Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981
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August 2014 | www.ejpd.admin.ch Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981
Impressum Herausgeber: Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD Bern 2014 Redaktion: Bundesamt für Justiz BJ Foto 1. Umschlagseite: Clipdealer Übersetzungen: Sprachdienste EJPD August 2014
Bericht und Massnahmenvorschläge des Runden Tisches für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 vom 1. Juli 2014
Abkürzungsverzeichnis ADK Schweizerische Archivdirektorinnen- und Archivdirektorenkonferenz AHV Alters- und Hinterlassenenversicherung AHVG Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (SR 831.10) AHVV Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (SR 831.101) BBl Bundesblatt BJ Bundesamt für Justiz BSV Bundesamt für Sozialversicherungen BV Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101) CURAVIVA Verband Heime und Institutionen Schweiz EJPD Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EKF Eidgenössische Kommission für Frauenfragen ELG Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (SR 831.30) FDKL Konferenz der kantonalen Fachdirektorenkonferenz Lotteriemarkt und Lotte- riegesetz FSZM Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen Integras Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik IV Invalidenversicherung IVG Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (SR 831.20) KKJPD Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren KOKES Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz NFP Nationales Forschungsprogramm OHG Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfern von Straftaten (SR 312.5) RKZ Römisch-katholische Zentralkonferenz SBK Schweizer Bischofskonferenz SBV Schweizer Bauernverband SEK Schweizerischer Evangelischer Kirchenverband SGV Schweizerischer Gemeindeverband SIR Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung SODK Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SR Systematische Rechtssammlung SSV Schweizerischer Städteverband UEK Unabhängige Expertenkommission ZGB Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210)
Inhaltsverzeichnis A ABSTRACT 8 B ÜBERSICHT ÜBER DIE MASSNAHMENVORSCHLÄGE DES RUNDEN TISCHES 9 C ALLGEMEINER TEIL 11 1 EINLEITUNG 11 2 AUSGANGSLAGE 12 2.1 Wer sind die Betroffenen? 12 2.2 Wer sind die Verantwortlichen? 14 2.3 Zur Rechtslage vor 1981 15 2.4 Rechtsvergleich 15 2.5 Nationale Gedenkanlässe 16 2.5.1 Anstalten Hindelbank 16 2.5.2 Kulturcasino Bern 17 2.6 Der Runde Tisch für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 17 2.6.1 Einsetzung und Zusammensetzung des Runden Tisches 17 2.6.2 Auftrag des Runden Tisches 17 2.6.3 Weitere Gremien 18 3 WEITERE ARBEITEN UND ENTWICKLUNGEN IM BEREICH FÜRSORGERISCHE ZWANGSMASSNAHMEN UND FREMDPLATZIERUNGEN 18 3.1 Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen 18 3.2 Volksinitiative 18 3.3 Beispiele aktueller kantonaler, kommunaler und zivilgesellschaftlicher Bestrebungen 20 3.3.1 Organisationen von Betroffenen 20 3.3.2 Vereinigung «Groupe Soutien aux personnes abusées dans une relation d’autorité religieuse SAPEC» 20 3.3.3 Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren SODK 21 3.3.4 Entschuldigung des Kantons Glarus und anderer Kantone 21 3.3.5 Spezialfonds des Kantons Waadt 21 3.3.6 Stadt Bern 21 3.3.7 Schweizerischer Städteverband und Schweizerischer Gemeindeverband 22 3.3.8 Kirchen 22 3.3.9 Klöster und Orden: Beispiel Fischingen 23 3.3.10 Integras, Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik sowie CURAVIVA Schweiz 24 3.3.11 Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF 24 3.3.12 Wissenschaftliche Vorarbeiten und Forschung 24 3.4 Parlamentarische Gruppe für fürsorgerische Zwangsmassnahmen 25
D BEREITS GETROFFENE MASSNAHMEN UND MASSNAHMENVORSCHLÄGE DES RUNDEN TISCHES 26 1 ANERKENNUNG DES UNRECHTS 26 1.1 Allgemeines 26 1.2 Bereits getroffene Massnahmen 26 1.3 Massnahmenvorschlag: Mahnmal/Denkmal/Gedenkstätte 27 2 BERATUNG UND BETREUUNG 27 2.1 Allgemeines 27 2.2 Bereits getroffene Massnahmen: Schaffung und Tätigkeit der Anlaufstellen 27 2.3 Massnahmenvorschläge 28 2.3.1 Finanzierung einer gemeinsamen Plattform für Suchdienste 28 2.3.2 Anpassung des Opferhilfegesetzes 30 3 AKTENEINSICHT / AKTENSICHERUNG / BESTREITUNGSVERMERKE 30 3.1 Allgemeines 30 3.2 Bereits getroffene Massnahmen 30 3.2.1 Sensibilisierung der und Unterstützung durch die Staatsarchive 30 3.2.2 Insbesondere: Akteneinsicht im Verhältnis zum Adoptionsgeheimnis 32 3.2.3 Empfehlungen zur Aktensicherung (2010 und 2013) 32 3.3 Massnahmenvorschläge 32 3.3.1 Sensibilisierung der Archive 32 3.3.2 Bestreitungsvermerke 33 3.3.3 Gesetzliche Regelung der Archivierung 33 3.3.4 Lockerung des Adoptionsgeheimnisses 33 4 FINANZIELLE LEISTUNGEN 34 4.1 Allgemeines 34 4.2 Bereits getroffene Massnahme: Soforthilfe 34 4.3 Massnahmenvorschläge 36 4.3.1 Solidaritätsfonds 36 4.3.2 Zuschlag zur AHV-Rente 37 4.3.3 Weitere finanzielle Massnahmen 38 a Ergänzungen zur Soforthilfe 38 b Massnahmen im Bereich der IV 38 c Spezielle Regelung im Betreibungsrecht 38 d Berücksichtigung von Gesuchen um Steuererlass 38 e Generalabonnement SBB zweiter Klasse auf Lebzeiten 39 5 WISSENSCHAFTLICHE AUFARBEITUNG 39 5.1 Allgemeines 39 5.2 Einsitznahme von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Runden Tisch 39 5.3 Bereits getroffene Massnahmen 40 5.3.1 Bericht zuhanden des Bundesamtes für Justiz «Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder» 40 5.3.2 Rechtsvergleichendes Gutachten SIR 40 5.4 Massnahmenvorschlag: Nationales Forschungsprogramm 40
6 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT / GESELLSCHAFTSPOLITISCHE SENSIBILISIERUNG 42 6.1 Allgemeines 42 6.2 Bereits getroffene Massnahmen 43 6.3 Massnahmenvorschläge 43 6.3.1 Ohne neue Gesetzesgrundlagen mögliche Massnahmen 43 a Wissens- und Kulturvermittlung 43 b Bildung 44 c Sonderbriefmarke und Gedenkmünze 44 d Information im Straf- und Massnahmenvollzug 46 e Entwicklung eines Konzepts für die Öffentlichkeitsarbeit 46 6.3.2 Strafbarkeit der Verspottung und Verunglimpfung von Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. 46 7 ORGANISATORISCHE MASSNAHMEN 46 7.1 Allgemeines 46 7.2 Bereits getroffene Massnahmen 47 7.3 Massnahmenvorschläge 48 7.3.1 Weiterführung des Runden Tisches und Funktionen des Delegierten 48 7.3.2 Weiterführung des Betroffenenforums 48 7.3.3 Unterstützung der Selbsthilfe der Betroffenen 48 E GESAMTWÜRDIGUNG UND AUSBLICK 50 F AUFLISTUNG VERFÜGBARER DOKUMENTE 53 G WEITERFÜHRENDE HINWEISE UND LINKS 54 H LISTE DER AM RUNDEN TISCH BETEILIGTEN 55
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 A Abstract Die vor 1981 getroffenen fürsorgerischen Zwangs- Mit dem vorliegenden Bericht und der Verabschie- massnahmen gegenüber Jugendlichen und Erwach- dung eines Massnahmenkatalogs zuhanden der senen sowie die Fremdplatzierungen von Kindern Entscheidungsträger in der Politik und in verschie- und Jugendlichen sind ein dunkles Kapitel der denen Institutionen schliesst der Runde Tisch ein schweizerischen Sozialgeschichte. Viele unter uns Jahr nach seiner Einsetzung einen ersten, sehr wich- lebende Mitmenschen leiden nach wie vor schwer tigen Teil seiner Arbeiten ab. Der Runde Tisch hat unter dem Unrecht und Leid, das sie erfahren ha- bereits mehrere wichtige Massnahmen getroffen, ben. Die Thematik ist noch kaum wissenschaftlich eingeleitet oder unterstützt: So wurden in den Kan- erforscht. Eine umfassende politische und gesell- tonen Anlaufstellen aufgebaut, die den Betroffenen schaftliche Aufarbeitung erfolgte bisher nur teil- beratend und unterstützend zur Seite stehen. Wei- weise (so z.B. bei den Kindern der Landstrasse und ter wurden Empfehlungen betreffend die Aktensi- den Zwangssterilisierungen). cherung und den Aktenzugang erlassen sowie ein Soforthilfefonds für Opfer von fürsorgerischen In jüngerer Zeit drang dieses Thema vermehrt ins Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ge- Bewusstsein der Öffentlichkeit. Verschiedene Ver- schaffen, die sich aktuell in schwierigen finanziellen anstaltungen, Ausstellungen und Gedenkanlässe Verhältnissen befinden. haben das Leiden der Opfer und den gesellschaftli- chen Kontext thematisiert, und es wurde versucht, Die vom Runden Tisch im Bericht vorgeschlagenen erste Schritte hin zu einer Aussöhnung zu ermögli- weiteren Massnahmen betreffen die Anerkennung chen. Auf nationaler Ebene folgten nach längerem des Unrechts, die Öffentlichkeitsarbeit und organi- Stillstand Gedenkanlässe in den Anstalten Hindel- satorische Vorkehrungen. Wichtige Vorschläge be- bank (2010) für die administrativ versorgten Men- treffen sodann finanzielle Leistungen sowie die wis- schen und im Kulturcasino Bern (2013) für alle senschaftliche Aufarbeitung. Die Realisierung Gruppen von Betroffenen. einzelner Massnahmenvorschläge, namentlich für fi- nanzielle Leistungen, erfordert die Schaffung ge- Vor diesem Hintergrund wurde im Juni 2013 von setzlicher Grundlagen. Andere wiederum, wie etwa Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorstehe- die Lancierung eines Nationalen Forschungspro- rin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeideparte- gramms zur wissenschaftlichen Aufarbeitung sowie mentes, ein Runder Tisch eingesetzt. Dieser Runde die Massnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlich- Tisch hat den Auftrag, eine umfassende Aufarbei- keit, können auch ohne neue Gesetzesgrundlagen tung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und realisiert werden. Fremdplatzierungen vor 1981 vorzubereiten und in die Wege zu leiten. Am Runden Tisch nehmen pari- Die Arbeiten des Runden Tisches und was daraus tätisch betroffene Personen und Vertreter und Ver- für die Betroffenen sowie für die ganze Schweiz treterinnen von Betroffenenorganisationen sowie entstehen kann, bieten eine historische Chance, von interessierten Behörden, Institutionen und Or- dieses schwierige Kapitel aufzuarbeiten und gleich- ganisationen teil. Um weiteren Betroffenen zu er- zeitig dazu beizutragen, dass sich solches Unrecht möglichen, sich mit ihren Anliegen in die laufenden nicht wiederholt. Arbeiten des Runden Tisches einzubringen, wurde zudem ein Betroffenenforum ins Leben gerufen. 8
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 B Übersicht über die Massnahmen- vorschläge des Runden Tisches 1. Anerkennung des Unrechts prüfen, ob und wie bei Adoptionen bereits Der Runde Tisch schlägt vor, für alle Opfer von für- vor der Inkraftsetzung der neuen Regelung sorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplat- eine Kontaktnahme ermöglicht werden kann. zierungen an Orten, die eine besondere Bedeutung haben, ein Mahn- bzw. Denkmal oder eine Ge- 4. Finanzielle Leistungen denkstätte zu errichten. Mindestens ein Mahn- 4.1 Der Runde Tisch schlägt vor, substanzielle fi- oder Denkmal bzw. eine Gedenkstätte soll von ge- nanzielle Leistungen zugunsten der Opfer von samtschweizerischer Bedeutung sein. fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vorzusehen. Er schlägt 2. Beratung und Betreuung vor, die gesetzliche Grundlage für einen Soli- 2.1 Der Runde Tisch schlägt die finanzielle Unter- daritätsfonds zu schaffen. Einzig der SBV will stützung einer gemeinsamen Plattform für die finanziellen Leistungen auf Härtefälle be- Suchdienste vor. schränken. 2.2 Der Runde Tisch schlägt die Ausdehnung des 4.2 Der Runde Tisch schlägt vor, in Ergänzung Geltungsbereichs des Opferhilfegesetzes auf zum vorgeschlagenen Solidaritätsfonds eine die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen gesetzliche Grundlage für die Ausrichtung ei- und Fremdplatzierungen im Hinblick auf die nes Zuschlags zur AHV-Rente an alle renten- Unterstützung durch die Beratungsstellen und beziehenden Opfer zu schaffen. Einzig der die Kostenbeiträge vor. Dabei ist auch zu prü- SBV will diesen Zuschlag auf Härtefälle be- fen, ob der zeitliche Geltungsbereich zu präzi- schränken. sieren ist. 4.3 Der Runde Tisch schlägt vor, die Soforthilfe bei der Berechnung der Sozialhilfe, der Sozialversi- 3. Akteneinsicht / Aktensicherung / cherungsleistungen und weiterer Sozialleistun- Bestreitungsvermerke gen (z.B. Bedarfsleistungen) sowie bei der 3.1 Der Runde Tisch schlägt vor, dass die Verant- Steuerveranlagung nicht als anrechenbares Ein- wortlichen der kantonalen, kommunalen und kommen zu berücksichtigen. privaten sowie insbesondere der kirchlichen 4.4 Der Runde Tisch schlägt vor, dass die kantona- Archive weiterhin sensibilisiert und in Bezug len Behörden angehalten werden, ihren Er- auf Aktenführung, Aktensicherung und Ge- messensspielraum zu nutzen und die Sofort- währung von Akteneinsicht durch die Staats- hilfe als unpfändbaren Vermögenswert zu archive unterstützt werden. Die Verantwortli- betrachten. chen jener Archive, zu denen bislang kein 4.5 Der Runde Tisch schlägt vor, die besondere Si- Zugang bestand, sollen den Betroffenen tuation von Opfern fürsorgerischer Zwangs- Akteneinsicht gewähren. massnahmen und Fremdplatzierungen bei der 3.2 Der Runde Tisch schlägt vor, dass die bisherige Überprüfung und Festsetzung von Voll- und Praxis bei der Anbringung von Bestreitungs- Teilrenten der IV zu berücksichtigen. vermerken weitergeführt wird, und dass die 4.6 Der Runde Tisch schlägt vor, die Betreibungs- Archivmitarbeitenden die Betroffenen bei der und Konkursämter betreffend Nichtpfändbar- Formulierung von Bestreitungsvermerken und keit der Leistungen der Soforthilfe zu infor- Gegendarstellungen weiterhin unterstützen. mieren sowie die gesetzliche Grundlage für 3.3 Der Runde Tisch schlägt vor, die im Rehabilitie- den Solidaritätsfonds so auszugestalten, dass rungsgesetz vorgesehenen Vorschriften betref- eine Pfändung von finanziellen Leistungen an fend Archivierung in geeigneter Form in die zu Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnah- schaffende Rechtsgrundlage für die Rehabilitie- men und Fremdplatzierungen ausgeschlossen rung aller Gruppen von Betroffenen des Run- wird. den Tisches zu übernehmen. 4.7 Der Runde Tisch schlägt vor, bei der Beurtei- 3.4 Der Runde Tisch schlägt vor, der Änderung lung von Gesuchen um Steuererlass von Opfern des Zivilgesetzbuches (Adoptionsrecht) er- mit tiefen Einkommen den Ermessensspielraum höhte Priorität einzuräumen. Es ist zudem zu zu ihren Gunsten auszuüben. 9
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 4.8 Eine Minderheit des Runden Tisches schlägt 6.4 Der Runde Tisch schlägt vor, dass sich auch vor, den Opfern von fürsorgerischen Zwangs- die zukünftigen Fachpersonen insbesondere massnahmen und Fremdplatzierungen auf im Sozialbereich sowie in der Rechtswissen- Lebzeiten ein GA 2. Klasse zu finanzieren. schaft im Rahmen der Berufsbildung mit dem Thema fürsorgerischer Zwangsmassnahmen 5. Wissenschaftliche Aufarbeitung und Fremdplatzierungen auseinandersetzen. 5.1 Der Runde Tisch schlägt vor, den Schweizeri- 6.5 Der Runde Tisch schlägt vor, eine Sonderbrief- schen Nationalfonds mit der Durchführung ei- marke mit Zuschlag zu Gunsten der Opfer von nes Nationalen Forschungsprogramms zum fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Thema fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen herauszugeben und eine Fremdplatzierungen zu beauftragen. Für den Gedenkmünze für die Opfer prägen zu lassen. Fall, dass kein solches Programm zustande 6.6 Der Runde Tisch schlägt vor, sicherzustellen, kommen sollte, schlägt der Runde Tisch vor, dass auch betroffene Personen im Straf- und durch eine Gesetzesänderung den Auftrag der Massnahmenvollzug informiert werden. Unabhängigen Expertenkommission gemäss 6.7 Der Runde Tisch schlägt vor, ein Konzept für Artikel 5 des Bundesgesetzes zur Rehabilitie- die Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln. Dazu rung administrativ versorgter Menschen im gehört, dass die Website www.fszm.ch lau- Sinne einer umfassenden Aufarbeitung zu er- fend aktualisiert wird. weitern. 6.8 Der Runde Tisch schlägt vor, zu prüfen, ob eine 5.2 Der Koordination zwischen Unabhängiger Ex- Änderung des Strafgesetzbuchs zur Verhinde- pertenkommission und Nationalem For- rung und Bestrafung der Verspottung und Ver- schungsprogramm sowie der nachhaltigen unglimpfung der Opfer von fürsorgerischen Vermittlung soll besondere Beachtung ge- Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen schenkt werden. Im Rahmen der Forschungs- vor 1981 notwendig ist. projekte sollen Anlaufstellen für Zeitzeugin- nen und Zeitzeugen geschaffen werden, und 7. Organisatorische Massnahmen es sollen auch die Psychiatriegeschichte, die 7.1 Der Runde Tisch schlägt vor, den Runden Tisch strafrechtliche Unterbringung, die Nachfolge- und die Funktionen des Delegierten vorläufig generation / Zweitgeneration sowie die Medi- weiterzuführen. kamentenversuche berücksichtigt werden. 7.2 Der Runde Tisch schlägt vor, das Betroffenen- forum vorläufig weiterzuführen. 6. Öffentlichkeitsarbeit / 7.3 Der Runde Tisch schlägt vor, die Selbsthilfe der gesellschaftspolitische Sensibilisierung Betroffenen zu fördern. Dazu sollen insbeson- 6.1 Der Runde Tisch schlägt vor, die Ergebnisse dere in den sieben Grossregionen der Schweiz der wissenschaftlichen Forschung für die Sen- unter Berücksichtigung der ländlichen Regio- sibilisierung der Öffentlichkeit aufzubereiten. nen sogenannte Selbsthilfezentren oder 6.2 Der Runde Tisch schlägt vor, die Ausstellung Selbsthilfegruppen eingerichtet werden. Be- «Enfances volées – Verdingkinder reden» und troffene von fürsorgerischen Zwangsmassnah- eine allfällige Aktualisierung und Erweiterung men und Fremdplatzierungen sollen mit staat- dieser Ausstellung finanziell zu unterstützen. licher Unterstützung Plattformen einrichten 6.3 Der Runde Tisch schlägt vor, das Thema in können, die ihnen Hilfe zur Selbsthilfe bieten den Schulbüchern und in anderen Lehrmitteln (z.B. Informations- und Erfahrungsaustausch, zu behandeln. Er schlägt zudem vor, die Schu- Massnahmen zur Entfaltung und Entwicklung len aufzufordern, Betroffene einzuladen, da- von persönlichen und beruflichen Ressourcen). mit sie über ihr Schicksal und ihre Erfahrun- 7.4 Der Runde Tisch schlägt vor, Projekte von Be- gen berichten können. troffenen bzw. von deren Organisationen fi- nanziell zu unterstützen. 10
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 C Allgemeiner Teil 1 Einleitung der Heimverbände die betroffenen Personen um Die vor 1981 getroffenen fürsorgerischen Zwangs- Entschuldigung für das ihnen angetane Unrecht ge- massnahmen gegenüber Jugendlichen und Erwach- beten haben. senen sowie die Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen, die bis weit in die zweite Hälfte Im Anschluss an den Gedenkanlass vom 11. April des 20. Jahrhunderts erfolgten, sind ein düsteres 2013 erteilte Bundesrätin Simonetta Sommaruga Kapitel der schweizerischen Sozialgeschichte. Dieses dem eingesetzten Delegierten für die Opfer von Kapitel ist noch kaum wissenschaftlich erforscht fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremd- und seine politische und gesellschaftliche Bearbei- platzierungen am 31. Mai 2013 den Auftrag, Be- tung und Verarbeitung steht noch weitgehend aus. troffene und ihre Vertreter und Vertreterinnen so- Auf politischer Ebene gab es zwar in den letzten wie Vertreterinnen und Vertreter der Behörden drei Jahrzehnten einzelne, zum Teil erfolgreiche, (Bund, Kantone, Städte und Gemeinden), der zum Teil aber auch erfolglose Anläufe zu Teilaspek- Heime, der Kirchen und des Bauernverbands zu ei- ten der Problematik (so z.B. betreffend die Kinder nem Runden Tisch (siehe die Zusammensetzung un- der Landstrasse und die Zwangssterilisierungen), ter Buchstabe H) einzuladen, um gemeinsam die aber eine umfassende Aufarbeitung ist bislang nicht Aufarbeitung der Fragen in Zusammenhang mit den erfolgt. fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremd- platzierungen in die Wege zu leiten und Lösungs- Es ist insbesondere das Verdienst vieler direkt von vorschläge zu entwickeln. Diese Lösungsvorschläge fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremd- sollten zunächst bis Ende 2014, spätestens aber bis platzierungen betroffener Personen wie Ursula Sommer 2015 vorliegen. Später ist diese Frist auf Biondi, Louise Buchard-Molténi, Daniel Cevey, Sommer 2014 verkürzt worden. Jean-Louis Claude, Bernadette Gächter, Arthur Ho- negger und Heidi Meichtry, von einzelnen Historike- Der Runde Tisch für die Opfer von fürsorgerischen rinnen und Historikern sowie von Sozialwissen- Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen schaftlern wie Pierre Avvanzino, Markus Furrer, (nachfolgend: Runder Tisch) hat am 13. Juni 2013 Thomas Huonker, Marco Leuenberger, Ueli Mäder das erste Mal getagt und danach an sechs weiteren oder Tanja Rietmann und Loretta Seglias, von Me- ganz- und halbtägigen Sitzungen den vorliegenden dienschaffenden wie Beat Bieri oder Dominique Bericht erarbeitet. Er hat sich zunächst mit dem Strebel, von Kulturschaffenden wie Markus Imbo- Aufbau von Anlauf- und Beratungsstellen in den den (Der Verdingbub, Schweiz 2012), von Kulturver- Kantonen sowie mit Fragen der Aktensicherung mittlerinnen und -vermittlern wie Jacqueline Häus- und des Archivzugangs befasst. Er hat sich anschlies- ler, Heidi Huber und Basil Rogger (Verein Geraubte send eingehend mit der Frage allfälliger finanzieller Kindheit, Wanderausstellung «Enfances volées – Leistungen zugunsten der betroffenen Personen Verdingkinder reden» 2009–2016) und von Politike- auseinandergesetzt und insbesondere in Zusam- rinnen und Politikern wie Jacqueline Fehr, Paul menarbeit mit der Konferenz der kantonalen Sozial- Rechsteiner und Rosmarie Zapfl, dass diese Proble- direktorinnen und -direktoren SODK und der matik schliesslich doch zu einem politischen Thema Glückskette einen Soforthilfefonds geschaffen, der auf Bundesebene geworden ist. Diese Aufzählung auf freiwilligen Zahlungen der Kantone und Privater ist lediglich ein Versuch einer Würdigung des Enga- beruht. Dieser Soforthilfefonds ermöglicht es, Op- gements der Personen, die sich für diese Thematik fern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und besonders eingesetzt haben. Sie ist in keiner Weise Fremdplatzierungen, die sich heute in einer prekä- abschliessend und erfolgt im Bewusstsein, dass sich ren finanziellen Situation befinden, rasch finanzielle zahlreiche weitere Menschen unermüdlich für die Unterstützung zukommen zu lassen. Die Sitzungen Anliegen der Betroffenen von fürsorgerischen vom Juni und Juli 2014 dienten der Ausarbeitung Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ein- des Berichts mit weiteren Massnahmenvorschlägen gesetzt und verdient gemacht haben. Massgeblich für die Zukunft. Für die Realisierung verschiedener beigetragen haben auch die beiden Gedenkanlässe Massnahmenvorschläge bedarf es der Schaffung vom 10. September 2010 in Hindelbank und vom von gesetzlichen Grundlagen. Der Bericht ist des- 11. April 2013 in Bern, an denen Vertreterinnen und halb auch eine Basis für die Erteilung von Aufträgen Vertreter des Bundes, der Kantone, der Städte und zur Ausarbeitung einer entsprechenden Gesetzes- Gemeinden, der Kirchen, des Bauernverbandes und vorlage. 11
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 Die Arbeiten des Runden Tisches waren geprägt Neben den Verdingkindern, die mehrheitlich bei von der Bereitschaft der Beteiligten zu einer guten, Bauernfamilien untergebracht waren, geht es bei konstruktiven Zusammenarbeit und sie waren ge- den Fremdplatzierungen auch um Kinder, die in sta- tragen von der gemeinsamen Überzeugung, dass tionären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe eine umfassende Aufarbeitung der Problematik un- aufwuchsen, sowie um Pflege- und Kostkinder. Sol- abdingbar ist. Es geht darum, das Ausmass, die Art che Fremdplatzierungen erfolgten zum Teil durch und die Bedeutung der Probleme zu erkennen, das Behörden, zum Teil unter Mitwirkung oder zumin- von den Opfern erlittene Leid und Unrecht zu aner- dest im Wissen von Behörden und zum Teil auf pri- kennen und zu berücksichtigen sowie Schlussfolge- vater Basis. Die Gründe dafür waren zum Teil wirt- rungen für die Zukunft zu ziehen. schaftlicher Art (Armut), zum Teil waren die betroffenen Kinder und Jugendlichen Waisen oder Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist für die Op- Halbwaisen oder unehelich Geborene, zum Teil wa- fer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ein ren die Eltern geschieden oder die Kinder und Ju- schmerzhafter Prozess. Die Zwangsmassnahmen gendlichen hatten Anpassungsschwierigkeiten in haben ihr Leben und dasjenige ihrer Angehörigen der Schule oder in der Ausbildung. geprägt. Das Geschehene kann nicht mehr rück- gängig gemacht werden. Gerade deshalb ist es von Bis 1981 konnten Verwaltungsbehörden Jugendli- zentraler Bedeutung, dass die heutige Gesellschaft che und Erwachsene zur «Nacherziehung» oder zur das Geschehene historisch aufarbeitet und dass die «Arbeitserziehung» in geschlossene Institutionen Betroffenen vollumfänglich rehabilitiert werden. Die einweisen (administrative Versorgungen). Es erfolg- gesellschaftliche Aufarbeitung dieses Kapitels der ten auch Einweisungen in geschlossene psychiatri- schweizerischen Sozialgeschichte ist deshalb aus der sche Anstalten. In zahlreichen Fällen erfolgte sogar Sicht des Runden Tisches wichtig, ja unerlässlich. eine Einweisung in eine Strafanstalt, auch wenn die Dies nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für betroffene Person keine Straftat begangen hatte, die Schweiz als Ganzes. Denn die Stärke eines Vol- sondern bloss durch ihr Verhalten – gemessen an kes misst sich – wie es in der Präambel der Bundes- den damaligen Moralvorstellungen – auffiel oder verfassung heisst – am Wohl der Schwachen. Die soziale Missbilligung bewirkte. Bei Männern und Schweiz hat ein elementares Interesse daran, dieses Frauen wurden teilweise unterschiedliche Verhal- unrühmliche Kapitel ihrer Sozialgeschichte umfas- tensweisen sanktioniert und die Entscheide von Be- send aufzuarbeiten und die daraus gewonnenen Er- hörden waren von Geschlechterstereotypen ge- kenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis prägt. Männer wurden vor allem administrativ zu bringen. Die Anerkennung begangenen Un- versorgt, weil sie keiner geregelten Arbeit nachgin- rechts, der Wille zur Aufarbeitung der Vergangen- gen, ihre Stelle häufig wechselten oder «trunksüch- heit und die Bereitschaft zur Entstigmatisierung, zur tig» waren. Frauen wurden weggesperrt, weil ihr Aussöhnung sowie zur Solidarität mit den Opfern Verhalten als sozial abweichend von der gesell- auch in der Form von finanziellen Leistungen sind schaftlichen (Rollen-)Norm empfunden wurde, etwa Ausdruck der Stärke eines Gemeinwesens. weil sie «öffentliches Ärgernis» erregten oder als minderjährige Frauen Kontakt mit älteren oder ver- heirateten Männern hatten. Auch voreheliche 2 Ausgangslage Schwangerschaft (von Minderjährigen) war ein häu- figer Grund für eine administrative Versorgung. 2.1 Wer sind die Betroffenen? In den Diskussionen über die fürsorgerischen Zu den Betroffenen zählen auch Personen, die aus Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen stan- sozialhygienischen, sozialen oder wirtschaftlichen den bisher vor allem zwei Betroffenengruppen im Gründen zwangssterilisiert oder zwangskastriert Vordergrund, nämlich die Verding-, Heim- und Pfle- wurden oder bei denen eine Zwangsabtreibung gekinder (Fremdplatzierte) einerseits und die admi- vorgenommen wurde. Diese Eingriffe in die Persön- nistrativ versorgten Menschen andererseits. Eine lichkeits- und Reproduktionsrechte wurden zwar in umfassende Aufarbeitung erfordert jedoch den Ein- der Regel mit der formalen Einwilligung der betrof- bezug verschiedener weiterer Gruppen von Betrof- fenen Personen durchgeführt, aber in vielen Fällen fenen. erfolgte diese «Einwilligung» unter Druck. 12
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 Testimonial Rosalie Müller Als ich 17 Jahre jung meinem Schatz, 24 Jahre alt, mit voller Freude von der Schwangerschaft er- zählte, war dieser alles andere als erfreut. Es stellte sich heraus: Mein Verlobter hatte eine Frau und ein Kind, die er auf keinen Fall für mich verlassen würde. Schon da hatte ich das Gefühl der Macht- losigkeit und ausgeliefert zu sein. Wie dumm ich war, ihm blind zu glauben. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was noch folgen würde. Meine Eltern verachteten mich von nun an und schickten mich nach Thun ins Mutter - Kind - Heim Hohmad. Im März 1963 gebar ich meinen Sohn Mario. Er war mein Sonnenschein und alles, was ich noch hatte. Um die Geburt abzubezahlen, half ich im Heim in der Küche und konnte so meinen Sonnenschein pflegen. Diesen 6. April vergesse ich nie mehr. Ich komme in das Säuglingszimmer und in Marios Bettchen lag ein anderer Junge. Auf meine Anfrage, wo mein Bub sei, sagte man mir in einem ganz normalen Ton: Die Adoptiveltern haben ihn abgeholt. Nach meinem Wutanfall legte man mir die Papiere vor, welche meine Eltern unterschrieben hatten. Da ich noch nicht 18 Jahre alt war, konnte ich nichts dagegen tun. Mein Vertrauen in die Menschheit und in die Gerechtigkeit ging an diesem Tag verloren. Meine Kraft und Gesundheit sind während den jahrelangen Streite- reien mit der Vormundschaftsbehörde in Mitleidenschaft gekommen. Mein Vertrauen in eine Bezie- hung zerbrochen. Bis heute weiss ich nicht, wo Mario hinkam! Wie es ihm geht! Wie er aussieht! Was aus ihm geworden ist! Wenn ich mir die Männer ansehe, die meinen Weg kreuzen, dann denke ich: Ist das mein Mario? Sind das meine Enkelkinder? Wenn ich ein junges, strahlendes schwangeres Mädchen sehe, dann überkommt mich die Wut auf das System der damaligen Zeit. Niemand hat das Recht, über ein Neugeborenes zu bestimmen, ausser die eigene Mutter. Eine Einwilligung unter Druck seitens der Behörden Eltern wurden bis 1973 ihre Kinder weggenommen, erfolgte in vielen Fällen auch, wenn minderjährige von ihren Geschwistern isoliert und nicht-jenischen oder ledige Frauen dazu gebracht wurden, ihre Familien zur Adoption freigegeben oder sonst neugeborenen Kinder zur Adoption freizugeben fremdplatziert. («Zwangsadoptionen»). In diesen Fällen sind sowohl Eine Abgrenzung zwischen den verschiedenen Ka- die Mutter als auch das Kind Betroffene. Zu tegorien von Betroffenen ist in vielen Fällen nicht Zwangsadoptionen kam es nicht ausschliesslich bei möglich oder zumindest nicht sinnvoll: die gleiche Neugeborenen, sondern auch im (späteren) Kindes- Person kann in mehrfacher Weise von fürsorgeri- alter. Für diese Kinder stellte sich die Situation inso- schen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierun- fern anders dar, als dass sie die Adoption oft gen betroffen sein: nach der Unterbringung in ei- schmerzhaft miterlebten. nem Kinderheim erfolgte manchmal die Verdingung bei einer Bauernfamilie; der Wegnahme eines Kin- Zu erwähnen sind im Weiteren auch die Jenischen. des folgte manchmal eine Zwangssterilisierung und/ Sowohl fahrenden wie auch sesshaften jenischen oder eine administrative Versorgung. 13
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 Betroffen von den Folgen fürsorgerischer Zwangs- Schule sowie die Kinder- und Jugendheime zusam- massnahmen und Fremdplatzierungen sind – in ei- menwirkten, so dass es zu diesem Unrecht kommen nem weiteren Sinn – darüber hinaus auch Angehö- konnte. Zu prüfen ist auch, wie bestimmte gesell- rige, insbesondere die Kinder und die Partnerinnen schaftliche Moralvorstellungen dazu führten, dass und Partner von direkt betroffenen Personen Zwangsmassnahmen als legitime Erziehungsstrate- [2. Generation («Transgenerationale Weitergabe gie erachtet wurden. Es ist an dieser Stelle zu beto- von Traumata»); andere nahestehende Personen]. nen, dass die von einer solchen Massnahme Betrof- fenen selbst keine Schuld tragen. Die Gesellschaft, Die Zahl der heute noch lebenden Betroffenen ist ihre Institutionen und Einrichtungen müssen sich nicht ausreichend bekannt. Es gibt verschiedene den Folgen ihres früheren Handelns stellen und Ver- Schätzungen, die allerdings weit auseinanderliegen antwortung übernehmen. Selbstverständlich sind und deshalb kaum als einigermassen gesichert gel- auch die damaligen gesellschaftlichen, sozialen und ten können. Es wird Aufgabe der wissenschaftlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Aufarbeitung sein, diesbezüglich etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Der Runde Tisch geht davon Nicht alle Personen, die Verantwortung für fürsorge- aus, dass mit etwa 15’000 bis 25’000 noch leben- rische Zwangsmassnahmen oder für fremdplatzierte den betroffenen Personen gerechnet werden muss. Kinder und Jugendliche trugen, haben Unrecht ge- tan. Einige von ihnen haben im Einklang mit dem Unbestritten ist, dass nicht alle Personen, die von damals geltenden Recht und mit den damaligen ge- fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen sellschaftlichen sozialen und wirtschaftlichen Gege- waren oder die in stationären Einrichtungen der benheiten gehandelt. Viele von ihnen haben sich Kinder- und Jugendhilfe, bei Pflege- oder Adopti- mit grossem Engagement für das Wohl der ihnen onsfamilien oder bei Bauern fremdplatziert waren, anvertrauten Menschen eingesetzt. Manche waren schlecht behandelt worden sind. Opfer dieser Mass- guten Willens, aber persönlich und beruflich unge- nahmen sind Personen, deren persönliche Integrität eignet oder überfordert. Viele haben weggeschaut verletzt worden ist, sei es durch physische oder psy- und nichts getan, obwohl sie etwas hätten tun kön- chische Gewalt, sexuelle Übergriffe, wirtschaftliche nen und auch hätten tun müssen, etwa indem sie Ausbeutung, durch unter Druck oder sogar ohne bestehende Ermessensspielräume im Interesse des Zustimmung vorgenommene Abtreibungen, Wohls von Kindern und Jugendlichen genutzt hät- Zwangssterilisationen oder -kastrationen, durch ten. Aber das Wohl der anvertrauten Kinder und Ju- Zwangsadoptionen, Zwangsmedikation und Medi- gendlichen war in vielen Fällen nicht das vordring- kamentenversuche in Anstalten und stationären lichste Anliegen der verantwortlichen Behörden. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, durch Neben gesellschaftlichen und moralischen Vorstel- soziale Stigmatisierung sowie durch die aktive Be- lungen haben finanzielle Überlegungen oft eine sehr hinderung der persönlichen Entwicklung und Ent- wichtige Rolle gespielt. Und einzelne Verantwortli- faltung. Manche Opfer sind daran zerbrochen. Sehr che haben sich auch unbestreitbares Fehlverhalten viele leiden oder litten zeitlebens darunter. zu Schulden kommen lassen oder sogar Straftaten begangen. Zu gerichtlichen Verurteilungen kam es 2.2 Wer sind die Verantwortlichen? nur in sehr wenigen Fällen. Wenn von Opfern und Betroffenen die Rede ist, liegt es nahe, nach den Tätern, nach den Verant- In manchen Fällen tragen auch Eltern und andere wortlichen zu fragen. Dabei sind die individuelle Verwandte der betroffenen Kinder und Jugendli- und die strukturelle Ebene zu unterscheiden: Ver- chen eine Mitverantwortung. Deshalb bedarf es ei- antwortung tragen zum einen die einzelnen Indivi- ner differenzierten Sicht, auf der Seite der Betroffe- duen, die eine fürsorgerische Zwangsmassnahme nen genau gleich wie auf der Seite der oder Fremdplatzierung angeordnet oder vollzogen Verantwortlichen. Diese differenzierte Sicht ergibt oder ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt haben. sich zum Teil schon aus den Lebensgeschichten der Massgebend ist aber auch die institutionelle Ebene. zahlreichen Betroffenen, die über ihr eigenes Es wird vor allem die Aufgabe der wissenschaftli- Schicksal berichtet haben; sie erfordert aber vor al- chen Aufarbeitung sein, näher zu untersuchen, wie lem auch umfassende und vertiefte wissenschaftli- beteiligte Institutionen und Organisationen, d.h. na- che Abklärungen. mentlich der Staat, die Kirche, die Familie, die 14
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 2.3 Zur Rechtslage vor 1981 ten (etwa mit Personen, in deren Reproduktions- Die Rechtsgrundlagen, auf die sich die verschiede- rechte eingegriffen wurde, mit Heim- und nen seinerzeitigen fürsorgerischen Zwangsmassnah- Verdingkindern, mit Jenischen). Daher spielt das Da- men und Fremdplatzierungen abgestützt haben, tum 1981 für diese anderen Betroffenengruppen finden sich sowohl auf Bundes- als auch auf Kan- nur insofern eine Rolle, als es ein Richtmass zur Ab- tons- und Gemeindeebene. Vereinfachend können grenzung von anderen Fällen abgibt, die jüngeren dabei zivil-, straf- und armenrechtliche Erlasse Datums sind und die den heutigen Rechtsmassstä- (meist Gesetze, z.T. auch Verordnungen) unterschie- ben grundsätzlich genügen. Dieses Richtmass soll den werden, wobei die rechtsanwendenden Behör- den notwendigen Spielraum belassen, um den Be- den sich kaum um diese Trennung kümmerten, son- sonderheiten einzelner Fälle in sinnvoller Weise dern ihr Handeln z.B. zugleich zivilrechtlich und Rechnung tragen zu können. Denn vor 1981 admi- armenrechtlich begründeten bzw. abstützten. Die nistrativ versorgte oder fremdplatzierte Menschen Festlegung der Zuständigkeit der jeweiligen Voll- verblieben vielfach bis in die 1990er Jahre oder län- zugsbehörden war – soweit nicht das Bundesrecht ger in den entsprechenden Institutionen. spezielle Vorschriften enthielt – meistens vom kan- tonalen Recht geregelt, manchmal auch vom Ge- 2.4 Rechtsvergleich meinderecht. Das Schweizerische Institut für Rechtsvergleichung SIR hat im Auftrag des Runden Tisches ein Gutach- Das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1907 (ZGB, ten über die Aufarbeitung der fürsorgerischen SR 210; das im Verlauf der Jahrzehnte mehrere Zwangsmassnahmen, der Fremdplatzierungen oder wichtige Revisionen erfuhr) deckte zahlreiche Sach- vergleichbarer Sachverhalte erstellt (im Folgenden: verhalte ab, mit denen sich der Runde Tisch heute Gutachten). Eine Bezugsquelle des Gutachtens befasst. Im ZGB waren bzw. sind heute etwa das findet sich am Ende dieses Berichts (unter Buch- Vormundschafts-, Adoptions- oder Kindesrecht ge- stabe F). Das Gutachten enthält eine Auslegeord- regelt. Die so genannten Jugendschutzbestimmun- nung der Aufarbeitungsprozesse in ausgewählten gen des ZGB bildeten bis 1976 den rechtlichen Rah- Ländern Europas und in Übersee, in denen es Miss- men für vorsorgliche Massnahmen, die Versorgung stände gab, welche mit den in der Schweiz vollzo- von Kindern durch vormundschaftliche Behörden genen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und sowie für den Entzug der elterlichen Gewalt und Fremdplatzierungen mehr oder weniger vergleich- die Bevormundung Unmündiger. Das damalige ZGB bar sind. Der Fokus des Gutachtens ist auf den ermöglichte auch Fremdplatzierungen durch die ei- Vergleich der verschiedenen Massnahmen zur genen Eltern. Daneben gab es zahlreiche kantonale Aufarbeitung gerichtet. Dabei berücksichtigt das Erlasse in verschiedensten Formen und Ausprägun- Gutachten folgende Länder: Deutschland (Heimer- gen, auf die sich die Vollzugsbehörden stützten. Zu ziehung), Schweden (Zwangssterilisationen und erwähnen sind hier insbesondere die kantonalen Missstände in Kinderheimen), Norwegen und Irland Armen- und Fürsorgegesetzgebungen, welche ad- (Missstände in Kinderheimen), Australien (fürsorge- ministrative Versorgungen ermöglichten. rische Massnahmen bei Kindern und Zwangsadopti- onen) sowie den USA (North Carolina: Zwangssteri- Der Runde Tisch deckt in zeitlicher Hinsicht im Prin- lisationen). zip nur fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ab, die vor 1981 stattgefunden Obwohl sich die Ausgangslagen in den untersuch- haben. Dieses Stichdatum bezieht sich auf das In- ten Ländern und die Modalitäten der Aufarbeitung krafttreten der Revision des ZGB zur fürsorgerischen aufgrund der jeweiligen rechtlichen, gesellschaftli- Freiheitsentziehung im Nachvollzug der von der chen und politischen Faktoren unterscheiden, hat Schweiz 1974 ratifizierten Europäischen Menschen- das Gutachten verschiedene Elemente identifiziert, rechtskonvention. Die Revision hatte zur Folge, dass die allen Aufarbeitungsprozessen in der einen oder administrative Versorgungen von Personen ab dem anderen Form gemeinsam sind. So findet sich in al- Datum des Inkrafttretens rechtlich nicht mehr zuläs- len Ländern eine staatliche Untersuchung der Vor- sig waren (in Einzelfällen wurde diese Praxis aber fälle, bei der die Betroffenen in unterschiedlichem noch über dieses Datum hinaus fortgeführt). Der Umfang einbezogen werden. In allen untersuchten Runde Tisch befasst sich aber auch mit anderen Be- Ländern hat sich eine hohe politische Behörde ent- troffenenkategorien als den administrativ Versorg- schuldigt. Daneben sind viele weitere Massnahmen 15
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 getroffen worden (etwa solche im Hinblick auf ein Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Kanto- Gedenken an die seinerzeitigen Vorfälle und das er- nen baten die ehemaligen administrativ versorgten littene Unrecht, Beratungsangebote). Personen für die über Jahrzehnte angeordneten Einweisungen um Entschuldigung und bedauerten Dagegen zeichnet das Gutachten in Bezug auf die das dadurch verursachte Leid. Für den Bund bat Modalitäten zur finanziellen Wiedergutmachung ein Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, damalige eher uneinheitliches Bild. Bei den zugesprochenen Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizei- Summen liegt die Spannweite zwischen durch- departements EJPD um Entschuldigung «dass Sie schnittlich 5‘500 (bis max. 10’000) Euro in Deutsch- ohne Gerichtsurteil zur Erziehung administrativ ver- land und 300‘000 Euro in Irland für einzelne Aus- sorgt wurden». Für die Kantone baten Regierungs- nahmefälle. Grosse Unterschiede zwischen den rat Hans Hollenstein als Vertreter der SODK, Ober- einzelnen Ländern wurden hinsichtlich der Art der richter Guido Marbet als Vertreter der Konferenz Zumessung der Leistungen festgestellt. Die Spanne der Kantone für Kinder- und Erwachsenenschutz reicht hier vom einheitlichen Fixbetrag in Schweden KOKES sowie Regierungsrat Hans-Jürg Käser als über schematische Berechnungen in den meisten Vertreter der kantonalen Justiz- und Polizeidirekto- Staaten bis zur individuellen Zumessung in Deutsch- rInnen KKJPD um Entschuldigung. Für die betroffe- land. In Bezug auf die Definition der Anspruchsvor- nen Frauen sprachen Ursula Biondi, Rita Werder- aussetzungen für finanzielle Leistungen stimmen Schreier und Gina Rubeli am Gedenkanlass. alle Länder insoweit überein, als die Personen vom Der Weg für die am 10. September 2010 ausge- jeweiligen Missstand individuell betroffen sein müs- sprochenen öffentlichen Entschuldigungen von sen. Unterschiede bestehen darin, dass teilweise Seiten der Bundesrätin sowie den Vertretern der das Vorliegen aktueller Beeinträchtigungen verlangt kantonalen Fachdirektorinnen- und Fachdirektoren- wird (z.B. in Deutschland das Vorliegen eines Folge- konferenzen wurde von einer Arbeitsgruppe unter schadens / Renteneinbusse oder teilweise in Austra- Federführung des Bundesamtes für Justiz BJ geeb- lien und in Irland aktuelle psychische oder physische net. Diese Arbeitsgruppe, welche zwischen Novem- Folgen). Daneben verlangen einzelne Länder die Er- ber 2009 und April 2010 insgesamt drei Sitzungen füllung weiterer Voraussetzungen (so Norwegen die durchführte, setzte sich unter Einbezug der Betrof- Strafbarkeit des konkreten Missstands). fenen mit der Thematik der administrativen Versor- gung auseinander und suchte gemeinsam nach Lö- 2.5 Nationale Gedenkanlässe sungsmöglichkeiten. In dieser Arbeitsgruppe waren In jüngerer Zeit wurde vermehrt auch in der Öffent- neben dem BJ folgende Stellen vertreten: die SODK, lichkeit auf die Thematik aufmerksam gemacht. die KKJPD, die KOKES (früher: Vormundschaftskon- Verschiedene Anlässe, Ausstellungen und auch Ge- ferenz VdK), die Eidgenössische Kommission für denkanlässe haben die Vergangenheit thematisiert Frauenfragen EKF, das Amt für Freiheitsentzug und und versucht, eine Aussöhnung zu ermöglichen. Betreuung des Kantons Bern und die Anstalten Hin- Auf nationaler Ebene folgten nach längerem Still- delbank. Neben der Entwicklung eines Konzepts für stand die Gedenkanlässe in den Anstalten Hindel- die Gedenkveranstaltung wurden in der Arbeits- bank und im Kulturcasino Bern: gruppe weitere Fragestellungen erörtert: etwa die Anforderungen an eine historische Aufarbeitung, 2.5.1 Anstalten Hindelbank die Problematik der Aktensicherung und Aktenein- Dank dem Engagement von ehemaligen administra- sicht oder auch der Zwangsadoptionen. tiv versorgten Frauen wurde bereits am 10. Septem- ber 2010 im Schlosssaal der Anstalten Hindelbank Der Gedenkanlass in Hindelbank war ein erster ein Gedenkanlass zur moralischen Wiedergutma- wichtiger Schritt zur nationalen und insbesondere chung durchgeführt. zur politischen Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und stiess in den Medien und Betroffene Frauen schilderten an diesem Anlass, in der Öffentlichkeit auf ein starkes und positives wie sie aufgrund der administrativen Einweisung ein Echo. Wesentliches zur Sensibilisierung der Öffent- Leben lang ausgegrenzt und diskriminiert worden lichkeit und der Behörden beigetragen hatten auch sind: Obwohl sie nie straffällig geworden waren, die diversen Artikel von Dominique Strebel, ehema- wurden sie aufgrund des Umstandes, dass sie in der liger Redaktor des Schweizerischen Beobachters, Strafanstalt Hindelbank versorgt worden waren, seine Buchpublikation «Weggesperrt. Warum stigmatisiert. Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern 16
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 sassen» von 2010 und die Interpellation von Natio- 2.6 Der Runde Tisch für die Opfer von nalrätin Jacqueline Fehr (09.3440 Interpellation fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Administrativ versorgte Jugendliche. Moralische Fremdplatzierungen vor 1981 Wiedergutmachung, eingereicht am 30. April 2009). 2.6.1 Einsetzung und Zusammensetzung des 2.5.2 Kulturcasino Bern Runden Tisches Am 11. April 2013 fand im Kulturcasino Bern ein Bundesrätin Simonetta Sommaruga setzte Alt Stän- Gedenkanlass für sämtliche Opfer von fürsorgeri- derat Hansruedi Stadler als Delegierten für die Op- schen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierun- fer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und gen vor 1981 statt. Dieser Anlass wurde von einer Fremdplatzierungen ein und beauftragte ihn, einen Arbeitsgruppe des BJ unter Beteiligung unter ande- Runden Tisch zur umfassenden Aufarbeitung von rem von Betroffenenvertreterinnen und -vertretern Leid und Unrecht im Zusammenhang mit den Op- und auf Initiative von Jeannette Fischer (Psychoana- fern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und lytikerin) hin organisiert. Dabei wurde der zunächst Fremdplatzierungen ins Leben zu rufen. Neben Be- für ehemalige Verding- und Pflegekinder vorgese- troffenen und dem Bund sind am Runden Tisch die hene Anlass auf alle Opfer fürsorgerischer Zwangs- Kantone, Städte, Gemeinden, Institutionen, Organi- massnahmen und Fremdplatzierung ausgeweitet. sationen, Kirchen und die Wissenschaft vertreten. Im Namen der Landesregierung bat Bundesrätin Si- Die erste Sitzung des Runden Tisches fand am monetta Sommaruga die Betroffenen um Entschul- 13. Juni 2013 und somit bereits zwei Monate nach digung. Zudem haben Vertreter der Städte, Ge- dem nationalen Gedenkanlass im Kulturcasino Bern meinden, Kantone, Kirchen, Heime und des statt. Dass innert so kurzer Zeit die Betroffenen und Bauernverbandes für das geschehene Unrecht um die involvierten Kreise an einen Tisch gebracht wer- Entschuldigung gebeten. Michel Thentz, Regie- den konnten, ist im Wesentlichen Alt Ständerat rungsrat aus dem Kanton Jura und Mitglied des Stadler zu verdanken, der in der Anfangsphase der Vorstands der SODK bat im Namen der Kantone, Arbeiten als Delegierter für die Opfer von fürsorgeri- Städte und Gemeinden für das geschehene Unrecht schen Zwangsmassnahmen den Runden Tisch um Entschuldigung. Für den Schweizer Bauernver- einsetzte und leitete. Im Herbst 2013 wurde er als band SBV tat dies Markus Ritter (Nationalrat und Delegierter abgelöst von Luzius Mader, Stellvertre- Präsident SBV), für Integras und CURAVIVA Olivier tender Direktor des Bundesamts für Justiz. Baud (Vizepräsident Integras) und für die Kirchen Bischof Markus Büchel (Präsident der Schweizer Bi- 2.6.2 Auftrag des Runden Tisches schofskonferenz). Der Runde Tisch hat den Auftrag, die Aufarbeitung der historischen, juristischen, finanziellen, gesell- Im Mittelpunkt des Anlasses standen aber die Be- schaftspolitischen und organisatorischen Fragen im troffenen. Ursula Biondi, Bernadette Gächter, Kurt Zusammenhang mit den Opfern von fürsorgeri- Gradolf, Jean-Louis Claude, Rosemary Jost und schen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierun- Sergio Devecchi berührten mit der Schilderung ihrer gen in die Wege zu leiten. Damit soll sichergestellt Schicksale und rüttelten so die Schweiz wach. werden, dass die involvierten Behörden, Institutio- nen und Organisationen ihre Verantwortung ge- Bundesrätin Simonetta Sommaruga betonte am Ge- genüber den Opfern von fürsorgerischen Zwangs- denkanlass, dieser sei kein Abschluss, sondern der massnahmen und Fremdplatzierungen Anfang einer umfassenden Auseinandersetzung mit wahrnehmen können. einem dunklen Kapitel der Schweizer Sozialge- schichte. Die Justizministerin führte aus, sie wün- Mit dem vorliegenden Bericht und der Verabschie- sche sich eine umfassende historische und rechtli- dung des Massnahmenkatalogs an die politischen che Aufarbeitung. Dabei sei auch die Frage von Entscheidungsträger schliesst der Runde Tisch gut finanziellen Leistungen zu prüfen. Der Gedenkan- ein Jahr nach seiner Einsetzung einen ersten und lass wurde aufgezeichnet. Es besteht die Möglich- wichtigen Teil seiner Arbeiten ab. Betreffend Wei- keit, über das Sekretariat des Delegierten eine kos- terbestand des Runden Tisches wird auf die Ausfüh- tenlose Aufzeichnung des Anlasses auf DVD zu rungen unter D.7.2.1 verwiesen. beziehen. 17
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 2.6.3 Weitere Gremien der Situation aller Betroffenenkategorien von für- Der Runde Tisch hat seine Arbeiten teilweise durch sorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplat- eingesetzte Ausschüsse vorbereiten lassen. Dies gilt zierungen heraus zu einem späteren Zeitpunkt nicht insbesondere für die Erarbeitung von Vorschlägen ausschliesst. für finanzielle Leistungen sowie für die Prüfung der Gesuche um Soforthilfe. Daneben wurde für die Be- 3.2 Volksinitiative troffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Am 31. März 2014 wurde von der Guido-Fluri-Stif- ein Forum geschaffen (Betroffenenforum). Die Be- tung die Initiative «Wiedergutmachung für Verding- troffenen erhielten damit die Gelegenheit, neue kinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnah- Kontakte zu knüpfen und sich untereinander auszu- men» (Wiedergutmachungsinitiative) lanciert. Die tauschen. Das Betroffenenforum wurde unterstützt Initiative entstand vor dem Hintergrund, dass ge- von einem Coach, welcher den Betroffenen bei der mäss aktuellen Forschungen noch heute in der Gestaltung und Durchführung des Forums zur Seite Schweiz schätzungsweise rund 20’000 Opfer von stand. Das Forum wurde bis zur Verabschiedung fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremd- des Berichts viermal durchgeführt. platzierungen leben, deren immenses Leid zwar teilweise dokumentiert und bekannt ist, die aber aufgrund einer fehlenden politischen Mehrheit nie 3 Weitere Arbeiten und Entwicklungen im eine finanzielle Wiedergutmachung erhalten haben. Bereich fürsorgerische Zwangsmassnah- Aus diesem Grund soll nun das Stimmvolk angeru- men und Fremdplatzierungen fen und auf diesem Weg ein neuer Artikel in der Bundesverfassung verankert werden (Art. 124a BV 3.1 Bundesgesetz über die Rehabilitierung mit entsprechender Übergangsbestimmung administrativ versorgter Menschen Art. 196 Ziff. 12 BV). Aufgrund einer vom damaligen Nationalrat Paul Rechsteiner eingereichten parlamentarischen Initia- Mit der Initiative werden folgende Ziele angestrebt: tive hat das Parlament am 21. März 2014 das Bun- 1. Eine Wiedergutmachung für Verdingkinder und desgesetz über die Rehabilitierung administrativ Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen; versorgter Menschen erlassen (vgl. BBl 2014 2853). 2. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Dieses tritt bereits per 1. August 2014 in Kraft. dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte; 3. Einen Fonds über 500 Millionen Franken – für Von diesem Gesetz erfasst werden Personen, die unmittelbar und schwer betroffene Opfer; bis 1981 von Verwaltungsbehörden aufgrund von 4. Eine unabhängige Kommission prüft jeden Fall Einschätzungen wie «arbeitsscheu», «lasterhaften einzeln. Lebenswandel» oder «Liederlichkeit» in psychiatri- sche Anstalten und Strafanstalten eingewiesen wur- Die Wiedergutmachungsinitiative will in erster Linie den. Das Gesetz anerkennt, dass administrativ ver- ein Zeichen der Anerkennung für das grosse Un- sorgten Personen aus heutiger Sicht damals Leid recht setzen, das Verding- und Heimkindern sowie und Unrecht widerfahren ist. Das Gesetz sieht die den anderen Opfern von Fremdplatzierungen und Schaffung einer unabhängigen Kommission von Ex- fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – wie adminis- pertinnen und Experten zur umfassenden wissen- trativ versorgte, zwangssterilisierte und zwangsad- schaftlichen Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels optierte Personen sowie Fahrende – widerfahren der schweizerischen Sozialgeschichte vor, der Fach- ist, indem der Bund und die Kantone für Wieder- personen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen gutmachung sorgen sollen. Als Anerkennung für angehören werden. Es sorgt auch dafür, dass die das erlittene Unrecht soll mit der Initiative zudem Akten von administrativ versorgten Personen in ge- die verfassungsrechtliche Grundlage für das Aus- eigneter Form archiviert werden und sichert diesen richten von finanziellen Leistungen geschaffen wer- das Recht auf einen einfachen und kostenlosen Zu- den. Dafür soll ein Fonds in der Höhe von 500 Milli- gang zu den sie betreffenden Akten zu. Nicht vor- onen Franken errichtet werden. Aufgrund des gesehen ist, dass die betroffenen administrativ ver- massiven Missbrauchs, der Demütigung und des sorgten Menschen im Rahmen dieses Gesetzes teils jahrzehntelangen Stigmas leben viele Betrof- finanzielle Ansprüche erheben können. Es wurde fene in psychisch schwierigen und finanziell prekä- aber stets darauf hingewiesen, dass dies die Prü- ren Verhältnissen und sind dringend auf Hilfe ange- fung finanzieller Leistungen aus einer Gesamtschau wiesen. Die zu entrichtenden Leistungen würde 18
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