Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

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Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981
August 2014 | www.ejpd.admin.ch

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und
Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981
Impressum

Herausgeber:
Eidgenössisches Justiz-
und Polizeidepartement EJPD
Bern 2014

Redaktion:
Bundesamt für Justiz BJ

Foto 1. Umschlagseite:
Clipdealer

Übersetzungen:
Sprachdienste EJPD

August 2014
Bericht und Massnahmenvorschläge
des Runden Tisches für die Opfer von
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen
und Fremdplatzierungen vor 1981

vom 1. Juli 2014
Abkürzungsverzeichnis

ADK      Schweizerische Archivdirektorinnen- und Archivdirektorenkonferenz
AHV      Alters- und Hinterlassenenversicherung
AHVG	Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und
         Hinterlassenenversicherung (SR 831.10)
AHVV	Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und
         Hinterlassenenversicherung (SR 831.101)
BBl      Bundesblatt
BJ       Bundesamt für Justiz
BSV      Bundesamt für Sozialversicherungen
BV       Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom
         18. April 1999 (SR 101)
CURAVIVA Verband Heime und Institutionen Schweiz
EJPD     Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
EKF      Eidgenössische Kommission für Frauenfragen
ELG	Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 über Ergänzungsleistungen zur
         Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (SR 831.30)
FDKL	Konferenz der kantonalen Fachdirektorenkonferenz Lotteriemarkt und Lotte-
         riegesetz
FSZM     Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen
Integras Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik
IV       Invalidenversicherung
IVG	Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung
         (SR 831.20)
KKJPD	Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen
         und -direktoren
KOKES    Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz
NFP      Nationales Forschungsprogramm
OHG	Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfern
         von Straftaten (SR 312.5)
RKZ      Römisch-katholische Zentralkonferenz
SBK      Schweizer Bischofskonferenz
SBV      Schweizer Bauernverband
SEK      Schweizerischer Evangelischer Kirchenverband
SGV      Schweizerischer Gemeindeverband
SIR      Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung
SODK     Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren
SR       Systematische Rechtssammlung
SSV      Schweizerischer Städteverband
UEK      Unabhängige Expertenkommission
ZGB      Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210)
Inhaltsverzeichnis

A        ABSTRACT                                                         8

B        ÜBERSICHT ÜBER DIE MASSNAHMENVORSCHLÄGE DES
         RUNDEN TISCHES                                                   9

C        ALLGEMEINER TEIL                                                 11

1        EINLEITUNG                                                       11

2        AUSGANGSLAGE                                                     12
2.1      Wer sind die Betroffenen?                                        12
2.2      Wer sind die Verantwortlichen?                                   14
2.3      Zur Rechtslage vor 1981                                          15
2.4      Rechtsvergleich                                                  15
2.5      Nationale Gedenkanlässe                                          16
2.5.1    Anstalten Hindelbank                                             16
2.5.2    Kulturcasino Bern                                                17
2.6      Der Runde Tisch für die Opfer von fürsorgerischen
         Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981                 17
2.6.1    Einsetzung und Zusammensetzung des Runden Tisches                17
2.6.2    Auftrag des Runden Tisches                                       17
2.6.3    Weitere Gremien                                                  18

3        WEITERE ARBEITEN UND ENTWICKLUNGEN IM BEREICH
         FÜRSORGERISCHE ZWANGSMASSNAHMEN UND
         FREMDPLATZIERUNGEN                                               18
3.1      Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter
         Menschen                                                         18
3.2      Volksinitiative                                                  18
3.3      Beispiele aktueller kantonaler, kommunaler
         und zivilgesellschaftlicher Bestrebungen                         20
3.3.1    Organisationen von Betroffenen                                   20
3.3.2    Vereinigung «Groupe Soutien aux personnes abusées dans
         une relation d’autorité religieuse SAPEC»                        20
3.3.3    Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und
         -direktoren SODK                                                 21
3.3.4    Entschuldigung des Kantons Glarus und anderer Kantone            21
3.3.5    Spezialfonds des Kantons Waadt                                   21
3.3.6    Stadt Bern                                                       21
3.3.7    Schweizerischer Städteverband und Schweizerischer
         Gemeindeverband                                                  22
3.3.8    Kirchen                                                          22
3.3.9    Klöster und Orden: Beispiel Fischingen                           23
3.3.10   Integras, Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik
         sowie CURAVIVA Schweiz                                           24
3.3.11   Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF                   24
3.3.12   Wissenschaftliche Vorarbeiten und Forschung                      24
3.4      Parlamentarische Gruppe für fürsorgerische Zwangsmassnahmen      25
D       BEREITS GETROFFENE MASSNAHMEN UND
        MASSNAHMENVORSCHLÄGE DES RUNDEN TISCHES                          26

1       ANERKENNUNG DES UNRECHTS                                         26
1.1     Allgemeines                                                      26
1.2     Bereits getroffene Massnahmen                                    26
1.3     Massnahmenvorschlag: Mahnmal/Denkmal/Gedenkstätte                27

2       BERATUNG UND BETREUUNG                                           27
2.1     Allgemeines                                                      27
2.2     Bereits getroffene Massnahmen: Schaffung und Tätigkeit
        der Anlaufstellen                                                27
2.3     Massnahmenvorschläge                                             28
2.3.1   Finanzierung einer gemeinsamen Plattform für Suchdienste         28
2.3.2   Anpassung des Opferhilfegesetzes                                 30

3       AKTENEINSICHT / AKTENSICHERUNG /
        BESTREITUNGSVERMERKE                                             30
3.1     Allgemeines                                                      30
3.2     Bereits getroffene Massnahmen                                    30
3.2.1   Sensibilisierung der und Unterstützung durch die Staatsarchive   30
3.2.2   Insbesondere: Akteneinsicht im Verhältnis
        zum Adoptionsgeheimnis                                           32
3.2.3   Empfehlungen zur Aktensicherung (2010 und 2013)                  32
3.3     Massnahmenvorschläge                                             32
3.3.1   Sensibilisierung der Archive                                     32
3.3.2   Bestreitungsvermerke                                             33
3.3.3   Gesetzliche Regelung der Archivierung                            33
3.3.4   Lockerung des Adoptionsgeheimnisses                              33

4       FINANZIELLE LEISTUNGEN                                           34
4.1     Allgemeines                                                      34
4.2     Bereits getroffene Massnahme: Soforthilfe                        34
4.3     Massnahmenvorschläge                                             36
4.3.1   Solidaritätsfonds                                                36
4.3.2   Zuschlag zur AHV-Rente                                           37
4.3.3   Weitere finanzielle Massnahmen                                   38
        a Ergänzungen zur Soforthilfe                                    38
        b Massnahmen im Bereich der IV                                   38
        c Spezielle Regelung im Betreibungsrecht                         38
        d Berücksichtigung von Gesuchen um Steuererlass                  38
        e Generalabonnement SBB zweiter Klasse auf Lebzeiten             39

5       WISSENSCHAFTLICHE AUFARBEITUNG                                   39
5.1     Allgemeines                                                      39
5.2     Einsitznahme von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
        am Runden Tisch                                                  39
5.3     Bereits getroffene Massnahmen                                    40
5.3.1   Bericht zuhanden des Bundesamtes für Justiz
        «Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte
        in Sachen Verding- und Heimkinder»                               40
5.3.2   Rechtsvergleichendes Gutachten SIR                               40
5.4     Massnahmenvorschlag: Nationales Forschungsprogramm               40
6       ÖFFENTLICHKEITSARBEIT / GESELLSCHAFTSPOLITISCHE
        SENSIBILISIERUNG                                             42
6.1     Allgemeines                                                  42
6.2     Bereits getroffene Massnahmen                                43
6.3     Massnahmenvorschläge                                         43
6.3.1   Ohne neue Gesetzesgrundlagen mögliche Massnahmen             43
        a Wissens- und Kulturvermittlung                             43
        b Bildung                                                    44
        c Sonderbriefmarke und Gedenkmünze                           44
        d Information im Straf- und Massnahmenvollzug                46
        e Entwicklung eines Konzepts für die Öffentlichkeitsarbeit   46
6.3.2   Strafbarkeit der Verspottung und Verunglimpfung von
        Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.                 46

7       ORGANISATORISCHE MASSNAHMEN                                  46
7.1     Allgemeines                                                  46
7.2     Bereits getroffene Massnahmen                                47
7.3     Massnahmenvorschläge                                         48
7.3.1   Weiterführung des Runden Tisches und Funktionen
        des Delegierten                                              48
7.3.2   Weiterführung des Betroffenenforums                          48
7.3.3   Unterstützung der Selbsthilfe der Betroffenen                48

E       GESAMTWÜRDIGUNG UND AUSBLICK                                 50

F       AUFLISTUNG VERFÜGBARER DOKUMENTE                             53

G       WEITERFÜHRENDE HINWEISE UND LINKS                            54

H       LISTE DER AM RUNDEN TISCH BETEILIGTEN                        55
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

A   Abstract

    Die vor 1981 getroffenen fürsorgerischen Zwangs-      Mit dem vorliegenden Bericht und der Verabschie-
    massnahmen gegenüber Jugendlichen und Erwach-         dung eines Massnahmenkatalogs zuhanden der
    senen sowie die Fremdplatzierungen von Kindern        Entscheidungsträger in der Politik und in verschie-
    und Jugendlichen sind ein dunkles Kapitel der         denen Institutionen schliesst der Runde Tisch ein
    schweizerischen Sozialgeschichte. Viele unter uns     Jahr nach seiner Einsetzung einen ersten, sehr wich-
    lebende Mitmenschen leiden nach wie vor schwer        tigen Teil seiner Arbeiten ab. Der Runde Tisch hat
    unter dem Unrecht und Leid, das sie erfahren ha-      bereits mehrere wichtige Massnahmen getroffen,
    ben. Die Thematik ist noch kaum wissenschaftlich      eingeleitet oder unterstützt: So wurden in den Kan-
    erforscht. Eine umfassende politische und gesell-     tonen Anlaufstellen aufgebaut, die den Betroffenen
    schaftliche Aufarbeitung erfolgte bisher nur teil-    beratend und unterstützend zur Seite stehen. Wei-
    weise (so z.B. bei den Kindern der Landstrasse und    ter wurden Empfehlungen betreffend die Aktensi-
    den Zwangssterilisierungen).                          cherung und den Aktenzugang erlassen sowie ein
                                                          Soforthilfefonds für Opfer von fürsorgerischen
    In jüngerer Zeit drang dieses Thema vermehrt ins      Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ge-
    Bewusstsein der Öffentlichkeit. Verschiedene Ver-     schaffen, die sich aktuell in schwierigen finanziellen
    anstaltungen, Ausstellungen und Gedenkanlässe         Verhältnissen befinden.
    haben das Leiden der Opfer und den gesellschaftli-
    chen Kontext thematisiert, und es wurde versucht,     Die vom Runden Tisch im Bericht vorgeschlagenen
    erste Schritte hin zu einer Aussöhnung zu ermögli-    weiteren Massnahmen betreffen die Anerkennung
    chen. Auf nationaler Ebene folgten nach längerem      des Unrechts, die Öffentlichkeitsarbeit und organi-
    Stillstand Gedenkanlässe in den Anstalten Hindel-     satorische Vorkehrungen. Wichtige Vorschläge be-
    bank (2010) für die administrativ versorgten Men-     treffen sodann finanzielle Leistungen sowie die wis-
    schen und im Kulturcasino Bern (2013) für alle        senschaftliche Aufarbeitung. Die Realisierung
    Gruppen von Betroffenen.                              einzelner Massnahmenvorschläge, namentlich für fi-
                                                          nanzielle Leistungen, erfordert die Schaffung ge-
    Vor diesem Hintergrund wurde im Juni 2013 von         setzlicher Grundlagen. Andere wiederum, wie etwa
    Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorstehe-       die Lancierung eines Nationalen Forschungspro-
    rin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeideparte-   gramms zur wissenschaftlichen Aufarbeitung sowie
    mentes, ein Runder Tisch eingesetzt. Dieser Runde     die Massnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlich-
    Tisch hat den Auftrag, eine umfassende Aufarbei-      keit, können auch ohne neue Gesetzesgrundlagen
    tung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und         realisiert werden.
    Fremdplatzierungen vor 1981 vorzubereiten und in
    die Wege zu leiten. Am Runden Tisch nehmen pari-      Die Arbeiten des Runden Tisches und was daraus
    tätisch betroffene Personen und Vertreter und Ver-    für die Betroffenen sowie für die ganze Schweiz
    treterinnen von Betroffenenorganisationen sowie       entstehen kann, bieten eine historische Chance,
    von interessierten Behörden, Institutionen und Or-    dieses schwierige Kapitel aufzuarbeiten und gleich-
    ganisationen teil. Um weiteren Betroffenen zu er-     zeitig dazu beizutragen, dass sich solches Unrecht
    möglichen, sich mit ihren Anliegen in die laufenden   nicht wiederholt.
    Arbeiten des Runden Tisches einzubringen, wurde
    zudem ein Betroffenenforum ins Leben gerufen.

    8
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

B	Übersicht über die Massnahmen-
   vorschläge des Runden Tisches

    1. Anerkennung des Unrechts                                 prüfen, ob und wie bei Adoptionen bereits
    Der Runde Tisch schlägt vor, für alle Opfer von für-         vor der Inkraftsetzung der neuen Regelung
    sorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplat-                 eine Kontaktnahme ermöglicht werden kann.
    zierungen an Orten, die eine besondere Bedeutung
    haben, ein Mahn- bzw. Denkmal oder eine Ge-             4. Finanzielle Leistungen
    denkstätte zu errichten. Mindestens ein Mahn-           4.1 Der Runde Tisch schlägt vor, substanzielle fi-
    oder Denkmal bzw. eine Gedenkstätte soll von ge-             nanzielle Leistungen zugunsten der Opfer von
    samtschweizerischer Bedeutung sein.                          fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und
                                                                 Fremdplatzierungen vorzusehen. Er schlägt
    2. Beratung und Betreuung                                   vor, die gesetzliche Grundlage für einen Soli-
    2.1 Der Runde Tisch schlägt die finanzielle Unter-          daritätsfonds zu schaffen. Einzig der SBV will
         stützung einer gemeinsamen Plattform für                die finanziellen Leistungen auf Härtefälle be-
         Suchdienste vor.                                        schränken.
    2.2 Der Runde Tisch schlägt die Ausdehnung des         4.2 Der Runde Tisch schlägt vor, in Ergänzung
         Geltungsbereichs des Opferhilfegesetzes auf             zum vorgeschlagenen Solidaritätsfonds eine
         die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen              gesetzliche Grundlage für die Ausrichtung ei-
         und Fremdplatzierungen im Hinblick auf die              nes Zuschlags zur AHV-Rente an alle renten-
         Unterstützung durch die Beratungsstellen und            beziehenden Opfer zu schaffen. Einzig der
         die Kostenbeiträge vor. Dabei ist auch zu prü-          SBV will diesen Zuschlag auf Härtefälle be-
         fen, ob der zeitliche Geltungsbereich zu präzi-         schränken.
         sieren ist.                                        4.3 Der Runde Tisch schlägt vor, die Soforthilfe bei
                                                                 der Berechnung der Sozialhilfe, der Sozialversi-
    3. Akteneinsicht / Aktensicherung /                         cherungsleistungen und weiterer Sozialleistun-
        Bestreitungsvermerke                                     gen (z.B. Bedarfsleistungen) sowie bei der
    3.1 Der Runde Tisch schlägt vor, dass die Verant-           Steuerveranlagung nicht als anrechenbares Ein-
         wortlichen der kantonalen, kommunalen und               kommen zu berücksichtigen.
         privaten sowie insbesondere der kirchlichen        4.4 Der Runde Tisch schlägt vor, dass die kantona-
         Archive weiterhin sensibilisiert und in Bezug           len Behörden angehalten werden, ihren Er-
         auf Aktenführung, Aktensicherung und Ge-                messensspielraum zu nutzen und die Sofort-
         währung von Akteneinsicht durch die Staats-             hilfe als unpfändbaren Vermögenswert zu
         archive unterstützt werden. Die Verantwortli-           betrachten.
         chen jener Archive, zu denen bislang kein          4.5 Der Runde Tisch schlägt vor, die besondere Si-
         Zugang bestand, sollen den Betroffenen                  tuation von Opfern fürsorgerischer Zwangs-
         Akteneinsicht gewähren.                                 massnahmen und Fremdplatzierungen bei der
    3.2 Der Runde Tisch schlägt vor, dass die bisherige         Überprüfung und Festsetzung von Voll- und
         Praxis bei der Anbringung von Bestreitungs-             Teilrenten der IV zu berücksichtigen.
         vermerken weitergeführt wird, und dass die         4.6 Der Runde Tisch schlägt vor, die Betreibungs-
         Archivmitarbeitenden die Betroffenen bei der            und Konkursämter betreffend Nichtpfändbar-
         Formulierung von Bestreitungsvermerken und              keit der Leistungen der Soforthilfe zu infor-
         Gegendarstellungen weiterhin unterstützen.              mieren sowie die gesetzliche Grundlage für
    3.3 Der Runde Tisch schlägt vor, die im Rehabilitie-        den Solidaritätsfonds so auszugestalten, dass
         rungsgesetz vorgesehenen Vorschriften betref-           eine Pfändung von finanziellen Leistungen an
         fend Archivierung in geeigneter Form in die zu          Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnah-
         schaffende Rechtsgrundlage für die Rehabilitie-         men und Fremdplatzierungen ausgeschlossen
         rung aller Gruppen von Betroffenen des Run-             wird.
         den Tisches zu übernehmen.                         4.7 Der Runde Tisch schlägt vor, bei der Beurtei-
    3.4 Der Runde Tisch schlägt vor, der Änderung               lung von Gesuchen um Steuererlass von Opfern
         des Zivilgesetzbuches (Adoptionsrecht) er-              mit tiefen Einkommen den Ermessensspielraum
         höhte Priorität einzuräumen. Es ist zudem zu            zu ihren Gunsten auszuüben.

    9
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

4.8 Eine Minderheit des Runden Tisches schlägt        6.4 Der Runde Tisch schlägt vor, dass sich auch
     vor, den Opfern von fürsorgerischen Zwangs-            die zukünftigen Fachpersonen insbesondere
     massnahmen und Fremdplatzierungen auf                  im Sozialbereich sowie in der Rechtswissen-
     Lebzeiten ein GA 2. Klasse zu finanzieren.             schaft im Rahmen der Berufsbildung mit dem
                                                            Thema fürsorgerischer Zwangsmassnahmen
5. Wissenschaftliche Aufarbeitung                          und Fremdplatzierungen auseinandersetzen.
5.1 Der Runde Tisch schlägt vor, den Schweizeri-      6.5 Der Runde Tisch schlägt vor, eine Sonderbrief-
     schen Nationalfonds mit der Durchführung ei-           marke mit Zuschlag zu Gunsten der Opfer von
     nes Nationalen Forschungsprogramms zum                 fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und
     Thema fürsorgerische Zwangsmassnahmen und              Fremdplatzierungen herauszugeben und eine
     Fremdplatzierungen zu beauftragen. Für den             Gedenkmünze für die Opfer prägen zu lassen.
     Fall, dass kein solches Programm zustande         6.6 Der Runde Tisch schlägt vor, sicherzustellen,
     kommen sollte, schlägt der Runde Tisch vor,            dass auch betroffene Personen im Straf- und
     durch eine Gesetzesänderung den Auftrag der            Massnahmenvollzug informiert werden.
     Unabhängigen Expertenkommission gemäss            6.7 Der Runde Tisch schlägt vor, ein Konzept für
     Artikel 5 des Bundesgesetzes zur Rehabilitie-          die Öffentlichkeitsarbeit zu entwickeln. Dazu
     rung administrativ versorgter Menschen im              gehört, dass die Website www.fszm.ch lau-
     Sinne einer umfassenden Aufarbeitung zu er-            fend aktualisiert wird.
     weitern.                                          6.8 Der Runde Tisch schlägt vor, zu prüfen, ob eine
5.2 Der Koordination zwischen Unabhängiger Ex-             Änderung des Strafgesetzbuchs zur Verhinde-
     pertenkommission und Nationalem For-                   rung und Bestrafung der Verspottung und Ver-
     schungsprogramm sowie der nachhaltigen                 unglimpfung der Opfer von fürsorgerischen
     Vermittlung soll besondere Beachtung ge-               Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen
     schenkt werden. Im Rahmen der Forschungs-              vor 1981 notwendig ist.
     projekte sollen Anlaufstellen für Zeitzeugin-
     nen und Zeitzeugen geschaffen werden, und         7. Organisatorische Massnahmen
     es sollen auch die Psychiatriegeschichte, die     7.1 Der Runde Tisch schlägt vor, den Runden Tisch
     strafrechtliche Unterbringung, die Nachfolge-          und die Funktionen des Delegierten vorläufig
     generation / Zweitgeneration sowie die Medi-           weiterzuführen.
     kamentenversuche berücksichtigt werden.           7.2 Der Runde Tisch schlägt vor, das Betroffenen-
                                                            forum vorläufig weiterzuführen.
6. Öffentlichkeitsarbeit /                            7.3 Der Runde Tisch schlägt vor, die Selbsthilfe der
    gesellschaftspolitische Sensibilisierung                Betroffenen zu fördern. Dazu sollen insbeson-
6.1 Der Runde Tisch schlägt vor, die Ergebnisse            dere in den sieben Grossregionen der Schweiz
     der wissenschaftlichen Forschung für die Sen-          unter Berücksichtigung der ländlichen Regio-
     sibilisierung der Öffentlichkeit aufzubereiten.        nen sogenannte Selbsthilfezentren oder
6.2 Der Runde Tisch schlägt vor, die Ausstellung           Selbsthilfegruppen eingerichtet werden. Be-
     «Enfances volées – Verdingkinder reden» und            troffene von fürsorgerischen Zwangsmassnah-
     eine allfällige Aktualisierung und Erweiterung         men und Fremdplatzierungen sollen mit staat-
     dieser Ausstellung finanziell zu unterstützen.         licher Unterstützung Plattformen einrichten
6.3 Der Runde Tisch schlägt vor, das Thema in              können, die ihnen Hilfe zur Selbsthilfe bieten
     den Schulbüchern und in anderen Lehrmitteln            (z.B. Informations- und Erfahrungsaustausch,
     zu behandeln. Er schlägt zudem vor, die Schu-          Massnahmen zur Entfaltung und Entwicklung
     len aufzufordern, Betroffene einzuladen, da-           von persönlichen und beruflichen Ressourcen).
     mit sie über ihr Schicksal und ihre Erfahrun-     7.4 Der Runde Tisch schlägt vor, Projekte von Be-
     gen berichten können.                                  troffenen bzw. von deren Organisationen fi-
                                                            nanziell zu unterstützen.

10
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

C   Allgemeiner Teil

    1 Einleitung                                          der Heimverbände die betroffenen Personen um
    Die vor 1981 getroffenen fürsorgerischen Zwangs-       Entschuldigung für das ihnen angetane Unrecht ge-
    massnahmen gegenüber Jugendlichen und Erwach-          beten haben.
    senen sowie die Fremdplatzierungen von Kindern
    und Jugendlichen, die bis weit in die zweite Hälfte    Im Anschluss an den Gedenkanlass vom 11. April
    des 20. Jahrhunderts erfolgten, sind ein düsteres      2013 erteilte Bundesrätin Simonetta Sommaruga
    Kapitel der schweizerischen Sozialgeschichte. Dieses   dem eingesetzten Delegierten für die Opfer von
    Kapitel ist noch kaum wissenschaftlich erforscht       fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremd-
    und seine politische und gesellschaftliche Bearbei-    platzierungen am 31. Mai 2013 den Auftrag, Be-
    tung und Verarbeitung steht noch weitgehend aus.       troffene und ihre Vertreter und Vertreterinnen so-
    Auf politischer Ebene gab es zwar in den letzten       wie Vertreterinnen und Vertreter der Behörden
    drei Jahrzehnten einzelne, zum Teil erfolgreiche,      (Bund, Kantone, Städte und Gemeinden), der
    zum Teil aber auch erfolglose Anläufe zu Teilaspek-    Heime, der Kirchen und des Bauernverbands zu ei-
    ten der Problematik (so z.B. betreffend die Kinder     nem Runden Tisch (siehe die Zusammensetzung un-
    der Landstrasse und die Zwangssterilisierungen),       ter Buchstabe H) einzuladen, um gemeinsam die
    aber eine umfassende Aufarbeitung ist bislang nicht    Aufarbeitung der Fragen in Zusammenhang mit den
    erfolgt.                                               fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremd-
                                                           platzierungen in die Wege zu leiten und Lösungs-
    Es ist insbesondere das Verdienst vieler direkt von    vorschläge zu entwickeln. Diese Lösungsvorschläge
    fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremd-            sollten zunächst bis Ende 2014, spätestens aber bis
    platzierungen betroffener Personen wie Ursula          Sommer 2015 vorliegen. Später ist diese Frist auf
    Biondi, Louise Buchard-Molténi, Daniel Cevey,          Sommer 2014 verkürzt worden.
    Jean-Louis Claude, Bernadette Gächter, Arthur Ho-
    negger und Heidi Meichtry, von einzelnen Historike-    Der Runde Tisch für die Opfer von fürsorgerischen
    rinnen und Historikern sowie von Sozialwissen-         Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen
    schaftlern wie Pierre Avvanzino, Markus Furrer,        (nachfolgend: Runder Tisch) hat am 13. Juni 2013
    Thomas Huonker, Marco Leuenberger, Ueli Mäder          das erste Mal getagt und danach an sechs weiteren
    oder Tanja Rietmann und Loretta Seglias, von Me-       ganz- und halbtägigen Sitzungen den vorliegenden
    dienschaffenden wie Beat Bieri oder Dominique          Bericht erarbeitet. Er hat sich zunächst mit dem
    Strebel, von Kulturschaffenden wie Markus Imbo-        Aufbau von Anlauf- und Beratungsstellen in den
    den (Der Verdingbub, Schweiz 2012), von Kulturver-     Kantonen sowie mit Fragen der Aktensicherung
    mittlerinnen und -vermittlern wie Jacqueline Häus-     und des Archivzugangs befasst. Er hat sich anschlies-
    ler, Heidi Huber und Basil Rogger (Verein Geraubte     send eingehend mit der Frage allfälliger finanzieller
    Kindheit, Wanderausstellung «Enfances volées –         Leistungen zugunsten der betroffenen Personen
    Verdingkinder reden» 2009–2016) und von Politike-      auseinandergesetzt und insbesondere in Zusam-
    rinnen und Politikern wie Jacqueline Fehr, Paul        menarbeit mit der Konferenz der kantonalen Sozial-
    Rechsteiner und Rosmarie Zapfl, dass diese Proble-     direktorinnen und -direktoren SODK und der
    matik schliesslich doch zu einem politischen Thema     Glückskette einen Soforthilfefonds geschaffen, der
    auf Bundesebene geworden ist. Diese Aufzählung         auf freiwilligen Zahlungen der Kantone und Privater
    ist lediglich ein Versuch einer Würdigung des Enga-    beruht. Dieser Soforthilfefonds ermöglicht es, Op-
    gements der Personen, die sich für diese Thematik      fern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und
    besonders eingesetzt haben. Sie ist in keiner Weise    Fremdplatzierungen, die sich heute in einer prekä-
    abschliessend und erfolgt im Bewusstsein, dass sich    ren finanziellen Situation befinden, rasch finanzielle
    zahlreiche weitere Menschen unermüdlich für die        Unterstützung zukommen zu lassen. Die Sitzungen
    Anliegen der Betroffenen von fürsorgerischen           vom Juni und Juli 2014 dienten der Ausarbeitung
    Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ein-           des Berichts mit weiteren Massnahmenvorschlägen
    gesetzt und verdient gemacht haben. Massgeblich        für die Zukunft. Für die Realisierung verschiedener
    beigetragen haben auch die beiden Gedenkanlässe        Massnahmenvorschläge bedarf es der Schaffung
    vom 10. September 2010 in Hindelbank und vom           von gesetzlichen Grundlagen. Der Bericht ist des-
    11. April 2013 in Bern, an denen Vertreterinnen und    halb auch eine Basis für die Erteilung von Aufträgen
    Vertreter des Bundes, der Kantone, der Städte und      zur Ausarbeitung einer entsprechenden Gesetzes-
    Gemeinden, der Kirchen, des Bauernverbandes und        vorlage.

    11
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

Die Arbeiten des Runden Tisches waren geprägt           Neben den Verdingkindern, die mehrheitlich bei
von der Bereitschaft der Beteiligten zu einer guten,    Bauernfamilien untergebracht waren, geht es bei
konstruktiven Zusammenarbeit und sie waren ge-          den Fremdplatzierungen auch um Kinder, die in sta-
tragen von der gemeinsamen Überzeugung, dass            tionären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
eine umfassende Aufarbeitung der Problematik un-        aufwuchsen, sowie um Pflege- und Kostkinder. Sol-
abdingbar ist. Es geht darum, das Ausmass, die Art      che Fremdplatzierungen erfolgten zum Teil durch
und die Bedeutung der Probleme zu erkennen, das         Behörden, zum Teil unter Mitwirkung oder zumin-
von den Opfern erlittene Leid und Unrecht zu aner-      dest im Wissen von Behörden und zum Teil auf pri-
kennen und zu berücksichtigen sowie Schlussfolge-       vater Basis. Die Gründe dafür waren zum Teil wirt-
rungen für die Zukunft zu ziehen.                       schaftlicher Art (Armut), zum Teil waren die
                                                        betroffenen Kinder und Jugendlichen Waisen oder
Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist für die Op-      Halbwaisen oder unehelich Geborene, zum Teil wa-
fer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ein            ren die Eltern geschieden oder die Kinder und Ju-
schmerzhafter Prozess. Die Zwangsmassnahmen             gendlichen hatten Anpassungsschwierigkeiten in
haben ihr Leben und dasjenige ihrer Angehörigen         der Schule oder in der Ausbildung.
geprägt. Das Geschehene kann nicht mehr rück-
gängig gemacht werden. Gerade deshalb ist es von        Bis 1981 konnten Verwaltungsbehörden Jugendli-
zentraler Bedeutung, dass die heutige Gesellschaft      che und Erwachsene zur «Nacherziehung» oder zur
das Geschehene historisch aufarbeitet und dass die      «Arbeitserziehung» in geschlossene Institutionen
Betroffenen vollumfänglich rehabilitiert werden. Die    einweisen (administrative Versorgungen). Es erfolg-
gesellschaftliche Aufarbeitung dieses Kapitels der      ten auch Einweisungen in geschlossene psychiatri-
schweizerischen Sozialgeschichte ist deshalb aus der    sche Anstalten. In zahlreichen Fällen erfolgte sogar
Sicht des Runden Tisches wichtig, ja unerlässlich.      eine Einweisung in eine Strafanstalt, auch wenn die
Dies nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für    betroffene Person keine Straftat begangen hatte,
die Schweiz als Ganzes. Denn die Stärke eines Vol-      sondern bloss durch ihr Verhalten – gemessen an
kes misst sich – wie es in der Präambel der Bundes-     den damaligen Moralvorstellungen – auffiel oder
verfassung heisst – am Wohl der Schwachen. Die          soziale Missbilligung bewirkte. Bei Männern und
Schweiz hat ein elementares Interesse daran, dieses     Frauen wurden teilweise unterschiedliche Verhal-
unrühmliche Kapitel ihrer Sozialgeschichte umfas-       tensweisen sanktioniert und die Entscheide von Be-
send aufzuarbeiten und die daraus gewonnenen Er-        hörden waren von Geschlechterstereotypen ge-
kenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis    prägt. Männer wurden vor allem administrativ
zu bringen. Die Anerkennung begangenen Un-              versorgt, weil sie keiner geregelten Arbeit nachgin-
rechts, der Wille zur Aufarbeitung der Vergangen-       gen, ihre Stelle häufig wechselten oder «trunksüch-
heit und die Bereitschaft zur Entstigmatisierung, zur   tig» waren. Frauen wurden weggesperrt, weil ihr
Aussöhnung sowie zur Solidarität mit den Opfern         Verhalten als sozial abweichend von der gesell-
auch in der Form von finanziellen Leistungen sind       schaftlichen (Rollen-)Norm empfunden wurde, etwa
Ausdruck der Stärke eines Gemeinwesens.                 weil sie «öffentliches Ärgernis» erregten oder als
                                                        minderjährige Frauen Kontakt mit älteren oder ver-
                                                        heirateten Männern hatten. Auch voreheliche
2 Ausgangslage                                        Schwangerschaft (von Minderjährigen) war ein häu-
                                                        figer Grund für eine administrative Versorgung.
2.1 Wer sind die Betroffenen?
In den Diskussionen über die fürsorgerischen            Zu den Betroffenen zählen auch Personen, die aus
Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen stan-           sozialhygienischen, sozialen oder wirtschaftlichen
den bisher vor allem zwei Betroffenengruppen im         Gründen zwangssterilisiert oder zwangskastriert
Vordergrund, nämlich die Verding-, Heim- und Pfle-      wurden oder bei denen eine Zwangsabtreibung
gekinder (Fremdplatzierte) einerseits und die admi-     vorgenommen wurde. Diese Eingriffe in die Persön-
nistrativ versorgten Menschen andererseits. Eine        lichkeits- und Reproduktionsrechte wurden zwar in
umfassende Aufarbeitung erfordert jedoch den Ein-       der Regel mit der formalen Einwilligung der betrof-
bezug verschiedener weiterer Gruppen von Betrof-        fenen Personen durchgeführt, aber in vielen Fällen
fenen.                                                  erfolgte diese «Einwilligung» unter Druck.

12
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

     Testimonial Rosalie Müller
     Als ich 17 Jahre jung meinem Schatz, 24 Jahre alt, mit voller Freude von der Schwangerschaft er-
     zählte, war dieser alles andere als erfreut. Es stellte sich heraus: Mein Verlobter hatte eine Frau und
     ein Kind, die er auf keinen Fall für mich verlassen würde. Schon da hatte ich das Gefühl der Macht-
     losigkeit und ausgeliefert zu sein. Wie dumm ich war, ihm blind zu glauben. Aber das war nichts im
     Vergleich zu dem, was noch folgen würde.
     Meine Eltern verachteten mich von nun an und schickten mich nach Thun ins Mutter - Kind - Heim
     Hohmad. Im März 1963 gebar ich meinen Sohn Mario. Er war mein Sonnenschein und alles, was
     ich noch hatte. Um die Geburt abzubezahlen, half ich im Heim in der Küche und konnte so meinen
     Sonnenschein pflegen. Diesen 6. April vergesse ich nie mehr. Ich komme in das Säuglingszimmer
     und in Marios Bettchen lag ein anderer Junge. Auf meine Anfrage, wo mein Bub sei, sagte man mir
     in einem ganz normalen Ton: Die Adoptiveltern haben ihn abgeholt. Nach meinem Wutanfall legte
     man mir die Papiere vor, welche meine Eltern unterschrieben hatten. Da ich noch nicht 18 Jahre alt
     war, konnte ich nichts dagegen tun. Mein Vertrauen in die Menschheit und in die Gerechtigkeit
     ging an diesem Tag verloren. Meine Kraft und Gesundheit sind während den jahrelangen Streite-
     reien mit der Vormundschaftsbehörde in Mitleidenschaft gekommen. Mein Vertrauen in eine Bezie-
     hung zerbrochen. Bis heute weiss ich nicht, wo Mario hinkam! Wie es ihm geht! Wie er aussieht!
     Was aus ihm geworden ist! Wenn ich mir die Männer ansehe, die meinen Weg kreuzen, dann
     denke ich: Ist das mein Mario? Sind das meine Enkelkinder? Wenn ich ein junges, strahlendes
     schwangeres Mädchen sehe, dann überkommt mich die Wut auf das System der damaligen Zeit.
     Niemand hat das Recht, über ein Neugeborenes zu bestimmen, ausser die eigene Mutter.

Eine Einwilligung unter Druck seitens der Behörden         Eltern wurden bis 1973 ihre Kinder weggenommen,
erfolgte in vielen Fällen auch, wenn minderjährige         von ihren Geschwistern isoliert und nicht-jenischen
oder ledige Frauen dazu gebracht wurden, ihre              Familien zur Adoption freigegeben oder sonst
neugeborenen Kinder zur Adoption freizugeben               fremdplatziert.
(«Zwangsadoptionen»). In diesen Fällen sind sowohl         Eine Abgrenzung zwischen den verschiedenen Ka-
die Mutter als auch das Kind Betroffene. Zu                tegorien von Betroffenen ist in vielen Fällen nicht
Zwangsadoptionen kam es nicht ausschliesslich bei          möglich oder zumindest nicht sinnvoll: die gleiche
Neugeborenen, sondern auch im (späteren) Kindes-           Person kann in mehrfacher Weise von fürsorgeri-
alter. Für diese Kinder stellte sich die Situation inso-   schen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierun-
fern anders dar, als dass sie die Adoption oft             gen betroffen sein: nach der Unterbringung in ei-
schmerzhaft miterlebten.                                   nem Kinderheim erfolgte manchmal die Verdingung
                                                           bei einer Bauernfamilie; der Wegnahme eines Kin-
Zu erwähnen sind im Weiteren auch die Jenischen.           des folgte manchmal eine Zwangssterilisierung und/
Sowohl fahrenden wie auch sesshaften jenischen             oder eine administrative Versorgung.

13
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

Betroffen von den Folgen fürsorgerischer Zwangs-        Schule sowie die Kinder- und Jugendheime zusam-
massnahmen und Fremdplatzierungen sind – in ei-         menwirkten, so dass es zu diesem Unrecht kommen
nem weiteren Sinn – darüber hinaus auch Angehö-         konnte. Zu prüfen ist auch, wie bestimmte gesell-
rige, insbesondere die Kinder und die Partnerinnen      schaftliche Moralvorstellungen dazu führten, dass
und Partner von direkt betroffenen Personen             Zwangsmassnahmen als legitime Erziehungsstrate-
[2. Generation («Transgenerationale Weitergabe          gie erachtet wurden. Es ist an dieser Stelle zu beto-
von Traumata»); andere nahestehende Personen].          nen, dass die von einer solchen Massnahme Betrof-
                                                        fenen selbst keine Schuld tragen. Die Gesellschaft,
Die Zahl der heute noch lebenden Betroffenen ist        ihre Institutionen und Einrichtungen müssen sich
nicht ausreichend bekannt. Es gibt verschiedene         den Folgen ihres früheren Handelns stellen und Ver-
Schätzungen, die allerdings weit auseinanderliegen      antwortung übernehmen. Selbstverständlich sind
und deshalb kaum als einigermassen gesichert gel-       auch die damaligen gesellschaftlichen, sozialen und
ten können. Es wird Aufgabe der wissenschaftlichen      wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen.
Aufarbeitung sein, diesbezüglich etwas mehr Licht
ins Dunkel zu bringen. Der Runde Tisch geht davon       Nicht alle Personen, die Verantwortung für fürsorge-
aus, dass mit etwa 15’000 bis 25’000 noch leben-        rische Zwangsmassnahmen oder für fremdplatzierte
den betroffenen Personen gerechnet werden muss.         Kinder und Jugendliche trugen, haben Unrecht ge-
                                                        tan. Einige von ihnen haben im Einklang mit dem
Unbestritten ist, dass nicht alle Personen, die von     damals geltenden Recht und mit den damaligen ge-
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen              sellschaftlichen sozialen und wirtschaftlichen Gege-
waren oder die in stationären Einrichtungen der         benheiten gehandelt. Viele von ihnen haben sich
Kinder- und Jugendhilfe, bei Pflege- oder Adopti-       mit grossem Engagement für das Wohl der ihnen
onsfamilien oder bei Bauern fremdplatziert waren,       anvertrauten Menschen eingesetzt. Manche waren
schlecht behandelt worden sind. Opfer dieser Mass-      guten Willens, aber persönlich und beruflich unge-
nahmen sind Personen, deren persönliche Integrität      eignet oder überfordert. Viele haben weggeschaut
verletzt worden ist, sei es durch physische oder psy-   und nichts getan, obwohl sie etwas hätten tun kön-
chische Gewalt, sexuelle Übergriffe, wirtschaftliche    nen und auch hätten tun müssen, etwa indem sie
Ausbeutung, durch unter Druck oder sogar ohne           bestehende Ermessensspielräume im Interesse des
Zustimmung vorgenommene Abtreibungen,                   Wohls von Kindern und Jugendlichen genutzt hät-
Zwangssterilisationen oder -kastrationen, durch         ten. Aber das Wohl der anvertrauten Kinder und Ju-
Zwangsadoptionen, Zwangsmedikation und Medi-            gendlichen war in vielen Fällen nicht das vordring-
kamentenversuche in Anstalten und stationären           lichste Anliegen der verantwortlichen Behörden.
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, durch        Neben gesellschaftlichen und moralischen Vorstel-
soziale Stigmatisierung sowie durch die aktive Be-      lungen haben finanzielle Überlegungen oft eine sehr
hinderung der persönlichen Entwicklung und Ent-         wichtige Rolle gespielt. Und einzelne Verantwortli-
faltung. Manche Opfer sind daran zerbrochen. Sehr       che haben sich auch unbestreitbares Fehlverhalten
viele leiden oder litten zeitlebens darunter.           zu Schulden kommen lassen oder sogar Straftaten
                                                        begangen. Zu gerichtlichen Verurteilungen kam es
2.2   Wer sind die Verantwortlichen?                   nur in sehr wenigen Fällen.
Wenn von Opfern und Betroffenen die Rede ist,
liegt es nahe, nach den Tätern, nach den Verant-        In manchen Fällen tragen auch Eltern und andere
wortlichen zu fragen. Dabei sind die individuelle       Verwandte der betroffenen Kinder und Jugendli-
und die strukturelle Ebene zu unterscheiden: Ver-       chen eine Mitverantwortung. Deshalb bedarf es ei-
antwortung tragen zum einen die einzelnen Indivi-       ner differenzierten Sicht, auf der Seite der Betroffe-
duen, die eine fürsorgerische Zwangsmassnahme           nen genau gleich wie auf der Seite der
oder Fremdplatzierung angeordnet oder vollzogen         Verantwortlichen. Diese differenzierte Sicht ergibt
oder ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt haben.        sich zum Teil schon aus den Lebensgeschichten der
Massgebend ist aber auch die institutionelle Ebene.     zahlreichen Betroffenen, die über ihr eigenes
Es wird vor allem die Aufgabe der wissenschaftli-       Schicksal berichtet haben; sie erfordert aber vor al-
chen Aufarbeitung sein, näher zu untersuchen, wie       lem auch umfassende und vertiefte wissenschaftli-
beteiligte Institutionen und Organisationen, d.h. na-   che Abklärungen.
mentlich der Staat, die Kirche, die Familie, die

14
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

2.3  Zur Rechtslage vor 1981                           ten (etwa mit Personen, in deren Reproduktions-
Die Rechtsgrundlagen, auf die sich die verschiede-      rechte eingegriffen wurde, mit Heim- und
nen seinerzeitigen fürsorgerischen Zwangsmassnah-       Verdingkindern, mit Jenischen). Daher spielt das Da-
men und Fremdplatzierungen abgestützt haben,            tum 1981 für diese anderen Betroffenengruppen
finden sich sowohl auf Bundes- als auch auf Kan-        nur insofern eine Rolle, als es ein Richtmass zur Ab-
tons- und Gemeindeebene. Vereinfachend können           grenzung von anderen Fällen abgibt, die jüngeren
dabei zivil-, straf- und armenrechtliche Erlasse        Datums sind und die den heutigen Rechtsmassstä-
(meist Gesetze, z.T. auch Verordnungen) unterschie-     ben grundsätzlich genügen. Dieses Richtmass soll
den werden, wobei die rechtsanwendenden Behör-          den notwendigen Spielraum belassen, um den Be-
den sich kaum um diese Trennung kümmerten, son-         sonderheiten einzelner Fälle in sinnvoller Weise
dern ihr Handeln z.B. zugleich zivilrechtlich und       Rechnung tragen zu können. Denn vor 1981 admi-
armenrechtlich begründeten bzw. abstützten. Die         nistrativ versorgte oder fremdplatzierte Menschen
Festlegung der Zuständigkeit der jeweiligen Voll-       verblieben vielfach bis in die 1990er Jahre oder län-
zugsbehörden war – soweit nicht das Bundesrecht         ger in den entsprechenden Institutionen.
spezielle Vorschriften enthielt – meistens vom kan-
tonalen Recht geregelt, manchmal auch vom Ge-           2.4   Rechtsvergleich
meinderecht.                                            Das Schweizerische Institut für Rechtsvergleichung
                                                        SIR hat im Auftrag des Runden Tisches ein Gutach-
Das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1907 (ZGB,       ten über die Aufarbeitung der fürsorgerischen
SR 210; das im Verlauf der Jahrzehnte mehrere           Zwangsmassnahmen, der Fremdplatzierungen oder
wichtige Revisionen erfuhr) deckte zahlreiche Sach-     vergleichbarer Sachverhalte erstellt (im Folgenden:
verhalte ab, mit denen sich der Runde Tisch heute       Gutachten). Eine Bezugsquelle des Gutachtens
befasst. Im ZGB waren bzw. sind heute etwa das          findet sich am Ende dieses Berichts (unter Buch-
Vormundschafts-, Adoptions- oder Kindesrecht ge-        stabe F). Das Gutachten enthält eine Auslegeord-
regelt. Die so genannten Jugendschutzbestimmun-         nung der Aufarbeitungsprozesse in ausgewählten
gen des ZGB bildeten bis 1976 den rechtlichen Rah-      Ländern Europas und in Übersee, in denen es Miss-
men für vorsorgliche Massnahmen, die Versorgung         stände gab, welche mit den in der Schweiz vollzo-
von Kindern durch vormundschaftliche Behörden           genen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und
sowie für den Entzug der elterlichen Gewalt und         Fremdplatzierungen mehr oder weniger vergleich-
die Bevormundung Unmündiger. Das damalige ZGB           bar sind. Der Fokus des Gutachtens ist auf den
ermöglichte auch Fremdplatzierungen durch die ei-       Vergleich der verschiedenen Massnahmen zur
genen Eltern. Daneben gab es zahlreiche kantonale       Aufarbeitung gerichtet. Dabei berücksichtigt das
Erlasse in verschiedensten Formen und Ausprägun-        Gutachten folgende Länder: Deutschland (Heimer-
gen, auf die sich die Vollzugsbehörden stützten. Zu     ziehung), Schweden (Zwangssterilisationen und
erwähnen sind hier insbesondere die kantonalen          Missstände in Kinderheimen), Norwegen und Irland
Armen- und Fürsorgegesetzgebungen, welche ad-           (Missstände in Kinderheimen), Australien (fürsorge-
ministrative Versorgungen ermöglichten.                 rische Massnahmen bei Kindern und Zwangsadopti-
                                                        onen) sowie den USA (North Carolina: Zwangssteri-
Der Runde Tisch deckt in zeitlicher Hinsicht im Prin-   lisationen).
zip nur fürsorgerische Zwangsmassnahmen und
Fremdplatzierungen ab, die vor 1981 stattgefunden       Obwohl sich die Ausgangslagen in den untersuch-
haben. Dieses Stichdatum bezieht sich auf das In-       ten Ländern und die Modalitäten der Aufarbeitung
krafttreten der Revision des ZGB zur fürsorgerischen    aufgrund der jeweiligen rechtlichen, gesellschaftli-
Freiheitsentziehung im Nachvollzug der von der          chen und politischen Faktoren unterscheiden, hat
Schweiz 1974 ratifizierten Europäischen Menschen-       das Gutachten verschiedene Elemente identifiziert,
rechtskonvention. Die Revision hatte zur Folge, dass    die allen Aufarbeitungsprozessen in der einen oder
administrative Versorgungen von Personen ab dem         anderen Form gemeinsam sind. So findet sich in al-
Datum des Inkrafttretens rechtlich nicht mehr zuläs-    len Ländern eine staatliche Untersuchung der Vor-
sig waren (in Einzelfällen wurde diese Praxis aber      fälle, bei der die Betroffenen in unterschiedlichem
noch über dieses Datum hinaus fortgeführt). Der         Umfang einbezogen werden. In allen untersuchten
Runde Tisch befasst sich aber auch mit anderen Be-      Ländern hat sich eine hohe politische Behörde ent-
troffenenkategorien als den administrativ Versorg-      schuldigt. Daneben sind viele weitere Massnahmen

15
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

getroffen worden (etwa solche im Hinblick auf ein       Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Kanto-
Gedenken an die seinerzeitigen Vorfälle und das er-     nen baten die ehemaligen administrativ versorgten
littene Unrecht, Beratungsangebote).                    Personen für die über Jahrzehnte angeordneten
                                                        Einweisungen um Entschuldigung und bedauerten
Dagegen zeichnet das Gutachten in Bezug auf die         das dadurch verursachte Leid. Für den Bund bat
Modalitäten zur finanziellen Wiedergutmachung ein       Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, damalige
eher uneinheitliches Bild. Bei den zugesprochenen       Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizei-
Summen liegt die Spannweite zwischen durch-             departements EJPD um Entschuldigung «dass Sie
schnittlich 5‘500 (bis max. 10’000) Euro in Deutsch-    ohne Gerichtsurteil zur Erziehung administrativ ver-
land und 300‘000 Euro in Irland für einzelne Aus-       sorgt wurden». Für die Kantone baten Regierungs-
nahmefälle. Grosse Unterschiede zwischen den            rat Hans Hollenstein als Vertreter der SODK, Ober-
einzelnen Ländern wurden hinsichtlich der Art der       richter Guido Marbet als Vertreter der Konferenz
Zumessung der Leistungen festgestellt. Die Spanne       der Kantone für Kinder- und Erwachsenenschutz
reicht hier vom einheitlichen Fixbetrag in Schweden     KOKES sowie Regierungsrat Hans-Jürg Käser als
über schematische Berechnungen in den meisten           Vertreter der kantonalen Justiz- und Polizeidirekto-
Staaten bis zur individuellen Zumessung in Deutsch-     rInnen KKJPD um Entschuldigung. Für die betroffe-
land. In Bezug auf die Definition der Anspruchsvor-     nen Frauen sprachen Ursula Biondi, Rita Werder-
aussetzungen für finanzielle Leistungen stimmen         Schreier und Gina Rubeli am Gedenkanlass.
alle Länder insoweit überein, als die Personen vom      Der Weg für die am 10. September 2010 ausge-
jeweiligen Missstand individuell betroffen sein müs-    sprochenen öffentlichen Entschuldigungen von
sen. Unterschiede bestehen darin, dass teilweise        Seiten der Bundesrätin sowie den Vertretern der
das Vorliegen aktueller Beeinträchtigungen verlangt     kantonalen Fachdirektorinnen- und Fachdirektoren-
wird (z.B. in Deutschland das Vorliegen eines Folge-    konferenzen wurde von einer Arbeitsgruppe unter
schadens / Renteneinbusse oder teilweise in Austra-     Federführung des Bundesamtes für Justiz BJ geeb-
lien und in Irland aktuelle psychische oder physische   net. Diese Arbeitsgruppe, welche zwischen Novem-
Folgen). Daneben verlangen einzelne Länder die Er-      ber 2009 und April 2010 insgesamt drei Sitzungen
füllung weiterer Voraussetzungen (so Norwegen die       durchführte, setzte sich unter Einbezug der Betrof-
Strafbarkeit des konkreten Missstands).                 fenen mit der Thematik der administrativen Versor-
                                                        gung auseinander und suchte gemeinsam nach Lö-
2.5  Nationale Gedenkanlässe                           sungsmöglichkeiten. In dieser Arbeitsgruppe waren
In jüngerer Zeit wurde vermehrt auch in der Öffent-     neben dem BJ folgende Stellen vertreten: die SODK,
lichkeit auf die Thematik aufmerksam gemacht.           die KKJPD, die KOKES (früher: Vormundschaftskon-
Verschiedene Anlässe, Ausstellungen und auch Ge-        ferenz VdK), die Eidgenössische Kommission für
denkanlässe haben die Vergangenheit thematisiert        Frauenfragen EKF, das Amt für Freiheitsentzug und
und versucht, eine Aussöhnung zu ermöglichen.           Betreuung des Kantons Bern und die Anstalten Hin-
Auf nationaler Ebene folgten nach längerem Still-       delbank. Neben der Entwicklung eines Konzepts für
stand die Gedenkanlässe in den Anstalten Hindel-        die Gedenkveranstaltung wurden in der Arbeits-
bank und im Kulturcasino Bern:                          gruppe weitere Fragestellungen erörtert: etwa die
                                                        Anforderungen an eine historische Aufarbeitung,
2.5.1   Anstalten Hindelbank                           die Problematik der Aktensicherung und Aktenein-
Dank dem Engagement von ehemaligen administra-          sicht oder auch der Zwangsadoptionen.
tiv versorgten Frauen wurde bereits am 10. Septem-
ber 2010 im Schlosssaal der Anstalten Hindelbank        Der Gedenkanlass in Hindelbank war ein erster
ein Gedenkanlass zur moralischen Wiedergutma-           wichtiger Schritt zur nationalen und insbesondere
chung durchgeführt.                                     zur politischen Aufarbeitung der fürsorgerischen
                                                        Zwangsmassnahmen und stiess in den Medien und
Betroffene Frauen schilderten an diesem Anlass,         in der Öffentlichkeit auf ein starkes und positives
wie sie aufgrund der administrativen Einweisung ein     Echo. Wesentliches zur Sensibilisierung der Öffent-
Leben lang ausgegrenzt und diskriminiert worden         lichkeit und der Behörden beigetragen hatten auch
sind: Obwohl sie nie straffällig geworden waren,        die diversen Artikel von Dominique Strebel, ehema-
wurden sie aufgrund des Umstandes, dass sie in der      liger Redaktor des Schweizerischen Beobachters,
Strafanstalt Hindelbank versorgt worden waren,          seine Buchpublikation «Weggesperrt. Warum
stigmatisiert.                                          Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern

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Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

sassen» von 2010 und die Interpellation von Natio-     2.6 
                                                           Der Runde Tisch für die Opfer von
nalrätin Jacqueline Fehr (09.3440 Interpellation           fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und
Administrativ versorgte Jugendliche. Moralische            Fremdplatzierungen vor 1981
Wiedergutmachung, eingereicht am 30. April 2009).
                                                       2.6.1  Einsetzung und Zusammensetzung des
2.5.2   Kulturcasino Bern                                     Runden Tisches
Am 11. April 2013 fand im Kulturcasino Bern ein        Bundesrätin Simonetta Sommaruga setzte Alt Stän-
Gedenkanlass für sämtliche Opfer von fürsorgeri-       derat Hansruedi Stadler als Delegierten für die Op-
schen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierun-            fer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und
gen vor 1981 statt. Dieser Anlass wurde von einer      Fremdplatzierungen ein und beauftragte ihn, einen
Arbeitsgruppe des BJ unter Beteiligung unter ande-     Runden Tisch zur umfassenden Aufarbeitung von
rem von Betroffenenvertreterinnen und -vertretern      Leid und Unrecht im Zusammenhang mit den Op-
und auf Initiative von Jeannette Fischer (Psychoana-   fern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und
lytikerin) hin organisiert. Dabei wurde der zunächst   Fremdplatzierungen ins Leben zu rufen. Neben Be-
für ehemalige Verding- und Pflegekinder vorgese-       troffenen und dem Bund sind am Runden Tisch die
hene Anlass auf alle Opfer fürsorgerischer Zwangs-     Kantone, Städte, Gemeinden, Institutionen, Organi-
massnahmen und Fremdplatzierung ausgeweitet.           sationen, Kirchen und die Wissenschaft vertreten.

Im Namen der Landesregierung bat Bundesrätin Si-       Die erste Sitzung des Runden Tisches fand am
monetta Sommaruga die Betroffenen um Entschul-         13. Juni 2013 und somit bereits zwei Monate nach
digung. Zudem haben Vertreter der Städte, Ge-          dem nationalen Gedenkanlass im Kulturcasino Bern
meinden, Kantone, Kirchen, Heime und des               statt. Dass innert so kurzer Zeit die Betroffenen und
Bauernverbandes für das geschehene Unrecht um          die involvierten Kreise an einen Tisch gebracht wer-
Entschuldigung gebeten. Michel Thentz, Regie-          den konnten, ist im Wesentlichen Alt Ständerat
rungsrat aus dem Kanton Jura und Mitglied des          Stadler zu verdanken, der in der Anfangsphase der
Vorstands der SODK bat im Namen der Kantone,           Arbeiten als Delegierter für die Opfer von fürsorgeri-
Städte und Gemeinden für das geschehene Unrecht        schen Zwangsmassnahmen den Runden Tisch
um Entschuldigung. Für den Schweizer Bauernver-        einsetzte und leitete. Im Herbst 2013 wurde er als
band SBV tat dies Markus Ritter (Nationalrat und       Delegierter abgelöst von Luzius Mader, Stellvertre-
Präsident SBV), für Integras und CURAVIVA Olivier      tender Direktor des Bundesamts für Justiz.
Baud (Vizepräsident Integras) und für die Kirchen
Bischof Markus Büchel (Präsident der Schweizer Bi-     2.6.2  Auftrag des Runden Tisches
schofskonferenz).                                      Der Runde Tisch hat den Auftrag, die Aufarbeitung
                                                       der historischen, juristischen, finanziellen, gesell-
Im Mittelpunkt des Anlasses standen aber die Be-       schaftspolitischen und organisatorischen Fragen im
troffenen. Ursula Biondi, Bernadette Gächter, Kurt     Zusammenhang mit den Opfern von fürsorgeri-
Gradolf, Jean-Louis Claude, Rosemary Jost und          schen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierun-
Sergio Devecchi berührten mit der Schilderung ihrer    gen in die Wege zu leiten. Damit soll sichergestellt
Schicksale und rüttelten so die Schweiz wach.          werden, dass die involvierten Behörden, Institutio-
                                                       nen und Organisationen ihre Verantwortung ge-
Bundesrätin Simonetta Sommaruga betonte am Ge-         genüber den Opfern von fürsorgerischen Zwangs-
denkanlass, dieser sei kein Abschluss, sondern der     massnahmen und Fremdplatzierungen
Anfang einer umfassenden Auseinandersetzung mit        wahrnehmen können.
einem dunklen Kapitel der Schweizer Sozialge-
schichte. Die Justizministerin führte aus, sie wün-    Mit dem vorliegenden Bericht und der Verabschie-
sche sich eine umfassende historische und rechtli-     dung des Massnahmenkatalogs an die politischen
che Aufarbeitung. Dabei sei auch die Frage von         Entscheidungsträger schliesst der Runde Tisch gut
finanziellen Leistungen zu prüfen. Der Gedenkan-       ein Jahr nach seiner Einsetzung einen ersten und
lass wurde aufgezeichnet. Es besteht die Möglich-      wichtigen Teil seiner Arbeiten ab. Betreffend Wei-
keit, über das Sekretariat des Delegierten eine kos-   terbestand des Runden Tisches wird auf die Ausfüh-
tenlose Aufzeichnung des Anlasses auf DVD zu           rungen unter D.7.2.1 verwiesen.
beziehen.

17
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981

2.6.3  Weitere Gremien                                der Situation aller Betroffenenkategorien von für-
Der Runde Tisch hat seine Arbeiten teilweise durch     sorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplat-
eingesetzte Ausschüsse vorbereiten lassen. Dies gilt   zierungen heraus zu einem späteren Zeitpunkt nicht
insbesondere für die Erarbeitung von Vorschlägen       ausschliesst.
für finanzielle Leistungen sowie für die Prüfung der
Gesuche um Soforthilfe. Daneben wurde für die Be-      3.2   Volksinitiative
troffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen         Am 31. März 2014 wurde von der Guido-Fluri-Stif-
ein Forum geschaffen (Betroffenenforum). Die Be-       tung die Initiative «Wiedergutmachung für Verding-
troffenen erhielten damit die Gelegenheit, neue        kinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnah-
Kontakte zu knüpfen und sich untereinander auszu-      men» (Wiedergutmachungsinitiative) lanciert. Die
tauschen. Das Betroffenenforum wurde unterstützt       Initiative entstand vor dem Hintergrund, dass ge-
von einem Coach, welcher den Betroffenen bei der       mäss aktuellen Forschungen noch heute in der
Gestaltung und Durchführung des Forums zur Seite       Schweiz schätzungsweise rund 20’000 Opfer von
stand. Das Forum wurde bis zur Verabschiedung          fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremd-
des Berichts viermal durchgeführt.                     platzierungen leben, deren immenses Leid zwar
                                                       teilweise dokumentiert und bekannt ist, die aber
                                                       aufgrund einer fehlenden politischen Mehrheit nie
3 Weitere Arbeiten und Entwicklungen im               eine finanzielle Wiedergutmachung erhalten haben.
   Bereich fürsorgerische Zwangsmassnah-               Aus diesem Grund soll nun das Stimmvolk angeru-
   men und Fremdplatzierungen                          fen und auf diesem Weg ein neuer Artikel in der
                                                       Bundesverfassung verankert werden (Art. 124a BV
3.1  Bundesgesetz über die Rehabilitierung            mit entsprechender Übergangsbestimmung
      administrativ versorgter Menschen                Art. 196 Ziff. 12 BV).
Aufgrund einer vom damaligen Nationalrat Paul
Rechsteiner eingereichten parlamentarischen Initia-    Mit der Initiative werden folgende Ziele angestrebt:
tive hat das Parlament am 21. März 2014 das Bun-       1. Eine Wiedergutmachung für Verdingkinder und
desgesetz über die Rehabilitierung administrativ           Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen;
versorgter Menschen erlassen (vgl. BBl 2014 2853).     2. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses
Dieses tritt bereits per 1. August 2014 in Kraft.          dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte;
                                                       3. Einen Fonds über 500 Millionen Franken – für
Von diesem Gesetz erfasst werden Personen, die             unmittelbar und schwer betroffene Opfer;
bis 1981 von Verwaltungsbehörden aufgrund von          4. Eine unabhängige Kommission prüft jeden Fall
Einschätzungen wie «arbeitsscheu», «lasterhaften           einzeln.
Lebenswandel» oder «Liederlichkeit» in psychiatri-
sche Anstalten und Strafanstalten eingewiesen wur-     Die Wiedergutmachungsinitiative will in erster Linie
den. Das Gesetz anerkennt, dass administrativ ver-     ein Zeichen der Anerkennung für das grosse Un-
sorgten Personen aus heutiger Sicht damals Leid        recht setzen, das Verding- und Heimkindern sowie
und Unrecht widerfahren ist. Das Gesetz sieht die      den anderen Opfern von Fremdplatzierungen und
Schaffung einer unabhängigen Kommission von Ex-        fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – wie adminis-
pertinnen und Experten zur umfassenden wissen-         trativ versorgte, zwangssterilisierte und zwangsad-
schaftlichen Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels      optierte Personen sowie Fahrende – widerfahren
der schweizerischen Sozialgeschichte vor, der Fach-    ist, indem der Bund und die Kantone für Wieder-
personen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen        gutmachung sorgen sollen. Als Anerkennung für
angehören werden. Es sorgt auch dafür, dass die        das erlittene Unrecht soll mit der Initiative zudem
Akten von administrativ versorgten Personen in ge-     die verfassungsrechtliche Grundlage für das Aus-
eigneter Form archiviert werden und sichert diesen     richten von finanziellen Leistungen geschaffen wer-
das Recht auf einen einfachen und kostenlosen Zu-      den. Dafür soll ein Fonds in der Höhe von 500 Milli-
gang zu den sie betreffenden Akten zu. Nicht vor-      onen Franken errichtet werden. Aufgrund des
gesehen ist, dass die betroffenen administrativ ver-   massiven Missbrauchs, der Demütigung und des
sorgten Menschen im Rahmen dieses Gesetzes             teils jahrzehntelangen Stigmas leben viele Betrof-
finanzielle Ansprüche erheben können. Es wurde         fene in psychisch schwierigen und finanziell prekä-
aber stets darauf hingewiesen, dass dies die Prü-      ren Verhältnissen und sind dringend auf Hilfe ange-
fung finanzieller Leistungen aus einer Gesamtschau     wiesen. Die zu entrichtenden Leistungen würde

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