Gesundheit braucht Politik - Soziale Ungleichheit und Gesundheit
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Gesundheit verein demokratischer ärztinnen und Politik ärzte braucht Zeitschrift für eine soziale Medizin Nr. 4/2020 | Solibeitrag: 5 Euro Soziale Ungleichheit und Gesundheit
3 Editorial Inhalt 4 Benjamin Wachtler: »Social injustice is Der vdää ist bundesweit organisiert; er setzt sich für killing people on a grand scale« – Ein kurzer eine soziale Medizin, für die Demokratisie- Überblick über das Konzept der sozialen rung der Gesundheitsversorgung und der Determinanten der Gesundheit Strukturen der ärztlichen Standesvertretung ein. Er nimmt Einfluss auf die Gesundheits- 8 Martin Kronauer: »Auseinanderdriftende politik und unterstützt den Widerstand gegen Gesellschaft« – Über Armut in Deutschland die Ökonomisierung der Medizin. Sollten Sie von uns informiert werden wol- 12 Tobias Hofmann: »Manager*innen ihrer len, so setzen Sie sich bitte mit unserer Ge- eigenen Krankheit« – Über Patient*innen im schäftsstelle in Verbindung. Gerne können Neoliberalismus Sie sich auch online über den vdää-Newslet- ter auf dem Laufenden halten. Die Zeitschrift 16 Medizinische Versorgung von Inhaftierten. »Gesundheit braucht Politik« ist die Ver- Positionspapier des vdää einszeitung, die viermal jährlich erscheint. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben 18 Kritische Mediziner*innen Freiburg: Infografik nicht unbedingt die Vereinsmeinung wieder. »Soziale Determinanten von Gesundheit« Redaktion 20 Jakob Zschiesche: »Gesundheit auf der Felix Ahls, Luca Baetz, Elena Beier, Thomas Platte« Kunkel, Eva Pelz, Nadja Rakowitz, Cevher 23 In eigener Sache: Der vdää wächst … Sat, Rafaela Voss, Ben Wachtler, B ernhard Winter 24 Claudia Jenkes: »Armut: Nährboden für resistente Erreger« – Soziale Determinanten Impressum in den Blick nehmen! Gesundheit braucht Politik 4/2020 ISSN 2194–0258 28 »Wissenschaft mit Konsequenzen« – Hrsg. vom Verein demokratischer Interview mit Ben Wachtler zu den Thesen Ärztinnen und Ärzte von Wilkinson und Pickett V.i.S.d.P. Felix Ahls / Thomas Kunkel / Bernhard Winter 32 Luca Baetz / Nadja Rakowitz: »Soziale Bilder dieser Ausgabe Determinanten in Zeiten der Krise« – Bericht über die diesjährige Jahreshauptversammlung Das Titelbild (united-nations-covid-19- response-a5occ9e7J7Y-unsplash) stammt 34 Bernhard Winter: »Roter Wedding – vorwärts von: United Nations COVID-19 Response; Genossen …« – Rezension zum Wirken des die Bilder im Innenteil kommen von: WHO, kommunistischen Arztes Georg Benjamin in »https://www.who.int/phe/infographics/ en/« Infographics on Public health, environ- dem proletarischen Berliner Stadtteil mental and social determinants of health; The Nation’s Health (a Publication of the American Public Health Association): Info- graphics Social determinants of health; The Birth Place Lab; Robert Wood Johnson Foun- Gesundheit braucht Politik – dation. im Abonnement Geschäftsstelle: Die Zeitschrift des vdää ist inhaltlich längst mehr als eine reine Kantstraße 10, 63477 Maintal Vereinszeitschrift. Wir machen vier Themenhefte pro Jahr zu aktu- Telefon 0 61 81 – 43 23 48 ellen gesundheitspolitischen Problemen, die sich hinter anderen Mobil 01 72 – 1 85 80 23 gesundheitspolitischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum Email info@vdaeae.de nicht verstecken müssen. Vereinsmitglieder bekommen die Zeit- Internet https://www.vdaeae.de/ schrift kostenfrei zugesandt. https://gbp.vdaeae.de/ Bankverbindung: Wer nicht Vereinsmitglied ist, hat die Möglichkeit, die »Zeitschrift Triodos Bank für eine soziale Medizin« zum Preis von 26 Euro oder als Studentin IBAN: DE05 5003 1000 1076 0500 03 oder Student für 10 Euro im Jahr zu abonnieren. BIC: TRODDEF1XXX Ein Probeabo besteht aus zwei Ausgaben und kostet ebenfalls 10 Euro. Satz/Layout Birgit Letsch Druck Hoehl-Druck Bei Interesse wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle: info@vdaeae.de 2 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020
Editorial Die letzte Ausgabe des Jahres der Gesundheit braucht Politik streicht die besonders gesundheitsschädliche Rolle der Aus- blickt traditionell auf die im Herbst stattfindende Jahres- grenzung und Diskriminierung gegenüber Menschen ohne hauptversammlung zurück. Dieses Jahr stand sie unter dem Obdach und stellt zuletzt Forderungen an die Politik, um die Motto »Soziale Determinanten von Gesundheit in Zeiten der Situation von wohnungs- und obdachlosen Menschen in Krise«. Dieser Titel kann auf zwei Weisen verstanden wer- Deutschland zu verbessern. Eine weitere Perspektive zu so- den: Zum einem wird die Rolle von sozialen Determinanten zialen Determinanten nimmt Claudia Jenkes ein, die Armut in einer Gesundheitskrise wie der Covid-19-Pandemie beson- und Antibiotikaresistenzen im Kontext von Mensch, Tier und ders deutlich, zum anderen steckt auch das Konzept der Umwelt auf den Grund geht. sozialen Determinanten selbst in der Krise. Denn soziale De- In einem Interview erläutert Ben Wachtler die progressi- terminanten sind zwar mittlerweile schon vielen im Gesund- ven sozialmedizinischen Thesen von Richard Wilkinson und heitsbereich Tätigen ein Begriff und der Einfluss von Fakto- Kate Pickett, die unter anderem besagen, dass nicht nur der ren wie Armut, Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnissen, soziale Status des Individuums selbst sondern auch die Un- Geschlecht oder Migrationsgeschichte auf die Gesundheit gleichheit in der Gesellschaft Einfluss auf Endpunkte wie Ge- überrascht heutzutage nur noch die wenigsten. Jedoch müs- sundheit, Lebenserwartung und Kriminalität haben. Das vor- sen wir uns immer wieder die Frage stellen, welche Konse- läufige Positionspapier des Arbeitskreises Knastmedizin des quenzen daraus gezogen werden müssten und welche tat- vdää hinterfragt die Standards und Rahmenbedingungen der sächlich (nicht) gezogen werden. Gesundheitsversorgung von inhaftierten Menschen in Wir wollen diese Ausgabe und eine der nächsten in 2021 Deutschland und stellt Forderungen zur Verbesserung der dem Thema widmen. Schwerpunkt des hier vorliegenden medizinischen Versorgung und Abmilderung der krankma- Hefts ist zunächst der Zusammenhang von sozialer Ungleich- chenden Rahmenbedingungen. Es schließt sich ein kurzer heit und Gesundheit. Weiterführend zu den zahlreichen inte- Bericht zur diesjährigen Jahreshauptversammlung des vdää ressanten Einblicken zu sozialen Einflüssen auf Gesundheit in an. Bernhard Winter schließt diese Ausgabe mit einer Rezen- dieser Ausgabe, möchten wir für das nächste Jahr ein Heft sion des Buchs von Bernd-Peter Lange: »Georg Benjamin: mit Schwerpunkt für grundsätzlichere Fragen zu sozialen De- Ein bürgerlicher Revolutionär im roten Wedding«, welches terminanten und verschiedenen Sozialtheorien ankündigen. die Geschichte des Berliner Arztes und Widerstandskämpfers Des Weiteren wird es im kommenden Jahr auch eine Sonder- beleuchtet. ausgabe zur Covid-19-Pandemie geben, die explizit und de- Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen und einen guten zidiert den Umgang und die Auswirkungen der Corona-Krise Start in 2021! thematisiert. Trotz der wegweisenden Erkenntnisse über den Zusam- menhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit der letzten Jahre und Jahrzehnte fehlen größtenteils politische Reaktionen, und der nötige radikale Umschwung im Denken und Handeln der Entscheidungsträger*innen bleibt weiterhin aus. Dies wird auch von vielen Verfasser*innen der Beiträge dieses Hefts, die zum Teil auch bei der JHV referiert haben, immer wieder kritisiert. Ben Wachtler erläutert zu Beginn der Ausgabe die Hintergründe des Konzepts der sozialen Deter- minanten von Gesundheit sowie dessen politischer Umset- zung, wobei er insbesondere die Situation in Großbritannien genauer unter die Lupe nimmt. Martin Kronauer folgt mit ei- nem Überblick über Armut in Deutschland und dem Wandel von deren gesellschaftspolitischer Einordnung. Tobias Hof- mann analysiert die Rolle von Patient*innen in einem neoli- beral geprägten Gesundheitssystem und die damit einherge- henden Folgen für Patient*innen sowie die Behandelnden. In einer Mindmap der Kritischen Medizin Freiburg werden verschiedene Aspekte zu Zusammenhängen zwischen sozia- len Determinanten von Gesundheit und der Covid-19-Pande- mie dargestellt. Jakob Zschiesche beschreibt die Einflüsse von Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf Gesundheit, unter- Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020 | 3
»Social injustice is killing people on a grand scale« Ein kurzer Überblick über das Konzept der sozialen Determinanten der Gesundheit – von Benjamin Wachtler Gesundheit und Krankheit sind wesentlich durch soziale Determinanten bestimmt, also durch die Verhält- nisse, in die Menschen geboren werden und in denen sie aufwachsen, arbeiten, leben und älter werden. Auch wenn diese der Medizin nicht direkt zugänglich sind, so ist es doch auch die Verantwortung der Ge- sundheitsberufe, sich für eine Verbesserung dieser Lebensverhältnisse und eine Reduzierung gesundheitli- cher Ungleichheit einzusetzen. Dieser Beitrag soll einen kurzen Überblick über das Konzept der sozialen Determinanten der Gesundheit und seinen Einfluss auf der internationalen und nationalen Ebene geben. »Warum sollen wir Menschen behan- Zeug*innen der gesundheitlichen Aus- Analyse für verschiedene Stadtteile deln, um sie dann in die Verhältnisse wirkungen ungleicher sozialer Bedin- von Paris legte Louis René Villermé be- zurückzuschicken, die sie krank ge- gungen und andererseits der nachhal- reits 1826 vor. Friedrich Engels veröf- macht haben«, fragt Michael Marmot, tigen Heilung und Gesunderhaltung fentlichte 1845 das Buch »Die Lage einer der Pioniere der modernen Sozi- ihrer Patient*innen verpflichtet. Es ist der arbeitenden Klasse in England«, in alepidemiologie, in der Einleitung zu von daher sinnvoll, sich näher mit dem dem er die Unterschiede in der Le- seinem Buch »The Health Gap« (Mar- Konzept der SDG auseinanderzuset- benserwartung zwischen der arbeiten- mot 2015). Damit dreht er die Frage zen, das heute in der internationalen den Klasse und dem Bürgertum be- danach, warum sich Ärzt*innen und Public Health Debatte überaus einflus- schrieb. Und auch in Deutschland andere Beschäftigte in den Gesund- sreich ist, und zu analysieren, was wir wurden solche Unterschiede durch die heitsberufen mit den sozialen Deter- als Gesundheitsarbeiter*innen aus den Pioniere der Sozialmedizin, wie Rudolf minanten der Gesundheit (SDG) be- bisherigen Debatten lernen können. Virchow und Salomon Neumann spä- schäftigen sollten quasi um. Warum testens seit Mitte des 19. Jahrhunderts sollten wir Menschen überhaupt be- Arme Menschen sterben beschrieben. Dabei lag der Fokus auf handeln, wenn sie danach doch durch früher oder: der soziale den Wirkungen der absoluten Armut die Lebensverhältnisse, in denen sie Gradient der Gesundheit und den krankmachenden hygieni- sich befinden, sehr wahrscheinlich, schen Bedingungen, die zu Epidemien wieder krank werden? Ein Gedanke, Dass Menschen, die in Armut leben, mit Infektionskrankheiten wie der den viele Kolleg*innen sicher kennen eine kürzere Lebenserwartung haben, Cholera führten, die vor allem die Ar- und der zu Unzufriedenheit mit der ei- ist heute wohl den meisten bekannt men dahinrafften. genen Arbeit oder häufig wohl auch zu oder wird sie zumindest nicht weiter Durch den allgemeinen gesell- einem gewissen Fatalismus führen überraschen. Die mittlere Lebenser- schaftlichen Fortschritt, der mit ver- kann. Eine nachhaltige und damit öko- wartung ab der Geburt von Frauen in besserten hygienischen Bedingungen nomische Behandlung soll dazu geeig- den niedrigsten Einkommensgruppen und medizinischem Fortschritt ein net sein, Menschen langfristig gesund in Deutschland ist ungefähr 4,4 Jahre herging, kam es über die folgenden zu erhalten. Dafür müssen soziale Be- geringer als die von Frauen in der Jahrzehnte hinweg zum sogenannten dingungen mit in den Blick genommen höchsten Einkommensgruppe. Bei epidemiologischen Übergang, der sich werden, die der direkten medizini- Männern liegt dieser Unterschied bei durch eine Abnahme der Bedeutung schen Behandlung nicht zugänglich ungefähr 8,6 Jahren. Diese Ungleich- der Infektionskrankheiten für die all- sind, sondern eines breiteren gesell- heit in der mittleren Lebenserwartung gemeine Krankheitslast und Sterblich- schaftlichen und politischen Engage- ist dabei über die letzten 25 Jahre re- keit beschreiben lässt. Die mittleren ments bedürfen. Die Gesundheitsbe- lativ stabil geblieben (Lampert et al. Lebenserwartungen der Bevölkerun- rufe haben dabei eine besondere 2019). Die Zusammenhänge zwischen gen in Europa stiegen deutlich an und Verantwortung, sich für die Verbes Armut und einer erhöhten Sterblich- die Altersstrukturen der Gesellschaf- serung der Lebensverhältnisse ihrer keit bzw. einer geringeren Lebenser- ten veränderten sich. Damit nahm die Patient*innen und die Reduzierung ge- wartung sind dabei für einzelne Länder Bedeutung chronischer Erkrankungen, sundheitlicher Ungleichheit einzuset zumindest seit Mitte des 19. Jahrhun- v.a. der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zen, sind sie doch einerseits täglich derts bekannt. Eine erste empirische als der bald häufigsten Todesursache 4 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020
zu, die bis in die 1950er Jahre hinein wenig verstanden und behandelbar blieben. Die Risikofaktoren der ischä- mischen Herzerkrankung wurden ab Ende der 1940er Jahre zunehmend durch große Kohortenstudien er- forscht, wie z.B. in der Framingham- Heart-Studie in den USA. Dieses Ziel hatte auch die 1967 in London begonnene Whitehall-Studie, die eine der wichtigsten Grundlagen für die Entstehung des Konzepts der SDG und der modernen Sozialepide- miologie werden sollte. Für diese Stu- die wurden britische Staatsdiener in einer prospektiven Kohortenstudie be- obachtet. Die Ergebnisse zeigten, dass das Risiko an ischämischer Herzkrank- heit zu versterben in den niedrigsten beruflichen Stellungen am höchsten war und graduell über die beruflichen Hierarchien hinweg abnahm, mit dem geringsten Risiko für Menschen in den höchsten beruflichen Positionen (Mar- mot 1978). Dieses Phänomen des so- zialen Gradienten (Marmot 2004) be- schäftigt seitdem die Public Health Wissenschaft. Es bedeutet, dass nicht Entstehung gesundheitlicher Ungleich- von Johannes Siegrist (1996) oder nur die absolute Armut und die damit heit. Dabei liegt der Fokus auf der Be- dem Anforderungs-Kontroll-Modell von verbundenen Lebensverhältnisse einen trachtung von Stressreaktionen des Robert Karasek (1979). Neben dem Einfluss auf die Gesundheit haben, Individuums, die durch die Wahrneh- psychosozialen Modell ist die Theorie sondern dass es andere Mechanismen mung der eigenen relativen sozialen der fundamentalen Ursachen von geben muss, die diese graduellen Un- Deprivation und den damit einherge- Bruce Link und Jo Phelan (1995) heute terschiede im Erkrankungs- und Ster- henden Lebens- und Arbeitsbedingun- in der Diskussion weiter relevant. berisiko besser erklären. Ein sozialer gen entstehen. Dadurch kommt es zu Diese Theorie versucht v.a. die über Gradient wurde seitdem international einer Ausregelung physiologischer die Zeit persistierende gesundheitliche für eine Vielzahl von meist chroni- Systeme wie dem sympathischen Benachteiligung von Menschen in schen Erkrankungen aber auch von In- Nervensystem und anderer psycho- niedrigeren sozioökonomischen Positi- fektionserkrankungen, wie z.B. der neuro-endokrinologischer Systeme, onen zu erklären, die unabhängig vom pandemischen Influenza 2009 oder insbesondere der Hypothalamus-Hy- medizinischem Fortschritt und neuen aktuell in einigen Ländern auch für pophysen-Nebennieren-Achse. Werden präventiven Ansätzen zu sein scheint. COVID-19, beschrieben. diese Systeme über eine längere Zeit Sie erklären dies damit, dass ein hö- aktiviert, kommt es zur so genannten herer sozioökonomischer Status mit Theorien zur Entstehung allostatischen Belastungsreaktion einer Vielzahl von Ressourcen verbun- gesundheitlicher Ungleichheit (McEwen 1993), die Modellierungen den sei, wie z.B. Geld, Wissen, Pres- des Immunsystems zur Folge hat und tige, Macht und nützlichen sozialen Wie die beobachteten gesundheitli- auch zu hirnorganischen Veränderun- Kontakten, die unabhängig von den chen Ungleichheiten genau entstehen, gen führen kann und das R isiko für grundlegenden Mechanismen der ist bis heute das Objekt wissenschaft- Krankheiten und Krankheitsvorstufen Krankheitsentstehung dazu führen, lich-theoretischer Diskussionen. Dabei erhöht. Bruce McEwen beschreibt dies dass Menschen mit einem höheren so- sind neben den materiellen Erklä- als einen Vorgang der täglichen Abnut- zioökonomischen Status ihre Gesund- rungsmustern heute einige Theorien zungsreaktion am Organismus durch heit immer besser schützen können zur Erklärung gesundheitlicher Un- chronische Stressreaktionen. als Menschen ohne diese Ressourcen. gleichheit besonders einflussreich, auf Dieses Erklärungsmodell ist auch Kritik am Konzept der SDG und dem die hier kurz eingegangen werden soll. deshalb so einflussreich, weil es über psychosozialen Erklärungsmodell gab Die aktuell einflussreichste Theorie, die hier skizzierten Mechanismen an- es v.a. von Vertreter*innen »neo-ma- die eng mit dem Konzept der SDG und schlussfähig ist für Theorien der Ent- terieller« Erklärungsmuster, die in dem dessen Protagonist*innen verbunden stehung chronischen Stress, wie z.B. Konzept die auch heute noch beste- ist, ist das psychosoziale Modell der dem Effort-Reward-Imbalance Modell henden Ungleichheiten in den materi- Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020 | 5
ellen Ressourcen und den damit direkt verbundenen gesund- sich für die Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit einzu- heitlichen Folgen, zu wenig berücksichtigt sehen (Muntaner & setzen. In Großbritannien hat sich eine »Inequality in Health Lynch 2002). Außerdem wurde von Vertreter*innen der The- Alliance« 1 aus verschiedenen medizinischen Berufsverbän- orie der politischen Ökonomie der Gesundheit kritisiert, dass den und Fachgesellschaften gegründet, um sich gemeinsam das Konzept der SDG zwar auf die Lebensverhältnisse als gegenüber der Politik für eine Reduzierung gesundheitlicher wichtige Ursache der individuellen Gesundheit hinweise, da- Ungleichheit einzusetzen. Das Konzept der sozialen Determi- bei aber die Ursachen dieser Lebensverhältnisse ignoriere, nanten der Gesundheit ist heute also aus den Programmen also das politisch-ökonomische System und die grundlegen- und Strategien internationaler Gesundheitsorganisationen den gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die erst zu diesen nicht mehr wegzudenken. Auf der Ebene der Nationalstaaten Lebensverhältnissen führten. Dadurch sei das Konzept auch gibt es ebenfalls Beispiele für nationale Gesundheitsstrate- nicht in der Lage, die »Schuldigen« für diese gesundheitli- gien, die diese Ziele teilen. Ob daraus aber auch wirkliche chen Ungleichheiten zu benennen und vergebe damit die politische Entscheidungen resultieren, die geeignet sind, ge- Möglichkeit einer wirklich tiefgreifenden Veränderung dieser sundheitliche Ungleichheit zur reduzieren, ist leider noch Ursachen (Birn 2009, Navarro 2009, Krieger 2011). Das um- nicht so klar. fangreichste Modell zur Erklärung der gesellschaftlichen Un- gleichverteilung von Gesundheit und Krankheit hat die Har- Nationale Strategien zur Reduzierung vard Professorin Nancy Krieger entwickelt. Sie beschreibt gesundheitlicher Ungleichheit – Das Fallbeispiel eine öko-soziale Theorie, welche die biologische, öko-soziale Großbritannien und soziale bzw. politische Ebene von Gesundheit miteinan- der verbindet und dabei explizit die gesellschaftlichen Macht- Großbritannien ist sicherlich das Land in Europa, das bisher verhältnisse und die politisch-ökonomischen Verhältnisse mit- am meisten unternommen hat, um gesundheitliche Ungleich- berücksichtigt (Krieger 2011). Dieses Modell hat in den heit zu bekämpfen. Die Labour-Regierung zwischen 1997 und letzten Jahren deutlich an Einfluss gewonnen und hilft dabei 2010 machte die Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit neue Ansatzpunkte für die Forschung und Praxis zu erkennen. zu einem ihrer Kernthemen. Bereits kurz nach der Wahl gab die Blair-Regierung eine unabhängige Untersuchung der ge- Das Konzept der sozialen Determinanten der sundheitlichen Ungleichheit in Großbritannien in Auftrag. Der Gesundheit und seine Wirkung ehemalige Chief-Medical-Officer, Donald Acheson, legte 1998 den Abschlussbericht vor, der Empfehlungen enthielt, wie die Über die letzten Jahrzehnte ist das Konzept der SDG überaus sozialen Determinanten der Gesundheit auf unterschiedlichen erfolgreich gewesen und der Bezugspunkt einer wachsenden Ebenen beeinflusst werden sollten, um gesundheitliche Un- Bewegung in internationalen Organisationen geworden. Ein gleichheiten zu reduzieren. 2003 präsentierte das Gesund- Meilenstein dieses Prozesses war sicherlich die WHO Kom- heitsministerium eine erste umfangreiche nationale Strategie, mission zu den sozialen Determinanten der Gesundheit unter wie das Ziel einer Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit der Leitung von Michael Marmot, die 2008 ihren viel beach- um 10%, gemessen an einer Reduzierung der Ungleichheit in teten Abschlussbericht »Closing the gap in a generation: he- der Kindersterblichkeit und der mittleren Lebenserwartung, alth equity through action on the social determinants of he- bis zum Jahr 2010 zu erreichen sei. Insgesamt wurden gut 20 alth« vorgelegt hat. Heute findet sich das Ziel der Milliarden britische Pfund für unterschiedliche Interventionen Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit durch die Beein- von frühen Hilfen über Tabakkontrollpolitiken bis zur Entwick- flussung der SDG in nahezu allen internationalen Gesund- lung gesunder Kommunen ausgegeben. heitsstrategien, wie z.B. der Health 2020 Strategie der WHO Evaluationen dieser Programme zeigten, dass die ambiti- für Europa. Auch in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten onierten Ziele der Strategie wohl nicht (Mackenbach 2011) Nationen (Sustainable Development Goals) spielen die SDG oder zumindest nicht komplett (Bambra 2012) erreicht wer- eine wichtige Rolle. Einige Regionen haben seitdem eigene den konnten. Eine weitere Studie zeigte das ernüchternde Berichte zu den sozialen Determinanten der Gesundheit und Ergebnis, dass es keine erkennbaren Unterschiede in der gesundheitlichen Ungleichheiten vorgelegt, wie z.B. das Entwicklung der gesundheitlichen Ungleichheit in Großbritan- WHO Regionalbüro für Europa im Jahr 2014 und zuletzt die nien im Vergleich mit Ländern ohne eine solche Strategie ge- panamerikanische Gesundheitsorganisation im Jahr 2019. geben habe (Hu 2016). Die meisten Autor*innen sind sich Die Europäische Union finanziert aktuell eine breit ange- einig darin, dass dies v.a. darauf zurückzuführen sei, dass zu legte »Joint Action Health Equity Europe«, die das Ziel hat, wenig politische Entscheidungen getroffen worden seien, die gesundheitliche Ungleichheiten in den Mitgliedsstaaten zu er- wirklich in der Lage wären, die allgemeinen Lebensbedin forschen und Strategien zu deren Reduzierung zu entwickeln. gungen der Menschen zu verbessern, wie steuerliche Inter- Und auch auf nationaler Ebene haben einige Länder Gesund- ventionen zugunsten von Geringverdiener*innen oder eine heitsstrategien vorgelegt, wie z.B. Italien, Finnland und Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns. Von vielen Beob- Großbritannien, die explizit die Reduzierung gesundheitlicher achter*innen wird diese Episode der britischen Sozial- und Ungleichheit durch die Veränderung der SDG als Ziel haben. Gesundheitspolitik daher als vertane Chance gewertet. Die Gleichzeitig wird das Konzept auch von internationalen Be- Tory-Regierung seit 2010 setzte zwar einige konkrete Ge- rufsverbänden wahrgenommen und unterstützt. So hat der sundheitsprogramme weiter fort, doch haben sich die Chan- Weltärztebund 2011 in seiner Oslo-Deklaration das Konzept cen für politische Entscheidungen zur Minimierung sozialer der SDG angenommen und ruft seine Mitgliedsverbände auf, Ungleichheit drastisch reduziert. 6 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020
werden die bereits bekannten Unterschiede in der Gesamt- mortalität weiter erhöht. Viele Autor*innen führen diese Situation auf die Austeritätspolitik der Regierung seit 2010 zurück, die soziale Sicherungssysteme und das Gesundheits- systeme an die Grenze der Funktionsfähigkeit gebracht habe. Zusammenfassend kann man sagen, dass Großbritannien heute in Bezug auf gesundheitliche Ungleichheiten, trotz der historisch einmaligen politischen Möglichkeit zu Beginn der 2000er Jahre, im europäischen Vergleich nicht gut dasteht. Fazit Dieser kurze Überblick macht deutlich, wie einflussreich das Konzept der SDG vor allem im englischen Sprachraum und auf internationaler Ebene geworden ist. Gleichzeitig zeigt sich, wie hier am Beispiel von Großbritannien, dass dies nicht zwangsläufig zu einer Reduzierung von gesundheitlicher Un- gleichheit führt. Das Vorhandensein gesundheitlicher Un- gleichheiten (health inequities), also von Unterschieden, die vermeidbar, unnötig und ungerecht sind (Whitehead 1992), bedeutet immer auch, dass ein Teil der Gesamtkrankheitslast und vorzeitige Sterblichkeit in einer Gesellschaft verhinder- bar wäre. Das ist ein starkes Argument, das auch von Ge- Im Gegenteil, die ungleiche Verteilung von Einkommen sundheitsberufen in Deutschland mehr vorgebracht und ver- und Vermögen in der britischen Gesellschaft haben in den innerlicht werden sollte. letzten zehn Jahren weiter deutlich zugenommen und die Gleichzeitig zeigen uns die Erfahrungen international, Austeritätspolitik hat zu dramatischen Engpässen z.B. im Ge- dass eine wirkliche Veränderung nur bei gleichzeitigen Akti- sundheitssystem geführt. Analysen haben dabei gezeigt, onen auf unterschiedlichen Ebenen zu erzielen ist. Dabei ste- dass insbesondere in den Regionen gespart wurde, die ohne- hen häufig eher technische Lösungen und umschriebene In- hin schon am schlechtesten ausgestattet waren. Die gesund- terventionen im Vordergrund und politische Veränderungen, heitlichen Ungleichheiten haben seit 2012 ebenfalls deutlich die zu einer Reduzierung sozialer Ungleichheiten führen zugenommen. England ist eines der Länder mit entwickelten könnten, werden meist vernachlässigt. Die medizinischen Ökonomien, das seit 2011 eine deutliche Verlangsamung der Berufe sind hier in einer besonderen Verantwortung. Zum Zunahme der mittleren Lebenserwartung gezeigt hat (Leon einen müssen sie die Lebensverhältnisse ihrer Patient*innen 2019). Dies stellt einen dramatischen Einschnitt dar, hatte in die Planung der v.a. primärmedizinischen Versorgung in- doch die Lebenserwartung für alle sozioökonomischen Grup- tegrieren und Möglichkeiten der konkreten sozialen und psy- pen seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich zugenommen. chologischen Interventionen auf der individuellen Ebene Das Nationale Statistikamt berichtet, dass sich die Unter- schaffen. Das kann am besten durch interdisziplinäre Stadt- schiede in der Lebenserwartung zwischen den sozial am teilgesundheitszentren und Polikliniken geschehen, die meisten deprivierten Regionen um 0,4 Jahre für Männer bzw. gleichzeitig auch in die Lebensverhältnisse wirken können. 0,5 Jahre für Frauen vergrößert haben. Diese betrugen schon Gleichzeitig dürfen wir dabei aber nicht vergessen, dass sol- zuvor ca. 10 Jahre für Männer und ca. 8 Jahre für Frauen. che praktischen Lösungsansätze ohne gleichzeitige Verände- Getrieben wird diese besorgniserregende Dynamik durch rungen auf der politischen und ökonomischen Ebene nicht eine weiter zunehmende Lebenserwartung bei Menschen in erfolgreich sein werden. Es ist daher unsere Aufgabe, uns den am wenigsten deprivierten Regionen, wohingegen auch für politische und ökonomische Veränderungen einzu- gleichzeitig die Lebenserwartung in den am meisten depri- setzen, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit und einer Verbes- vierten Regionen stagniert oder zurückgeht. serung der Lebensbedingungen der sozial und gesundheitlich Besonders ausgeprägt ist diese Dynamik bei Frauen. So Benachteiligten beitragen. Nur so können gesundheitliche hat die mittlere Lebenserwartung für Frauen in den besser Ungleichheiten wirklich bekämpft werden. gestellten Regionen zwischen 2013 und 2018 um durch- Benjamin Wachtler ist Arzt und Public Health Wissenschaftler aus schnittlich 80 Tage zugenommen, wohingegen sie für Frauen Berlin. in sozial deprivierten Regionen um 95 Tage abgenommen hat. Es ist stark anzunehmen, dass die Situation durch die Ein Literaturliste und alle Referenzen zu diesem Text finden Sie auf COVID-19 Pandemie weiter verschärft werden wird. Auswer- der Homepage: https://gbp.vdaeae.de/ tungen der Todesfallstatistiken durch das Nationale Statisti- kamt haben gezeigt, dass die Mortalitätsrate in Verbindung 1 https://www.rcplondon.ac.uk/projects/inequalities-health-alli- mit COVID-19 für Menschen in den am meisten deprivierten ance Regionen Englands ungefähr doppelt so hoch ist wie für Menschen in den am wenigsten deprivierten Regionen. So Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020 | 7
Auseinanderdriftende Gesellschaft Martin Kronauer über Armut in Deutschland Zur Eröffnung des Gesundheitspolitischen Forums haben wir Martin Kronauer gebeten, einen Vortrag zum Problem der Armut in Deutschland zu halten und dabei einen etwas breiteren Überblick über aktu- elle Befunde zu geben und zugleich eine gesellschaftspolitische Einordnung vorzunehmen. Wir veröf- fentlichen hier eine für »Gesundheit braucht Politik« überarbeitete und gekürzte Fassung des Vortrags. Armut gilt heute kaum noch als Skan- schien es in Deutschland möglich, über Armut in Deutschland heute. Ich dal, eher als ein hinzunehmendes, selbst unter den Bedingungen einer orientiere mich dabei an den folgen- wenn auch bedauerliches, Übel. Selbst kapitalistischen Ökonomie diese bei- den Fragen: Wie wird Armut in den die periodische Veröffentlichung des den sozialen Grundübel zu über dazu veröffentlichten Statistiken erho- Armuts- und Reichtumsberichts der winden. Gerade deshalb wurden der ben? Was sind zentrale Befunde der Bundesregierung, der ja gerade darauf Wiederanstieg der Armut und die Armutsforschung? Und: Was hat Ar- abzielt, Aufmerksamkeit auf die Armut Rückkehr der Arbeitslosigkeit in den mut mit sozialer Ausgrenzung zu tun? und ihr Gegenstück, den Reichtum, zu 1970er Jahren, vor allem aber ihre Armut wird in den Sozialwissen- lenken, ändert daran nichts. Wir ha- Verfestigung in den 1980er Jahren, als schaften unter verschiedenen Blick- ben in diesem Jahr ein zehnjähriges Skandal angesehen und thematisiert. winkeln und Fragestellungen themati- Jubiläum. Erinnert sich jemand von Ih- Im öffentlichen Bewusstsein war noch siert. Demzufolge unterscheiden sich nen daran, dass die Europäische Union immer verankert, dass es in der Ver- sowohl die jeweiligen Armutsbegriffe 2010 zum Jahr der Bekämpfung von antwortung der Gesellschaft liegt, es als auch die methodischen Vorgehens- Armut und sozialer Ausgrenzung er- nicht zu Armut und Arbeitslosigkeit weisen. Aber in einem Punkt stimmen klärt hatte? Wem ist es damals über- kommen zu lassen. Die Regierungen sie alle überein: Sie gehen mit Blick haupt aufgefallen, was war in Deutsch- standen geradezu in der Pflicht, das auf entwickelte Industrie- und Dienst- land davon zu merken? Und was ist soziale Netz so eng zu knüpfen, dass leistungsgesellschaften alle davon aus, heute aus diesem »Kampf« geworden? Armut nicht mehr möglich sein sollte, dass Armut nur relativ, und das heißt Armut, so scheint es, ist zu einem fes- und am Arbeitsmarkt für Vollbeschäfti- im Verhältnis zum Wohlstand einer ge- ten Bestandteil unserer Gesellschaft gung zu sorgen. Beide, Armut und Ar- gebenen Gesellschaft angemessen geworden, und zwar nicht nur als sta- beitslosigkeit, waren politisch entlegi- verstanden werden kann. tistisch erfasste Größe, sondern auch timiert worden. In den Anfängen der Armutsfor- als eine nicht mehr grundsätzlich in Heute gilt Vollbeschäftigung gera- schung im England des späten 19. Frage gestellte Größe. dezu als Utopie, und wer sie erreichen Jahrhunderts gab es durchaus noch will, muss sich dafür rechtfertigen. Ar- Versuche, Armutsgrenzen absolut zu Vom Skandal zum Schicksal mut wiederum scheint ein Schicksal zu bestimmen – anhand der Kalorien zum sein, für dessen Überwindung Politik Beispiel, die zur Ausführung einer ein- Es lohnt, einen kurzen Blick in eine et- und Gesellschaft nur sehr bedingt und fachen Arbeitstätigkeit notwendig sind was weiter zurückliegende Vergangen- allenfalls indirekt eine Verantwortung und der Preise der zur Kalorienzufuhr heit, nämlich in die 1980er Jahre zu übernehmen können und sollen. Das gebrauchten Lebensmittel, anhand der werfen. Damals wurde die Armut in Thema Armut in Deutschland steht so- Kosten für Kleidung und Unterkunft, der Tat noch als Skandal wahrgenom- mit im Zentrum weitreichender und wie sie in Arbeiterhaushalten damals men, ebenso die enge Begleiterin der mit einander eng verbundener gesell- üblich waren. Diese Versuche mussten Armut, die Arbeitslosigkeit. Beide wa- schaftlicher Veränderungen: Zum ei- fehlgehen, da in all den herangezoge- ren seinerzeit deutlich geringer ausge- nen von Veränderungen, die zum An- nen Merkmalen bereits historisch und prägt als heute, galten aber keines- stieg und der Verfestigung der Armut kulturell variable Bestimmungen wegs als selbstverständlich. Denn geführt haben; zum anderen von Ver- steckten, die auf einen gesellschaftli- Armut und Arbeitslosigkeit hatten in änderungen im gesellschaftlichen und chen Kontext verwiesen. Sie bildeten mehr als zwanzig Jahren zuvor stetig politischen Umgang mit der Armut. also gerade keinen absoluten Maßstab. abgenommen, die Ungleichheit der Wenn in Deutschland heute über Einkommen war zurückgegangen, die Armut in Zahlen Armut diskutiert wird, dann in erster Arbeitslosigkeit war bis auf einen un- Linie auf der empirischen Grundlage problematischen Rest verschwunden. Zuvor aber der versprochene, notwen- von zwei unterschiedlichen Armuts- Zum ersten Mal in der Geschichte digerweise sehr kursorische Überblick maßen: der am Einkommen orientier- 8 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020
ten Armutsgefährdungsquote und der auf politischen Entscheidungen beru- henden Zahl der Empfänger von Leis- tungen des SGB II, populär oder bes- ser: unpopulär geworden als »Hartz IV«. Die Armutsgefährdungsquote stellt ein Maß dar, das mittlerweile in allen Ländern der EU verwendet wird: Es weist die Zahl der Personen aus, de- ren Nettoeinkommen unterhalb der Schwelle von 60% des mittleren Ein- kommens liegt, also des Medians, der Bevölkerung einer Region oder eines Landes. Diese Zahl ergibt sich aus dem Einkommen der Haushalte, in dem die Personen leben, einschließlich der ver- schiedenen Einkommensquellen von selbständiger oder abhängiger Er- werbsarbeit, aus Vermögen, Renten, Pensionen und laufenden Sozialtrans- fers, abzüglich direkter Steuern und Sozialbeiträge. Dieses Haushaltsnetto- einkommen wird nach der Zusammen- setzung des Haushalts, also der Zahl und dem Alter der Haushaltsmitglieder, gewichtet. Jeder Person wird eine Zahl oder ein »Gewicht« zugeordnet (dem der Lebensführung, verglichen mit derem mit der Lebensphase, in der sie oder der ersten Erwachsenen im Haus- nicht-armen Bevölkerungsgruppen, eintritt, mit dem Ausmaß der Beschrän halt das Gewicht 1, jeder weiteren er- verbunden ist. kung und der Dauer, in der sie anhält. wachsenen Person und jedem Kind Die Armutsrisikoquote hat sich seit Gleichwohl gibt es deutliche statisti- über 14 Jahre das Gewicht 0,5, jedem der Jahrtausendwende in Deutschland sche Zusammenhänge zwischen Ar- Kind unter 14 Jahren das Gewicht 0,3) deutlich und mehr oder weniger ste- mutsgefährdung, Konsumarmut und und das gesamte Haushaltseinkom- tig erhöht. Sie lag im Jahr 2019 bei unzureichendem Lebensstandard, letz- men durch die Summe der Personen- 15,9%, die monetäre Armutsrisiko- terer gemessen an der Verfügbarkeit gewichte geteilt. Auf diesem Weg wer- grenze für einen Alleinlebenden bei ei- von als notwendig erachteten Alltags- den individuelle Einkommen ermittelt, nem Jahreseinkommen von 14.109 €. gütern. Etwa die Hälfte der in West- die über unterschiedliche Haushalts- Zugleich haben sich die Risiken, län- deutschland von Armutsgefährdung konstellationen hinweg vergleichbar gerfristig in Armut zu geraten, verfes- Betroffenen wies 2013 auch einen un- sind. Der Entscheidung für oder gegen tigt. Mehr als 10% der Gesamtbevöl- zureichenden Lebensstandard auf, in bestimmte Gewichtungsfaktoren haftet kerung haben in der Zehnjahresperiode Ostdeutschland war es etwas mehr als etwas Willkürliches an und sie ist des- zwischen 2005 und 2015 die überwie- die Hälfte (Andreß u.a. 2018, S. 221). halb umstritten, aber das soll uns hier gende Zeit in Armut verbracht (Göbel/ Noch stärker war der Zusammenhang nicht weiter beschäftigen. Grabka 2018, S. 104). Im gleichen zwischen Armutsgefährdung und Kon Was besagt nun die Armutsrisiko- Zeitraum waren 35% der Bevölkerung sumarmut ausgeprägt (ebenda, S. 220). quote? Sie gibt zunächst nur an, wel- mindestens ein Jahr von Armut be- Einkommensarmut strahlt in ihrer cher Prozentsatz der Bevölkerung mit droht (ebenda). Wirkungen aber noch in weitere Le- einem vergleichsweise geringen Ein- Was aber bedeutet es, mit einem bensbereiche hinein aus. Sie be kommen auskommen muss. Sie be- Einkommen unterhalb der Armutsge- einflusst die Reichweite und Unter zieht sich somit auf eine Ressource, fährdungsschwelle auskommen zu stützungskapazität der sozialen Be- das Einkommen, sagt aber noch nichts müssen? Bereits die vorsichtige Rede ziehungen. Beide nehmen mit anhal- über dessen Verwendung und den Le- von Armutsgefährdung zeigt an, dass tender Armut ab. Am stabilsten bleiben bensstandard und die Lebenszufrie- die relative Einkommensarmut nicht dabei noch die Beziehungen zur Familie denheit aus, die es ermöglicht. Dazu zwangsläufig und in jedem Fall mit er- und im engsten Freundeskreis. Darü- sind weitere Erhebungen und Korrela- heblichen Einbußen im Lebensstan- ber hinausgehende Kontakte, Engage- tionen notwendig. Aber es steht zu er- dard und der Lebenszufriedenheit ein- ment in Vereinen und Ehrenamt, gehen warten, dass im Zusammenhang mit hergehen muss. Die materiellen und zurück. Zugleich zeigt sich eine Ten- relativer Einkommensarmut auch das mentalen Auswirkungen der Einkom- denz zur Homogenisierung der sozialen Risiko erheblicher Einschränkungen in mensbeschränkung variieren unter an- Beziehungskreise. Man trifft sich mehr Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020 | 9
und mehr unter Seinesgleichen, was wiederum bedeutet, Derzeit beziehen etwa 5,5 Millionen Menschen Leistungen dass gerade die lockeren, weiter reichenden Verbindungen nach dem SGB II, das schließt ein sowohl das Arbeitslosen- verloren gehen, die aus der Armut heraushelfen könnten, geld II für Personen, die im Prinzip (wenn auch häufig nicht etwa durch Vermittlung von Arbeitsmöglichkeiten (Böhnke/ aktuell) dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, als auch Link 2018, S. 254). Und schließlich wächst mit zunehmender das Sozialgeld für Angehörige im Haushalt, die dem Arbeits- Prekarität der Lebensumstände die Distanz zu politischem En- markt (noch) nicht zur Verfügung stehen können, in erster gagement. Wer sich tagtäglich damit herumschlagen muss, Linie Kinder. Nur ein Drittel der Empfänger*innen der Leis- mit knappen Mitteln den Alltag für sich und andere zu organi- tungen ist arbeitslos gemeldet, andere befinden sich in Aus- sieren, der oder die wird sich kaum vorstellen, die Geschicke bildung, sind temporär erwerbsunfähig oder erwerbstätig. des Gemeinwesens beeinflussen zu können. Der Anteil der sogenannten »Aufstocker«, deren Lohn nicht ausreicht, um sie von der Armut zu befreien, ist beträchtlich: Wer ist arm oder armutsgefährdet Er betrug im Jahr 2018 26%. Es bleibt die Frage: Was hat Armut mit sozialer Ausgren- Besonders betroffen sind Erwerbslose, wobei an- und unge- zung zu tun? Ich hatte zuvor, im Zusammenhang mit Ar- lernte Arbeitskräfte die höchsten Arbeitslosigkeitsrisiken tra- mutsgefährdung, vom »unzureichenden Lebensstandard« gen, Personen mit niedrigem Schulabschluss, Alleinerzie- gesprochen, der mit der Armutsgefährdung einhergehen hende, weil ihnen die Verbindung von Erwerbstätigkeit und kann, wenn die Armut andauert. Woran bemisst sich aber Kinderbetreuung in Deutschland noch immer besonders das »unzureichend«? Wer setzt dabei den Maßstab? Wesent- schwer gemacht wird. Gerade an der Zusammensetzung der liche Beiträge zu einer Antwort liefern Untersuchungen zur Armutsbevölkerung zeigt sich, dass die Klassengesellschaft Armut als »relativer Deprivation«. Sie suchen herauszufin- in Deutschland nicht überwunden ist. Das bedeutet nicht, den, was sich Menschen, die von statistisch oder administra- dass ein hoher Schulabschluss oder ein Studium ausreicht, tiv definierter Einkommensarmut betroffen sind, mit ihrem um in jedem Fall vor Armut zu schützen. Insbesondere beim Einkommen tatsächlich leisten können und setzt dies ins Ver- Übergang vom Studium ins Berufsleben kann es zu Armut- hältnis zu dem, was in einer Gesellschaft als angemessener sperioden kommen, sie sind aber in aller Regel von kurzer Lebensstandard gilt. Zu diesem Lebensstandard zählen so- Dauer und wiederholen sich im weiteren Berufsverlauf nicht. wohl Güter als auch Dienstleistungen, aber auch persönliche Entwicklungsmöglichkeiten (zum Beispiel Bildung, Gesund- »Hartz IV« heit, Arbeitsbedingungen). Der direkteste Weg zu einer Antwort besteht darin, eine Ich komme damit zum zweiten in Deutschland zur Bestim- repräsentative Auswahl der Bevölkerung mit wissenschaftlich mung der Armutsbevölkerung immer wieder herangezoge- ausgewiesenen Instrumenten zu befragen, welche Güter, nen Armutsmaß, der auf politischen Entscheidungen beru- Dienstleistungen und Lebensbedingungen unverzichtbar henden Zahl der Empfänger von Leistungen des SGB II, sind, welche als wünschenswert, aber nicht unbedingt not- besser bekannt als »Hartz IV«. Umstritten ist dabei bereits, wendig erachtet werden können, und welche einen besonde- ob es gerechtfertigt ist, von einem »Armutsmaß« überhaupt ren Luxus darstellen. Solche Erhebungen sind inhaltlich und zu sprechen, beansprucht das SGB II doch, mit seinen Leis- technisch anspruchsvoll und zeitaufwendig. Deshalb werden tungen gerade Armut zu überwinden. Es gibt daran aller- gelegentlich, um ans gleiche Ziel zu gelangen, auch Kombi- dings berechtigte Zweifel. Die Grundlage für die Bestimmung nationen unterschiedlicher Vorgehensweisen eingesetzt. Die der Leistungssätze bildet ein Warenkorb, der entsprechend gewonnenen Erkenntnisse sind jeweils aussagekräftiger als der Ausgaben von den 15% der Haushalte am unteren Ende die mehr oder weniger willkürlichen Kriterien, die bei der po- der Einkommensverteilung zusammengestellt wird. Bereits litischen Festsetzung von Unterstützungsgrenzen und Leis- diese Orientierung an den unteren 15% ist willkürlich (in frü- tungen verwendet werden (zum methodischen Vorgehen heren Berechnungen wurden die Ausgaben der unteren 20% siehe Andreß u. a., 2018, S. 216-218). Untersuchungen die- der Haushalte zugrunde gelegt) und mehr als fragwürdig. ser Art, die seit den 1970er Jahren in England, den USA, den Wie soll gewährleistet sein, dass in dieser Population nicht Niederlanden und anderen europäischen Ländern, auch in bereits Konsumarmut und unzureichender Lebensstandard Deutschland, durchgeführt wurden, erbrachten einen bemer- verbreitet sind? Zu ihr gehören auch »Aufstocker« und ver- kenswerten Befund. Über alle Klassen- und Einkommens- schämte Arme, die Leistungen, zu denen sie berechtigt sind, grenzen hinweg besteht in den jeweiligen Ländern eine weit- nicht in Anspruch nehmen. Darüber hinaus nimmt die Bun- gehende gesellschaftliche Übereinstimmung hinsichtlich desregierung selbst an diesem bereits sehr eingeschränkten dessen, was zu einem kulturell angemessenen Lebensstan- Warenkorb noch weitere Einschränkungen vor, ersetzt zum dard mindestens gehören muss. Beispiel – in erzieherischer Absicht – Alkohol durch Mineral- Dieser Befund ist alles andere als selbstverständlich. Im wasser und spart dabei noch 6 € und ein paar Cent ein (DIE 19. Jahrhundert wäre er sicherlich nicht, in der ersten Hälfte ZEIT, 30.07.2020, S. 22). Ebenso wie die Bedingungen und des 20. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich nicht anzutreffen Sanktionsdrohungen, die mit der Vergabe der Leistungen gewesen. Zu stark waren die Lebensweisen, Konsumorientie- verbunden sind, immer wieder auf Widerspruch stoßen, so rungen und Konsummöglichkeiten der verschiedenen gesell- wird auch die Angemessenheit der Leistungen zur Existenz- schaftlichen Klassen und Statusgruppen damals noch vonei- sicherung in Zweifel gezogen und gelegentlich Gerichten zur nander getrennt. Der Arbeiter und der Adelige, der Entscheidung vorgelegt. Landbewohner und der Städter lebten in verschiedenen sozi- 10 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020
bungen brachten aber auch zum Vor- arbeitslosen noch gar nicht eingerech- schein, dass die politisch-administrativ net. In der zweiten Hälfte der 1990er festgesetzten Armutsgrenzen in den Jahre lässt sich zum ersten Mal in der einzelnen Ländern häufig nicht oder Geschichte der Bundesrepublik eine nur sehr beschränkt dem Rechnung Polarisierung der Einkommen erken- tragen, was für gesellschaftliche Teil- nen – die Zahl der einkommensstar- habe tatsächlich notwendig ist. ken Haushalte nimmt zu, ebenso die Als in den 1970er Jahren die Armut Zahl der Haushalte mit niedrigem Ein- wieder anstieg und die Arbeitslosigkeit kommen, während die Zahl der Haus- zurückkehrte, schienen sie Phänomene halte in den mittleren Einkommensla- am gesellschaftlichen Rand zu sein. gen langsam zurückgeht. Bei der Das gesellschaftliche »Innere« der Ungleichverteilung der Vermögen Einkommens- und Beschäftigungsver- nimmt Deutschland innerhalb der EU hältnisse schien durch Tarifverträge mittlerweile den unrühmlichen Spit- und soziale Sicherungssysteme vor ih- zenplatz ein. nen weitgehend geschützt zu sein. Armut und soziale Ausgrenzung Diese Schutzwälle sind mittlerweile er- sind besonders krasse Symptome des heblich durchlöchert. Politische Ent- Auseinanderdriftens, das die Gesell- scheidungen spielten dabei eine we- schaft insgesamt ergriffen hat. Sie sentliche Rolle – innenpolitische sind enger denn je mit dem verbun- Entscheidungen über die Steuern, den, was im gesellschaftlichen »Zent- über zulässige Arbeits- und Beschäfti- rum« geschieht. Dort entscheidet sich gungsverhältnisse, über die Höhe und auch, ob und wie viele Menschen es die Voraussetzungen von Sozialleistun- gibt, die bereit sind, sich aus eigenem gen im Alter und bei Arbeitslosigkeit, Interesse dem Auseinanderdriften zu über die Privatisierung oder Teilprivati- widersetzen und damit zugleich und sierung von Gütern und Dienstleistun- notwendigerweise die Überwindung gen der Daseinsvorsorge, nicht zu ver- von Armut und Arbeitslosigkeit eben- alen Welten. Dass es heute allgemein gessen über die Art und Weise der falls zu ihrer Sache zu machen. anerkannte Maßstäbe dafür gibt, was deutsch-deutschen Vereinigung; euro- Alle Literaturhinweise mit Namen von Au- für gesellschaftliche Teilhabe unver- papolitische Entscheidungen über den torinnen und Autoren beziehen sich auf zichtbar erscheint, ist in einem hohen Vorrang der Integration von Güter-, Beiträge in: Petra Böhnke, Jörg Dittmann, Maße eine Folge des Ausbaus der So- Dienstleistungs-, Arbeits- und Kapital- Jan Goebel (Hrsg.), Handbuch Armut, Opladen & Toronto 2018 zialstaaten nach dem Zweiten Welt- märkten vor der sozialen Integration krieg und des Prinzips der Universali- und einer gemeinsamen Wirtschafts-, Prof. Dr. Martin Kronauer forscht zur Ar- tät, das diesem Ausbau zugrunde lag. Fiskal- und Sozialpolitik. Mehr und mut und beschäftigt sich mit Inklusion, Exklusion und Ungleichheit. Moderne Sozialstaaten europäischer mehr zog sich die Politik aus der Über- Prägung zeichnen sich zumindest dem nahme einer gesellschaftlichen Verant- Anspruch nach dadurch aus, dass sie wortung für die Verhinderung von Ar- allen Bürgerinnen und Bürgern zugu- beitslosigkeit und Armut zurück und tekommen sollen, nicht allein den Be- verlegte sich auf das »Fördern und Aktuelle dürftigsten. Fordern« von Individuen, die am Ar- Leseempfehlung Da heute überall in den hoch entwi- beitsmarkt schlechte Karten haben ckelten Industrieländern Mindeststan- und sich gleichwohl behaupten müs- Martin Kronauer: »Kritik der ausein- dards für ein kulturell angemessenes sen. In der Realität überwiegt dabei anderdriftenden Gesellschaft«, Leben im allgemeinen Bewusstsein das Fordern das Fördern bei weitem. Campus Verlag, Berlin 2020, ISBN 9783593513003, 257 S. verankert sind, macht sich Armut, Seither driften die Lebensverhält- wenn sie anhält und mit erheblichen, nisse in Deutschland auseinander. unfreiwilligen Einschränkungen in der Deutschland weist in Europa einen der Lebensführung verbunden ist, nicht al- größten Niedriglohnsektoren auf. An- lein als Mangel, sondern auch und vor nähernd 40% der Bevölkerung sind, allem ausgrenzend bemerkbar. Denn wie eine 2018 veröffentlichte Studie diese Standards konfrontieren die Ver- des Wissenschaftszentrums Berlin und armten sowohl mit äußeren als auch des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be- verinnerlichten Erwartungen und An- rufsforschung belegte, über lange Zeit forderungen an die eigene Lebensfüh- hinweg mit einer Prekarität ihrer Be- rung, denen sie nicht entsprechen schäftigungsverhältnisse oder in ihrem können, wohl aber entsprechen müss- Haushalt oder in beidem zusammen ten, um »dazuzugehören«. Die Erhe- konfrontiert. Dabei sind die Langzeit- Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020 | 11
Manager*innen ihrer eigenen Krankheit Tobias Hofmann über Patient*innen im Neoliberalismus Polit-ökonomisch wie gesundheitspolitisch können wir inzwischen ziemlich genau beschreiben, was der Neoliberalismus an den Strukturen und finanziellen Beziehungen im Gesundheitswesen verändert hat. Auch, was das mit uns Ärzt*innen macht, haben wir schon oft diskutiert. Was aber macht das mit den Patient*innen? Tobias Hofmann versucht eine erste Antwort. Als Neoliberalismus wird eine »Weltan- tungen oder Dienstleistungen anderer den älteren Patient*innen. Informierte schauung« bezeichnet, die nach einem Personen, die eine Heilbehandlung Patient*innen möchten häufiger medi- Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatliche durchführen, in Anspruch nimmt«.4 zinische Beratung, seltener direktive Begrenzungen strebt1 und von Vorstel- Deutlich scheint bereits an diesen De- Behandlung und wenn, dann begrün- lungen eines »schlanken Staates« und finitionen zu werden, dass Patient*in det. Ärztliche Gespräche nehmen Marktfundamentalismus gekennzeich- zu sein zum einen nicht zwingend be- mehr Raum ein.« net ist. Von den Menschen werden ne- deutet, krank zu sein, noch nicht ein- Eine leitende Krankenhausärztin, ben hoher Leistungsbereitschaft und mal unbedingt, einer medizinischen die auf knapp 30 Jahre Berufsleben Kompetitivität, individuelle Verantwor- Behandlung zu bedürfen, sondern, zurückblickt, schrieb. »Die Vorstellun- tungsübernahme sowie persönliche Ri- dass es sich auch um eine Rolle im Be- gen der Patient*innen zu ihrer medizi- sikobereitschaft und Risikomanage- handlungsgeschehen handelt. Diese nischen Behandlung sind dezidierter ment verlangt. Materielle Unterschiede wandelt sich in Abhängigkeit von ge- geworden, sie ›wissen‹ oft mehr, was und gesellschaftliche Ungleichheiten sellschaftlichen Veränderungen und sie wollen oder nicht wollen als vor 20- werden in erster Linie als Folgen be- wird unter neoliberalen Bedingungen 30 Jahren. Vielleicht hat das aber we- wusster, individueller Entscheidungen offenbar zunehmend von der Inan- niger mit der Ökonomisierung zu tun, gesehen, und nicht als Ergebnis ge- spruchnahme medizinischer Dienst- als mit dem Internet und der an vielen sellschaftlicher Entwicklungen. Mit leistungen bestimmt. Stellen schon beschriebenen Entwick- dem Begriff der Gouvernementalität lung, dass alle zu allem eine Meinung beschrieb Michel Foucault Verfahren Kleine Umfrage haben, anstatt Fachleuten zu ver- und Techniken aber auch unbewusste trauen. Die Autoritätshörigkeit hat ins- Gewohnheiten, die daran beteiligt Ich habe per Email einige Kolleg*innen gesamt in der Gesellschaft abgenom- sind, eine solche Gesellschaftsordnung gefragt, wie sich aus ihrer Sicht Pati- men.« zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. ent*innen in der von ihnen überblick- Auf die Frage, wie das Selbstver- Auf der Ebene des Individuums wirken ten, zurückliegenden Zeit verändert ständnis der Patient*innen hinsichtlich dabei (neben Fremdführung und Diszi- haben. Auf die Frage: »Wie haben sich ihrer Rolle eingeschätzt wird, ob sich plinierung) die von Foucault so ge- aus Ihrer Sicht die von Ihnen betreu- Patient*innen also beispielsweise als nannten »Technologien des Selbst«, ten Patient*innen ganz allgemein in Konsument*innen, gleichberechtigte also Selbstführung, Selbstdisziplin und dem von Ihnen überblickten Zeitraum Partner*innen, Anspruchsberechtigte, Selbstmanagement, die externe Wirk- hinsichtlich der Vorstellungen von ei- Hilfesuchende etc. erleben, antwortet mächte in das Innere des Individuums ner medizinischen Behandlung verän- die zuletzt genannte Kollegin: »In die- verlegen und als »permanentes öko- dert?« antwortete beispielsweise ein sem Kontext gibt es auch mehr die nomisches Tribunal« in allen Lebens- Krankenhausarzt in leitender Funktion Haltung der Anspruchsberechtigten: bereichen wirken.2 mit 30 Jahren Berufserfahrung: »Ab- ›Ich verlange diese oder jene Behand- Möglicherweise spiegelt sich diese hängig vom Schweregrad und der Art lung‹. Das kann gepaart sein mit der Ausgestaltung des »homo oeconomi- der Erkrankung. Bei leichter Erkrank- Befürchtung, dass die Kasse nicht alle cus« als »Unternehmer seiner selbst« ten z.B. in der Notaufnahme stärkere sinnvollen Behandlungen übernehme (Foucault) bereits in der Entwicklung Serviceerwartung, während bei Pati- (›Gäbe es etwas Besseres, wenn ich der Definition des Begriffes »Pa enten mit definierten strukturellen es selbst bezahlen würde?‹ – vielleicht tient*in« in Nachschlagewerken. Im Schäden, z.B. Tumorerkrankungen die auch getriggert vom IGeLn in der Pra- Brockhaus von 1991 lautet diese bei- Patientenrolle eher überraschend sta- xis??, wo Patient*innen suggeriert spielsweise: »Kranker in ärztlicher Be- bil scheint…« wird, man müsse sinnvolle Maßnah- handlung, auch generell derjenige, der Eine weitere Kollegin, niedergelas- men selbst bezahlen).« eine ärztliche Betreuung in Anspruch sen, berufstätig seit 20 Jahren, mein- Sind die Beobachtungen von zu- nimmt« 3, in Wikipedia von 2020: te: »Ich würde allgemein sagen, es mindest in Teilen vermehrter Service- »Mensch (…), der ärztliche Dienstleis- unterscheiden sich die jüngeren von orientierung, besserer Informiertheit 12 | Gesundheit braucht Politik | Zeitschrift für eine soziale Medizin 4/2020
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