Transformation weltweit - Für Gute Arbeit im digitalen und ökologischen Wandel - www.nord-sued-netz.de - DGB Bildungswerk Bund
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
NORD | SÜD-NETZ Transformation weltweit Für Gute Arbeit im digitalen und ökologischen Wandel www.nord-sued-netz.de
NORD | SÜD-NETZ Impressum - Wir halten fest, dass sich unsere Herausgeber: DGB Bildungswerk BUND e.V. Vorsitzende: Elke Hannack Geschäftsführerin: Claudia Meyer Art zu wirtschaften und unser Verantwortlich: Valerie Franze Redaktion: Beate Willms und Valerie Franze Gestaltung: TRD Design Düsseldorf Verständnis von Wohlstand und Druck: graphik und druck, Köln Titelfoto: Pedro Ribeiro Nogueira. Gruppe der Antifaschistischen Wachstum grundsätzlich ändern müssen. - Lieferant_innen blockiert Brücke in São Paulo, Brasilien. Düsseldorf 2020 1. Auflage Reiner Hoffmann Hubert Weiger DGB Bildungswerk BUND e.V. Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes Bis 2019 Vorsitzender Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland Nord-Süd-Netz Franz-Rennefeld-Weg 5 40472 Düsseldorf Tel.: 0211/4301-333, Fax: 0211/4301-500 nord-sued-netz@dgb-bildungswerk.de www.dgb-bildungswerk.de www.nord-sued-netz.de Für den Inhalt dieser Publikation ist allein das DGB Bildungswerk BUND e.V. verantwortlich. Die hier dargestellten Positionen geben nicht den Stand- punkt von Engagement Global gGmbH und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder. Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des 2 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ 3
NORD | SÜD-NETZ Inhalt Grafiken Börsenwert der Big 7 Seite 13 CO2 Ausstoß 2018 pro Person in Tonnen Seite 20 Vorwort von Valerie Franze Seite 7 Globale Nachhaltigkeitsziele Seite 24 Die Smile-Kurve: Wertschöpfung im Produktionsprozess Seite 31 Transformationsprozesse und Ökologische Transformation Seite 40 Brasilien und seine Bundesstaaten Seite 44 gewerkschaftliche Handlungsfelder Seite 8 Green Jobs in Brasilien Seite 44 Green Jobs in Brasilien Schutzrechte in Brasilien Seite 45 Globalisierung, Digitalisierung, Ökologisierung Soziale Ungleichheit muss Arbeit und Kapitalismus in der bekämpft werden Tarifverträge in Brasilien Seite 46 Transformation von Nelson de Chueri Karam, DIEESE Seite 42 Preis pro Barrel Rohöl, der nötig wäre, um die Haushalte von Hans-Jürgen Urban, IG Metall Seite 10 von OPEC-Staaten auszugleichen Seite 50 - 51 Just Transition in Nigeria Die größten digitalen Plattformen Seite 62 - 63 Internationale Klimapolitik und Gewerkschaften Zwischen Öl und Ökolandbau Zeit, schnell zu handeln von Hauwa Mustapha, Nigeria Labour Congress Seite 48 von Jan Philipp Rohde, DGB Seite 16 Zivilgesellschaftliche Kooperation in den Amerikas Neue Unternehmensstrategien für die Ära „Die PLADA ist ein Werkzeug des Kampfes.“ beschleunigter Transformation Interview von Wolf-Dieter Vogel Industriepolitik und Mitbestimmung müssen mit Barbara Figuera, CUT Chile Seite 54 Infokästen den Rahmen bilden von Kajsa Borgnäs und Carola Dittmann, Marktmacht der Big 7 – und was dagegen zu tun ist Seite 12 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Seite 22 Digitalisierung Seite 58 Just Transition und Gewerkschaftliche Initiativen und Hintergrundpakete Seite 21 Auswirkungen der Digitalisierung auf Arbeit Digitale Plattformgenossenschaften in Südafrika Digitales Leitbild bei Evonik Seite 24 und Wirtschaft im Globalen Süden Plattformökonomie – aber nur Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen Seite 25 Mehr Handel, mehr Effizienz, mehr von Menschen für Menschen Transparenz: Wie alle von den neuen von Fairuz Mullagee, Universität Western Cape Seite 60 Die aktuelle Weltwirtschaftsordnung ist einseitig ausgerichtet Seite 36 Möglichkeiten profitieren können Das USMCA Abkommen: Was gehen könnte Seite 39 von Sven Hilbig, Brot für die Welt Seite 28 Gründung der Gewerkschaft SINDIKASI Von Ungleichheit und Ausgrenzung geprägt: Südafrika Seite 61 in Indonesien Nachhaltigkeit und Menschenrechte im Welthandel Neue Zielgruppe, neue Kultur, neue Sprache Genossenschaftliche Plattformen Seite 64 Sozialklauseln allein reichen nicht von Raisya Maharani, SINDIKASI Seite 66 Indonesiens Kreativwirtschaft: Wachstum ohne Wohlstand Seite 71 von Merle Groneweg, freie Referentin bei PowerShift und Christoph Scherrer, Universität Kassel Seite 34 Antifaschismus und Arbeitskampf in Brasilien „Als Erstes müssen die Fahrer verstehen, dass sie ausgebeutet werden.“ von Niklas Franzen, Journalist Seite 72 Quellen und Informationen Seite 76 4 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ 5
NORD | SÜD-NETZ Vorwort Nach und nach halten digitale Apps Einzug in unser Leben. Ar- wirken sie aber sicht- und spürbarer in die Gesellschaften des ausfallen, können zivilgesellschaftliche und gewerkschaftliche stellen globale Zusammenhänge und die wichtigen politischen beitsprozesse verändern sich schneller oder werden komplexer. Globalen Nordens zurück: Klimawandel, Migration, Demokra- Initiativen darauf aufbauen, um Forderungen gegenüber Re- Handlungsfelder für Zivilgesellschaft und Gewerkschaften dar. Die meisten erleben das schleichend. Die wenigsten sind sich tiekrise, Pandemie. gierungen durchzusetzen. So gibt es in einigen Ländern bereits Sie zeigen die Räume auf, in denen sich Arbeitnehmende orga- bewusst, dass wir in einem epochalen Wandel leben. Gleichzei- Gesetze zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht. Sie verpflichten nisieren, mit anderen vernetzen und zusammenarbeiten, um ge- tig erfordert die globale Erwärmung den politisch gesteuerten Was passiert, wenn wir die Prinzipien des gesellschaftlichen Zu- Unternehmen, ihre Lieferketten mit Blick auf Menschenrechte gen Ausbeutung und für Demokratie im digitalen Kapitalismus Umbau ganzer Wirtschaftssektoren und Lebensbereiche. Nach sammenlebens zunehmend einem neoliberalen Wirtschaftsmo- und damit auch Gewerkschaftsrechte sowie Umweltstandards zu kämpfen, eine sozial-ökologische Transformation voranzu- der Energiewirtschaft trifft dies aktuell vor allem den Verkehr dell unterordnen, offenbarte die globale Gesundheitskrise, aus- zu überprüfen – und sind für Schäden haftbar, wenn sie ihren treiben und um alternative Gesellschaftsmodelle zu entwerfen. und die Landwirtschaft. gelöst durch Covid-19, sowie die Folgen der Gegenmaßnahmen Pflichten nicht nachkommen. Auch in Deutschland könnte bald deutlich: Weltweit stießen unterfinanzierte Gesundheitssysteme ein Gesetz gegen den Widerstand der Wirtschaftslobby und ih- Wir bedanken uns sehr bei allen Mitwirkenden und bei den In kurzer Zeit gibt es umfassende Veränderungen, die alle Le- an ihre Grenzen. Es zeigte sich, wie anfällig globale Lieferketten ren langen Arm ins Parlament verabschiedet werden. Autor_innen für ihre klugen Analysen, die Handlungsempfeh- bensbereiche betreffen (werden). Die Digitalisierung und der sind, und dass der Gesundheitsschutz ganzer Bevölkerungen lungen, die interessanten und inspirierende Texte! Kampf gegen den Klimawandel sind zwei wesentliche Treiber von ihnen abhängt. Viele Unternehmen mit Sitz im Globalen Nach dem bevorstehenden Machtwechsel in den USA wird zwar der Transformation der Arbeitswelt und Wirtschaft. Norden wälzten die Kosten des Absatzeinbruchs auf die Liefer- ein wichtiger Global Player voraussichtlich wieder in das Pariser Wir wünschen nun eine gute Lektüre! ketten im Globalen Süden ab. Aktiengesellschaften schütteten Abkommen einsteigen und multilaterale Lösungsansätze stär- Vor allem aber ist es ein kapitalistischer Prozess. Die Transforma- Milliardengewinne aus und nahmen gleichzeitig staatliche Geld- ken, nichtsdestotrotz ist das internationale Umfeld von Span- tion folgt der Logik der Profitmaximierung und Konsumsteige- er in Anspruch. nungen geprägt – zwischen den USA und China, und ebenso rung in einem weitgehend entfesselten, globalen Wirtschaftssy- vom Wettlauf der Großmächte, darunter die Europäische Union, stem und einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die gesamten Folgen der Pandemie sind zum jetzigen Zeitpunkt um die Dominanz im globalen Wirtschafts- und Handelssystem. Mit solidarischen Grüßen, zwar noch nicht abzusehen, weltweit steigen aber Armut und Das zeigt sich am gewaltigen Wachstum und Geschäftsmo- Arbeitslosigkeit, schlimme Hungersnöte werden befürchtet. Um den partikularen Wirtschaftsinteressen eine gerechtere dell digitaler Plattformen. Sie können zwar vielen Menschen Wirtschaftsordnung, Nachhaltigkeit und universelle Menschen- gerade im Globalen Süden überhaupt ein kleines Einkommen Umso größer erscheint die gesamtgesellschaftliche Aufgabe rechte entgegenzusetzen, kooperieren zivilgesellschaftliche Or- ermöglichen, tragen aber insgesamt zur Prekarisierung von der sozial-ökologischen Transformation. Und diese kann nur ganisationen ebenfalls grenzüberschreitend. Sie setzen sich zum Valerie Franze Arbeit bei. Nach der materiellen Produktion werden nun auch gelingen, wenn der soziale Zusammenhalt und unsere Visionen Beispiel für globale Steuergerechtigkeit ein, auch um die Kosten Dienstleistungen in die Länder mit den geringsten sozialen und für ein gutes, gemeinsames Leben und Gute Arbeit Priorität des Strukturwandels angemessen zu verteilen. Projektleiterin Umweltstandards verlagert und stellen eine Gefahr auch für die bekommen. Darauf müssen wir die Regeln des gemeinsamen Globales Lernen für erkämpften Arbeits- und Lebensbedingungen im Globalen Nor- Wirtschaftens verpflichten. Dies kann nur gelingen, wenn wir Gewerkschaften kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Sie haben Arbeitnehmende beim den dar. global denken, uns global koordinieren und von globaler Soli- globale Solidarität historisch in ihrer DNA verankert, und sie ha- Nord-Süd-Netz darität leiten lassen. ben dem Klimawandel den Kampf angesagt. Sie verteidigen die Diese Produktions- und Wirtschaftsordnung und die (fehlenden) Rechte der Arbeitenden gegenüber den Interessen des Kapitals, politischen Rahmenbedingungen haben die Krisen erst hervor- Es gibt bereits Schritte in die richtige Richtung. Die internationa- sie setzen sich für soziale Sicherung der Beschäftigten und der gerufen bzw. verschärft, die wir nun durch eine sozial-ökolo- le Gemeinschaft hat sich unter dem Dach der Vereinten Natio- Schwächsten in der Arbeitswelt ein. gische Transformation zu lösen versuchen: Umweltzerstörung, nen auf die Agenda 2030 geeinigt und 17 Ziele für eine sozial, soziale Schieflagen, ungleiche soziale Machtstrukturen zwischen wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Entwicklung definiert. Wir Arbeitnehmer_innen und unsere Vertretungen müssen die Arm und Reich, Süd und Nord, den Zerfall des gesellschaftlichen Im Pariser Klimaabkommen, verständigte sich die Weltgemein- sozial-ökologische und digitale Transformation auf allen Ebenen Zusammenhalts – auch in westlichen Demokratien – und das Er- schaft auf die CO2-Reduktion, um die Erderwärmung deutlich als unsere Aufgabe verstehen, sie vorantreiben und mitbestim- starken (rechts-)extremistischer und (rechts-)populistischer Strö- unter 2 Grad Celsius zu stoppen und Gewerkschaften veran- men. Als gesellschaftspolitische Akteure, in der Aushandlung mungen. Die ungleiche Verteilung von Lohn und Vermögen und kerten in der Präambel des Abkommens das Prinzip Just Tran- von Tarifverträgen, im Betrieb und in der Zusammenarbeit mit von Verwirklichungschancen sind Ursache und Folge zugleich. sition, also einen gerechten und sozialverträglichen Übergang. anderen Organisationen, sozialen Bewegungen und Entschei- dungsträger_innen. Die Auslagerung der Kosten und Folgen unseres Konsums auf 2011 hat der UN-Menschenrechtsrat die Leitprinzipien für Mensch und Natur im Globalen Süden konnte in den Wohl- Wirtschaft und Menschenrechte angenommen. Resultierend Das zeigen unsere Autor_innen aus Gewerkschaften, Wissen- standsgesellschaften lange ignoriert werden. In der letzten haben nationale Regierungen Aktionspläne für ihre Umsetzung schaft, Zivilgesellschaft und Medien, aus dem Globalen Süden Dekade mit aktuellem Höhepunkt zu Beginn des Jahres 2020 entwickelt. Auch wenn die Pläne unterschiedlich fortschrittlich und Norden. Sie beschreiben die Transformationsprozesse, 6 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ 7
NORD | SÜD-NETZ Foto © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder - Die historische Transformation war im Kern ein kapitalistischer Prozess, und die heutige ist es auch. - Hans-Jürgen Urban Aufbau einer Windkraftanlage. 8 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ 9
NORD | SÜD-NETZ Globalisierung, Digitalisierung, Ökologisierung Über den Autor Hans-Jürgen Urban ist seit 2007 ge- Arbeit und Kapitalismus in der schäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und dort zuständig für Fragen der Sozialpolitik, Arbeitsgestaltung und Transformation Qualifizierungspolitik. Zugleich ist der promovierte Sozialwissenschaftler als Pri- vatdozent und Mitglied des DFG-Kollegs „Postwachstumsgesellschaften“ an der Arbeit, Gesellschaft und Politik befinden sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Wenn Marktzwänge Universität Jena tätig. Hans-Jürgen Urban und Profitorientierung dabei als Leitplanken gelten, werden Umwelt und die Mehrheit der Menschen publiziert u.a. zu den Themen Kapitalis- dabei verlieren. Für erfolgversprechender hält Hans-Jürgen Urban eine umfassende Demokratisierung muskritik, digitale Transformation, Öko- der Prozesse, eine zeitgemäße Arbeitsökologie mit einem neuen sozialen Entwicklungsmodell. logie der Arbeit und Gewerkschaften. Foto © IG Metall Foto © picture alliance / dpa / Patrick Paul Klimaziele, Kohleausstieg, Mobilitätswende, aber auch Ar- zerstörung oder Inflation begleiten die Vermarktlichung von beiten im Homeoffice sind Reaktionen auf Entwicklungen, Boden und Geld. Um die fiktiven Waren vor den zersetzenden die die Welt rasant verändern: auf die globale Erhitzung, auf Marktkräften zu schützen, griffen die Gesellschaften erneut die SARS-CoV-2-Pandemie. Einiges davon unterstützt, mög- in den Marktmechanismus ein, indem sie regulative Instituti- lich gemacht oder auch getrieben durch die fortschreitende onen aufbauten und Sozialgesetze erließen. Diese sollten den Digitalisierung. Der Industriestandort muss sich anpassen, Konkurrenz- und Profitmechanismen Grenzen setzen und vor nicht langsam und in kleinen Schritten, sondern in großen allem die Arbeit vor einer Übernutzung schützen. Umbrüchen. Das schürt Ängste und Sorgen. Deshalb ist es wichtig, zu verstehen, was passiert – und die Veränderungen Polanyis Analyse zeigt: Die historische Transformation war mitzugestalten. im Kern ein kapitalistischer Prozess, und die heutige ist es auch. Beide vollziehen sich im Rahmen der kapitalistischen Solche Umbrüche sind nicht neu. In der wissenschaftli- Eigentumsordnung und beide werden durch die Spielregeln chen, aber auch in der öffentlichen Diskussion hat sich dafür von Märkten und Kapitalverwertung geprägt. Konkurrenz der Begriff der „Transformation“ eingebürgert. Er geht vor und Profitstreben gewinnen so die Oberhand. Soll dies ver- allem auf den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi zurück. Er hindert werden, sind Regularien und Eigentumsverhältnisse prägte die Rede von der „Großen Transformation“. unverzichtbar, die die Dynamiken der Transformation in ge- sellschaftliche Institutionen und Ziele „einbetten“. Im Zentrum seiner Theorie steht die Entstehung der libe- ralen Marktgesellschaften durch die Verselbstständigung des Marktes gegenüber der Gesellschaft im 19. Jahrhundert Die Treiber der kapitalistischen sowie ihr Umkippen in faschistische Regime. Polanyi lokali- siert die Ursache für dieses Umkippen Westeuropas in dem Transformation sozialen und technologischen Umbruch, bei dem auch Ar- beit, Boden und Geld zu Tauschobjekten wurden, die man Historisch führte die Einbettung der Märkte nach Faschis- auf Märkten handelte. mus und Weltkrieg zu den westlichen Wohlfahrtsstaaten, die dem Nachkriegskapitalismus seine Stabilität und den Lohnab- Doch die Einbeziehung von Arbeit, Boden und Geld in die hängigen einen ansehnlichen Lebensstandard ermöglichten. „Teufelsmühle des Marktes“, wie Polanyi es nannte, blieb Doch die neoliberale Offensive der letzten drei Jahrzehnte nicht ohne Folgen. Denn ihre Kommodifizierung beruht dem hat dafür gesorgt, dass die kapitalistischen Märkte sich er- Soziologen zufolge auf einer Fiktion. Sie lassen sich nicht wie neut immer stärker der staatlichen Regulierung entziehen. beliebige Waren behandeln, ohne in ihrer Substanz und sozi- alen Funktion Schaden zu nehmen. Wird die Arbeitskraft über Die Globalisierung und Digitalisierung sind zugleich Resultate ihre Regenerationskraft hinaus beansprucht, schädigt dies die und Treiber dieser Entwicklung. Die Nachkriegsordnung hatte menschliche Gesundheit und am Ende die Qualität der Arbeits- auf internationale Institutionen und Regulierungen aufgebaut, kraft selbst. Ähnlich destruktive Folgen in Form von Umwelt- die den Schutz des Status quo und der nationalstaatlichen Arbeiten an dem Rotorblatt eines Windrads. 10 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder: Globalisierung, Digitalisierung, Ökologisierung 11
NORD | SÜD-NETZ Souveränität zum Ziel hatten. Mit zunehmender Denationalisie- rung und Liberalisierung lösten sich die Güter- und Geldmärkte Beschleunigte Digitalisierung – Mitarbeitenden zumindest teilweise von zuhause arbeiten konnten, waren es im August 2020 gut 61 Prozent. Insbeson- Möglichkeiten bieten, Immobilien zu nutzen. Zugleich kann es als Probelauf für neue Outsourcing-Initiativen wichtige aus diesen Regulierungen. Das hat die gigantische Expansion gut für Arbeit und Umwelt? dere im Verarbeitenden Gewerbe stieg der Homeoffice-Anteil Erfahrungen liefern. der Finanzmärkte erst ermöglicht. Auch das explosionsartige deutlich – auf 70 Prozent. Für die Zeit nach Corona plant nach Wachstum der globalen Internet-Konzerne – Google, Amazon, Die neoliberale Erzählung, nach der die Globalisierung einer Umfrage des Ifo-Instituts ein großer Teil der Firmen, das Auch die Hoffnung, dass die Umwelt mehr geschont wird, Microsoft, Apple, Facebook – wäre in regulierten Märkten Wohlstand für alle bedeute, entpuppt sich also zunehmend Homeoffice-Angebot zu erhöhen. Die Ausbreitung ortsflexib- dürfte enttäuscht werden. Der digitale Kapitalismus ist von kaum denkbar. als ideologisches Konstrukt, als „große Globalisierungslüge“, ler Arbeit dürfte also weitergehen. sich aus keineswegs grün. Er nimmt die Natur in erheblichem wie etwa der Harvard-Ökonom Dani Rodrik schreibt. Zu stark Ausmaß in Anspruch, eröffnet neue Felder eines umweltbe- Wenn die gegenwärtige Entwicklung fortgeschrieben wird, wächst die soziale Kluft zwischen einer kleinen Elite von Glo- Zweifelsohne stößt gerade diese Arbeit im Homeoffice bei lastenden Konsums. Er erzwingt die Ausbeutung seltener werden Globalisierung, Digitalisierung und wohl auch die an- balisierungsgewinnern und dem Rest der Weltbevölkerung. vielen Beschäftigten auf große Zustimmung. Lange Hin- und Ressourcen und ermöglicht die Ausbeutung traditioneller Res- stehende Dekarbonisierung weiterhin einen starken marktkon- Trotzdem werden in die Digitalisierung nach wie vor große Rückfahrten zur Arbeit können eingespart werden. Und di- sourcen in neuen Dimensionen, erzeugt riesige Mengen von formen Transformationsdruck entfalten. Hier gilt: Im Selbst- Hoffnungen gesetzt. Von Politik, Medien und mitunter auch gitale Arbeit kann helfen, Arbeit und Privatleben besser zu Elektroschrott, der nur mit enormem Energieaufwand und lauf, wenn die Transformation nur durch Marktzwänge und von den Gewerkschaften. Digitale Arbeit sei humaner, inte- koordinieren. Aber – behält Polanyi Recht – dürfte sich eine Werteverlust recycelt werden kann. Nicht zuletzt hat er einen Profitorientierung gesteuert wird, dürfte sie für Arbeit, Gesell- ressanter und flexibler als die heutige, heißt es. Und der digi- weitgehend unregulierte und den Marktgesetzen folgende gigantischen Energiebedarf. schaft und Natur eher Fluch als Segen sein. So wird die glo- tale Kapitalismus smarter und grüner als der gegenwärtige. Digitalisierung mit Blick auf Arbeit und Umwelt eher als Teil bale und digitale Transformation im Saldo Arbeitsplätze eher Realistische Hoffnungen? des Problems denn als Lösung erweisen. Gewerkschaftliche gefährden und Arbeit intensiver und von Marktschwankungen Erfahrungen zeigen: Für die Unternehmen ist die digitale abhängiger machen. Und die digitalen Techniken werden die Festzuhalten bleibt zunächst: Corona hat die Digitalisierung Durchdringung der Prozesse vor allem ein Instrument zur Börsenwert der Big 7 Gesellschaft durchdringen, sie kontrollierbarer machen und beschleunigt. Eine Umfrage unter Personalverantwortlichen Steigerung von Intensität, Kontrolle und Produktivität der Oktober 2020 in EUR Gefahren für die Demokratie heraufbeschwören. zeigte: Während vor der Corona-Pandemie 39 Prozent der Arbeit: Homeoffice soll den Bürobedarf verringern und neue Apple Marktmacht der Big 7 – und was dagegen zu tun ist 1,72 Bio Internet- und Tech-Konzerne haben die Old Economy chende Vergünstigungen bereit stellte. Der Streit, den Apple in Die G20-Staaten haben sich 2019 auch bereits auf eine ge- längst überholt. In der Liste der größten Unternehmen der erster Instanz gewann, geht um rund 13 Milliarden Euro, die laut meinsame Stoßrichtung mit einer Mindeststeuer geeinigt. Microsoft Welt stehen die Big 7 – Apple, Microsoft, Amazon, Alpha- EU-Kommission nachgezahlt werden müssten. Zudem wollen sie regeln, wo Gewinne multinationaler Firmen 1,38 Bio bet/Ex-Google, Alibaba, Facebook und Tencent – ganz vorne. besteuert werden – nämlich nach einem „Marktlandprinzip“, Nach Börsenwert und nach Umsatz. Regulierungsansätze: das sich daran orientiert, wo die User oder Konsument_innen Amazon Digitalsteuer: Bislang werden Gewinne eines ausländischen des Unternehmens sitzen. Die Beschlüsse sollten 2020 umge- Zugleich haben praktisch alle Regierungen lange gezö- Unternehmens dort besteuert, wo eine dauerhafte physische setzt werden. Allerdings stiegen die USA im Juni 2020 aus den 1,35 Bio gert, sich damit zu beschäftigen, ob die bestehenden Re- Präsenz – also eine Betriebstätte – vorliegt. Die Umsatzsteuer Verhandlungen aus. gulierungen überhaupt geeignet sind, dem Geschäftsgebah- fällt dort an, wo Unternehmen ihre Umsätze erzielen. Digitalen Alphabet/Ex-Google ren dieser Konzerne einen Rahmen zu setzen. Tatsächlich Unternehmen fällt es aber besonders leicht, ihre Gewinne Begrenzung der Marktmacht 914,26 Mrd brauchten sie auch immer einen langen Atem, wenn sie ver- dorthin zu verlagern, wo die Steuern besonders niedrig sind, Sowohl in den USA wie auch in Europa arbeiten die Regu- suchten, etwa monopolistische Tendenzen zurückzuweisen denn sie können einen Markt ohne eine physische Präsenz lierungsbehörden an Konzepten, die Marktmacht von Apple, Alibaba oder auch Steuern einzutreiben. bedienen. Außerdem bleiben wesentliche Aktivitäten unbe- Amazon und Co zu begrenzen. Bislang sehen etwa die Pläne rücksichtigt: Zum Beispiel die Erhebung und Aufbereitung von der EU-Kommission vor, dass große Online-Plattformen stren- 706,21 Mrd In den Nullerjahren stritt die EU-Kommission jahrelang mit Daten, die ein zentraler Teil der Wertschöpfung bei digitalen gere Vorschriften einhalten müssen als kleinere Konkurrenten. Microsoft. Das Betriebssystem des Unternehmens war auf Geschäftsmodellen ist. Abhilfe soll eine Digitalsteuer schaffen, Dazu zählen neue Regeln, die sie zwingen, Daten mit Konkur- Facebook rund 90 Prozent aller Rechner weltweit installiert. Microsoft die gezielt auf Internetaktivitäten zugeschnitten ist. renten auszutauschen, und die Verpflichtung, transparenter 672,98 Mrd weigerte sich aber, die technischen Daten dazu herauszuge- darüber zu informieren, wie sie Informationen sammeln. ben, bis es in letzter Instanz dazu verdonnert wurde. Den ersten Vorstoß hat Frankreich 2019 mit einer nationalen Tencent Digitalsteuer unternommen, nachdem ein Anlauf der EU-Kom- Info: Als ähnlich langwierig erweisen sich auch Steuerstreitig- mission für eine EU-weite Besteuerung gescheitert war: Unter- Labournet.de 2020: Einführung von Digitalsteuer in Euro- 588,85 Mrd keiten. Bei Redaktionsschluss noch nicht endgültig entschie- nehmen sollen in Frankreich 3 Prozent Steuern etwa auf online pa gescheitert - vorerst? Dossier Digitalsteuer. https://www. Quelle: finanzen.net den war ein ebenfalls von der EU-Kommission angestrengtes erzielte Werbeerlöse zahlen. Die Steuer soll bei Konzernen labournet.de/?p=145757 Verfahren gegen Apple. Das Unternehmen hatte von 2004 bis greifen, deren weltweite Digitalumsätze mindestens 750 Milli- 2013 in Europa gigantische Gewinne gemacht, aber praktisch onen Euro betragen und in Frankreich mindestens 25 Millionen Inside it 12.10.2020: Regulierung: EU stellt Opferliste von keine Steuern gezahlt. Das ging, weil Apple eine Unterkon- Euro. Auch Spanien, Österreich und Italien bereiten nationale Big-Tech-Firmen zusammen. struktion mit mehreren Tochtergesellschaften geschaffen und Vorstöße vor. Wegen der grenzüberschreitenden Geschäfte der https://www.inside-it.ch/de/post/regulierung-eu-stellt-op- seine Europazentrale in Irland angesiedelt hatte, das entspre- IT-Konzerne bleibt ein internationaler Ansatz allerdings sinnvoller. ferliste-von-big-tech-firmen-zusammen-20201012 12 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder: Globalisierung, Digitalisierung, Ökologisierung 13
NORD | SÜD-NETZ Herausforderungen für die Ein neues Modell mit flachem Gewerkschaften Wachstum - Doch was Unternehmen aus Renditegründen und Gesellschaften aus Ignoranz auszulagern Was kann, was sollte das alles für die Gewerkschaften hei- ßen? Zunächst, dass gewerkschaftliche Interessenvertretung Das alles erfordert einen neuen Wachstumstyp in einem neuen sozialen Entwicklungsmodell. Trug das ökonomische glauben, kehrt als Klimakrise sowie zukünftig aus der Perspektive einer nachhaltigen „Arbeitsö- kologie“ formuliert werden muss. Dabei sollten Prüfkriterien Wachstum kapitalistischer Prägung traditionell zur Behebung konjunktureller Dellen und zur Entschärfung sozialer Vertei- durch Armuts- und Umwelt-Migration in unsere definiert werden, um akzeptable und nicht akzeptable Politik- vorschläge unterscheiden zu können. Ökologische Nachhaltig- lungskonflikte bei, so forciert es heute die Ungleichvertei- Gesellschaften zurück. - lung von Einkommen und Vermögen und den Raubbau an keit, Beschäftigungssicherheit und (Verteilungs-)Gerechtigkeit der Natur. In diesem neuen Modell wird es auch weiterhin müssen ein Zieldreieck darstellen, das die Eckpunkte einer Wachstum geben müssen. Denn die Gegenwartsgesellschaf- sozial-ökologischen Transformationsagenda markiert. Ein ten sind nicht nur Überfluss-, sondern auch Defizitgesell- solcher erweiterter Ökologiebegriff muss auch die Gebrauchs- schaften. Umweltschädlicher Luxusproduktion stehen Investi- der Natur als Grenzen des Wachstums akzeptiert; und es Globale Solidarität – ein altes wertseite der Produkte und die Nachhaltigkeitsanforderungen tionsrückstände bei sozialer Sicherheit, im Gesundheits- und müsste sich gerechter vollziehen, indem es die Verlierer_innen der Produktionsverfahren einbeziehen. Eine zeitgemäße Ar- Sorgebereich, im Bildungs- und Kultursektor und bei der Mo- des Strukturwandels nicht in Arbeitslosigkeit oder Armut Ziel neu entdecken beitsökologie hat also Arbeit, Natur und Gesellschaft zugleich bilität von Menschen und Gütern gegenüber. Sie zu beheben abdrängt, sondern ihnen mit gesellschaftlichen Ressourcen im Blick. Sie schützt die Arbeitskraft im Arbeitsprozess und erfordert weiterhin die Produktion von Gütern wie Zügen, neue Perspektiven eröffnet. Der Soziologe Klaus Dörre hat dafür den Begriff der „Nach- sie schützt soziale Sicherungen; sie reduziert Ressourcen- und Bussen und Autos; und von sozialen Sorge-Diensten. Und es haltigkeitsrevolution“ geprägt. Diese muss in den Ländern Energieverbrauch sowie Emissionen auf ein naturverträgliches erfordert wirtschaftliche Wertschöpfung, die in öffentliche Solche Ansprüche überfordern den Markt. Er stellt eine des kapitalistischen Nordens beginnen, darf dort aber nicht Maß; und sie begrenzt gesellschaftliche Spaltungen und för- Investitionen in öffentliche Güter umverteilt werden muss. Spielanordnung dar, in der private Akteure nach maxima- verharren. Globalisierung, Digitalisierung und Ökologisie- dert gesellschaftliche Solidarität. lem Profit oder Nutzen jagen und anfallende Kosten auf die rung sind ihrem Wesen nach global. Schon immer tendierte Aber: Ein solches Modell wird sich von der traditionellen Gesellschaft oder die Natur abgewälzt werden können. Und der Kapitalismus des globalen Nordens dazu, wirtschaftliche Form wirtschaftlichen Wachstums erheblich unterscheiden in der wirtschaftliche Marktmacht in politische Vetomacht und soziale Kosten seiner Produktions- und Lebensweise zu müssen. Es fällt flacher aus, da es nicht Wachstum auf Teu- umschlägt. Sollen gesellschaftliche Gebrauchswerte, ökolo- externalisieren. Sie werden ohne Rücksichtnahme auf ökolo- fel komm raus fördert, sondern nur dort, wo gesellschaftlicher gische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zu Zielmarken gische und soziale Folgen auf andere Weltregionen und die Nutzen zu erwarten ist. Es ist nachhaltiger, da es die Grenzen werden, sind andere Spielregeln unverzichtbar. Das erfordert dort lebenden Menschen abgewälzt. politische Eingriffe in die Märkte, bis in die Unternehmen- sentscheidungen hinein. Mit anderen Worten: Ein solcher Doch was Unternehmen aus Renditegründen und Gesell- Foto © Roberto Parizotti schaften aus Ignoranz auszulagern glauben, kehrt als Klimakrise Pfadwechsel ist ohne eine umfassende Demokratisierung der gesellschaftlichen, vor allem der ökonomischen Verhältnisse sowie durch Armuts- und Umwelt-Migration in unsere Gesell- nicht zu haben. Die ökologische Transformation und die De- schaften zurück. Deutlich wird: Globalisierung, Digitalisierung mokratisierung von Arbeit und Wirtschaft müssen Hand in und Ökologisierung auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad Hand gehen, oder beide werden scheitern. Die Partizipation zu drängen, kann nur als globales Projekt gelingen. Hier wie der Belegschaften muss bis in die Entscheidungen über das dort braucht es durchsetzungsstarke soziale Bewegungen, die Was, Wie und Wofür der Produktion erweitert werden. Und die Interessen von Arbeit und Natur gegenüber den Macht- und eine demokratische Wirtschaftspolitik muss verbindlich und Gewinninteressen herrschender Eliten zur Geltung bringen. sanktionsbewährte Grenzwerte für Ressourcen- und Energie- Höchste Zeit also, die globale Dimension der Probleme als hi- verbrauch sowie für Schadstoffbelastungen der Öko-Systeme storische Chance zu begreifen, den Traditionswert des gewerk- definieren. Dabei gilt: Die Nachhaltigkeitserfordernisse der schaftlichen Internationalismus neu zu entdecken. Natur definieren die Grenzen des Wachstums. Und die Politik steuert es gemäß den sozialen Interessen der Gesellschaft. Gewerkschafter_innen protestieren in São Paulo gegen Einschränkungen bei der Renten- und Sozialversicherung. 14 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder: Globalisierung, Digitalisierung, Ökologisierung 15
NORD | SÜD-NETZ Internationale Klimapolitik und Gewerkschaften Über den Autor Jan Philipp Rohde, ist Referent für Um- Zeit, schnell zu handeln welt-, Klima-, und Nachhaltigkeitspolitik beim DGB Bundesvorstand. Foto © DGB/Simone M. Neumann Nicht ohne Grund haben sich der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften zu den nationalen, europä- ischen und internationalen Klimazielen bekannt, meint Jan Philipp Rohde. Er beschreibt, warum Ge- werkschaften weltweit den Klimawandel als zentrale Herausforderung der Zeit sehen – und, wie die dringend erforderliche Klimapolitik auch gerecht gestaltet werden kann, als „Just Transition“. Die Wissenschaft ist sich einig. Der Klimawandel ist men- schengemacht und bedroht unsere Lebensgrundlagen rund um den Globus. Etliche Studien zeigen, wie ernst die Lage ist. Der sogenannte Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Cli- mate Change, IPCC) der Vereinten Nationen fasst regelmäßig den Stand der wissenschaftlichen Forschung zusammen, um Foto © Toa55, iStock politischen Entscheidungsträger_innen eine fundierte Basis für ihre Entscheidungen zu geben. Das Bild wird zunehmend klarer: Der IPCC-Sonderbericht aus dem Jahr 2018 beschrieb eindrucksvoll, wie einschneidend schon kleinste Veränderungen in den Temperaturanstiegen sein können. So sind die Unterschiede zwischen einem Anstieg um 1,5 Grad und 2 Grad erheblich. Eine nur 0,5 Grad höhere Temperatur könnte bedeuten, dass der Meeresspiegel um bis zu zehn Zentimeter zusätzlich ansteigt. Zugleich können Per- mafrostböden auftauen und Regenwälder absterben, so dass diese natürlichen Treibhausgasspeicher vernichtet werden. Mehr Extremwetterereignisse kommen hinzu. Dadurch steigt auch die Gefahr, dass natürliche Kipppunkte überschritten werden, der Klimawandel unumkehrbar wird und sich durch die Freigabe der noch in der Erde und den Meeren gebun- denen Treibhausgase selbst verstärkt. In seinem jüngsten Bericht Ende 2019 fasste der Weltkli- marat die Situation für Küstenregionen zusammen: Demnach steigt der Meeresspiegel derzeit um 3,66 Millimeter pro Jahr, ungefähr 2,5-mal so schnell wie in den Jahren von 1900 bis 1990. Seit 1880 ist der Meeresspiegel weltweit um 25 Zen- timeter gestiegen. So sind schon heute Küstenregionen und ganze Inselstaaten von Überflutungen bedroht. In diesen Re- gionen leben derzeit aktuell rund 700 Millionen Menschen Auch in Deutschland sind die Auswirkungen des Klimawan- dels sehr präsent. Nach den Hitzerekorden in den Sommern 2018 und 2019 zeichnet sich auch 2020 als äußerst regenarmes Jahr ab. Damit bleiben die Böden im dritten Jahr in Folge tro- cken – mit erheblichen Auswirkungen für Natur und Landwirt- schaft. Extremwetterereignisse wie Hitzewellen, Dürren und Waldbrände nehmen zu. Hubschrauber im Einsatz bei Löscharbeiten. 16 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder: Internationale Klimapolitik und Gewerkschaften 17
NORD | SÜD-NETZ Starkregen haben erheblich zugenommen und belasten neben Alles wird sich ändern: Leben, den Ökosystemen zunehmend die Wirtschaft und das gesell- schaftliche Leben. Konsum, Arbeit - Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Weitgehend unbestritten ist daher, dass es eine Trendwende Für Gewerkschaften ist klar, dass der Weg in eine klimaneu- wurde stets von Menschenhand gestaltet und eben nicht im Ausstoß von Treibhausgasen braucht, die – wissenschaftlich belegt – für den Klimawandel verantwortlich sind. Trotz dieser trale Zukunft alternativlos ist. Ob in der Energiewirtschaft, in der Grundstoff- oder Automobilindustrie, bei Mobilität, von Ratingagenturen oder Algorithmen. - Erkenntnis steigt der Treibhausgasausstoß weltweit weiterhin an. Logistik, Handel oder Landwirtschaft: Die bestehenden Wirt- schafts- und Produktionsstrukturen müssen sich massiv ver- Klimawandel braucht Foto © picture alliance / Xinhua News Agency / Li Bo internationale Koordininierung Das große Problem ist: Klimawandel macht vor Landesgren- zen keinen Halt. Auch wo die schädlichen Treibhausgase aus- gestoßen werden, ist irrelevant. Dieses Dilemma führt dazu, dass es einen internationalen Rahmen braucht, um die globale Erhitzung gemeinsam und koordiniert zu bekämpfen. Deshalb hat sich die Staatengemeinschaft unter dem Dach der Verein- ten Nationen im Pariser Klimaabkommen auf eine gemein- same Begrenzung des Temperaturanstiegs auf deutlich unter 2 Grad geeinigt. Um die Ziele zu überprüfen und gemeinsame Strategien zu entwickeln, treffen sich Vertreter_innen der Mit- gliedsstaaten, aber auch von wichtigen Akteursgruppen wie der Jugend, Wissenschaft, Wirtschaft und den Gewerkschaf- ten jährlich im Rahmen von Klimakonferenzen. Hier bringen sich Gewerkschafter_innen unter dem Leit- motiv „Just Transition“ für eine gerechte Gestaltung der not- wendigen Transformation ein. Schon heute ist klar, dass der Klimawandel, aber auch die Anpassungsprozesse vor allem die Schwächsten in der Gesellschaft am stärksten treffen. Im inter- nationalen Vergleich ist vor allem der Globale Süden betroffen. Dort fehlen häufig die finanziellen Ressourcen für den Schutz Elektriker_innen warten die Solaranlage auf dem Wasser in der Provinz Jiangsu im Osten Chinas. vor oder die Anpassung an Klimaveränderungen wie den Bau von Deichen, die Installation von Bewässerungsanlagen oder die Ausrüstung der Häuser mit Klimaanlagen. Das kann dazu ändern und gemäß dem Ziel der Klimaneutralität umgebaut werden. Diese Veränderungen werden wir in unserer Weise Ungleichheit bei der Vermögens- und Einkommensverteilung zu verringern, gesellschaftliche und betriebliche Teilhabe zu Covid-Krise wirkt wie ein führen, dass Menschen, die schon heute in Armut leben, ihre zu produzieren, zu konsumieren und zu arbeiten deutlich spü- stärken und dafür zu sorgen, dass der Wert der eigenen Hände Brennglas Existenzgrundlage verlieren, die Ungleichheit zunimmt, Armut ren – auch im alltäglichen Leben. Gleichzeitig müssen wir mit Arbeit erhalten bleibt. Nur so kann eine ökologische und sozi- zementiert wird und Hungersnöte Migrationsbewegungen ver- weiteren Strukturwandeltreibern wie der Digitalisierung, der ale Transformation stattfinden. Die Auswirkungen der weltweiten Covid-Pandemie haben stärken könnten. Insbesondere Frauen und Jugendliche sind Automatisierung oder auch der demographischen Entwicklung gezeigt, dass unsere aktuellen Wirtschafts- und Sozialmodel- von dieser Entwicklung betroffen. Durch den materiellen Scha- umgehen. Die damit einhergehenden Veränderungen werden Der Beitrag, den ein einzelnes Land wie Deutschland leisten le wenig nachhaltig sind und anfällig gegenüber Krisen. Ge- den und die Kosten der Anpassung fehlen den ärmeren Län- sich gegenseitig bedingen und sich zum Teil auch verstärken. kann, um die globale Klimaneutralität zu erreichen, mag in die- sundheitssysteme sind zu schnell an ihre Grenzen gestoßen, dern die Ressourcen, die wirtschaftliche Entwicklung nachzu- Umso wichtiger wird es sein, klare Bedingungen für den von sem Zusammenhang klein erscheinen. Der Weg, den Deutsch- Lieferketten zusammengebrochen, Beschäftigte haben ihre holen und zu den Industrienationen aufzuschließen. vielen Seiten getriebenen strukturellen Wandel zu definieren. land wählt, kann jedoch Vorbild für andere Länder sein. Werden Arbeit verloren. Die Ungleichheit in Deutschland, aber auch während der Transformation Menschen abgehängt und Verlie- die regionalen Unterschiede in Europa haben sich durch die Doch nicht nur das Nord-Süd-Gefälle droht, sich zu verstär- Aus Sicht der Gewerkschaften ist die Formel klar: Eine rer_innen produziert, erscheint dieses Modell wenig attraktiv. Pandemie weiter verstärkt. ken. Auch in den und zwischen den Industrienationen birgt die nachhaltige Entwicklung muss auch dem gesellschaftlichen Geht die Einhaltung der Klimaziele allerdings auch mit gerecht ökologische Transformation Sprengstoff für ein Auseinander- Fortschritt dienen. Das heißt, beim ökologischen Umbau müs- verteiltem Wohlstand, gutem Leben, gesellschaftlichem Zusam- Andererseits haben Staaten bewiesen, dass sie aktiv und en- driften zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Jung und Alt. sen zugleich auch Aufgaben angegangen werden, wie die menhalt sowie guten und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen ein- gagiert in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen und es damit her, werden andere motiviert, diesem Weg zu folgen. verändern können. Exemplarisch stehen hierfür das Corona- 18 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder: Internationale Klimapolitik und Gewerkschaften 19
NORD | SÜD-NETZ CO2 Ausstoß 2018 pro Person in Tonnen Beschäftigte sind Dreh- und Just Transition Angelpunkt der Transformation Just Transition bedeutet »gerechter Übergang« bei den grundlegenden Veränderungen, die der Klimawandel in Wirt- Aktuelle Studien zeigen: Wo Beschäftigte organisiert und schaft, Gesellschaft und Politik erzwingt. Im Blick dabei sind an den Unternehmensentscheidungen beteiligt sind, wird neben dem Schutz des Klimas selbst die unter dem Klimawan- mehr getan, Treibhausgasemissionen zu vermeiden. Mitbe- del Leidenden und diejenigen, die vom Umbau direkt betrof- USA 16,1 stimmung fördert eine nachhaltige Unternehmenspolitik und fen sind, weil etwa ihr bisheriger Job wegfällt. Nach der Ver- eine innovative Unternehmenskultur. Beispielhaft stehen ankerung des Prinzips im Pariser Klimaschutzabkommen 2015 Großbritanien 5,6 Deutschland 9,2 dafür von Betriebs- und Personalräten etablierte Vorschlags- haben der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB/ITUC) und Weltweit 5,0 wesen, die Beschäftigte ermuntern, ihr Know how einzubrin- die polnische Präsidentschaft beim UN-Klimagipfel in Kato- gen, um Betriebsabläufe zu verbessern, Energie einzusparen wice 2018 die »Schlesische Erklärung für einen solidarischen Frankreich 5,0 China 8,0 oder Umweltschutzmaßnahmen umzusetzen. Beschäftigte und gerechten Übergang« eingebracht. 53 Länder sowie die Europäische Union 6,8 kennen ihr Unternehmen am besten und wissen, wo Energie Europäische Kommission haben sie unterzeichnet. Indien 1,9 und Ressourcen eingespart und Klimaschutzmaßnahmen am effektivsten eingesetzt werden können. Mitbestimmung und Auswahl Gewerkschaftlicher Initiativen Tarifverträge sorgen für mehr Gerechtigkeit im Betrieb, sichern und Hintergrundpakete: wirtschaftliche und soziale Teilhabe und geben Sicherheit in Zeiten von Veränderungen. Just Transition Centre (JTC) des IGB/ITUC: Das JTC bringt IGB und andere Stakeholder zusammen, also Beschäftigte, Ein Beispiel ist der Baubereich. Hier gibt es tarifliche Re- Gewerkschaften, aber auch Unternehmen, Kommunen und gelungen, um Beschäftigte vor veränderten Wettereinflüssen Regierungen. Das JTC dokumentiert Erfahrungen und Bei- Datenquelle: European Commission (EDGAR) 2020, Grafik: TRD Design wie Extremhitze und Kälte zu schützen, aber auch bei wetter- spiele von Prozessen und unterstützt den sozialen Dialog. bedingtem Arbeitsausfall abzusichern. Auch in der Industrie Konjunkturpaket oder die ordnungspolitischen Maßnahmen Entwicklung stets von Menschenhand gestaltet wurde und sollen über Zukunftstarifverträge klare Perspektiven in der Trade Unions for Energy Democracy: TUED ist eine glo- der Bundesregierung sowie der europäische Aufbauplan zur eben nicht von Ratingagenturen oder Algorithmen. Eine aktive Transformation geschaffen werden. bale, branchenübergreifende gewerkschaftliche Initiative, Bekämpfung der Krise. Darüber hinaus wurde ein gewichtiger Politik muss Weichen für Unternehmen und Regionen stellen deren Ziel es ist, die Transformation im Energiebereich für Teil der Mittel daran geknüpft, dass sie genutzt werden, um und schon wirken, bevor Beschäftigung in nennenswertem eine demokratische Ausrichtung und Kontrolle zu nutzen. Im die Transformation voranzutreiben. So sollen mehr als 40 Mil- liarden Euro in die ökologische Modernisierung in Deutschland Umfang abgebaut wird. Dazu gehören auch Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, um die Beschäftigten fit für Gewerkschaften unterstützen Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen Lösungen und Gegenstrate- gien, für die Klimakrise, Energiearmut, die Ausbeutung und fließen. ein verändertes Anforderungsprofil zu machen. Dort, wo Be- eine nachhaltige Entwicklung Belastung von Umwelt und Menschen sowie für Angriffe auf schäftigung verloren geht, müssen moderne Sozialsysteme die die Rechte und den Schutz der Beschäftigten. Strukturwandel muss aktiv Folgen abfedern. Das schafft Sicherheit im Wandel, stärkt die Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen ge- Akzeptanz und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt hören in vielen Branchen und gerade im Globalen Süden zum Guideline For a Just Transition von der ILO: Gewerkschaf- gestaltet werden fördern. etablierten Wirtschaftsmodell. Der unlautere Wettbewerb auf ten, Arbeitgeber und Regierungen haben Richtlinien for- Kosten der Umwelt und fundamentaler Arbeitnehmerrechte muliert, wie eine Gerechte Transformation aussehen sollte. Die Corona-Krise zeigt: Ein handlungsfähiger Staat kann Ein wesentlicher Schlüssel sind Investitionen. Diese ma- wie etwa beim Abbau von Steinkohle oder seltener Erden im https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_emp/--- und muss aktiv gestalten. Dieses Credo gilt auch für die sozial- chen Wirtschaft und Beschäftigung zukunftsfest. Es braucht Globalen Süden behindert eine nachhaltige und klimafreund- emp_ent/documents/publication/wcms_432859.pdf ökologische Transformation. Die mit dem Strukturwandel ver- gut ausgebaute Verkehrswege, bezahlbare Energie, flächen- liche Entwicklung. Dem können demokratische Gewerkschaf- bundenen Unsicherheiten und mitunter einschneidenden Ver- deckende schnelle Internetverbindungen, gute Bildungs- und ten weltweit entgegenwirken. Starke Arbeitnehmerorganisati- IndustriAll: Der globale Verbund der Industriegewerk- änderungen gilt es deshalb mit verlässlichen Perspektiven und Forschungsinfrastruktur. Gerade in Deutschland wurde vieler- onen sind es gewohnt und in der Lage, im sozialen Dialog mit schaften stellt grundlegende Informationen zu Klimawandel tragfähigen Konzepten für betroffene Regionen, Branchen und orts auf Verschleiß gefahren. Die Infrastruktur ist veraltet und Regierungen und Arbeitgebern auf Augenhöhe zu verhandeln und Industrie 4.0 bereit, sowie internationale Dokumente Beschäftigte zu beantworten. Menschen, die von ihrer Hände passt nicht mehr zu den aktuellen Herausforderungen. Öffent- und so bessere Arbeitsbedingungen und ökologische Mindest- und konkrete Beispiele im Organisationsbereich seiner Ge- Arbeit leben müssen, dürfen dabei nicht unter die Räder kom- liche Investitionen in klimafreundliche Infrastrukturen, innova- standards zu erkämpfen. Wichtig ist, dass Gewerkschaften mit werkschaften. http://www.industriall-union.org/sites/def- men. Es wird darauf ankommen, dass relevante Akteur_innen tive Technologien, Energieeffizienz, erneuerbare Energien, den am Tisch sitzen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die ault/files/uploads/documents/Just_Transition/a_just_transi- die Veränderungsprozesse maßgeblich mitgestalten. Ausbau des grenzüberschreitenden Zugverkehrs und neue kli- Zielkonflikte zwischen Arbeit, Umwelt und Sozialem diskutiert tion_-_english.pdf maschonende Mobilitätsformen senken den CO2-Ausstoß und und belastbare Vorschläge zur Bewältigung der Transformati- Für Beschäftigte beginnt der Gestaltungsanspruch am Ar- schaffen Alternativen für klimafreundliches Verhalten. Wenn on erarbeitet werden. Stories Just Transition von UNIglobalunion: Der globale Ver- beitsplatz und erstreckt sich bis zur staatlichen Rahmenset- bei der Ausführung öffentlicher Investitionen insbesondere bund der Dienstleistungsgewerkschaften sammelt auf dieser zung mit Hilfe der Gewerkschaften. Dieser Anspruch folgt tarifgebundene Unternehmen zum Zuge kommen, kann das Webseite Artikel, Video-Interviews und Debatten zu verschie- der Erkenntnis, dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Gute Arbeit zusätzlich befördern. denen Aspekten der Arbeitswelt der Zukunft. http://www. thefutureworldofwork.org/stories/?tag=just-transition 20 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder: Internationale Klimapolitik und Gewerkschaften 21
Grafik © ellerystudio NORD | SÜD-NETZ Über die Autorinnen Autorinnen-Fotos: Kajsa Borgnäs ist Geschäftsführerin der © Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Carola Dittmann leitet den Bereich CSR und Mitbestimmung bei der Stiftung Ar- beit und Umwelt der IG BCE Die Digitalisierung verändert Unternehmen und Arbeitswelt knüpft worden. 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen oft schleichend: Da können Maschinen nun proaktiv gewartet die sogenannten Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable oder Produktion und Logistik übersichtlich vernetzt werden. Development Goals, SDG). Damit liegt nun erstmals ein uni- Immer mehr Kundendaten sammeln sich an. Künstliche In- versell gültiger Katalog mit Vorgaben vor, wie die weltweite telligenz hält Einzug. Das bedeutet meist höhere Geschwin- Entwicklung bis 2030 sozial, ökologisch und ökonomisch digkeit oder höhere Komplexität. Die Beschäftigten müssen nachhaltig zu gestalten ist. Ausdrücklich werden darin auch sich anpassen. Bei der Dekarbonisierung sind die Entwick- Erwartungen formuliert, wie eine nachhaltige Wirtschaftswei- lungen derzeit etwas sprunghafter, was auch auf die politi- se der Unternehmen aussehen kann. Im selben Jahr wurden schen Anforderungen zurückzuführen ist. Vor allem Betriebe die Pariser Klimaziele für das Jahr 2050 verabschiedet und Titelbild der Publikation, Gerechte Energiewende. Sieben Thesen zu Herausforderungen und Chancen aus der energie- und handelsintensiven Industrien müssen in den anschließend konkretisiert, etwa im deutschen Klimaschutz- industriegewerkschaftlicher Sicht, der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE kommenden Jahrzehnten mit tiefgreifenden Veränderungspro- gesetz oder im europäischen Green Deal. Damit steigt der zessen rechnen – und ihre interne Organisation und Prozesse politische Transformationsdruck. Aber auch die Gesellschaft neu aufstellen. erwartet immer mehr verantwortungsvoll produzierte und fair Neue Unternehmensstrategien für die Ära beschleunigter Transformation gehandelte Produkte und fragt sie auch nach. Transformationen werden Das alles passiert in einem geopolitischen Umfeld voller Span- nungen, mit denen die Unternehmen umgehen müssen: Der politisch flankiert Industriepolitik und Mitbestimmung Die vielen, gleichzeitig stattfindenden Transformationen be- industrielle Wettbewerb und die Systemkonkurrenz zwischen China und der EU bzw. den USA hat sich verschärft. Zusätzlich offenbart die Corona-Pandemie, wie anfällig die globalisierten müssen den Rahmen bilden treffen nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem auch die Beschäftigten. Ihre Arbeitsprozesse, Arbeitsorganisation sowie die Zukunftsperspektiven verändern sich rasant. Lieferketten sind: Versorgungsengpässe und wirtschaftlicher Stillstand, begleitet von sozialer Unsicherheit und (teilweisen) Arbeitsplatzverlusten prägten das Frühjahr 2020. Business as usual war also gestern. Die vielfältigen Heraus- Für die deutsche und die europäische Industrie bedeutet Unternehmen und Beschäftigte sind ganz unterschiedlich gut auf die Herausforderungen von Digita- forderungen unserer Zeit – neben der Digitalisierung und den das, dass sie Technologien, Produktionsweisen und Geschäfts- lisierung und stärkeren Nachhaltigkeitsanforderungen eingestellt, haben Kajsa Borgnäs und Carola ökologischen Krisen gehören auch der demografische Wandel modelle vielfach neu denken und aufstellen muss. Die zuneh- Dittmann beobachtet. Sie sehen in der chemischen Industrie einige gute Beispiele, gemeinsam in die und globale Wertschöpfungsnetzwerke – greifen tief in Wirt- mende unternehmerische Sorgfaltspflicht endet dabei nicht Offensive zu kommen. schaft und Gesellschaft ein. an den eigenen Werkstoren – auch die Umwelt-, Sozial- und Arbeitsstandards in den globalen Liefer- und Wertschöpfungs- Ganz neu sind diese Herausforderungen nicht. Sie sind je- netzwerken müssen verstärkt überwacht und sichergestellt doch in den letzten Jahren stärker mit politischen Zielen ver- werden. 22 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder: Neue Unternehmensstrategien für die Ära beschleunigter Transformation 23
NORD | SÜD-NETZ Digitalisierung verändert Zentrale Punkte, bei denen die Arbeitnehmenden mitge- Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen Arbeitsprozesse schleichend stalten wollen, sind Datensicherheit und Datenschutz sowie die Frage, wie verhindert werden kann, dass die Anforde- 2015 haben die 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Na- Gegensatz zu den Millenniumsentwicklungszielen, auf die Die Digitalisierung treibt Veränderungen an, die Betriebe, rungen schleichend immer weiter zunehmen. Die Foren und tionen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable sich die Weltgemeinschaft für 2000 bis 2015 verständigt die Gesellschaft als Ganzes und jeden Einzelnen betreffen Handlungsmöglichkeiten der Mitbestimmungsakteure müssen Development Goals) verabschiedet, die bis 2030 erreicht hatte, nun auch an Industrieländer. werden. Bislang erfolgen diese Veränderungen (überwiegend) an die wachsenden Kompetenzfelder angepasst werden. sein sollen. Damit wollen sie die globalen Krisen und He- schrittweise, die Berufe und Tätigkeiten ändern sich schlei- rausforderungen gemeinsam bekämpfen. Die Ziele reichen Die regelmäßigen Zwischenberichte zeigen allerdings, chend, anstatt (wie es befürchtet worden war) plötzlich und in von der Beendung von Armut (Ziel 1) und Sicherung der dass die Umsetzung viel zu langsam passiert. Und der an- kürzester Zeit wegrationalisiert zu werden. Evonik: Beispiel für gute Ernährung (Ziel 2) über Frauengleichstellung (5), Nach- haltige Energie (6) bis zu Lebenswerten Städten (11) und spruchsvolle Zielkatalog mit definierten Indikatoren zu sei- ner Überprüfung, wird auch aktiv unterlaufen. Das zeigen Die bereits hochautomatisierten Prozessindustrien scheinen Mitbestimmung Globale Partnerschaften (17). Alle Ziele betreffen auch beispielsweise Merle Groneweg und Christoph Scherrer in im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen (wie etwa Teilen Wirtschaft und Beschäftigte. Die internationale Gewerk- ihrem Beitrag (S.34). So setzen globale Wirtschaftsmäch- des Dienstleistungssektors) robuster aufgestellt zu sein, wenn- Idealerweise werden alle betroffenen Akteure im Unter- schaftsbewegung sieht ihre Schwerpunkte vor allem in den te eben nicht auf ein universales und gerechtes Welthan- gleich der digitale Transformationsdruck auch diese Branchen nehmen (die Belegschaften, Arbeitnehmervertretungen und Zielen 1 (Beendung der Armut), 8 (Nachhaltiges Wachs- delssystem unter dem Dach der Welthandelsorganisation betrifft. Neue digitale Technologien wie Big Data, Predictive Sozialpartner) einbezogen, wenn die Digitalisierungsstrategie tum und Gute Arbeit), 9 (Beseitigung der Ungleichheit), 13 (WTO), wie es unter Ziel 17.10. formuliert ist. Sie versuchen Maintenance, künstliche Intelligenz oder 3D-Druck werden zwar erarbeitet wird. Ein gutes Beispiel dafür ist der Chemiekon- (Klimawandel stoppen) und 16 (Frieden, Justiz und starke stattdessen ihre wirtschaftliche Vormachtstellung über bi- bereits eingesetzt, bislang aber eher experimentell oder im For- zern Evonik Industries: Gemeinsam mit dem Betriebsrat ver- Institutionen). Die Ziele sind universell gültig, müssen also und plurilaterale Abkommen zu sichern. schungs- und Laborbereich. Neben interner Prozessoptimierung ständigte sich das Unternehmen auf ein „Digitales Leitbild“. von allen Ländern umgesetzt werden. Sie richten sich im zielen die Digitalisierungsstrategien der Unternehmen häufig Es bietet konkrete Grundsätze zu Qualifizierung, Datenschutz, darauf, neue datenbasierte Geschäftsmodelle zu entwickeln Gesundheit und zur frühen Einbeziehung der Beschäftigten in und zu etablieren, zum Beispiel für Forschung und Entwicklung, die Veränderungsprozesse, und bildet die Grundlage für eine Marketing oder Vertrieb. Eine wichtige Rolle spielen hierfür Zu- weitere Ausdifferenzierung der digitalen Transformation im gang und Nutzungsmöglichkeiten von (Verbraucher-) Daten. Unternehmen. Mit den technischen Veränderungen im Unternehmen Digitales Leitbild bei Evonik wandeln sich die Tätigkeiten, Anforderungs- und Qualifika- tionsprofile der Beschäftigten. Ein großer Teil der Industrie- Im Januar 2020 haben die IG BCE, die Unternehmens- beschäftigten gibt in Umfragen an, dass die Anforderungen im leitung und der Betriebsrat von Evonik ein gemeinsames Zuge der Digitalisierung zunehmen. Allerdings sind sie je nach Digitales Leitbild unterzeichnet. Das Grundlagen-Doku- Wirtschaftsbereich ganz unterschiedlich schnell und intensiv ment listet neun Eckpunkte für den weiteren Weg des betroffen. Konzerns und seiner Beschäftigten in die digitale Arbeits- welt auf. Dabei geht es zum Beispiel um den Persönlich- Das zeigt beispielsweise der „Monitor Digitalisierung“ keitsschutz beim Umgang mit sensiblen Daten oder um (2019), für den mehr als 14.000 Beschäftigte in 600 Betrieben die verstärkte Zusammenarbeit von Mitarbeitenden durch Foto © Edgar Winkler auf Pixabay in der Chemie und anderen Industriebranchen befragt wurden. neue Vernetzungsmöglichkeiten. Auch zu neuen Arbeits- Das Ergebnis ist eindeutig: Die Belegschaften sind überwie- formen enthält das Leitbild Aussagen – etwa in Hinblick gend offen für digitale Veränderungsprozesse und akzeptieren auf Flexibilität und selbstbestimmtes Arbeiten: Das Papier sie. Sie sehen, dass eine transparente, betriebliche Digitalisie- fixiert dazu das gemeinsame Bekenntnis, Arbeitsmodelle rungsstrategie nötig ist, jedoch fühlen sie sich bei der Gestal- zu erproben, Mitarbeitenden möglichst individuelle Flexi- tung und Umsetzung der Strategie (falls vorhanden) zu wenig bilität zu gewähren und Beschäftigung bei Evonik lebens- eingebunden. phasengerecht zu gestalten. 24 DGB BILDUNGSWERK BUND – NORD|SÜD NETZ Transformationsprozesse und gewerkschaftliche Handlungsfelder: Neue Unternehmensstrategien für die Ära beschleunigter Transformation 25
Sie können auch lesen