Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen - Arbeitspapier 45 Überprüfung und Aktualisierung der wissenschaftlichen Grundlagen

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Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen - Arbeitspapier 45 Überprüfung und Aktualisierung der wissenschaftlichen Grundlagen
November 2018

    Arbeitspapier 45

    Gesundes Körpergewicht bei
    Kindern und Jugendlichen
    Überprüfung und Aktualisierung der wissenschaftlichen Grundlagen
Gesundheitsförderung Schweiz ist eine Stiftung, die von Kantonen und Versicherern getragen wird.
 Mit gesetzlichem Auftrag initiiert, koordiniert und evaluiert sie Massnahmen zur Förderung der
 Gesundheit (Krankenversicherungsgesetz, Art. 19). Die Stiftung unterliegt der Kontrolle des Bundes.
 Oberstes Ent­scheidungsorgan ist der Stiftungsrat. Die Geschäftsstelle besteht aus Büros in Bern
 und Lausanne. Jede Person in der Schweiz leistet einen jährlichen Beitrag von CHF 4.80 zugunsten
 von Gesundheits­förderung Schweiz, der von den Krankenversicherern eingezogen wird.
 Weitere Informationen: www.gesundheitsfoerderung.ch

 In der Reihe «Gesundheitsförderung Schweiz Arbeitspapier» erscheinen von Gesundheitsförderung
 Schweiz erstellte oder in Auftrag gegebene Grundlagen, welche Fachleuten in der Umsetzung in
 Gesundheitsförderung und Prävention dienen. Der Inhalt der Arbeitspapiere unterliegt der redaktio-
 nellen Ver­antwortung der Autorinnen und Autoren. Gesundheitsförderung Schweiz Arbeitspapiere
 liegen in der Regel in elektronischer Form (PDF) vor.

Impressum

Herausgeberin
Gesundheitsförderung Schweiz

Autor
Dominik Steiger, evalueSCIENCE AG

Verantwortlichkeit und Koordination Gesundheitsförderung Schweiz
Chiara Testera Borrelli, Leiterin Kantonale Aktionsprogramme
Katharina Ackermann, Projektleiterin Kantonale Aktionsprogramme
Eliane Rupp, Projektleiterin Kantonale Aktionsprogramme

Reihe und Nummer
Gesundheitsförderung Schweiz, Arbeitspapier 45

Zitierweise
Steiger, D. (2018). Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen. Überprüfung und
Aktualisierung der wissenschaftlichen Grundlagen. Arbeitspapier 45. Bern und Lausanne:
Gesundheitsförderung Schweiz.

Fotonachweis Titelbild
shutterstock

Auskünfte/Informationen
Gesundheitsförderung Schweiz, Wankdorfallee 5, CH-3014 Bern, Tel. +41 31 350 04 04,
office.bern@promotionsante.ch, www.gesundheitsfoerderung.ch

Originaltext
Deutsch

Bestellnummer
02.0255.DE 11.2018

Diese Publikation ist auch in französischer Sprache verfügbar (Bestellnummer 02.0255.FR 11.2018).

Download PDF
www.gesundheitsfoerderung.ch/publikationen

© Gesundheitsförderung Schweiz, November 2018
Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen 3

Editorial
Gemäss der Weltgesundheitsorganisation waren im          durch kantonale und lokale Akteure entsteht so
Jahr 2016 39 % aller Erwachsenen übergewichtig           Wirkung vor Ort. In Zusammenhang mit der neuen
(inklusive Adipositas), als adipös galten knapp 13 %.    langfristigen Strategie bis 2024 möchte Gesund-
In der Schweiz stagniert laut Gesundheitsbefragung       heitsförderung Schweiz die Zusammenarbeit mit
2017 die Verbreitung von Übergewicht und Adipo-          den Kantonen im Rahmen der erfolgreichen kanto-
sitas nach einer längeren Wachstums­phase auf ho-        nalen Aktionsprogramme und der damit aufgebau-
hem Niveau. 2017 lag der Anteil der Personen mit         ten Strukturen verstärken. Die Programme sind
Übergewicht (BMI 25 bis
4   Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen

Inhaltsverzeichnis
Management Summary                                          5

1 Einleitung                                                7
  1.1 Ausgangslage                                          7
  1.2 Zielsetzung und Vorgehen                              7
		 1.2.1 Befragte Expertinnen und Experten                  7

2	Prävalenz von Übergewicht und Adipositas                 8
   2.1 Status der Prävalenzen international                 8
   2.2 Status der Prävalenzen in der Schweiz                9

3	Ursachen und Folgen von Übergewicht und Adipositas      12
   3.1 Einflussfaktoren                                    12
		 3.1.1 Genetische Prädisposition                         12
		 3.1.2 Ernährung                                         13
		 3.1.3 Bewegung                                          13
		 3.1.4	Sozioökonomische und soziokulturelle ­Faktoren   14
   3.2 Folgen von Übergewicht und Adipositas               14
		 3.2.1 Gesundheitliche Folgen                            14
		 3.2.2 Sozioökonomische Konsequenzen                     14

4	Prävention und Gesundheitsförderung                     15
   4.1 Lebensverlaufsmodell                                15
   4.2 Präventive Interventionen                           16
		 4.2.1 Pränatal und Kleinkinder                          16
		 4.2.2 Kinder                                            18
		 4.2.3 Jugendliche                                       19
		 4.2.4 Präventionsansätze                                20
			         4.2.4.1 Verhaltens- und Verhältnisprävention   20
			         4.2.4.2 Community-basierte Ansätze             21

5	Haupterkenntnisse und Schlussfolgerungen                22

6 Referenzen                                               24
Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen 5

Management Summary
Fortsetzung der bewährten kantonalen                       gen ergeben haben, die relevant für die Fortsetzung
Aktionsprogramme                                           der kantonalen Aktionsprogramme Ernährung und
                                                           Bewegung bei Kindern und Jugendlichen sind.
Die Anzahl der Kantone mit einem kantonalen Ak­            Die aktuelle Entwicklung der Prävalenzen, global
tionsprogramm (KAP) «Ernährung und Bewegung                und in der Schweiz, sowie Ursachen und Folgen
für Kinder und Jugendliche» ist in den Jahren stabil       von Übergewicht und Adipositas werden analysiert.
hoch geblieben. Heute realisieren 22 von 26 Kan­           Danach wird die Frage adäquater Präventions­
tonen solche Programme. Die bestehenden kanto-             strategien vertieft. Welche Evidenzen existieren für
nalen Aktionsprogramme bleiben nach wie vor ein            verschiedene Arten der Intervention? Wie sind ver-
Erfolgsmodell für andere Gesundheitsförderungs-            schiedene Zielgruppen (Eltern, Kleinkinder, Kinder,
programme und erreichen die gesetzten Ziele gut.           Jugendliche) zu berücksichtigen? Wie werden ver-
So setzt sich beispielsweise die sehr gute Entwick-        schiedene Ansätze (verhaltensorientiert, Setting/
lung beim Ziel bezüglich einer Reduzierung des An-         Ver­hältnis/Umwelt-orientiert, Community-orientiert)
teils übergewichtiger Kinder weiter fort. Der Anteil       bewertet?
übergewichtiger Kinder sinkt nun nicht mehr aus-           Der Bericht fusst auf ausführlichen Interviews mit
schliesslich im Kindergarten wie in der letzten            Expertinnen und Experten zu Prävalenzen in der
Evaluationsrunde, sondern auch in der Primar­              Schweiz, Situa­tion der Zielgruppen, Ansätzen und
schule. Es gibt klare Hinweise, dass die bisherigen        Interventionen. Relevante aktuelle internationale
Aktivitäten zur Förderung der ausgewogenen Er-             Entwicklungen, Empfehlungen, Guidelines und Mass­
nährung und ausreichenden Bewegung bei Kinder              nahmenpläne werden im Bericht ebenfalls zusam-
und Jugendlichen wirksam sind.                             mengefasst.
Aufgrund bestehender wissenschaftlicher Grund­
lagen zeigt sich klar, dass der Ansatz der KAP nach
wie vor der richtige ist. Für langfristige positive Ver-   Schwerpunkte für die Weiterführung der
änderungen spielt ein multidimensionaler Ansatz,           kantonalen Aktionsprogramme Ernährung
bei dem die Kinder und Jugendlichen in verschiede-         und Bewegung
nen Settings über unterschiedliche Multiplikatoren
auf der Ebene Verhalten und Verhältnis angespro-           Aufgrund der bekannten NCD-Risikofaktoren der
chen werden, eine grosse Rolle.                            modernen Konsumgesellschaft (u. a. lebensstilbe-
Aufgrund der hohen Prävalenzen vor allem ab Pri-           zogene Faktoren wie unausgewogene Ernährung,
marschule ist jedoch Handlungsbedarf nach wie vor          mangelnde Bewegung usw.) sollen die Kantone die
gegeben. Im Frühkindbereich gilt es die erreichten         Bestrebungen zur Förderung einer ausgewogenen
Erfolge zu stabilisieren im Hinblick auf die nächsten      Ernährung und ausreichenden Bewegung bei den
Generationen.                                              Fokusgruppen fortsetzen. Ein wichtiges Thema
                                                           in den Ernährungsprojekten bleibt unter anderem
                                                           «Wasser trinken». Als prioritäre Zielgruppen gelten
Aktualisierung der wissenschaftlichen                      nach wie vor Kinder und Jugendliche. Der Ansatz,
Grundlagen                                                 in dieser Lebensphase zu intervenieren, entspricht
                                                           auch weiterhin der gängigen Praxis im internatio­
Das vorliegende Arbeitspapier stellt den Stand der         nalen Kontext und beruht auf wissenschaftlicher
wissenschaftlichen Evidenz im Bereich Förderung            Evidenz.
eines gesunden Körpergewichts bei Kindern und              Schwerpunkt auf der Ebene Interventionen soll eine
Jugendlichen dar und klärt ab, ob sich im Vergleich        weitere Fokussierung auf die wirksamsten Inter-
zum Arbeitspapier aus dem Jahr 2014 Veränderun-            ventionen sowie deren Einbettung in bestehende
6   Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen

Strukturen sein. Diese Interventionen müssen lang-        Vor der Familiengründung beginnen und
fristig und mit einer gewissen Intensität ausgerich-      im Setting Schule bleiben
tet werden. Zudem sollen Bestrebungen für die
nachhaltige Beeinflussung der materiellen und so-         Bereits für junge Erwachsene, die sich mit Familien­
zialen Umwelt fortgesetzt und intensiviert werden.        planung beschäftigen, sind Angebote wichtig, die
Sogenannte «Community-based-Ansätze» bilden               ihnen ihre zukünftige Aufgabe als Eltern erleich-
generell eine sinnvolle Strategie, um nachhaltige         tern. Gleichzeitig ist es wichtig, Interventionen in
Veränderungen anzustreben. Die Frage der Chan-            Schulen fortzuführen. Das Schulsystem bleibt wei-
cengerechtigkeit sollte bei jeder Massnahme mit­          terhin der Ort mit der besten Erreichbarkeit der
berücksichtigt werden. Hierbei soll speziell der          Kinder aller sozioökonomischen Schichten. Aktivitä-
sozioökonomische Status bei Kindern und Jugend­           ten in Schulen wirken aber besser, wenn auch die
lichen in Konzepten und Programmen besondere              politische Gemeinde und das Elternhaus die Prinzi-
Aufmerksamkeit erhalten.                                  pien von ausgewogener Ernährung und regelmässi-
                                                          ger Bewegung kennen, mittragen und nach Mög-
                                                          lichkeit umsetzen.
Fokus weiterhin auf die Neugeborenen sowie
Kleinkinder und ihre Einflussgruppen setzen
                                                          Jugendliche nach Möglichkeit einbeziehen
Kinder sollen von Geburt an in einem Umfeld leben,
in dem sie gesund aufwachsen können. Dieses Um-           Auch die Jugendlichen sollen, wo möglich, vermehrt
feld entsprechend zu gestalten, ist eine gesamtge-        in die kantonalen Aktionsprogramme einbezogen
sellschaftliche Aufgabe. Die Einflussgruppen rund         werden. Hier sind Partizipation (Peer-Ansatz) sowie
um Neugeborene und Kleinkinder sind und bleiben           genderspezifische Ansätze zentral.
zentrale Partner der Präventionsbestrebungen. Die
kantonalen Aktionsprogramme konnten bis heute
bereits gute Resultate in diesen Altersgruppen er-
reichen. Es gilt nun diese Erfolge zu stabilisieren im
Hinblick auf die neuen Generationen.
Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen 7

1 Einleitung
1.1   Ausgangslage                                      1.2   Zielsetzung und Vorgehen

 Gesundheitsförderung Schweiz setzt sich seit Jah-      Das vorliegende Arbeitspapier soll einen Überblick
 ren für ein gesundes Körpergewicht bei Kindern und     bieten über den Stand der Erkenntnisse bezüglich
 Jugendlichen ein mit dem Ziel, den Anteil der Bevöl-   der Prävention von Übergewicht und Adipositas bei
 kerung mit einem gesunden Körpergewicht zu er­         Kindern und Jugendlichen. Dies beinhaltet erstens
 höhen und dadurch Folgeerkrankungen zu verhüten        Betrachtungen zur aktuellen Entwicklung der Prä-
 [1, 2]. Als zentrale Massnahme wurden hierzu zu-       valenzen, global und in der Schweiz, sowie zu Ur­
 sammen mit den Kantonen kantonale Aktions­             sachen und Folgen von Übergewicht und Adipositas.
 programme (KAP) für die Förderung einer ausge-         Zweitens geht es um die Frage adäquater Präven­
 wogenen Ernährung und ausreichender Bewegung           tionsstrategien. Welche Evidenzen existieren für
 konzipiert und umgesetzt. Die meisten dieser KAP       verschiedene Arten der Intervention? Wie sind ver-
 stehen mittlerweile in der dritten Phase.              schiedene Zielgruppen (Eltern, Kleinkinder, Kinder,
 Im Rahmen der Massnahmen der NCD-Strategie [3]         Jugendliche) zu berücksichtigen? Wie werden ver-
und der Erhöhung des Prämienbeitrags für die all-       schiedene Ansätze (verhaltensorientiert, Setting/
gemeine Krankheitsverhütung werden die KAP seit         Verhältnis/Umwelt-orientiert, ­Community-orientiert)
Anfang 2017 in erweiterter Form angeboten: Zu-          bewertet?
sätzlich zum Thema «Ernährung und Bewegung»             Der Bericht basiert auf Literaturrecherchen und
gibt es neu das Thema «psychische Gesundheit»,          E xperten-Interviews zu den oben beschriebenen
                                                        ­
und neben die Zielgruppe «Kinder und Jugendliche»       Themen. Die Literaturrecherchen beinhalteten die
tritt neu die Zielgruppe «ältere Menschen». Themen      wissenschaftliche Literatur wie auch nationale und
und Zielgruppen sind in vier Modulen organisiert,       internationale Massnahmenpläne, Policy-Dokumen-
die von den Kantonen bei der Zusammenstellung           te und Berichte. Parallel zu den Recherchen erfolg-
­eines KAP frei kombiniert werden können [4]. Die       ten Interviews mit Expertinnen und Experten zu
bestehenden, detailliert ausgearbeiteten KAP zu         Prävalenzen in der Schweiz, Situation der Zielgrup-
gesundem Körpergewicht bei Kindern und Jugendli-        pen, Ansätzen und Interventionen.
chen werden nun als «Modul A» geführt.
Im Jahr 2020 werden voraussichtlich zehn Modul-A-       1.2.1 Befragte Expertinnen und Experten
Programme verlängert. Anlässlich des Starts der         ••Dr. Hanspeter Stamm, Geschäftsleiter,
dritten Phase wurden 2014 die wissenschaftlichen          ­L amprecht und Stamm AG, Zürich
Grundlagen überprüft und aktualisiert [5], auf­         ••Dr. Josef Laimbacher, Chefarzt Jugendmedizin,
bauend auf früheren Grundlagenberichten [6, 7]. Im         Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen
Hinblick auf die Fortsetzung der Modul-A-Program-       ••Dr. Robert Sempach, Leiter Gesundheitsförde-
me wurde EvalueScience beauftragt, den aktuellen           rung, Migros-Genossenschafts-Bund, Zürich
Stand darzustellen und zu überprüfen, ob sich Ver-      ••Dre Françoise Narring, médecin responsable
änderungen ergeben haben, die relevant sind für die        unité santé jeunes, Hôpitaux Universitaires
Strategie bezüglich der Module A der KAP.                  de Genève
8    Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen

2	Prävalenz von Übergewicht
   und Adipositas
2.1     Status der Prävalenzen international               haben. Die Daten zeigen auch, dass sich in vielen
                                                           entwickelten Ländern der mittlere BMI von Kindern
Gemäss Angaben der WHO [8] waren im Jahr 2016              und Jugendlichen – nicht jedoch der­jenige der Er-
mehr als 1,9 Milliarden Erwachsene übergewichtig,          wachsenen – seit der Jahrtausendwende auf hohem
und von diesen wiesen 650 Millionen ein krankhaf-          Niveau stabilisiert hat, während sich der Anstieg in
tes Übergewicht (Adipositas) auf. Dies entspricht          Ost-, Süd- und Südostasien in der gleichen Zeit-
für Übergewicht (inklusive Adipositas) 39 % aller Er-      spanne beschleunigt. Die Autorinnen und Autoren
wachsenen und für Adipositas alleine 13 %. Knapp           extrapolieren, dass es im Jahr 2022 bei gleichblei-
ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen (5–19 Jah-       benden Trends erstmals mehr Kinder mit Adipositas
re) waren weltweit übergewichtig oder adipös. Die          geben wird als Kinder, die an schwerer Unterernäh-
hohen Prävalenzen sind schon seit Jahren nicht             rung leiden.
mehr ein reines Phänomen der entwickelten Wirt-            Die Studie bestätigt damit bereits seit einigen Jah-
schaften: Länder mit tiefem Einkommen und Schwel-          ren gemachte Beobachtungen, dass der Anstieg der
lenländer zeigen starke Anstiege.                          Übergewichts- und Adipositasprävalenzen in den
                                                           entwickelten Ländern abflacht und sie sich teilweise
    Definition Übergewicht und Adipositas der WHO          auf hohem Niveau stabilisieren, während gleich­
    Übergewicht bei Erwachsenen (>18 Jahre) ist hier       zeitig in Entwicklungs- und Schwellenländern eine
    durch die WHO definiert als Vorliegen eines BMI        rapide Transition zu Übergewicht und Adipositas er-
    von ≥25 kg/m2, Adipositas als Vorliegen eines          folgt. Sie kommt damit zu ähnlichen Schlüssen wie
    BMI von ≥30 kg/m2. Bei Kindern zwischen 5 und          die systematische Analyse von Ng et al. (2014) im
    19 Jahren wird Übergewicht definiert als alters-       Rahmen der Global Burden of Disease Study [11].
    gemässer BMI grösser als eine Standardabwei-           Die internationale Lage stellt sich damit ähnlich dar
    chung über Median der WHO Growth Reference,            wie bereits im Arbeitspapier 28 [5] beschrieben, und
    Adipositas als altersgemässer BMI grösser als          es wird weiterhin diskutiert, ob die gemessenen
    zwei Standardabweichungen. Bei Kindern unter           Abflachungen oder Stabilisierungen Anfänge einer
    5 Jahren: Übergewicht bei Verhältnis Gewicht/          nachhaltigen Trendumkehr darstellen und wo die
    Grösse grösser als zwei Standardabweichungen           Ursachen zu suchen sind. Gewisse Autoren und
    über Median der WHO Child Growth Standards,            ­Autorinnen mahnen aus methodischen Gründen vor
    Adipositas bei Verhältnis Gewicht/Grösse grösser        vorschnellen Schlüssen [12]. Auch erscheinen Stu-
    als drei Standardabweichungen.                          dien in Ländern mit besonders hohen Prävalenzen,
                                                            die weiterhin Zunahmen sehen, so für Kinder in
                                                            den Vereinigten Staaten [13] und für Jugendliche in
Eine kürzlich im Lancet erschienene, grossangeleg-         Neuseeland [14]. Gleichwohl teilen die befragten
te Analyse [9] der globalen Entwicklung des Körper-        Ex­pertinnen und Experten den Eindruck, dass mit
gewichts in den letzten 40 Jahren beschreibt ein-           Per­spektive auf die entwickelten Wirtschaften viele
drücklich die Entwicklung und den Status einer nach         Daten auf eine Stabilisierung auf hohem Niveau hin-
wie vor gravierenden weltweiten «Epidemie» von              deuten. Über die Ursachen für diesen Umstand lie-
Übergewicht und Adipositas. Die Studie der NCD Risk         gen keine gesicherten wissenschaftlichen Erkennt-
Factor Collaboration [10] aggregierte Daten aus über        nisse vor. Es kann aber gesagt werden, dass die
2000 Einzelstudien aus den letzten 40 Jahren und            beobachteten Abflachungen oder Stabilisierungen
umfasste damit eine Population von ca. 130 Millio-          mit einem zunehmenden gesellschaftlichen Be-
nen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Sie              wusstsein über die Wichtigkeit einer gesunden Le-
zeigt, dass sich die Adipositasprävalenzen von Kin-         bensführung korrelieren. Ein solches Bewusstsein
dern in den letzten 40 Jahren weltweit verzehnfacht         schlägt sich auch zumindest teilweise in gesund-
Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen 9

    heitsförderlichem Verhalten (etwa sportlicher Betä-                                             on food environments and behaviours or on policies
    tigung) nieder. Siehe hierzu etwa die Studie «Sport                                             that affect them. The plateauing of children’s and
    Schweiz 2014» [15]. Derartige gesellschaftliche Me-                                             adolescents’ BMI in high-income countries as adult
    gatrends korrelieren wiederum mit den erhöhten                                                  BMI continues to increase might be due to specific
    Präventionsanstrengungen. Wenn es auch nicht                                                    initiatives by governments, community groups,
    kausal nachgewiesen werden kann, ist es plausibel,                                              schools, and notable individuals that have in-
    dass die spezifischen Präventionsanstrengungen                                                  creased public awareness about overweight and
    hier ihren Beitrag leisten. Die Autorinnen und Auto-                                            obesity in children, leading to changes in nutrition
    ren der NCD Risk Factor Collaboration kommentie-                                                and activity that are sufficient to curb the rise in
    ren dies folgendermassen:                                                                       mean BMI. [9]

                        The effectiveness of interventions for overweight
                        and obesity in children and adolescents has been          2.2                  Status der Prävalenzen in der Schweiz
                        reviewed in several systematic reviews and model-
                        ling studies, but how they are selected for imple-        In der Analyse der NCD Risk Factor Collaboration [9]
                        mentation and their post-implementation effects           (siehe oben) folgt die Schweiz dem Trend in vielen
                        at the population level are rarely investigated.          entwickelten Nationen: Wie Abbildung 1 zeigt, wird
                        For this reason, there is no systematic information       für Kinder und Jugendliche (5- bis 19-jährig) ein Ab-
                        on the determinants of the divergent trends in BMI        flachen des Anstiegs der Prävalenzen festgestellt,
                        in children and adolescents and in adults, be it          ausgeprägter in der Kategorie Übergewicht.

          ABBILDUNG 1

    Übergewichts- und Adipositasprävalenzen von 5- bis 19-jährigen Kindern und Jugendlichen in der Schweiz

                         65 %                                                                        45 %
Overweight prevalence

                                                                               Obesity prevalence

                         45 %                                                                        30 %

                         25 %
                                                                                                     15 %

                          5%
                          0%                                                                          0%
                                1980       1990       2000       2010   2017                                1980       1990       2000        2010   2017

      Knaben       Mädchen
    Farblich schattierte Bereiche zeigen 95 %-Konfidenzintervalle an.

    nach NCD Risk Factor Collaboration (2017) [10]
10                    Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen

    Dieser Befund spiegelt sich in den Messungen der                                                          Altersspannen (5–19 Jahre) bzw. es wird ein End-
    mittleren BMI der Schweizer Stellungspflichtigen                                                          punkt (Alter 18–21 Jahre) gemessen. Das verglei-
    wider: Nach starken Anstiegen seit den 80er-Jahren                                                        chende BMI-Monitoring von Kindern und Jugendli-
    sind diese seit 2009 und bis zur letzten publizier-                                                       chen aus elf Kantonen und Städten erlaubt hingegen
    ten Messung im Jahr 2015 stabil (Abb. 2) [16, 17].                                                        eine nach Altersstufen differenzierte Betrachtung
    Die aufgeführten Daten sind gemittelt über ganze                                                          (Abb. 3).

          ABBILDUNG 2                                                                                          ABBILDUNG 3

    BMI-Mittelwert nach Altersgruppen und Rekrutierungs-                                                      Anteil der übergewichtigen und adipösen Kinder und
    jahr 1952–2015 (A) und Prävalenzen von Übergewicht                                                        ­Jugendlichen auf verschiedenen Schulstufen, alle Kantone
    und A­ dipositas bei 19–20 Jahre alten Stellungspflichtigen                                                und Städte mit verfügbaren Daten, 2010, 2013 und 2017
    seit 2004 (B)
                                                                                                                     Adipositas           Übergewicht (inkl. Adipositas)
    A) Mittelwert BMI 1952–2015
                                                                                                              Grundstufe    Studie 2010       4,1            15,8
                     Alter (18–19)         Alter (19–20)          Alter (20–21)                                                              3,0          12,6
                                                                                                                            Studie 2013
                          24
                                                                                                                            Studie 2017     2,7       11,1
Mittelwert BMI (kg/m2)

                                                                                                                            Studie 2010      3,2                    19,1
                                                                                                              Mittelstufe

                          23
                                                                                                                            Studie 2013       3,9                 18,2

                                                                                                                            Studie 2017      3,0                 16,5
                          22
                                                                                                                            Studie 2010        4,7                      20,5
                                                                                                              Oberstufe

                                                                                                                            Studie 2013        4,9                      20,5
                          21
                                    1960        1970       1980       1990        2000          2010   2020
                                                                                                                            Studie 2017        4,8                       21,5
                                                           Rekrutierungsjahr

                                                                                                                            Studie 2010       4,0                  18,5
                                                                                                              Alle Stufen

    B) Prävalenz Übergewicht/Adipositas 2004–2015
                                                                                                                            Studie 2013       3,9                17,1
                     Übergewicht (25,0–29,9 kg/m2)                Adipositas (≥30,0 kg/m2)
                                                                                                                            Studie 2017      3,5                 16,4

                          2004                    14,6                    3,8
                                                                                                                                    0%               5%           10 %          15 %   20 %   25 %
                          2005                     16,2                         4,4
                                                                                                              Grundstufe: Kindergarten, 1. Klasse (Harmos 1–3)
                          2006                     16,2                         4,7
                                                                                                              ­Mittelstufe: 3.–5. Klasse (Harmos 5–7)
                          2007                      16,7                          4,9                          Oberstufe: 8.–9. Klasse (Harmos 10–11)

                                                        18,3                            5,3
      Rekrutierungsjahr

                          2008
                                                                                                              aus Stamm et al. (2017) [18]
                          2009                          18,3                            5,7

                          2010                            19,9                                5,8

                          2011                           19,2                             5,9

                          2012                           19,6                                 5,9

                          2013                           18,8                            5,8

                          2014                           18,7                            5,9

                          2015                           18,9                             6,2

                               0%          5%          10 %        15 %         20 %           25 %    30 %

                                                              Prävalenz (%)

    nach Floris et al. (2016) [16]
Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen 11

In der vergleichenden Analyse der letzten drei Moni-      der Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss.
toringstudien von 2010, 2013 und 2017 [18] zeigt sich     Selbstverständlich sind die beiden Variablen nicht
für die Grundstufe (Kindergarten und erste Klasse)        unabhängig. Die Autoren kommen im Rahmen von
ein deutlicher und signifikanter Rückgang der Prä-        Zusammenhanganalysen zu folgendem Schluss:
valenzen. Für die Mittelstufe ist ein weniger ausge-
prägter Rückgang ersichtlich. Für die Oberstufe             Mit Blick auf die Resultate ist darauf hinzuweisen,
(und dementsprechend die Zielgruppe der Jugendli-           dass die soziale Herkunft teilweise ähnliche Zu­
chen) ist eine Stagnation zu beobachten. Die Analyse        sammenhänge misst wie die Staatsangehörigkeit
bestätigt damit frühere Beobachtungen aus den               […]. Werden beide Merkmale miteinander kom­
Städten Basel, Bern und Zürich, die einen Rückgang          biniert, so ergibt sich […], dass sich die […] konsta-
der Prävalenzen in der Grund- und Mittelstufe ge-            tierten Unterschiede nach Staatsangehörigkeit
zeigt haben.                                                 deutlich vermindern, wenn zusätzlich der Bildungs-
Der in der Analyse demonstrierte deutliche Rück-            stand der Eltern berücksichtigt wird. Dies betrifft
gang der Prävalenzen in der Grundstufe stellt per se        insbesondere die Kinder von Eltern mit einem
einen sehr erfreulichen Befund dar. Er ist zudem im         ­höheren Bildungsabschluss: Hier ist der Anteil über-
Kontext der KAP von hoher Bedeutung, weil sich die           gewichtiger ausländischer Kinder auf allen Schul-
Massnahmen auf diese Altersstufe (und teilweise              stufen deutlich geringer als der entsprechende
jüngere Kinder) fokussiert haben. Zwar muss auch             ­Anteil von Schweizer Kindern von Eltern mit oder
hier gesagt werden, dass die Daten keine kausalen             ohne Lehrabschluss. [18]
Schlüsse erlauben, sondern vielmehr Korrelationen
etablieren. Angesichts des hohen Durchdringungs-          Wenn es um Interventionsstrategien geht, die im
grads der KAP und der Projektförderung auf natio-         Sinne einer gesundheitlichen Chancengleichheit ein
naler Ebene dürfen sie aber als starke Hinweise ge-       besonderes Augenmerk auf vulnerable Gruppen
nommen werden, dass die Programme eine positive           richten, wäre also die Frage der sozialen Herkunft,
Wirkung entfalten. Gemäss der kürzlich erschie­           unabhängig von der Frage der Staatsangehörigkeit,
nenen Evaluation der langfristigen Strategie von          mit zu berücksichtigen.
­Gesundheitsförderung Schweiz 2007–2018 erreich-
 ten die KAP zusammen mit der Projektförderung bis
 zu 67 % aller schulpflichtigen Kinder und Jugendli-
 chen [19].
 Gleichzeitig zeigen die Daten aber auch, dass e
                                               ­ rstens
 mit zunehmendem Alter die Prävalenzen zunehmen
 und zweitens bei den Jugendlichen im Z  ­ eitvergleich
 keine Verbesserung festzustellen ist. Es stellt sich
 also die Frage, wie die Nachhaltigkeit der positiven
 Resultate in der Grundstufe zu sichern ist.
 Die Monitoringdaten erlauben auch eine Betrach-
 tung kultureller und soziodemografischer Faktoren.
 Es zeigt sich, dass die Prävalenzen korrelieren mit
 der Staatsangehörigkeit und der sozialen Herkunft
 (gemessen am Bildungsgrad der Eltern). So sind
 24 % der Kinder mit ausländischer Staatsangehörig-
 keit übergewichtig oder adipös, versus 14 % der Kin-
der mit schweizerischer Staatsangehörigkeit. Dies
erklärt auch mindestens teilweise die leicht höhe-
ren Prävalenzen in den Städten. 30 % der Kinder und
Jugendlichen mit Eltern ohne nachobligatorische
Schulbildung sind übergewichtig, hingegen nur 10 %
12   Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen

3	Ursachen und Folgen von
   Übergewicht und Adipositas
Die Entstehung von Übergewicht und Adipositas ist                  9000 kcal pro kg) – es braucht eine erhebliche Men-
ein komplexes, multifaktorielles Geschehen [20].                   ge an Aktivität, um Gewicht zu reduzieren.
Als komplexes Merkmal (complex trait) bestehen
für das Körpergewicht eines Menschen genetische
Prädispositionen, deren Ausprägung durch die Um-                   3.1      Einflussfaktoren
welt und das Verhalten beeinflusst wird. «Umwelt»
meint hier die Gesamtheit der Einflüsse, denen eine                3.1.1 Genetische Prädisposition
Person ausgesetzt ist – bereits als Fötus, in ihrer                Das Körpergewicht einer Person hängt von ihrer ge-
kindlichen Entwicklung in Interaktion mit den Be-                  netischen Prädisposition ab. Es wird geschätzt, dass
zugspersonen, in der gesellschaftlichen Umwelt.                    die Heritabilität (Vererblichkeit) des Körpergewichts
Auch persönliches Verhalten entwickelt sich in In-                 ca. 40 %–70 % beträgt [21, 22]. Dies bedeutet, dass
teraktion mit der Umwelt.                                          ca. 40 %–70 % der in einer Population beobachteten
Die direkte physiologische Ursache für die Entste-                 Varianz des Körpergewichts auf genetische Unter-
hung liegt dabei in einer überschüssigen Energie­                  schiede der Individuen zurückgeführt werden kann.
bilanz: Wird mehr Energie über die Nahrung                         Die zugrundeliegende Genetik bleibt weiterhin nur
­auf­genommen als verbraucht wird, so werden Über-                 zu Bruchteilen bekannt: So findet eine kürzlich
schüsse effizient gespeichert. Beeinflusst werden                  ­publizierte Metaanalyse, die Daten aus genomwei-
können dabei die Energiezufuhr (Menge und Art der                   ten Assoziationsstudien über eine Population von
Ernährung) und Teile des Verbrauchs, durch die In-                  700 000 Europäern zusammenfasst, dass mit den
tensität alltäglicher und sportlicher Aktivität (siehe              gefundenen genetischen Varianten nur ca. 5 % der
Abb. 4). Gespeichertes Fett ist energiereich (ca.                   BMI-Varianz erklärt werden kann [23].

ABBILDUNG 4

Energiebilanz-Diagramm

                                      Zufuhr
                                                          Nahrungsenergie

                 Verbrauch
                                                                                                     Speicher*
             (= Thermogenese,
                                                                                                  (= Triglyzeride)
                   Arbeit)

          Grundumsatz               Nahrungsinduzierte                                                      NEAT
         (abhängig vom                Thermogenese                    Sportliche Aktivität           (non-exercise activity
        ­Körpergewicht)               (braunes Fett)                                                    thermogenesis)

          ≈1500 kcal/d                      ≈300 kcal/d                  0–200 kcal/d                    500–2000 kcal/d

                      nicht beeinflussbar                                                beeinflussbar

* Differenz aus Energiezufuhr und Energieverbrauch

nach Bischoff (2018) [20]
Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen 13

Die genetische Konstitution eines Menschen ist ge-     3.1.3 Bewegung
geben. Die Ausprägung der Anlagen wird durch die       Parallel zu den Veränderungen der Ernährungs­
Umwelt und das wiederum mit der Umwelt in Bezie-       gewohnheiten haben mit der Entwicklung hin zu
hung stehende Verhalten beeinflusst. Hier liegen die   modernen Dienstleistungsgesellschaften sitzende
                                                       ­
Ansatzpunkte von Präventionsstrategien. Nachfol-       Tätigkeiten zugenommen. Gleichzeitig gibt es einen
gend sollen Faktoren beschrieben werden, welche        im historischen Vergleich höheren Grad an Mecha-
die Entstehung von Übergewicht und Adipositas er-      nisierung und Automatisierung auch für die Mobili-
klären. Die Gesamtheit der Übergewicht und Adipo-      tät und zu Hause. Diese Trends stehen im Verdacht,
sitas begünstigenden Umweltfaktoren wird dabei         einen Beitrag zur Entwicklung der Übergewichts-
oft als «obesogenic environment» bezeichnet – eine     und Adipositasprävalenzen zu leisten. Es ist dabei
Umwelt, die im historischen Vergleich die Entste-      unklar, wie gross der Beitrag fehlender körperlicher
hung von Übergewicht und Adipositas heute stärker      Aktivität zum Anstieg der Prävalenzen ist, siehe
begünstigt.                                            dazu die Review von Wiklund (2016) [36]. Zwar gibt es
                                                       Studien, die einen Zusammenhang mit körperlicher
3.1.2 Ernährung                                        Aktivität nachweisen [37, 38], die Implikationen auf
Es gibt eine Reihe von Veränderungen in den Ernäh-     Bevölkerungsebene sind jedoch umstritten [39, 40].
rungsgewohnheiten, die einen Einfluss auf die ge-      Wichtig ist gemäss den Expertinnen und Experten
stiegenen Übergewichts- und Adipositasprävalenzen      eine integrierende Betrachtungsweise mit Blick auf
haben. So nehmen die Menschen in den modernen          die Energiebilanz. Wiklund folgert hierzu:
Konsumgesellschaften weniger Getreideprodukte
und Ballaststoffe, aber mehr Fett, Protein und Zu-       Currently, we do not understand why people con-
cker zu sich. Nahrungsmittel sind günstiger und          sume more energy than they expend. It may be that
leichter verfügbar geworden. Der Verarbeitungs-          physical activity has the ability to regulate food
grad hat zugenommen, oft einhergehend mit einer          ­intake, but in the contemporary environment that
höheren Energiedichte. Die relativen Beiträge die-        is conducive for sedentary behavior, this regulatory
ser verschiedenen Aspekte zur Übergewichts- und           mechanism has gone astray. Increasing physical
Adipositasepidemie werden weiterhin kontrovers            activity most certainly can create energy deficit
diskutiert. So greift beispielsweise eine Erklärung       through increased energy expenditure. For this
via «Energiedichte» zu kurz: Süssgetränke haben           ­reason physical activity and exercise hold potential
eine vergleichsweise niedrige Energiedichte, gel-          as part of the solution for the ongoing obesity epi-
ten aber als wichtige Treiber, da ihr Konsum einen         demic. [36]
geringen Sättigungseffekt hat und zusätzlich zu
­
gleichbleibendem Konsum anderer Nahrungsmittel         Unabhängig von der umstrittenen und für die Kon-
erfolgt.                                               zeption mehrschichtiger Präventionsstrategien we-
Es besteht Evidenz für die schädliche Rolle des        nig zielführenden Frage, ob Energiezufuhr oder
­hohen Konsums freien Zuckers [24, 25], auf der die    Energieverbrauch für die Erhaltung eines gesunden
Empfehlung der WHO beruht, die Gesamtzucker­           Körpergewichts wichtiger seien, gibt es wachsende
zufuhr solle 10 % der Gesamtenergiezufuhr nicht        Evidenz, dass körperliche Inaktivität mit erhöhten
übersteigen [26]. Diese Empfehlung wird teilweise      Krankheitsrisiken verbunden ist [41]. Bereits mode-
kritisch betrachtet [27].                              rat gesteigerte körperliche Aktivität ist gleichzeitig
Bezüglich der Schädlichkeit des hohen Konsums          protektiv gegenüber verschiedenen nicht übertrag-
von Süssgetränken bestehen deutliche Evidenzen         baren Krankheiten, teils unabhängig vom Körper­
[28–30], die sich in vielen Guidelines und Empfeh-     gewicht [42]. Eine Förderung gesunden Bewegungs-
lungen niederschlagen [31–33], so auch in denjeni-     verhaltens ist damit auch im generellen Sinne einer
gen von Gesundheitsförderung Schweiz [34, 35].         NCD-Prävention von Bedeutung.
Während unklar ist, wie viel einzelne Faktoren zur     Für die Schweiz liefert die Studie «Sport Schweiz
Entstehung der Übergewichts- und Adipositasepi-        2014» [15] den erfreulichen Befund, dass der Anteil
demie beigetragen haben, gilt als gesichert, dass      von Personen, die regelmässig Sport treiben, im
die Summe der Veränderungen der Ernährungsge-          Vergleich zu früher höher ist. Schweizerinnen und
wohnheiten eine wesentliche Rolle gespielt hat.        Schweizer schneiden damit auch im internationalen
14   Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen

Vergleich gut ab. Gleichzeitig geben gemäss der            3.2   Folgen von Übergewicht und Adipositas
Studie aber ein Viertel der Befragten an, keinen
­
Sport zu treiben. Diese Gruppe blieb im historischen       3.2.1 Gesundheitliche Folgen
Vergleich stabil – der festgestellte Anstieg der Sport­    Übergewicht und insbesondere Adipositas stellen
aktivität ergibt sich dadurch, dass Gelegenheits-          ein multisystemisches Gesundheitsproblem dar. Sie
sportler und -sportlerinnen selten wurden. Man             sind verbunden mit vielfältigen Risiken und asso­
treibt also entweder regelmässig oder gar keinen           ziiert mit der Entstehung von nicht übertragbaren
Sport. Die Berücksichtigung dieser Befunde er-             Krankheiten (NCD): erhöhte Risiken für psychische
scheint wichtig für die Ausgestaltung von Präven­          Störungen, gastrointestinale Komplikationen, Herz-
tionsstrategien.                                           Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes [44]. Die Kon­
                                                           stellation der sich mit Übergewicht und Adipositas
3.1.4	Sozioökonomische und soziokulturelle                einstellenden Komorbiditäten eines hohen Blut-
           ­Faktoren                                       drucks, einer Insulinresistenz und einer Dislipid­
Sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren be-          ämie wird als «metabolisches Syndrom» bezeichnet.
einflussen in mannigfaltiger Weise die Entstehung          Dieses spielt eine wichtige Rolle in der Entstehung
von Übergewicht und Adipositas. Ströbele-Benschop          der genannten NCD Herz-Kreislauf-Erkrankungen
(2018) weist auf eine Reihe von Zusammenhängen             und Diabetes. Ein solches metabolisches Syndrom
hin [43]:                                                  wird zunehmend bereits bei Kindern festgestellt,
••Übergewicht und Adipositas sind sozial inhomogen         und es gibt Evidenz, dass Übergewicht und Adipo-
   verteilt, mit höheren Prävalenzen bei Personen          sitas bei Kindern zu diesen NCD beiträgt [45, 46]. Es
   mit niedrigem Sozialstatus (gemessen an Einkom-         ist einerseits so, dass das Vorliegen von Überge-
   men, Bildung, Berufsgruppen). Kinder aus Fami­          wicht und Adipositas in der Kindheit die Wahrschein-
   lien mit Migrationshintergrund bilden diesbezüg-        lichkeit fortdauernden Übergewichts und Adipositas
   lich eine vulnerable Gruppe.                            im Erwachsenenalter erhöht [47], mit entsprechen-
••Die ursächlichen Zusammenhänge zwischen                  den erhöhten Risiken für die Entstehung der NCD
   ­Sozialstatus und Prävalenzen sind komplex. So          und NCD-verbundener Folgekomplikationen. Ande-
    gibt es eine Korrelation zwischen Sozialstatus         rerseits gibt es aber auch Hinweise, dass selbst bei
    und Übergewicht fördernden Lebensstilfaktoren          Wiedererreichen eines gesunden Körpergewichts
    und Verhaltensmustern wie ungesunder Ernäh-            im Erwachsenenalter gewisse Risiken erhöht blei-
    rung und körperlicher Inaktivität. Diese mögen         ben [46]. Es ist also in mehrfacher Hinsicht ange-
    teilweise direkt eine Folge fehlender finanzieller     zeigt, früh präventiv einzugreifen.
    Möglichkeiten sein: Ungesunde, energiereiche
    Lebensmittel sind billiger; gesellschaftliche und      3.2.2 Sozioökonomische Konsequenzen
    sportliche Aktivität kostet. Darüber hinaus            Das mit Übergewicht und Adipositas und den Krank-
    ­vermutet man erhöhte Risiken in der Persönlich-       heitsfolgen verbundene Leid geht mit hohen ge­
     keitsentwicklung: Eine vulnerable Situation           sellschaftlichen Belastungen einher: Basierend auf
     in der Kindheit erschwert die Entwicklung von         Daten aus der Global-Burden-of-Disease-Daten-
                                                           ­
  ­Le­benskompetenzen sowie Selbstwirksamkeit,             bank [48] schätzt das McKinsey Global Institute die
   mit negativen Folgen für das Gesundheitsver­            jährlichen Kosten global auf 2,0 Billionen Dollar,
   halten.                                                 entsprechend 2,8 % des globalen BIP [49]. Diese
••Die Prägung durch das soziale und kulturelle             Schätzung beinhaltet verlorene Arbeitsproduktivität
     Umfeld spielt eine bedeutende Rolle. Dies ist         durch den Verlust produktiver Lebensjahre, welche
     ­besonders wichtig in der kindlichen Entwicklung.     etwa 70 % der Kosten ausmacht. Übergewicht und
      Die Eltern nehmen eine Vorbildrolle ein und          Adipositas rangieren in dieser Schätzung unter den
      ­beeinflussen mit ihrem Lebensstil die Vorlieben     drei wichtigsten «global social burdens», zusam-
       ihrer Kinder. Mit zunehmendem Alter tritt ein       men mit Rauchen und bewaffneten Konflikten (beide
       wachsender Einfluss der Gleichaltrigen und des      je 2,1 Billionen Dollar).
       ausserfamiliären Umfelds dazu. Der familiäre        Für die Schweiz schätzen Schneider & Venetz (2014)
       Einfluss wird dadurch nicht irrelevant und prägt    die direkten und indirekten Kosten von überge-
       weiterhin das Gesundheitsverhalten bis ins          wichts- und adipositasbedingten Erkrankungen im
  ­Erwachsenenalter.                                       Jahr 2012 auf rund 8 Milliarden Franken [50].
Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen 15

4	Prävention und
   Gesundheitsförderung
4.1    Lebensverlaufsmodell                              vom Lebenspfad abhängen: Sie kumulieren sich,
                                                         aber die Risikokurve ist beinflussbar (durch Verhal-
Im 2016 erschienen Bericht «Consideration of the         ten und Lebensstil, durch die Verhältnisse, in denen
evidence on childhood obesity for the Commission         eine Person lebt). Und es zeigt den generationen-
on Ending Childhood Obesity» [51], der als wissen-       übergreifenden Effekt: Die Eltern haben einen mo-
schaftliches Grundlagendokument für die Strate-          dulierenden Einfluss (bereits pränatal via die Situa-
giearbeit der gleichnamigen Kommission erstellt          tion der Mütter).
wurde, bildet das in Abbildung 5 dargestellte Le-        Anhand des Modells lassen sich Interventionsstra-
bensverlaufsmodell (life-course model) eine kon-         tegien motivieren: Im Verlauf der Entwicklung und
zeptuelle Basis. Das Modell zeigt Kurven des Risi-       Reifung nimmt die Plastizität (also die Beinflussbar-
kos für die Entstehung von Krankheiten über den          keit der Ausprägung von Merkmalen) tendenziell ab.
Lebensverlauf hinweg. Es reflektiert ein gestiege-       Hohe Plastizität bedeutet, dass eine hohe Anpas-
nes Wissen darüber, dass in der frühen Lebens­           sungsfähigkeit und Formbarkeit der Reaktion auf
phase prägende Prozesse stattfinden, welche die          Umweltbedingungen besteht – im positiven wie im
Reaktion einer Person auf eine obesogene Umwelt          negativen Sinne. Während die Plastizität tendenziell
beeinflussen. Es zeigt auch, dass Krankheitsrisiken      mit fortschreitendem Alter abnimmt, akkumulieren

ABBILDUNG 5

Lebensverlaufsmodell

                                                                                          Affected adult:
                                                                                        interventions have
                          Risk                                                             limited effect

                                                                         Adult:
                                      Human lifecycle               screening may not
                                                                       reduce risk

                                                        Child/adolescent:
                                 Mother and infant:
                                                         effective point
Biological capital               biomarkers of risk
                                                           to intervene
sets level of health
at conception

                                                                                                        Life course

                       Plasticity

                                                                                             Detrimental effects
                                                                                         of Lifestyle ­challenges

nach Hanson (2013) [52]
16    Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen

 sich parallel dazu die schädlichen Folgen einer ge-         tionieren. Ein wissenschaftlicher Nachweis, aggre-
 sundheitsschädigenden Umwelt und eines gesund-              gierend aus einer Vielzahl von Ansätzen in einer
 heitsschädigenden Lebensstils. Aus dieser Logik             komplexen Umwelt, bleibt schwierig.
 erklärt sich die Wichtigkeit einer Förderung des ge-        Die Studie «Overcoming obesity: An initial economic
 sunden Körpergewichts im Kindes- und Jugend­alter.          analysis» des McKinsey Global Institute (MGI) [49]
 Die im Modell suggerierte lineare Abnahme der              kommt dennoch zu positiven Schlüssen. In der
 Plastizität ist eine Vereinfachung – es gibt im Verlauf    ­Studie wurden in einer Metaanalyse 74 verschiedene
 der Entwicklung Phasen hoher Beeinflussbarkeit              Arten von Interventionen im Sinne von Pilotprojek-
 bzw. hoher Sensitivität. Das frühe Kindesalter              ten oder Diskussionsansätzen aus 18 Regionen
 ­(inklusive Pränatalphase) stellt eine solche Phase         weltweit untersucht, wobei sich die Interventionen
  dar. Auch die Pubertät ist eine kritische und sensi­       nicht auf Kinder und Jugendliche beschränkten. Die
  tive Reifungsphase.                                        Autorinnen und Autoren schreiben:
  Bezüglich der pränatalen und frühkindlichen Phase
  wurde in den letzten Jahren das Grundlagenwis-               Almost all of the interventions we analyzed are
  sen erweitert. Es stellt sich heraus, dass bereits           highly cost-effective from the viewpoint of society.
  im Mutterleib und in der Säuglingsphase metaboli-            “Cost-effective from the viewpoint of society”
  sche Prägungen stattfinden, die einen Einfluss auf           means that the health-care costs and productivity
  spätere Übergewichts- und Adipositasentwicklung              savings that accrue from reducing obesity outweigh
  ausüben. Siehe hierzu den Übersichtsartikel von              the direct investment required to deliver the inter-
­Koletzko (2018) [53] und die Websites des Projekts            vention when assessed over the full lifetime of the
  EarlyNutrition [54] und des Forschungsprogramms              target population. Our analysis does not demon-
  EARNEST [55]. Interventionen in der frühkindlichen           strate the financial cost-benefit profile of the inter-
  Phase kommen vor diesem Hintergrund seit einigen            ventions to a specific entity such as a school, an
  Jahren ein hohes Interesse zu, und sie werden auch          ­employer, a retailer, or a food manufacturer. None-
  im Rahmen der KAP gefördert. Wie weiter unten ge-            theless, in terms of the financial “bang for buck”
  schildert, bestehen im Vergleich zu den etablierten,        that comes from delivering a positive impact on
  oft schulbasierten Interventionen für ältere Kinder         health, all interventions are attractive. [49]
  noch weniger Erfahrungen und Evidenz für Wirk-
  samkeit.                                                  Sie plädieren für einen holistischen Ansatz ver-
  Im Folgenden sollen Erkenntnisse zu Präventions-          schiedener Interventionen auf vielen Ebenen:
  strategien und Wirkung von Interventionen für die
  spezifischen Zielgruppen und mit Bezug auf Settings         No single solution creates sufficient impact to
  und Präventionsansätze beschrieben werden.                  ­reverse obesity: only a comprehensive, systemic
                                                               program of multiple interventions is likely to be
                                                               ­effective. Our analysis suggests that any single in-
4.2    Präventive Interventionen                                tervention is likely to have only a small impact at
                                                                the aggregate level. Our research suggests that an
 In den früheren Grundlagenberichten und im Ar-                 ambitious, comprehensive, and sustained portfolio
beitsbericht aus dem Jahr 2014 wurde angeführt,                 of initiatives by national and local governments,
dass im Rahmen von wissenschaftlichen Metaanaly-                ­retailers, consumer-goods companies, restaurants,
sen über Interventionsansätze zwar oft belegt wer-               employers, media organizations, educators, health-
den kann, dass Interventionen eine gewisse Wirkung               care providers, and individuals is likely to be neces-
zeitigen. Die gefundene Evidenz wird aber oft als                sary to support broad behavioral change. These
­limitiert angegeben. Als Gründe dafür werden die                levers must address different population segments
 stark unterschiedliche Qualität der Studien, die sehr           and deploy different mechanisms for impact. [49]
 heterogenen Studienansätze, die kurze Interven­
 tionsdauer und fehlendes Follow-up angegeben.              4.2.1 Pränatal und Kleinkinder
 An diesem Bild hat sich in der Zwischenzeit wenig          Es gibt gemäss Kumanyika et al. (2016) substanzielle
 verändert – man sollte jedoch nicht interpretieren,        Evidenz, dass bei Beginn der Schwangerschaft be-
 dass dies ­bedeutet, dass Interventionen nicht funk­       stehendes mütterliches Übergewicht und Adipositas
Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen 17

sowie übermässige Gewichtszunahme während der            Was spezifische präventive Interventionen in der
Schwangerschaft und Gestationsdiabetes Risiko-           frühen Lebensphase angeht, bestand gemäss der
faktoren bilden für späteres kindliches Übergewicht      Cochrane-Review von Waters et al. (2011) noch sehr
und Adipositas [56]. Aber: Es gibt noch wenig Daten      wenig gefestigte Evidenz [62]. Es sind hierzu For-
bezüglich Interventionen und bezüglich des Effekts       schungsanstrengungen im Gange. Besonders her-
dieser Interventionen auf das spezifische Outcome        vorzuheben ist das Projekt Early Prevention of
«späteres kindliches Übergewicht oder Adipositas»        ­Obesity in Children (EPOCH) [63] und die darin ein-
[51]. So waren klinische Versuche mit Interventionen      geschlossenen Studien. In EPOCH werden die Out-
mit dem Ziel, die Gewichtszunahme während der             comes mehrerer Studien aus Australien und Neu-
Schwangerschaft zu reduzieren und damit Gesta­            seeland (Healthy Beginnings [64], Nourish [65],
tionsdiabetes zu verhindern, nur limitiert erfolg-        InFANT [66] und POI NZ [67]) untersucht. Das Pro­
reich [57]. Besser ist die Evidenz für den Risikofak-     tokoll für diese prospektive Metaanalyse wurde
tor Rauchen während der Schwangerschaft: Dies             2010 publiziert [68]. Die Forschungsfrage lautet:
ist mit reduziertem kindlichem Geburtsgewicht und         «Do i­nterventions implemented in the first year of
höherem Risiko für Frühgeburt verbunden, erhöht           life ­prevent obesity, and influence weight status and
aber auch das Risiko für kindliches Übergewicht um        a range of lifestyle-relevant behavioural outcomes
50 % [58–60].                                             at 18–24 months of age?» Die Analyse wurde noch
Der 2015 erschienene State-of-the-Art-Bericht             nicht publiziert, aber gemäss einem in Kumanyika et
­«Ernährung in den ersten 1000 Lebenstagen – von          al. (2016) zitierten Abstract konnten eine signifikan-
 pränatal bis zum 3. Geburtstag» [61] der Eidgenös­       te Reduktion des mittleren BMI, eine längere Dauer
 sischen Ernährungskommission gibt eine gute Zu-          des Stillens und ein reduzierter TV-Konsum belegt
 sammenfassung der Evidenz zu Ernährung in der            werden [56]. Für Übergewichts- und Adipositasprä-
 Schwangerschaft und bei Kleinkindern, und er leitet      valenzen, Schlafmuster und physische Aktivität ge-
 Empfehlungen ab, so auch zum protektiven Effekt          lang dieser Nachweis allerdings nicht [56].
 des Stillens:                                            Die in der Metaanalyse mituntersuchte Healthy-­
                                                          Beginnings-Studie illustriert dabei auch das Pro­
  Die Empfehlungen [WHO, SGP, ESPGHAN] lauten,            blem einer fehlenden Nachhaltigkeit isolierter Inter-
  dass weltweit alle Säuglinge 6 Monate ausschliess-      ventionen: Im Rahmen der Studie wurden erstmalige
  lich gestillt werden sollten und anschliessend auch     Mütter mit sozial benachteiligtem Hintergrund mit-
  nach Einführung der Beikost bis zum Alter von           tels insgesamt acht Hausbesuchen betreut mit dem
  2 Jahren und länger gestillt werden können. Aller-      Ziel, Stillen und gesunde Ernährung, gesundes und
  dings wird in diesen Positionspapieren auch er-         aktives Familienleben zu fördern. Diese Intervention
  wähnt, dass es Mütter gibt, die diesen Empfehlun-       zeitigte signifikante Resultate, gemessen beim Kin-
  gen nicht folgen können oder wollen. Trotzdem           desalter von 2 Jahren [69]. 3 Jahre später, mit 5 Jah-
  sollen auch diese Mütter unterstützt werden, um         ren, konnte keiner der erreichten positiven Effekte
  die Ernährung ihrer Säuglinge optimal gestalten         mehr nachgewiesen werden [70].
  zu können. ESPGHAN und SGP formulieren ihre             Die InFANT-Studie wird nach positiven Ergebnissen
  Empfehlungen bewusst offen und flexibel. Sie brin-      in einer erweiterten Form wiederholt (InFANT Ex-
  gen damit zum Ausdruck, dass die Evidenz für            tend), mit Blick auf Skalierbarkeit, Nachhaltigkeit und
  ­präzisere Empfehlungen nicht vorhanden ist. [61]       einem Endpunkt beim Kindsalter von 3 Jahren [71].
                                                          Den Expertinnen und Experten erscheint es mit
Mit Blick auf Muttermilchersatzprodukte empfiehlt         Blick auf Interventionen in der frühen Phase wichtig,
er:                                                       bei werdenden Eltern als wichtige Zielgruppe eine
                                                          für das Kind gesundheitsförderliche Situation vor-
   Kleinkindmilchen oder Folgenahrung für Kinder          zuspuren. Dazu gehört die Vermittlung von Ernäh-
   im Alter von 1–3 Jahren sind nicht erforderlich, es    rungswissen und Stillförderung und generell eine
   ­handelt sich um «Convenience-Produkte». Der           Sensibilisierung der Eltern. Die Fachleute im Klein-
    Nährstoffbedarf von Kleinkindern kann durch eine      kindbereich können dabei eine wichtige Rolle als
    ausgewogene Mischkost vollständig abgedeckt           Multiplikatoren spielen. Die Förderung eines sol-
  ­werden. [61]                                           chen gesundheitsförderlichen Betreuungsumfelds
18    Gesundes Körpergewicht bei Kindern und Jugendlichen

im Kleinkindbereich ist Gegenstand des Ende 2013               relation to measures of equity, longer term out-
lancierten Projekts Miapas von Gesundheitsförde-               comes, potential harms and costs.
rung Schweiz [72].                                             Childhood obesity prevention research must now
                                                               move towards identifying how effective interven-
4.2.2 Kinder                                                   tion components can be embedded within health,
Die bereits im letzten Arbeitsbericht zitierte Coch­           education and care systems and achieve long
rane-Review von Waters et al. (2011) stellt immer              term sustainable impacts. [62]
noch eine der umfassendsten Untersuchungen zur
Wirksamkeit präventiver Interventionen dar [62].             Bezüglich kombinierter verhaltensorientierter the-
Sie fi­ndet starke Evidenz für positive Effekte              rapeutischer Lebensstil-Interventionen wurden be-
von Präventionsprogrammen für die Altersgruppe               reits in der Cochrane-Review von Oude Luttikhuis et
6–12 Jahre und insbesondere für das Schulsetting.            al. (2009) signifikante Effekte gefunden [74]. Diese
Die Metaanalyse von Wang et al. (2015) sieht eben-           Studie wurde via ein Set von Metaanalysen für ver-
falls moderat starke Evidenz für schulbasierte In-           schiedene Aspekte vertieft:
terventionen [73]. Damit spiegeln die Studien die            ••Colquitt et al. (2016) studierten Multikomponen-
Aussagen der Expertinnen und Experten, die im                  ten-Interventionen und Diät-Interventionen für
Schulsetting (inklusive Kindergarten) und auch im              Vorschulkinder (bis 6 Jahre). Sie fanden Hinweise
Setting der Kinderbetreuungsstätten wichtige Orte              für ein Funktionieren der Multikomponenten-­
der Prävention sehen. Es besteht erstens ein ver-              Interventionen, bei geringer Qualität der vor­
gleichsweise guter institutioneller Zugang, und es             handenen Evidenz. Für reine Diät-Interventionen
können zweitens viele Kinder erreicht werden. Fol-             war im Vergleich die Datenlage noch weniger
gende Ansätze wurden in Waters et al. (2011) als               aussagekräftig. [75]
«vielversprechend» eingestuft [62]:                          ••Mead et al. (2017) fanden für verhaltensorientier-
                                                               te Multikomponenten-Interventionen (Ernährung,
 ••School curriculum that includes healthy eating,             Bewegung, Verhaltensänderung) in der Alters-
   physical activity and body image                            gruppe 6–11 Jahre Evidenz für kleine, zumindest
 ••Increased sessions for physical activity and the            kurzfristig anhaltende positive Effekte bezüglich
   development of fundamental movement skills                  BMI und Körpergewicht. Sie sehen aber eine
   ­throughout the school week                                 grosse Heterogenität, was einzelne Studienout­
 ••Improvements in nutritional quality of the food             comes angeht, die sie nicht erklären können,
    ­supply in schools                                         und betonen die Notwendigkeit für ein länger­
 ••Environments and cultural practices that support            fristiges Follow-up, weil die Nachhaltigkeit nicht
     children eating healthier foods and being active          ­belegt ist. [76]
     throughout each day                                     ••Loveman et al. (2015) untersuchten Interventio-
 ••Support for teachers and other staff to implement            nen, die sich spezifisch an die Eltern richten,
     health promotion strategies and activities (e.g. pro-      und fanden ähnlich gute Effekte wie für Interven-
     fessional development, capacity building activities)       tionen, die Eltern und Kind gleichzeitig anspre-
 ••Parent support and home activities that encourage            chen. Die vorgefundene Evidenz wurde als noch
     children to be more active, eat more nutritious            limitiert beschrieben wegen methodischer Schwä-
     foods and spend less time in screen based activi-          chen der eingeschlossenen Studien, fehlendem
     ties [62]                                                  Follow-up und fehlender Information zu wichtigen
                                                                Outcomes. Zehn der eingeschlossenen Studien
Angesichts der gefundenen Heterogenität der Stu­                laufen weiter und werden mehr Information lie-
dien und Unklarheiten bezüglich der Einbettung und              fern. Die Autorinnen und Autoren regen auch ein
Nachhaltigkeit geben die Autorinnen und Autoren                 Studium der Kosteneffizienz der Ansätze im
aber auch Folgendes zu bedenken:                                ­Vergleich zu Eltern-Kind-Interventionen an. [77]

     However, study and evaluation designs need to be        Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich
     strengthened, and reporting extended to capture         in der wissenschaftlichen Literatur eine Vielzahl von
     process and implementation factors, outcomes in         Hinweisen für ein Funktionieren von Interventionen
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