätere soziale Wiederein- gliederung zu ermöglichen. Der zweite und dritte Strafzweck nehmen hingegen die Gesellschaft in den Blick: Einerseits wirkt das Strafrecht abschreckend, indem es potenziellen Rechtsbrechern Angst vor den zu erwartenden Sanktionen einjagt (negative Prävention), andererseits er- muntert es zur Rechtstreue, stärkt das Vertrauen in das Recht und dient der rechtlichen Befriedung (positive Prävention). Gerade in Situationen eines Übergangs zur Demokratie ist positive Prävention von großer Bedeutung (Teitel 2000, 28–30). Gerichtsverfah- ren für Menschenrechtsverbrecher zementieren die Rechtsgleichheit so- wie die Verantwortlichkeit der Regierung. Ein demokratisches Regime muss deutlich machen, dass weder (ehemaliges) politisches Führungs- personal noch Militär oder Polizei über dem Gesetz stehen. Da zudem die Rechenschaftspflicht öffentlicher Amtsträger essentieller Bestandteil der rechtsstaatlichen Demokratie ist, muss sich der Staat seiner Verant- wortung für Vergehen des Vorgängerregimes stellen. Besonders nach Phasen extremer Gewalt vermag das Prinzip der unparteilichen Recht- sprechung den politischen Eliten und den Bürgern einen gewaltfreien Weg zu Konfliktlösung aufzuzeigen. Daher wird angenommen, dass die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverbrechern zur Etablie- rung von Rechtsstaatlichkeit in postautoritären und Postkonflikt-Staaten beiträgt (Weiffen 2011). Probleme für eine Realisierung vergeltender Gerechtigkeit ergeben sich aus der Konkurrenz der Übergangsjustiz mit anderen dringlichen Aufgaben in Transitionssituationen. So liegt in Ländern mit niedrigem
Gerechtigkeit im Übergang (Transitional Justice) 115 Wohlstandsniveau die Priorität auf dem wirtschaftlichen (Wieder-)Auf- bau, wohingegen eine kostenintensive gerichtliche Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen unwahrscheinlich ist (Olsen et al. 2010). Angesichts der Unwägbarkeiten der Transitionssituation dreht sich eine zentrale Debatte um die Prioritätensetzung zwischen vergelten- der Gerechtigkeit und Demokratie bzw. Frieden. Dabei ist zu entschei- den, ob aus Prinzip Maßnahmen vergeltender Gerechtigkeit ergriffen oder ob diese zugunsten der Stabilisierung der Demokratie beschränkt werden sollten.2 Denn eine in Aussicht stehende Bestrafung kann den kontraproduktiven Effekt haben, die Kosten eines Rücktritts bzw. der Einwilligung in ein Friedensabkommen für Menschenrechtsverletzer zu erhöhen und somit die Chancen, dass ein Übergang zur Demokratie überhaupt zustande kommt, zu verringern. Nach einer demokratischen Transition besteht die Gefahr, dass die Eliten des Vorgängerregimes auf Gerichtsverfahren mit Drohgebärden reagieren, es zu einer Polarisie- rung zwischen Anhängern des alten und des neuen Regimes kommt und in letzter Konsequenz das Überleben der Demokratie in Frage steht. 2.2 Übergangsgerechtigkeit als moralischer Imperativ Neben der rechtlichen Verpflichtung resultiert Transitional Justice aus einer moralischen Verpflichtung des Staates gegenüber den Opfern und ihren Familien. Dabei geht es nicht allein darum, dass die Opfer durch die Bestrafung der Täter Genugtuung erfahren. Vielmehr propagieren etwa die von den Vereinten Nationen verabschiedeten »Prinzipien des Kampfes gegen die Straflosigkeit« (UN Commission on Human Rights 2005) neben der justiziellen Aufarbeitung auch ein Recht auf Wahrheit und Erinnerung, ein Recht auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung und ein Recht auf Garantien gegen eine erneute Verletzung der ele- mentaren Menschenrechte. Übergangsgerechtigkeit als moralischer Imperativ berücksichtigt also nicht nur die Bedürfnisse der Opfer, son- dern hat Signalwirkung für die betroffenen Gesellschaften. Durch eine Aufarbeitung der Vergangenheit wird die moralische Verwerflichkeit der Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck gebracht und ein klares Zeichen gesetzt, dass derart schwerwiegende Delikte nicht ungesühnt bleiben dürfen und Menschen nie wieder eine solch unmenschliche Behandlung widerfahren soll. Die Botschaft des »Nie wieder!« hat gro- 2 Für die gegensätzlichen Positionen vgl. die Debatte zwischen Orentlicher (1991) und Nino (1991) sowie zusammenfassend Arthur (2009).
116 Brigitte Weiffen ße Symbolkraft. Erstmals verwendet als Titel des Abschlussberichts der Wahrheitskommission in Argentinien 1983/84, die sich mit der Praxis des Verschwindenlassens von Personen während der Militärdiktatur (1976–1983) befasste, wurde »Nie wieder« (»Nunca más« auf Spa- nisch) zum geflügelten Wort in der Auseinandersetzung mit vergange- nen Menschenrechtsverletzungen. Aus der moralischen Verurteilung und Sanktionierung vergangener Menschenrechtsverletzungen ergibt sich also ein Bekenntnis zu sozi- alen Werten und Normen, die das zukünftige Handeln leiten sollen. Je nachdem, ob die rückwärtsgerichtete Suche nach Genugtuung für die Opfer oder die zukunftsorientierten Implikationen für die gesamte Gesellschaft im Vordergrund der moralischen Erwägungen im Kontext der Übergangsjustiz stehen, ist Übergangsgerechtigkeit als moralischer Imperativ mehr oder weniger gut vereinbar mit der vergeltenden Ge- rechtigkeit. Steht der Ausgleich für die Opfer im Zentrum, so sind moralischer und rechtlicher Imperativ eng miteinander verzahnt, da sich laut Meinung von Experten die meisten Opfer eine Vergeltung des ihnen widerfahre- nen Unrechts wünschen, was nur durch eine strafrechtliche Verfolgung der Täter gewährleistet sei. Straflosigkeit dagegen verlängere die erlitte- ne Demütigung (Huyse 2003, 98). Dieser grundsätzliche Zusammen- hang zwischen Bestrafung der Täter und moralischer Rehabilitierung der Opfer bedeutet aber nicht, dass jeder Strafprozess ihn automatisch herzustellen vermag. Die Gerechtigkeit, die ein Gerichtsverfahren fin- den kann, ist nicht notwendig die Gerechtigkeit, die Opfer erwarten. Rechtliche und moralische Konnotationen der Übergangsgerechtig- keit können gerade dann miteinander in Konflikt geraten, wenn ma- ximalistische moralische Ansprüche auf die pragmatische Rechtswirk- lichkeit treffen. Die in einer Transitionssituation offenbar werdenden unterschiedlichen Auffassungen von Gerechtigkeit verdeutlicht Jon Els- ter (2005, 238 ff.), wenn er drei Beweggründe identifiziert, die in diesen Situationen zum Tragen kommen: Rachegelüste, der Wunsch nach Ge- rechtigkeit im Sinne substanzieller Wiedergutmachung und das Bestre- ben, sich bei der Implementierung einer substanziellen Gerechtigkeit an verfahrenstechnisch korrekte Prinzipien zu halten. Die Wendung »Wir sind nicht wie sie« geht auf Vaclav Havel zurück, den führenden Kritiker des kommunistischen Regimes und späteren Präsidenten der Tschechoslowakei, und gibt den Anspruch wieder, sich von den Metho- den des alten Regimes zu distanzieren.
Gerechtigkeit im Übergang (Transitional Justice) 117 Das Festhalten an rechtsstaatlichen Verfahrensweisen reduziert die Gefahr, dass sich krude Rachegelüste hinter der Maske substanzieller Gerechtigkeit verbergen können. In vielen Fällen kommt es jedoch zur Kollision zwischen dem Wunsch nach einer prozedural korrekten Rechtspraxis und dem Verlangen nach substanzieller Gerechtigkeit – zwischen dem Bestreben also, sich von dem Unrechtsregime abzu- grenzen, und dem Impuls, dieses Regime so hart zu bestrafen, wie es das verdient. Es besteht die Gefahr, dass Letzteres hintangestellt wird, wenn man auf ersteres hinarbeitet. Vor die Wahl gestellt, nur wenige ausgewählte Täter vor Gericht zu stellen, dabei aber die prozeduralen Anforderungen zu wahren, oder eine umfassende Strafverfolgung um den Preis geringerer prozeduraler Standards durchzuführen, fällt die Entscheidung oftmals zugunsten der pragmatischen Lösung (Van der Merwe 2009, 121). Den enttäuschten Wunsch nach substanzieller Ge- rechtigkeit angesichts der Vorherrschaft des streng legalen Vorgehens bringt der bekannte Ausspruch der ostdeutschen Bürgerrechtlerin Bär- bel Bohley zum Ausdruck: »Wir wollten Gerechtigkeit – und bekamen den Rechtsstaat« (zit. nach Elster 2005, 238). 2.3 Übergangsgerechtigkeit als soziale Reintegration Die bislang diskutierten rechtlichen und moralischen Erwägungen zie- len auf Vergeltung und Bestrafung für begangene Menschenrechtsverlet- zungen ab, legen ein individualisiertes Verständnis von Schuld und Leid zugrunde und stellen damit die gerechte Behandlung von Tätern und Opfern in den Vordergrund. Dagegen verfolgt die wiederherstellende Gerechtigkeit das Ziel, soziale Beziehungen zu restaurieren, ein fried- liches Miteinander zu fördern und die Konfliktparteien zu versöhnen. Das Konzept der wiederherstellenden Gerechtigkeit beruht auf der Annahme, dass sich der Angriff eines Straftäters in erster Linie gegen eine Person und weniger gegen einen Paragraphen im Gesetzbuch richtet und dass die belastete Beziehung zu dieser Person oder ihren überlebenden Angehörigen wieder verbessert werden muss. Darüber hinaus lautet eine Grundprämisse, dass die Verantwortung für die sozi- alen Bedingungen, unter denen es zu den Menschenrechtsverletzungen kommen konnte, auch bei der Gesellschaft als Ganzer zu suchen ist. Übergangsgerechtigkeit in Form des Strebens nach sozialer Reintegra- tion gilt als opferzentriert, ohne dabei jedoch den gesellschaftlichen Kontext aus den Augen zu verlieren.
118 Brigitte Weiffen Wiederherstellende Gerechtigkeit ist sowohl durch ihr Ziel als auch durch ihre spezifische Vorgehensweise charakterisiert. Sie konzentriert sich weniger auf das Verbrechen selbst als auf die Behebung des durch das Verbrechen angerichteten Schadens für das Opfer und die Gesell- schaft, und die Suche nach Gerechtigkeit vollzieht sich als inklusiver Prozess, der nicht nur Opfer und Täter einschließt, sondern die ganze Gemeinschaft dazu aufruft, sich an der Offenlegung der Wahrheit und dem anschließenden Versöhnungs- und Heilungsprozess zu beteiligen. Während in der Variante der vergeltenden Gerechtigkeit der Staat »Un- gerechtigkeit« mit Rechtsbrüchen gleichsetzt, erkennt das Prinzip der wiederherstellenden Gerechtigkeit den Beteiligten, insbesondere den Opfern, die Definitionsmacht über den Kern der anzustrebenden Ge- rechtigkeit zu (Van der Merwe 2009). Typische Instrumente der Gerechtigkeit als sozialer Reintegration sind Wahrheitskommissionen und die in jüngerer Zeit verstärkt diskutierten traditionellen Verfahren des Ausgleichs und der Versöhnung. Wahrheits- kommissionen sind offizielle, zeitlich begrenzte Gremien zur Untersu- chung der Verbrechen eines gewaltsamen Konfliktes oder repressiven Regimes (Hayner 2002). Sie galten nach ihrem Aufkommen im Zuge der Demokratisierungsprozesse der 1980er-Jahre zunächst als Substitut für gerichtliche Aufarbeitung, erlangten mit der Zeit jedoch Reputation als vollwertige opferzentrierte Alternative. Obgleich sich die meisten von ihnen vornehmlich der Aufdeckung und Dokumentation von Men- schenrechtsverletzungen widmen, erheben viele explizit – etwa in ihrer Selbstbezeichnung als Wahrheits- und Versöhnungskommission – den Anspruch, zur sozialen Reintegration beizutragen. Bei traditionellen Verfahren des Ausgleichs und der Versöhnung, die wie die Rituale des Volkes der Acholi im Norden Ugandas oder die Ga- caca-Justiz in Ruanda meist auf lokaler Ebene stattfinden (Huyse/Salter 2008), tritt dagegen die Erkundung der Wahrheit über ein Verbrechen in den Hintergrund. Stattdessen soll das Zusammenleben der lokalen Ge- meinschaft verbessert werden. Oftmals beinhalten solche traditionellen Verfahren eine rituelle Wiedereingliederung des Täters in die Gemein- schaft oder Versöhnungsgesten zwischen Opfer- und Täterklan. Das Hauptproblem wiederherstellender Gerechtigkeit liegt in ihrem Spannungsverhältnis zur vergeltenden Gerechtigkeit. Wahrheitskom- missionen und traditionelle Versöhnungsrituale gelten vielen als fauler Kompromiss zwischen jenen, die Gerechtigkeit suchen, und jenen, die ebendiese vermeiden wollen (Call 2004; Tepperman 2002). In Friedens-
Gerechtigkeit im Übergang (Transitional Justice) 119 prozessen nach Bürgerkriegen blockieren sich versöhnende Ansätze und vergeltende Gerechtigkeit, die tendenziell die gesellschaftlichen Spaltungen vertieft, oft gegenseitig. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob die Opfer stets von den Ergebnissen der opferzentrierten wiederherstellenden Gerechtigkeitsanstrengungen profitieren. Empirisch gibt es keine eindeutigen Belege, dass die Aufde- ckung der Wahrheit ohne Bestrafung friedensförderlich ist (Mendeloff 2004). Die Identifikation der Täter und das Wissen über die begange- nen Verbrechen kann einen reinigenden und befriedenden Effekt ha- ben, genauso plausibel ist jedoch die Vermutung, dass das Wissen um das Geschehene eine Verhärtung und Vertiefung der Wut oder eine Re- traumatisierung bewirkt. Auf diese Weise könnten reintegrative Ansätze sogar ihr eigenes Ziel des Friedens und der Versöhnung unterminieren. 2.4 Übergangsgerechtigkeit als Wiedergutmachung Neben strafender und wiederherstellender Gerechtigkeit bringen eini- ge Autoren eine dritte Variante zur Sprache, die wiedergutmachende Gerechtigkeit (reparative justice), die auf eine Kompensation der Opfer für ihr erlittenes Leid abzielt (Quinn 2009; Teitel 2000). Elster (2005, 173 ff.) identifiziert das Verlangen der Opfer, verlorenes Eigentum zu- rückzuerhalten, als ein handlungsleitendes Motiv für transitionale Jus- tiz. Wiedergutmachung ist zwar primär vergangenheitsorientiert und auf die Entschädigung der Opfer ausgerichtet, durch die angenomme- nen positiven Auswirkungen von Entschädigungen auf Frieden und Ver- söhnung beinhaltet sie jedoch auch eine zukunftsorientierte und gesell- schaftszentrierte Facette (Teitel 2000, 119 ff.). Entschädigungsmaßnahmen können in unterschiedlicher Form auf- treten (Straßner 2009): Die häufigste Variante ist eine materielle Kom- pensation in Gestalt finanzieller Entschädigungsleistungen. Weiterhin gibt es die Möglichkeit der Restitution, also der Wiederherstellung des status quo ante z. B. durch Haftentlassung, Rückgabe beschlagnahmten Eigentums, Wiederherstellung entzogener bürgerlicher und politischer Rechte oder berufliche Rehabilitierung. Die Rehabilitation von Opfern durch medizinische und psychologische Betreuung oder juristische und sozialarbeiterische Begleitung ist dagegen nur selten Bestandteil offizi- eller Transitional Justice-Maßnahmen. Probleme der Übergangsgerechtigkeit als Wiedergutmachung erge- ben sich insbesondere aus der Festlegung des Opferstatus und der Be- messung von Entschädigungsleistungen. So ist umstritten, welche For-
120 Brigitte Weiffen men von Leid überhaupt den Opferstatus rechtfertigen. Bislang werden Reparationen vornehmlich zur Wiedergutmachung des Tatbestandes der physischen Gewalt gewährleistet. Sozioökonomische und struktu- relle Gewalt, die für viele Transitionsgesellschaften typisch sind und oftmals die Gewaltausbrüche mit verursacht haben, werden dagegen nicht aufgearbeitet (Van der Merwe 2009, 117). Auch ist unklar, wer als »sekundäres« Opfer gelten und damit Begünstigter einer Entschädigung sein soll, wenn die »primären« Opfer nicht mehr am Leben sind. Die Frage, wie weit zeitlich zurückgegangen wird und wann Ansprüche von Opfern verjähren, löst ebenfalls immer wieder Kontroversen aus (Elster 2005, 137 f.). 2.5 Übergangsgerechtigkeit als historiografisches Projekt Eine weitere Facette von Übergangsgerechtigkeit ist die historische Auf- arbeitung, welche die Fakten über die Menschenrechtsverletzungen des Vorgängerregimes erfasst und dokumentiert. Auf diese Weise wird die Wahrheit über die Verbrechen von offizieller Seite anerkannt und ei- ner breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht. Mittelfristig werden die Untaten als Teil der nationalen Geschichte akzeptiert und Revisio- nisten wird ihre Leugnung erschwert. Zwar erfüllen auch Gerichtsver- fahren durch die Sammlung von Beweismaterial eine historiografische Funktion, als wirksamstes Instrument zur diskursiven Produktion einer historischen Wahrheit gelten jedoch Wahrheitskommissionen. Sie do- kumentieren die Erzählungen von Opfern und Zeugen über die erleb- ten Gräueltaten und versuchen gleichzeitig, auf Basis der zahlreichen individuellen Aussagen Art und Ausmaß der Menschenrechtsverletzun- gen umfassend darzustellen und somit den systematischen Charakter der Repression offenzulegen. Meist publizieren sie ihre Erkenntnisse in Form eines Abschlussberichts, der vielfach die Grundlage für die nachfolgende Bewertung der Menschenrechtsverletzungen in der poli- tischen Debatte sowie für erinnerungspolitische Maßnahmen bildet, die darauf abzielen, die objektiv bewiesenen Regimeverbrechen im kollek- tiven und kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft zu verankern. Dazu zählen nicht nur Gedenktage, Gedenkstätten und Mahnmale, sondern auch die Vermittlung der Geschichte in Schulbüchern. Es wird jedoch immer wieder in Frage gestellt, ob solche historiografi- schen Projekte tatsächlich in der Lage sind, ein akkurates und allgemein akzeptiertes Bild der vergangenen Geschehnisse zu zeichnen. Durch institutionelle Rahmenbedingungen einer Wahrheitskommission ist oft-
Gerechtigkeit im Übergang (Transitional Justice) 121 mals vorab festgelegt, welche Vergehen erfasst werden sollen und wel- che nicht, welche Opfergruppen angehört und welche ausgeschlossen werden. Klinische Studien wecken zudem Zweifel an der Genauigkeit der Aussagen traumatisierter Opfer. Die »historische Wahrheit« ist so- mit Resultat vielfältiger Verzerrungen, Selektions- und Interpretations- prozesse. Übergangsgerechtigkeit als historiografisches Projekt kann zudem ge- fährlich für Transitionsgesellschaften sein, wenn die Erinnerung politisch instrumentalisiert wird. Sowohl die Anhänger des alten als auch die Un- terstützer des neuen Regimes bedienen sich der offiziell festgeschriebe- nen oder aber ihrer eigenen Version der Wahrheit, um Gefolgschaft zu generieren, sich wahlweise als Opfer oder als Helden zu stilisieren und politische Aktionen zu rechtfertigen. Die Herrschaft über die Erinnerung wird dann zum Zankapfel, der neue Konflikte produzieren kann. 2.6 Übergangsgerechtigkeit als politisches Programm Neben einer Einigung über die Vergangenheit bringt Übergangsgerech- tigkeit ein politisches Programm für die Zukunft auf den Weg. Allge- mein gilt die Aufarbeitung vergangenen Unrechts als Gründungsakt eines demokratischen Regimes. Umgekehrt würde die Legitimität einer jungen Demokratie von vornherein unterminiert, wenn sie nicht in der Lage wäre, sich mit ihrer eigenen schlimmen Vergangenheit auseinan- derzusetzen und Gerechtigkeit zu üben. Darüber hinaus unternehmen Regime im Übergang zahlreiche Reform anstrengungen zur Herstellung von Gerechtigkeit durch eine nachhaltige Umgestaltung politischer und sozialer Institutionen mit dem Ziel, die Ursachen von Repression und Gewalt zu beseitigen. Zum Beispiel kann als weiteres Instrument der Übergangsgerechtigkeit, das Teitel (2000, 149 ff.) als »administrative Gerechtigkeit« tituliert, eine »Säuberung« des Staatsapparates durchgeführt werden, um die Fortexis- tenz autoritärer Enklaven zu unterbinden. Dabei wird das Verwaltungs- personal nach seinen Verstrickungen mit dem alten Regime durchleuch- tet und stark belastete Personen werden aus dem Staatsdienst entfernt. Weitere mögliche Elemente eines umfassenderen Gerechtigkeitspro- gramms sind Verfassungs- und Rechtsreformen und die Transformation des Zugangs zu politischer Macht und zu ökonomischen Ressourcen (Mani 2002). Zur Bearbeitung der institutionellen Ursachen von Men- schenrechtsverletzungen wird häufig propagiert, die Unabhängigkeit der Justiz sicherzustellen und die zivile Kontrolle über die Streitkräfte zu
122 Brigitte Weiffen etablieren. Daneben gibt es Bestrebungen, das Konzept der Übergangs- gerechtigkeit um den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit zu erweitern. Bislang lässt der Fokus auf Verletzungen des Rechts auf körperliche Un- versehrtheit den umfassenden Kontext der Gewalthandlungen außer Acht. Eine nachhaltige Wahrung des Friedens und der Demokratie ist jedoch schwerlich zu realisieren, wenn die den vergangenen Gewalt ereignissen zugrunde liegenden sozialen Ungleichheiten fortbestehen. Das Problem solcher politischen Zielsetzungen im Rahmen von Über- gangsgerechtigkeit liegt allerdings darin, dass sie oft übermäßig ambiti- oniert und daher, insbesondere unter den Bedingungen einer turbulen- ten Transitionssituation, kurzfristig nicht umsetzbar sind. 3 Komplexität der Übergangsgerechtigkeit Um die oben dargestellten Formen von Gerechtigkeit zu systematisie- ren, sollen sie im Folgenden entlang zweier Dimensionen angeordnet werden: 1) Ausrichtung auf Vergangenheit oder Zukunft und 2) Ziel- gruppe der Gerechtigkeitsbemühungen. Entscheidungen über den Umgang mit Verbrechen des Vorgänger- regimes bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Vergangen- heits- und Zukunftsorientierung. Einer gesinnungsethisch orientier- ten Handlungslogik, die auf maximale Aufklärung der Vergangenheit, Strafverfolgung und Wiedergutmachung zielt, steht eine verantwor- tungsethisch orientierte politisch-staatliche Handlungslogik gegenüber, die nach vorne blickt und der Versöhnung, der Sicherung demokrati- scher Stabilität und der Gewährleistung des Menschenrechtsschutzes unter dem neuen Regime oberste Priorität einräumt. Im Hinblick auf die primäre Zielgruppe der Gerechtigkeitsbemühun- gen lassen sich täterzentrierte, opferzentrierte und auf das soziale Um- feld bzw. die Gesellschaft gerichtete Ansätze unterscheiden (Van der Merwe 2009, 122). Täterzentrierte Ansätze konzentrieren sich darauf, Menschenrechtsverbrecher zu identifizieren und zur Verantwortung zu ziehen und auf diese Weise deutlich zu machen, dass sie trotz ih- rer Machtposition im Vorgängerregime nicht über dem Gesetz stehen. Opferzentrierte Ansätze sollen den erlittenen Schaden wiedergutma- chen, die Würde der Opfer wiederherstellen und ihnen das Vertrauen in den Staat und das Rechtssystem zurückgeben. Gesellschaftszentrierte Ansätze zielen auf eine generelle Verurteilung von Menschenrechtsver-
Gerechtigkeit im Übergang (Transitional Justice) 123 letzungen und die Herausbildung eines sozialen Konsenses über ak- zeptables Verhalten ab und bewirken auf diese Weise die Prävention künftiger Gewalttaten. Üblicherweise wird anhand dieser beiden Dimensionen der Kon trast zwischen vergeltender und wiederherstellender Gerechtigkeit herausgearbeitet. Während sich Übergangsgerechtigkeit als rechtlicher Imperativ vor allem in Form strafrechtlicher Aufarbeitung manifestiert und somit in erster Linie vergangenheitsorientiert und täterzentriert ist, orientiert sich Übergangsgerechtigkeit als soziale Reintegration in die Zukunft und an den Bedürfnissen der Opfer. Die wiedergutmachende Gerechtigkeit nimmt insofern eine Zwischenstellung ein, als sie eben- falls die Interessen der Opfer verfolgt, dabei aber primär vergangen- heitsorientiert ist. Doch bei näherer Betrachtung sind weder diese drei in der Literatur am häufigsten diskutierten Varianten noch die Über- gangsgerechtigkeit als moralischer Imperativ so eindeutig zuzuordnen. Vergeltende Gerechtigkeit etwa richtet sich nicht nur auf die Täter, sondern kann auch für die Opfer gewinnbringend sein. Vielfach wird die Ansicht vertreten, dass die bloße Offenlegung der Wahrheit nicht ausreicht, damit sich ein heilender Effekt für die Opfer einstellt, sondern dass eine Bestrafung der Täter erforderlich ist. Außerdem bleibt eine Strafe zwar von der Grundidee her eine Antwort auf eine vergangene Rechtsverletzung, die damit einhergehenden präventiven Nebenwir- kungen sind jedoch zukunftsorientiert. Somit stellt Übergangsgerech- tigkeit als rechtlicher Imperativ zwar primär die Verantwortlichkeit der Täter heraus, während Übergangsgerechtigkeit als moralischer Impera- tiv Genugtuung für die Opfer erwirkt, beide Varianten haben daneben aber das in die Zukunft und an die Gesellschaft als Ganzes gerichtete Ziel der Verankerung veränderter Werte und Normen. Wiedergutmachende Gerechtigkeit bietet den Opfern eine Entschä- digung für das in der Vergangenheit erlittene Unrecht. Damit entfal- tet sie jedoch positive Wirkungen in die Zukunft hinein und über das Eigeninteresse der Opfer hinaus, da sie dem Opfer und seinem Um- feld die Wiederaufnahme eines regulären Alltagslebens erleichtert. Die wiederherstellende Gerechtigkeit ist mit ihrem Postulat der Versöhnung zukunftsorientiert, bezieht aber, wie oben bereits deutlich wurde, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter und das gesellschaftliche Umfeld in den Versöhnungsprozess ein. Leichter fällt die Einordnung entlang der beiden Dimensionen bei der Übergangsgerechtigkeit als historio- grafischem Projekt und als politischem Programm, die sich beide auf
124 Brigitte Weiffen die Gesellschaft als Ganze als primäre Zielgruppe richten. Während erstere durch die Festschreibung einer allgemein akzeptierten Wahrheit »die Akten schließen« will, strebt letztere die Schaffung einer besseren Zukunft mittels verschiedener Reformmaßnahmen an. Die Differenzierung zwischen auf einzelne Individuen und auf die Gesellschaft fokussierenden Ansätzen lässt sich mit den Annahmen verschiedener Gerechtigkeitstheorien in Verbindung bringen. Liberale Theorieansätze knüpfen Gerechtigkeit an die gleiche Freiheit der ein- zelnen Person, wohingegen aus Sicht kommunitaristischer Ansätze die Einbettung der Individuen in die Gemeinschaft Priorität hat (Holzleith- ner 2009). Die Ansätze sind jedoch nicht inkompatibel, denn ob und wie dem Einzelnen Gerechtigkeit widerfährt, steht oft symbolisch dafür, wie stark der Staat sich dem Postulat der Menschenrechte verpflich- tet sieht. Die zwei normativen Ziele, Opfern und Tätern Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen und eine gerechte demokratische Ordnung zu errichten, sind also eng miteinander verzahnt. Zugleich ist die hier getroffene Unterscheidung, insbesondere der Rekurs auf die in der Literatur gängige Täter-Opfer-Dichotomie, mit Mängeln behaftet, da sie die Vielfalt der gesellschaftlichen Gruppen übersieht, die durch die Suche nach Gerechtigkeit betroffen sind. Die meisten Mechanismen zur Herstellung von Übergangsgerechtigkeit konzentrieren sich auf Opfer oder Täter. Neben den Tätern, die im Dienste des Regimes Verbrechen begangen haben, und den Opfern die- ser Verbrechen lassen sich aber weitere Akteure identifizieren, etwa die Nutznießer der Verbrechen, die Zuschauer (sogenannte bystanders), die etwas hätten tun können oder sollen, aber passiv blieben; aber auch Helfer, welche die Verbrechen abzumildern oder zu verhindern such- ten, und Widerstand Leistende, welche die Täter aktiv bekämpften. Jen- seits der individuellen Ebene stellen lokale Gemeinschaften, die durch den Konflikt zerrissen wurden, spezifische Institutionen, die für die Straftaten verantwortlich waren bzw. sie nicht verhindert haben, sowie externe Akteure, die in den Konflikt verwickelt waren und die repressive Regierung unterstützt haben, relevante, aber bisher kaum zur Kennt- nis genommene Analyseeinheiten dar. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, sollte der Fokus auf einzelne Opfer und Täter durch eine stärkere Berücksichtigung des Gemeinschafts- und Gesellschaftszusam- menhangs erweitert und die Schwarzweiß-Malerei des Täter-Opfer-Ge- gensatzes durch Grauschattierungen ergänzt werden.
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