Hohes Alter, aber nicht für alle - Wie sich die soziale Spaltung auf die Lebenserwartung auswirkt
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Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gefördert vom Hohes Alter, aber nicht für alle Wie sich die soziale Spaltung auf die Lebenserwartung auswirkt 20. Jahrhundert +++ koronare Herzkrankheit weltweit Todesursache Nummer eins +++ Wohlstandsrisiken wie Rauchen oder krankhaftes Übergewicht er + große regionale und soziale Unterschiede +++ gut Gebildete werden tendenziell älter +++ wer früher stirbt, war länger arm +++ Zugewinn an Lebensze
Impressum Über das Berlin-Institut Originalausgabe Juni 2017 Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, © Berlin-Institut für Bevölkerung der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäftigt. und Entwicklung Das Institut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung d emografischer Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. bleibt vorbehalten. In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Berlin-Institut Herausgegeben vom wissenschaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen News- Schillerstraße 59 letter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org. 10627 Berlin Telefon: (030) 22 32 48 45 Unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts Telefax: (030) 22 32 48 46 E-Mail: info@berlin-institut.org Das Berlin-Institut erhält keinerlei öffentliche institutionelle Unterstützung. Projekt- www.berlin-institut.org förderungen, Forschungsaufträge, Spenden und Zustiftungen ermöglichen die erfolg- reiche Arbeit des Instituts. Das Berlin-Institut ist als gemeinnützig anerkannt. Spenden Das Berlin-Institut finden Sie auch bei und Zustiftungen sind steuerlich absetzbar. Facebook und Twitter (@berlin_institut). Im Förderkreis des Berlin-Instituts kommen interessierte und engagierte Privat Autorin: Sabine Sütterlin personen, Unternehmen und Stiftungen zusammen, die bereit sind, das Berlin-Institut ideell und finanziell zu unterstützen. Informationen zum Förderkreis finden Sie unter Beratung: Stephan Sievert http://www.berlin-institut.org/foerderkreis-des-berlin-instituts.html Datenrecherche: Alisa Kaps Bankverbindung: Bankhaus Hallbaum Lektorat: Lilli Sippel IBAN DE50 2506 0180 0020 2864 07 BIC/SWIFT HALLDE2H Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de) Druck: Laserline, Berlin Über den GfK Verein ISBN: 978-3-946332-92-3 Der GfK Verein ist eine 1934 gegründete Non-Profit-Organisation zur Förderung der Marktforschung. Er setzt sich aus rund 600 Unternehmen und Einzelpersonen Die Autorin zusammen. Zweck des Vereins ist es, innovative Forschungsmethoden in enger Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen zu entwickeln, die Aus- und Sabine Sütterlin, 1956, Diplom in Natur Weiterbildung von Marktforschern zu fördern und die für den privaten Konsum wissenschaften an der ETH Zürich. Freie grundlegenden Strukturen und Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Poli- wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-In- tik zu verfolgen sowie deren Auswirkungen auf die Verbraucher zu erforschen. Die stitut für Bevölkerung und Entwicklung. Studienergebnisse werden den Mitgliedern des Vereins kostenlos zur Verfügung gestellt. Der GfK Verein ist Gesellschafter der GfK SE. Das Berlin-Institut dankt dem GfK Verein für Weitere Informationen unter: www.gfk-verein.org. die Förderung des Projekts.
INHALT DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE...............................................................................................2 1. DIE AUSGANGSLAGE.......................................................................................................3 2. WAS VERLÄNGERT, WAS VERKÜRZT DAS LEBEN?.........................................................10 3. DIE FOLGEN DES LÄNGEREN LEBENS............................................................................16 4. GROSSE UNTERSCHIEDE.............................................................................................. 21 4.1 USA...............................................................................................................................................21 4.2 DEUTSCHLAND......................................................................................................................... 24 4.3 OSTEUROPA...............................................................................................................................25 4.4 ENTWICKLUNGS- UND SCHWELLENLÄNDER................................................................... 26 5. WIE GEHT ES WEITER?.................................................................................................. 31 6. WAS TUN?.....................................................................................................................36 QUELLEN...........................................................................................................................38 Berlin-Institut 1
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE Seit gut einem Jahrhundert steigt die mitt- In den weniger entwickelten Teilen der Welt Jahre beträgt. Aber auch in Deutschland gibt lere Lebenserwartung global stetig, steil setzte der Anstieg der Lebenserwartung spä- es große regionale und soziale Unterschiede. und scheinbar unaufhaltsam, nachdem sie ter ein. Zwischenzeitlich stagnierte oder fiel Und die Schere scheint sich weiter zu öffnen. zuvor stets niedrig geblieben und heftigen sie sogar, vor allem durch die HIV/Aids-Epide- Zudem treibt die zunehmende Alterung die Einbrüchen durch Hungersnöte und Seuchen, mie, die von den 1990er Jahren an besonders Gesundheitskosten hoch. Alles in allem heißt Kriege und Katastrophen unterworfen war. in Afrika und Asien zahlreiche Todesopfer das: Selbst wenn Einzelne Altersrekorde Von geschätzt rund 30 Jahren um 1900 ist forderte. Heute klafft zwischen mehrheitlich erreichen, dürfte es künftig schwieriger wer- die Menschheit heute bei einem Durchschnitt reichen Weltregionen und Afrika zwar immer den, den Durchschnitt zu erhöhen. von rund 71 Jahren angelangt – ein Zugewinn noch eine Lücke bei der Lebenserwartung an Lebenszeit von etwa dreieinhalb Jahren von 17 Jahren. Aber die Tendenz zeigt auch Auch in den Teilen der Welt, die in Entwick- pro Jahrzehnt. Frauen in Japan, die welt in den Schwellen- und Entwicklungsländern lung begriffen sind, ist der weitere Zuwachs weiten Spitzenreiterinnen, kommen heute im nach oben. an Lebenszeit teilweise gefährdet. Immer Mittel auf fast 87 Jahre. noch sterben viel zu viele Menschen und vor Kann sich dieser Trend immer weiter fort allem Kinder unter fünf Jahren an Infektions- In den früh industrialisierten Ländern setzte setzen? Langlebigkeits-Optimisten sind krankheiten. Prävention wäre relativ einfach, der Anstieg zuerst ein. Dank besserer Er- davon überzeugt, dass schon heute Men- so schützen Moskitonetze vor Malaria, Kon- nährung und Hygiene, Zugang zu sauberem schen leben, die im Prinzip 150 Jahre alt dome vor Ansteckung mit HIV/Aids. Aber es Trinkwasser und medizinischen Fortschritten werden können. Dafür spricht, dass die fehlt oft an Geld, an Zugang zu diesen Mitteln wie Impfungen und Antibiotika gingen die Lebenserwartung jede zuvor vermutete Ober- – oder an Wissen, wie Risiken zu vermeiden Infektionskrankheiten zurück, die früher vor grenze noch stets durchbrochen hat und ein sind. Trotz vieler Fortschritte ist auch Unter- allem Kinder massenhaft dahingerafft hatten. Abflachen der Tendenz nicht zu erkennen ist. ernährung nach wie vor verbreitet. Sie macht Mit zunehmendem Wohlstand traten Herz- Zudem nährt die biomedizinische Forschung Menschen anfälliger für Infektionen und Kreislauf-Erkrankungen wie Arteriosklerose, bei manchen die Zuversicht, dass sich das hindert sie daran, ihre Potenziale zu entfal- Herzinfarkte und Schlaganfälle an ihre Altern eines Tages aufhalten und der Tod ten. Weil überall bessergestellte Mittelschich- Stelle als häufigste Erkrankungs- und Todes hinausschieben lassen könnte. ten entstehen, nimmt gleichzeitig die Zahl ursachen. Von den 1960er Jahren an konnten der Menschen rasant zu, die an krankhaftem neue Medikamente und Therapien, aber auch Doch es gibt auch Entwicklungen, die zumin- Übergewicht leiden. Diese „doppelte Krank- vermehrte Aufklärung über die Risiken von dest regional beziehungsweise in bestimm- heitslast“ ist eine der Herausforderungen, die falscher Ernährung, Bewegungsmangel und ten Schichten der Gesellschaft den Anstieg es zu bewältigen gilt, wenn das Ziel lautet, Rauchen diese „Zivilisationskrankheiten“ bremsen. Die Gesundheit und damit die Le- mehr gesundheitliche Gleichheit herzustel- zurückdrängen. Zudem wurde es dank mo- benserwartung werden wesentlich von zwei len. Denn nur so können die heute Benachtei- derner Medizin möglich, mit diesen Erkran- Faktoren bestimmt: dem Sozialstatus und ligten in puncto Lebenserwartung aufholen. kungen länger zu überleben. So verschiebt dem Bildungsgrad. In vielen Industrieländern sich der Rückgang der Sterblichkeit in den ist die Gesellschaft gespalten in Gruppen, die Kann sich der Anstieg immer weiter fortset- meisten Industrieländern in immer höhere ein sehr hohes Alter erreichen und dabei lan- zen? Die Antwort bleibt offen. Wesentlich Altersgruppen. ge fit und gesund bleiben, und weniger Privi- wichtiger sind jedoch andere Fragen: Wie legierte, die tendenziell eher riskante Verhal- gehen wir damit um, dass wir immer älter tensweisen pflegen, denen der Lebensstress werden? Wie bleiben wir möglichst lange zusetzt, die häufiger erkranken und früher gesund? Und wie lässt sich eine alternde Ge- sterben. Besonders deutlich zeigt sich das sellschaft gestalten? Die wichtigsten Hand- in den USA, wo die Differenz zwischen dem lungsfelder fasst Kapitel 6 zusammen. Bezirk (County) mit der höchsten und jenem mit der niedrigsten Lebenserwartung rund 20 2 Hohes Alter, aber nicht für alle
1 DIE AUSGANGSLAGE Altersrekorde und Mittelwerte hatten. Noch 1872 überlebte im Deutschen Der „epidemiologische Übergang“ Reich jedes vierte Neugeborene das erste Alle Lebewesen sterben irgendwann. Selbst Lebensjahr nicht.7 Um zu ermessen, wie In vormodernen Zeiten waren es im Wesentli- bei Einzellern, die sich durch Teilung oder alt die Menschen in einem Gebiet zu einer chen Seuchen wie Pest, Cholera, Typhus oder Knospung vermehren, können Alterns bestimmten Zeit wurden, und um Bevölke- Pocken, die sporadisch Bevölkerungen dezi- prozesse einsetzen und schließlich die rungen vergleichen zu können, zählt nicht die mierten und die Sterblichkeit hochschnellen Lebensfunktionen erlöschen.1 Große Unter- maximal mögliche Lebensspanne, sondern ließen, aber auch Hunger und chronische schiede bestehen allerdings bei der Zeit- der Durchschnitt: die mittlere Lebenserwar- Mangelernährung, Naturkatastrophen und spanne, die einem Individuum zwischen dem tung*. Dieser statistische Wert gibt an, wie kriegerische Ereignisse. Heute stehen Herz Beginn seines Lebens und dem Tod bleibt: viele Jahre ein Mensch vom Zeitpunkt seiner infarkte und Schlaganfälle an erster Stelle Den Langlebigkeitsrekord im Tierreich hält Geburt an durchschnittlich leben könnte, unter den zehn häufigsten Todesursachen ein Exemplar der Islandmuschel, dessen Alter wenn sich die gegenwärtigen Sterberisiken weltweit (siehe Kasten S. 6). Forscher auf 507 Jahre datierten.2 Dagegen nicht ändern (siehe Kasten S. 4). haben Bauchhaarlinge, das sind mikrosko- Dieser Wandel in der Rangfolge der todesur- pisch kleine wasserbewohnende Würmer, sachenspezifischen Sterblichkeit, der Rück- vom Ausschlüpfen bis zum Ende ihres Lebens Geburtstagskerzen werden knapp gang der Sterblichkeit insgesamt und damit nur drei bis vier Tage.3 auch der Anstieg der Lebenserwartung sind Schätzungen der Vereinten Nationen 3,5 Ausdruck der sozioökonomischen Entwick- zufolge hatten 1990 weltweit 95.000 Wie alt kann der Homo sapiens werden? Die Menschen ihren 100. Geburtstag hinter lung, die in Europa mit der I ndustrialisierung bis jetzt höchste dokumentierte Lebensspan- sich. 2015 waren es bereits fast fünfmal eingesetzt hat. Der amerikanische Epidemio- 3,0 ne beträgt 122 Jahre und 164 Tage: In diesem mehr. Nach der mittleren Variante der loge Abdel R. Omran brachte dafür erstmals wahrhaft biblischen Alter verstarb 1997 die Bevölkerungsvorausberechnung der 1971 das Modell des „epidemiologischen Vereinten Nationen dürfte sich ihre Französin Jeanne Calment.4 Das maximal 2,5 Übergangs“ in die Diskussion: Dieser habe Zahl bis 2050 gegenüber heute erreichbare menschliche Alter ist seit Beginn verachtfachen. sich in drei Stufen vollzogen, langsam im des 19. Jahrhunderts um 20 Jahre gestiegen. Westen, beschleunigt in Japan, und sei in 2,0 Seit 1950 hat sich in den Industrieländern Entwicklungsländern noch im Gange. Auf der die Zahl der mindestens Hundertjährigen in ersten Stufe, dem „Zeitalter der Hungersnöte jedem Jahrzehnt verdoppelt.5 Weltweit gibt 1,5 und Seuchen“, schwankt die mittlere Lebens- es zurzeit 43 Personen, die bereits ihren erwartung demnach heftig auf und ab, bleibt 110. Geburtstag feiern konnten, sogenannte jedoch insgesamt niedrig. Auf der zweiten „Supercentenarians“. Mit wenigen Ausnah- 1,0 Stufe gehen die Epidemien allmählich zurück, men leben sie in Industrieländern, vor allem sodass die Sterblichkeit sinkt und die Le- in Japan, den USA und Europa.6 benserwartung allmählich auf etwa 50 Jahre 0,5 zunimmt. Auf der dritten Stufe verdrängen Schon immer gab es Einzelne, die vergleichs- Omran zufolge „menschengemachte“, also weise alt wurden. Bis in die frühe Neuzeit 0 lebensstilbedingte Erkrankungen Infektionen fielen jedoch viele Menschen Infektionen, endgültig als wichtigste Todesursachen.10 1990 1995 2000 2005 2010 201 5 2020 202 5 2030 2035 2040 2045 2050 Krankheiten oder Verletzungen zum Opfer, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht Zahl der Personen ab 100 Jahren weltweit in Millionen, 1990 bis 2050, ab 2020 Projektion * Wo nichts anderes angegeben, ist im Folgenden stets (Datengrundlage: UN Population Division8) die mittlere Lebenserwartung bei Geburt gemeint. Berlin-Institut 3
Die kardiovaskuläre Revolution – Leben, Tod und Sterberisiko und Rückschläge Die Sterblichkeit oder Sterberate ist neben der Geburtenrate und dem Saldo von Zu- und Neue Medikamente und Therapien, aber auch Abwanderung ein wesentlicher Faktor für die demografische Entwicklung. Sie wird vermehrte Aufklärung über die Risiken, etwa gewöhnlich als Zahl der Todesfälle pro 100.000 Einwohner angegeben, insgesamt oder einer zu salz- und fettreichen Kost, haben seit sortiert nach Altersgruppen und Todesursachen. Ende der 1960er Jahre dazu geführt, dass in den Industrieländern die Sterblichkeit auf- Um die Sterblichkeitsverhältnisse einer Bevölkerung unabhängig von deren Größe und grund von Gefäßerkrankungen, Herzinfarkten Altersstruktur beurteilen zu können, kommen Sterbetafeln zum Einsatz. Sie beinhalten und Schlaganfällen deutlich zurückgegangen statistische Modelle, die auf den erfassten Daten zu Zahl und Alter der in einem be- ist. So hat sich der Zugewinn an Lebens stimmten Zeitraum Gestorbenen und zur Durchschnittsbevölkerung beruhen. Daraus jahren in immer höhere Altersgruppen verla- lassen sich Sterbewahrscheinlichkeiten für die einzelnen Altersjahre berechnen. Die gert. Der Effekt war so ausgeprägt, dass von Sterbetafel zeigt in Form einer Tabelle, nach Geschlecht getrennt, wie viele Personen einer „kardiovaskulären Revolution“ die Rede der zu Beginn des betrachteten Zeitraums vorhandenen Bevölkerung gestorben sind ist. Manche sehen darin eine vierte Stufe des und wie viele überlebt haben. epidemiologischen Überganges.19 Die voraussichtliche mittlere Lebenserwartung für eine bestimmte Geburtskohorte Aus Sicht einiger Wissenschaftler hat die Welt berechnet sich jeweils aus den Sterbetafeln der vorangegangenen Periode. In Deutsch- von den 1990er Jahren an eine fünfte Stufe land fasst die amtliche Statistik jeweils drei Jahre zusammen. Die aktuellen Angaben zur erreicht – in der die Sterblichkeit teilweise Lebenserwartung bedeuten somit, dass sich aus dem Trend der Sterbetafeln 2013/2015 wieder zunimmt. Das liegt daran, dass sich voraussagen lässt, welches Alter die heute Geborenen im Durchschnitt erreichen kön- neue Gefahren wie HIV/Aids ausgebreitet nen – vorausgesetzt, die Sterblichkeitsverhältnisse bleiben gleich. haben, gleichzeitig überwunden geglaubte Infektionskrankheiten wie Tuberkulose zu- Aus den Periodensterbetafeln lässt sich auch bestimmen, mit wie vielen verbleibenden rückkehren, neuartige Seuchen ausbrechen, Lebensjahren eine bestimmte Altersgruppe, etwa die der 60- oder 65-Jährigen, im Mit- Autoimmun- und Entzündungskrankheiten tel rechnen kann, also die fernere Lebenserwartung. Heutige Rentner können damit um sich greifen.20 Auch die globale Zunahme statistisch auf eine längere durchschnittliche Gesamt-Lebenserwartung kommen als von krankhaftem Übergewicht (Adipositas), heute Geborene, denn wer den 65. Geburtstag erlebt, hat schon viele Risiken hinter sich das weitreichende gesundheitliche Ein- gelassen.9 Wo nichts anderes angegeben, ist im Folgenden jedoch stets die Lebens schränkungen nach sich ziehen kann, wird erwartung bei Geburt gemeint. Je nach Quelle und Berechnungszeitpunkt können die der fünften Stufe zugerechnet.21 angegebenen Werte voneinander abweichen, da nicht aus allen Ländern vollständige Datensätze vorliegen. Das zeigt: Sozioökonomische Entwicklung und epidemiologischer Übergang bringen nicht automatisch Fortschritte bei der Le- benserwartung mit sich. Es gibt auch Rück- Ob die Übergänge in Stufen erfolgen oder Versorgung zur Verfügung stand, ergab sich schläge. Denn über die Zeit haben sich die kontinuierlich, ist umstritten. Fest steht je- ein Zugewinn an Lebenszeit.11 Zunächst Rahmenbedingungen, die über Sterberaten doch, dass sie sich nicht von allein ergeben. wirkte sich dies überwiegend positiv auf die und Trends bei der Lebenserwartung ent- Wann immer die Sterblichkeit von Bevölke- Überlebenswahrscheinlichkeit von Kindern scheiden, höchst unterschiedlich entwickelt, rungen oder einzelnen Gruppen historisch und Jugendlichen aus. Denn in den ersten selbst in Ländern, in denen der Prozess der zurückgegangen ist, hat dies auf Beobachtun- Lebensjahren ist das Risiko besonders hoch, Industrialisierung früh eingesetzt hat, und gen und wissenschaftlichen Erkenntnissen an Infektionen oder Parasitenbefall zu ster- erst recht in den sich entwickelnden Teilen sowie daraus abgeleiteten Maßnahmen und ben. Menschen, die bereits das Erwachsenen- der Welt.22 Aufklärung beruht: Wo es sauberes Trink alter erreicht haben, begannen erst im 20. wasser gab und Abwässer ordentlich entsorgt Jahrhundert vom allgemeinen Rückgang der wurden, wo Impfungen und Antibiotika Sterblichkeit zu profitieren, unter anderem, viele Infektionskrankheiten zurückdrängen weil sich die Lebens- und Arbeitsbedingun- konnten und eine flächendeckende ärztliche gen verbesserten.12 4 Hohes Alter, aber nicht für alle
Der bisherige Anstieg: Die höchste mittlere Lebenserwartung haben Um Antworten auf diese Fragen zu finden, Historisch ohne Beispiel mit fast 84 Jahren für die Berechnungs betrachten wir im Folgenden zunächst die periode 2010/2015 die Bewohner der chine- bisherige Entwicklung der Lebenserwartung Um 1900 lag der weltweite Durchschnitt der sischen Sonderverwaltungszone Hongkong.24 global und in einzelnen Regionen. Wir be- Lebenserwartung bei etwa 30 Jahren – eine Im Ländervergleich ist Japan mit 83,7 Jahren schreiben, welche Faktoren den bemerkens- Schätzung, da zu dieser Zeit kaum verläss der globale Spitzenreiter, dicht gefolgt von werten Anstieg der Lebenserwartung im früh liche Angaben für wenig entwickelte Länder der Schweiz, Singapur, Spanien, Australien, entwickelten Teil der Welt bewirkt und in den vorlagen. In Großbritannien betrug der Wert Italien, Island und Israel – allesamt hoch Schwellen- und Entwicklungsländern einge- damals 45,6 Jahre, in Deutschland rund 43 entwickelte Staaten. Doch zwischen Japan leitet haben. Wir skizzieren kurz, wie sich die Jahre.23 Der Anstieg, der danach einsetzte, ist und dem Schlusslicht, dem westafrikanischen gestiegene Lebenserwartung, zusammen mit historisch und biologisch beispiellos. Bis zur Sierra Leone, klafft zurzeit eine Differenz von dem Rückgang der Geburtenzahlen, auf die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte der globale rund 34 Jahren. Beträchtliche Unterschiede Gesellschaften und die Wirtschaft der In- Durchschnittswert bereits auf rund 47 Jahre finden sich auch innerhalb Europas: In ei- dustrienationen (und längst auch der ersten zugenommen. Und der Trend nach oben hält nigen süd- und westeuropäischen Ländern Schwellenländer) auswirkt. Dann betrachten an: Aus den Sterbetafeln der Periode 1995 werden die Menschen älter als 82 Jahre, in wir die Datenlage für verschiedene Regionen. bis 2000 ergab sich ein globaler Mittelwert der Russischen Föderation erleben sie im Abschließend folgt eine Darstellung, welche von 65,6 Jahren, nach der jüngsten Aus Mittel nicht einmal den 70. Geburtstag.25 weiteren Entwicklungen sich abzeichnen und wertung 2010 bis 2015 liegt er bei rund 70,5 Warum ist das so? Wie geht es weiter? Kön- welche Strategien denkbar sind, um die er- Jahren. nen diese Unterschiede verringert werden? wähnten Unterschiede auszugleichen. Und lässt sich der Trend beliebig fortsetzen? Zuerst sinkt die Kindersterblichkeit ... ... später gewinnen die Älteren Lebenszeit hinzu 500 90 450 80 400 350 Lebenserwartung mit 65 70 300 mittlere Lebenserwartung 250 60 200 50 1 50 100 40 50 0 0 1750 1800 1850 1900 1950 2013 1921 –1930 1931 –1940 1881 –1890 1891 –1900 1901 –1910 1911 –1920 1941 1971 –1950 1951 –1980 –1960 1961 –1970 1981 –1990 1991 –2000 2001 –2010 2011 –2016 1861 –1870 1871 –1880 Zahl der Kinder je 1.000 Lebendgeborene, die innerhalb der ersten fünf Mittlere Lebenserwartung und fernere Lebenserwartung 65-Jähriger Lebensjahre sterben in Schweden, 1751 bis 2013 in Jahren in Schweden, 1861 bis 2015 (Datengrundlage: Our World in Data) (Datengrundlage: Statistics Sweden13) In Schweden gibt es verlässliche Aufzeichnungen zur Lebenserwartung seit 1751. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag die Kindersterblichkeit höher als sie heute in einem Entwicklungsland wie Angola ist. Schweden hat sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom rückständigen Agrar- zum Industrie land entwickelt. In diesem Zeitraum sank die Kindersterblichkeit deutlich ab, die Lebenserwartung stieg an. Von Mitte des 20. Jahrhunderts an sank dann auch die Sterblichkeit in den höheren Altersgruppen und die fernere Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren legte zu. Berlin-Institut 5
Woran die Menschen am häufigsten Herzkrankheit ist weltweit Nummer eins Arme fallen oft Infektionen anheim sterben 56 Millionen Menschen sind 2015 weltweit gestor- Übertragbare Krankheiten fordern in armen Ländern ben, mehr als ein Viertel davon an Durchblutungs- den weitaus höchsten Zoll an Leben. An erster Stelle Global betrachtet sind heute nichtüber- störungen des Herzens oder Schlaganfällen. Unter stehen dabei Lungenentzündungen und andere tragbare Erkrankungen die häufigsten den zehn wichtigsten Todesursachen weltweit Infektionen der unteren Atemwege. HIV/Aids war Todesursachen – und das in zunehmendem stellen jene die Mehrheit, die durch einen gesund- 2015 aus der globalen Liste der zehn wichtigsten Maße. Den Spitzenplatz nehmen dabei heitsfördernden Lebensstil teilweise vermeidbar Todesursachen verschwunden, steht aber in den oder aufschiebbar wären. ärmsten Weltregionen immer noch vorne mit dabei. Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein. Über die letzten 15 Jahre hinweg forderten Durch- blutungsstörungen der Herzkranzgefäße, übertragbare Krankheiten, die bis zum Herzinfarkt führen können, und Schwangerschafts-/Geburts- 800.000 9 komplikationen, Ernäh- Schlaganfälle in absoluten Zahlen die meis- rungsdefizite (Gruppe I) ten Todesopfer. 8 nichtübertragbare Erkran- 700.000 kungen (Gruppe II) 7 600.000 Auf die Bevölkerung umgerechnet und Verletzungen (Gruppe III) aufgegliedert nach armen, mittleren und 6 500.000 reichen Regionen ergibt sich ein etwas anderes Bild, wobei in vielen wenig entwi- 5 400.000 ckelten Ländern zuverlässige Statistiken 4 über Todesursachen fehlen, sodass die 300.000 Daten häufig auf Schätzungen respektive 3 Modellierungen beruhen. In einkommens- 200.000 schwachen Ländern geht gut die Hälfte (52 2 Prozent) aller Todesfälle auf Ursachen der 100.000 1 „Gruppe I“ zurück: Darunter fallen nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation 0 0 (WHO) übertragbare Krankheiten, Schwan- Infektionen der unteren Atemwege Komplikationen bei Frühgeburten Geburtskomplikationen Lungenentzündung und andere Durchfallerkrankungen Schlaganfall Ischämische Herzkrankheit HIV/Aids Tuberkulose Malaria Sauerstoffmangel und andere Verkehrsunfälle Infektionen der unteren Atemwege Ischämische Herzkrankheit Schlaganfall Lungenentzündung und andere Chronisch-obstruktive Bronchitis Luftröhren-, Bronchial- und Lungenkrebs Diabetes mellitus Demenz Durchfallerkrankungen Tuberkulose Verkehrsunfälle gerschafts- und Geburtskomplikationen sowie Ernährungsdefizite. In Ländern mit hohen Einkommen sind dagegen weniger als sieben Prozent der Todesfälle auf solche Ursachen zurückzuführen, die charakteris- tisch für eine frühe Phase des epidemiolo- gischen Überganges sind. Umgekehrt verhält es sich bei den nicht- übertragbaren Krankheiten, die in Gruppe II der Todesursachen zusammengefasst Die zehn wichtigsten Todesursachen weltweit Die zehn wichtigsten Todesursachen in Ländern werden und weltweit 70 Prozent aller Ster- in Millionen Toten, 2015 mit niedrigem Einkommen in Toten, 2015 befälle verursachen. Neben chronischen (Datengrundlage: WHO15) (Datengrundlage: WHO15) Atemwegserkrankungen wie COPD oder Asthma sowie Diabetes fallen darunter vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Mit anderen Worten: In Industrieländern Einige traditionelle Sterberisiken haben Krebs ins Gewicht.14 Der Anteil der letzte- gehen neun von zehn Todesfällen auf das jedoch zumindest teilweise ihren Schre- ren beiden an den Todesursachen beträgt Konto von Herz-Kreislauf-Erkrankungen cken verloren. Hunger, Naturkatastrophen 37 Prozent in Ländern mit geringen Ein- oder Krebs.15 und lebensgefährliche Arbeitsbedingun- kommen, 88 Prozent in reichen Nationen. gen, Gewaltausbrüche und Kriege mögen 6 Hohes Alter, aber nicht für alle
Eine steile These: Weiter linearer zwar regional und lokal viele Todesopfer Unter den Umwelteinflüssen ist die Luft Anstieg fordern, dies fällt aber im globalen Maßstab verschmutzung im weltweiten Vergleich kaum ins Gewicht. Die Zahl der Krebs das bedeutendste Gesundheitsrisiko: Einer Während die Lebenserwartung für beide erkrankungen nimmt zwar weltweit zu und von acht Todesfällen geht auf das Konto Geschlechter in den vergangenen 200 Jahren dürfte infolge der demografischen Alterung von Feinstaub und toxischen Verbrennungs- angestiegen ist, haben Frauen durchgängig weiter steigen, aber mit einigen Arten von rückständen in der Atemluft.17 In fast allen einen Vorsprung gegenüber Männern be- Krebs können Erkrankte dank neuartiger größeren Städten der Länder mit niedrigem wahrt (siehe Kasten S. 9). Zu Beginn des 20. Therapien heute überleben.16 und mittlerem Einkommen erreicht die Luft- Jahrhunderts hatten neuseeländische Frauen, qualität nicht die Normwerte der WHO. Aber die nicht dem Volk der Maori angehören, Immer noch sterben sehr viele Menschen auch offene Feuerstellen in Innenräumen den Weltrekord in punkto Lebenserwartung an Infektionen, an Lungenentzündungen, von Hütten und Häusern verursachen immer gehalten. Ende der 1930er Jahre übernahmen Durchfällen, HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria, noch viele Erkrankungen und Todesfälle, die Norwegerinnen und von der Jahrhundert- von denen die meisten eigentlich mithilfe vor allem in Südostasien sowie in der WHO- mitte an wechselten sich die Frauen Islands, von Antibiotika zu bekämpfen beziehungs- Region Östlicher Mittelmeerraum, die von der Niederlande, Schwedens und kurzfristig weise mit Hygiene, modernen Medika- Pakistan bis Nordafrika reicht.18 der Schweiz an der Spitze ab. Seit Anfang der menten und vor allem mit vorbeugenden 1990er Jahre liegen fast immer die japani- Maßnahmen in Schach zu halten wären. Die schen Frauen vorn. mittelbaren Todesursachen sind hier letzt- lich andere: genereller Mangel an Geld oder fehlgeleitete Allokation von Mitteln, etwa im Gesundheits- und Bildungswesen. Mittlere Lebenserwartung in Jahren für ausgewählte Länder, 1543 bis 2011 (Datengrundlage: Our World in Data26) Der große Sprung im 20. Jahrhundert 80 Großbritannien In England und Wales haben Gemeinden schon im ausgehenden Mittelalter Todesfälle Deutschland registriert. Die daraus ermittelten Daten zur Lebenserwartung veranschaulichen die Japan 70 starken Schwankungen durch Seuchen und andere Katastrophen. Von 1900 an stieg China die Lebenserwartung im globalen Durchschnitt stetig an, obwohl Kriege und Epidemien zu zeitweiligen Einbrüchen führten. Den Anfang machten die Industrieländer. Etwas Russland später, aber umso rasanter holten Japan und dann China auf. In sich entwickelnden Südafrika 60 Ländern wie Südafrika oder Äthiopien setzte zeitverzögert ein den Industrienationen Äthiopien vergleichbarer Anstieg ein. 50 40 30 20 0 1543 1600 1700 1800 1900 2011 Berlin-Institut 7
Die Demografen Jim Oeppen und James halb einer Bevölkerung abnehmen werde: eindeutige Aufwärtstendenz feststellen. Doch Vaupel vom Max-Planck-Zentrum für die Bio- Je höher also die Lebenserwartung in einer von einem linearen Anstieg kann nicht die demografie des Alterns an der süddänischen Gesellschaft steige, desto weniger werde Rede sein. Von den 1980er Jahren bis zur Universität Odense haben mithilfe einer sich unterscheiden, wie alt die Menschen bei Jahrtausendwende verzeichnete Afrika Stag- mathematischen Betrachtung dieser Daten ihrem Tod sind.28 nation und Rückgang, in erster Linie wegen gezeigt, dass der Anstieg des jeweiligen der HIV/Aids-Epidemie.30 Rekordwertes über 160 Jahre hinweg nahe- zu linear verlaufen ist. Oeppen und Vaupel Konvergenzen und Divergenzen Auch innerhalb Europas hat die Lebenserwar- folgern daraus, dass die maximale Lebenser- tung nach 1900 einen sehr unterschiedlichen wartung theoretisch weiterhin linear anstei- Betrachtet man nicht die Rekordwerte, Verlauf genommen: Zunächst vergrößerten gen könnte.27 2016 leitete ein Team um James sondern den Durchschnitt sowie die Varianz sich die Differenzen zwischen den einzelnen Vaupel aus den Daten von 44 Ländern mit der Länder bei der Lebenserwartung, ergibt Ländern, vor allem, weil in Süd-, Mittel- und hoher durchschnittlicher Lebenserwartung sich ein eher diffuses Bild. Die Unterschiede Osteuropa die Sterblichkeit aufgrund von eine mathematische Regel ab, der zufolge zwischen reichen und armen Ländern haben Infektionen langsamer sank als im Norden mit der Zeit auch die Variationsbreite inner- sich über die Zeit tatsächlich verringert. Für des Kontinents. Von 1920 an näherten sich die meisten Länder lässt sich seit 1960 eine die Werte einander immer mehr an; 1960 waren die Unterschiede für die Lebenserwar- Wechsel an der Spitze der Langlebigkeit tung von Männern auf ein Minimum zusam- mengeschrumpft, 1970 für Frauen.31 Doch Trägt man Jahr für Jahr die jeweils höchste erreichte mittlere Lebenserwartung ein – es ist stets die weibliche, bereits von 1965 an begannen die Trends weil sie höher ist als die männliche – und verbindet die einzelnen Punkte, ergibt sich in hinreichender Nähe- rung eine ansteigende Gerade. Diese haben die Biodemografen James Oeppen und James Vaupel 2002 in einer wieder auseinander zu laufen, vor allem weil vielzitierten Arbeit unter dem Titel „Broken Limits“ erstmals veröffentlicht. Vermutete Obergrenzen wurden die Lebenserwartung hinter dem Eisernen bisher stets durchbrochen. Oeppen und Vaupel leiten daraus ab, der lineare Anstieg der Maximalwerte werde Vorhang, in Osteuropa und der damaligen sich fortsetzen. Sowjetunion, nicht weiter anstieg oder sogar zurückging.32 90 Jeweils höchste welt- Australien weit erreichte mittlere Der Abstand zwischen weiblicher und männ- Lebenserwartung licher Lebenserwartung hat in den Industrie 85 Island für Frauen in Jahren, Japan 1840 bis 2014 ländern im 20. Jahrhundert zugenommen. Niederlande (Quelle: Oeppen & In einigen hat er sich in jüngster Zeit wieder 80 Neuseeland Vaupel29) verringert. Beides ist weniger auf biolo Norwegen gische als vielmehr auf äußere Faktoren, auf 75 Schweden kulturelle, soziale und Umwelteinflüsse zu- Schweiz rückzuführen. Zunächst ging das hohe Risiko 70 für Frauen zurück, schon in jungen Jahren an Schwangerschafts- oder Geburtskomplikatio- 65 nen zu sterben. Derweil waren Männer zu- nehmend stärker gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen und anderen Risiken wie 60 unfallträchtigem Fahrverhalten, Gewalt und Selbstmord ausgesetzt. Vor allem aber nahm 55 der Tabakkonsum zu, der als bedeutendster messbarer Faktor gilt. Wo Frauen diese Ge- 50 wohnheit übernahmen, etwa in Dänemark, den Niederlanden und den USA, verlang- 45 samte sich in den 1980er und 1990er Jahren vorübergehend der Anstieg der weiblichen 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 19 10 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Lebenserwartung.33, 34 8 Hohes Alter, aber nicht für alle
Briten mit hohem Sozialstatus leben gleich lang wie die Durchschnittsbritin Männer sind zarter, Frauen häufiger krank Normalerweise leben Frauen im Durchschnitt länger Zahlenmäßig überwiegen bei den Neugeborenen die Jungen gegenüber den Mädchen als Männer. Zwischen 1982 und 2011 ist der weib- liche Vorsprung in England und Wales von 5,8 auf im Verhältnis von 105 zu 100 leicht. Aber Mädchen überleben die ersten fünf Jahre ihres auf 3,5 Jahre zusammengeschmolzen. Detaillierten Daseins häufiger als Jungen, sodass die Zahl der Männer und Frauen im späteren Leben statistischen Analysen zufolge sind in dem Zeitraum wieder ausgeglichen ist. Auch die fernere Lebenserwartung im Alter von 50 ist für Frau- zumindest hochqualifizierte Männer in verantwor- en höher als für Männer. Diese Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hält sich bis tungsvoller beruflicher Position an den Mittelwert für Frauen herangekommen. heute, auch wenn sie je nach Land und auch im zeitlichen Verlauf variiert hat. 86 Eine eindeutige Erklärung für den weiblichen Überlebensvorteil gibt es nicht. Verschie- dene biologische Faktoren kommen in Frage. So besitzen Frauen zwei X-Chromosomen, 84 Männer nur eines. Wenn ein Gen, das auf dem X-Chromosom sitzt, in einer ungünstigen Variante vorliegt, können Frauen dies kompensieren, falls sich eine vorteilhaftere Va- riante des entsprechenden Gens auf dem zweiten X-Chromosom durchsetzt. Männer 82 haben diese „Reserve“ nicht. Möglicherweise spielen auch die Mitochondrien eine Rolle: Diese „Kraftwerke der Zelle“ haben ein eigenes Erbgut und werden praktisch 80 immer von der Mutter an die Kinder vererbt; Mutationen, die sich dort im Laufe der Zeit ansammeln, schaden tendenziell nur den männlichen Nachkommen, nicht aber den 78 weiblichen.37 Zudem gibt es Hinweise, dass der weibliche Körper besser gerüstet ist, mit Stress umzugehen. Auch die Hormone beeinflussen die Lebenserwartung: Das weibliche 76 Östrogen schützt vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen und es sorgt nach neueren Erkennt- nissen wohl auch dafür, dass die Schutzkappen an den Enden der Chromosomen, 74 Telomere genannt, weniger schnell abgebaut werden und somit das Altern verlangsamt wird.38 72 Allerdings haben Frauen über das ganze Erwachsenenalter hinweg eine höhere 70 Frauen der höchsten Statusgruppe Erkrankungswahrscheinlichkeit als Männer. Auch der Grund für dieses „Morbiditäts- Frauen Durchschnitt Mortalitäts-Paradox“ ist nicht restlos geklärt. Eine Erklärung könnte gerade die durch- Männer der höchsten Statusgruppe gängig höhere Sterblichkeit der Männer liefern: Demnach werden Männer etwa von 68 Männer Durchschnitt Herz-Kreislauf-Erkrankungen tendenziell schneller dahingerafft; Frauen und körperlich robustere Männer leben mit solchen Leiden weiter. Eine andere Hypothese gründet auf der Feststellung, dass das Bindegewebe ausgeprägt auf weibliche Hormone anspricht 1982 1987 1992 1997 2002 2007 und womöglich deshalb Gelenk- und Knochenerkrankungen bei Frauen besonders häu- –1986 –1991 –1996 –2001 –2006 –2011 fig auftreten. Entwicklung der Lebenserwartung von Männern und Frauen der höchsten Statusgruppe und im Durchschnitt in England und Wales seit 1982 (Datengrundlage: Office for National Statistics36) Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tabakabstinenz bei Männern mit höherem Entwicklung in Großbritannien: Hier haben Status.35 Diese Entwicklung kann als Hinweis die Männer massiv aufgeholt – und jene der dafür gesehen werden, dass die sozioökono- höchsten sozioökonomischen Gruppe, zu der mischen Bedingungen die Lebenserwartung etwa Ärzte, Architekten und Anwälte zählen, entscheidend beeinflussen. haben den Durchschnitt für Frauen erreicht. Zu dem Aufholen beigetragen haben zum ei- nen der Rückgang klassischer Männerdomä- nen wie Schwerindustrie und Bergbau, zum anderen Lebensstilfaktoren wie zunehmende Berlin-Institut 9
2 WAS VERLÄNGERT, WAS VERKÜRZT DAS LEBEN? Sozialstatus und Bildung sind insgesamt zurückgingen. Eine Folge davon im Alter von 65 Jahren schneller gesunken entscheidend war, dass die Menschen in Erwartung eines als im nationalen Durchschnitt. Im Vergleich längeren Lebens mehr Ressourcen in ihr über die Zeit zeigt sich, dass zwar alle Bil- 1980 beschrieb eine Arbeitsgruppe unter eigenes Fortkommen und das ihres Nach- dungsschichten von der kardiovaskulären dem Vorsitz von Sir Thomas Black Erschre- wuchses stecken konnten.3 Historisch hatten Revolution und der Senkung der Sterblichkeit ckendes für Großbritannien: Seit der Einfüh- Reformen, die einer breiten Bevölkerungs- im höheren Alter profitiert haben, aber nicht rung des Nationalen Gesundheitsdienstes schicht Zugang zu Schulen verschafften, stets in gleichem Maße: Gebildete konnten stets NHS im Jahre 1948 hätten sich die gesund- eine Verbesserung des Gesundheitszustan- höhere Zugewinne an Lebenszeit verbuchen. heitlichen Ungleichheiten im Land, insbeson- des der Bevölkerung und einen Anstieg der dere an der Sterblichkeit gemessen, nicht wie Lebenserwartung zur Folge: In Finnland half Selbst in den am weitesten entwickelten erwartet verkleinert, sondern seien größer Ende des 19. Jahrhunderts eine umfassende Ländern mit der geringsten sozialen Un- geworden. Und zwar weniger, weil der NHS Alphabetisierungskampagne der Bevölkerung gleichheit haben die Unterschiede in der versagt hätte, sondern vor allem wegen der aus Hunger und Elend, spätere Reformen eb- Sterblichkeit nach Bildung zugenommen. In beträchtlichen Unterschiede bei Einkommen neten ihr den Weg zu höherer Bildung – und den skandinavischen Staaten, in Finnland, und Bildungsniveau, bei Ernährung, Wohn- immer längerem Leben. Der südostasiatische Belgien, Frankreich und der Schweiz ist die und Arbeitssituation, die sich auf die Gesund- Stadtstaat Singapur hat sich seit 1959, als Lebenserwartung höher Gebildeter stärker heit auswirkten. Die britische Regierung, die er erstmals eine eigene Regierung wählen angestiegen als jene der bildungsferneren den „Black Report“ in Auftrag gegeben hatte, konnte, unter anderem durch den forcierten Schichten.5 So hat sich in Finnland die ferne- fand das Ergebnis offenbar so beschämend, Ausbau des Bildungssystems von einem re Lebenserwartung im Alter von 40 Jahren dass sie ihn praktisch unter Verschluss hielt.1 malariaverseuchten Moloch voller Bordelle zwischen 1971 und 1995 zwar für alle erhöht, und Opiumhöhlen zu einem Wissenschafts- aber die gut gebildeten, verheirateten Männer Inzwischen haben viele Studien gezeigt, dass mekka entwickelt. Singapur konnte die an- und Frauen konnten sie stärker steigern als die Sterblichkeit und damit die Lebenserwar- fänglich extrem hohe Kindersterblichkeit auf der Bevölkerungsdurchschnitt – und das, tung entscheidend vom sozioökonomischen nahe null senken und steht bei der Lebens obwohl ihre Lebenserwartung schon am Status abhängen. Dieser beschreibt nicht erwartung heute weltweit an dritter Stelle. Beginn des Beobachtungszeitraums höher allein das Einkommen einer Person oder lag. In dieser „Vorreiter“-Gruppe fanden sich Bevölkerungsgruppe, sondern auch Erwerbs- beeinflussbare Todesursachen wie nikotin- status und berufliche Stellung, familiären „Vorreiter“ profitieren stärker oder alkoholbedingte Krankheiten, Verkehrs- Status und Wohnsituation, gesellschaftliche vom Anstieg unfälle, Morde oder Selbstmorde wesentlich Teilhabe und Zufriedenheit – und der höchste seltener als bei den übrigen Bevölkerungs- erreichte Bildungsabschluss. Er ist einer der In fast allen Ländern, für die Daten verfügbar gruppen.6 Die weltweit größte Diskrepanz wichtigsten Faktoren für die Entwicklung der sind, leben Hochschulabsolventen im Durch- zwischen den Bildungsschichten findet sich Lebenserwartung.2 schnitt zwei bis zwölf Jahre länger als Lands- in Litauen, Estland und Russland. Russische leute, die höchstens eine Grundschule oder Männer mit dem geringsten Bildungsniveau Investitionen in Bildung haben in den Indus- gar keine Schule besucht haben.4 Besonders sterben im Mittel 13 Jahre früher als männ trieländern schon früh dazu geführt, dass alt wird die Wissenschaftselite: Mitglieder liche Akademiker.7 die Zahl der Schwangerschaften schon im der Royal Society in Großbritannien und Mädchenalter sank und die Geburtenzahlen der nationalen Akademien in Deutschland, Österreich und Russland haben eine über- durchschnittlich hohe Lebenserwartung. Dabei ist in dieser Gruppe die Sterblichkeit 10 Hohes Alter, aber nicht für alle
Entwicklung kann auch krank Rauchen: Beim Abbrennen und Inhalie- giftigen Substanzen in rauchgeschwän- machen ren von Zigaretten werden über 4.000 gerten Räumen selbst bei Nichtrauchern chemische Verbindungen frei. Neben dem zu Gesundheitsschäden führen kann.31 Die „Wohlstandsrisiken“, die den An- Nikotin, das die erwünschte psychoaktive stieg der Lebenserwartung gefährden, Wirkung entfaltet, sind darunter auch Obwohl der Anteil der Raucher weltweit in lassen sich an einer Hand abzählen: mindestens 250 schleimhautreizende den letzten 25 Jahren gesunken ist, greift Rauchen, Alkohol und Drogen, unge- oder anderweitig schädliche und über immer noch rund eine Milliarde Menschen sunde Ernährung, Bewegungsmangel, 50 krebserregende Substanzen wie etwa täglich zum Glimmstängel, etwa jeder Übergewicht. Mit den Folgen dieser Benzpyren.28, 29 Der Zusammenhang vierte Mann und jede zwanzigste Frau. Da- vermeidbaren Lebensstilfaktoren für zwischen Tabakkonsum, Lungenkrebs von lebt mit fast 80 Prozent die Mehrheit die Gesundheit und Sterblichkeit ließen und Verengungen der Herzkranzgefäße in Ländern mit mittlerem und niedrigem sich jedoch ganze Bände füllen. Hier ist spätestens seit Anfang der 1960er Einkommen, wo entsprechend die durch nur eine kurze Übersicht mit Daten der Jahre wissenschaftlich gesichert. Doch Tabakkonsum bedingte Krankheitslast Weltgesundheitsorganisation. erst eine Klage von 46 US-Bundesstaaten und Sterblichkeit besonders hoch ausfal- gegen „Big Tobacco“ auf Ersatz der öffent len. In 75 von 187 untersuchten Ländern lich geförderten Behandlungskosten für liegt der durchschnittliche Tagesver- Erkrankungen, die auf Tabakkonsum brauch pro Kopf bei 20 Zigaretten oder Arme und wenig Gebildete sterben früher zurückzuführen sind, brachte die Ziga mehr. Ein hoher Anteil männlicher Rau- rettenindustrie dazu, Werbung und cher findet sich in Indonesien, in Russland In Deutschland leben Frauen und Männer mit höhe- Sponsoring, insbesondere für Jugendliche, und seinen Nachbarstaaten, in China und rem sozioökonomischem Status deutlich länger als Vergleichsgruppen mit mittlerem oder niedrigem einzuschränken.30 Heute steht auf jeder seinen südlichen Nachbarn, aber auch in Status. Das hat eine statistische Auswertung auf Zigarettenschachtel, dass Rauchen die Griechenland und einigen Balkanstaaten. Grundlage des Bundes-Gesundheitssurveys erge- Hautalterung beschleunigt, die Bronchien Rauchen ist nach Bluthochdruck der ben. Die Unterschiede seien zum Teil durch das schädigt, Blutgefäße verstopft, das Risiko zweitwichtigste Risikofaktor für einen riskantere Gesundheitsverhalten der niedrigen für Schlaganfall und Herzinfarkt erhöht vorzeitigen Tod.32 Tabak tötet jährlich rund Statusgruppe erklärbar, schreiben die Autoren: Wenn man Rauchen, Adipositas und sportliche Inak- und Krebs verursachen kann. Längst be- sechs Millionen Menschen, zehn Prozent tivität herausrechnet, „verringern sich die zwischen kannt ist zudem, dass das Einatmen der davon Passivraucher.33 den Statusgruppen beobachteten Unterschiede im Mortalitätsrisiko um 28 Prozent bei Frauen und um 24 Prozent bei Männern.“ 100 Geschätzte Überlebens Lernen heißt Risiken besser 90 wahrscheinlichkeit einschätzen zu können in Prozent für 18- bis 80 90-Jährige nach sozio ökonomischem Status Warum ist das so? Menschen mit einem 70 und Geschlecht in höheren Bildungsabschluss haben leichter Frauen 60 Deutschland, 2011 Zugang zu dem Wissen darüber, welche hoher Sozialstatus (Quelle: Robert Koch- Verhaltensweisen der Gesundheit zuträglich 50 mittlerer Sozialstatus Institut8) niedriger Sozialstatus sind. Sie haben eher die Motivation, dieses 40 Wissen vorbeugend umzusetzen und können 30 Männer damit im Durchschnitt Risikofaktoren besser 20 hoher Sozialstatus beherrschen als gering Gebildete.9 Das lässt mittlerer Sozialstatus sich exemplarisch an der Veränderung der 10 niedriger Sozialstatus Rauchgewohnheiten in Deutschland zeigen: 0 Seit in den 1960er Jahren ein Zusammenhang 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 mit Lungenkrebs und krankhaften Verände- rungen der Herzkranzgefäße wissenschaftlich belegt wurde, hat sich in Deutschland das Berlin-Institut 11
Rauchen überwiegend zu einem Merkmal Das gilt unabhängig von der Hautfarbe. Es Bildung und Gesundheit ist wichtiger, dass wenig Gebildeter, Geringverdienender und gibt aber einen Zusammenhang mit dem Ta- formale Bildung besonders im Jugendalter, sozial Benachteiligter entwickelt, während bakkonsum: Dass die Kluft bei der Sterblich- wenn sich die neuronalen Verschaltungen im sich der Raucheranteil in der Oberschicht keit zwischen den Bildungsschichten sich so Gehirn komplett neu ordnen, höhere kogniti- mehr als halbiert hat und in der Mittelschicht sehr vergrößert hat, lässt sich zu mindestens ve Fähigkeiten fördert: logisches Denken und um gut ein Viertel zurückgegangen ist.10 einem Fünftel auf den Risikofaktor Rauchen Kombinieren von Wissen, Risiken einschät- zurückführen.11, 12 zen und Entscheidungen treffen.13 Belege In den USA ist die Lebenserwartung von College-Absolventen in den letzten zwanzig Es ist offensichtlich, dass einen höheren Jahren weiter gestiegen, während sie bei Bildungsabschluss eher erreicht, wer bei all jenen stagniert, die nicht mehr als einen ausreichender Auffassungsgabe nicht durch Ernährung: Fehlernährung kommt High-School-Abschluss, also eine sekundäre einen niedrigen Sozialstatus in einem elitä- in unterschiedlichen Ausprägungen Schulbildung oder weniger erreicht haben. ren Bildungssystem daran gehindert wird. daher: Unter-, Über- und Mangelernäh- Doch für den Zusammenhang zwischen rung. Die Zahl der weltweit Unterer- nährten ist in den letzten 20 Jahren um 200 Millionen gesunken. Zugenommen hat offensichtlich die Zahl jener, die zu Alkohol und andere Drogen: Gebraute, Andere psychoaktive Substanzen, ob legal viel essen, vor allem zu viel Salz, Fette vergorene oder destillierte Getränke zu oder illegal, als „weich“ oder „hart“ ange- und Zucker, abzulesen an der steigen- konsumieren ist in den meisten Ländern sehen, wurden nach letzter Schätzung im den Häufigkeit von Adipositas und den legal. Über längere Zeit im Übermaß Jahr 2008 von 155 bis 250 Millionen Men- damit verbundenen stoffwechselbe- genossen, führt Alkohol zu Erkrankungen schen konsumiert. Das sind 3,5 bis 5,7 dingten Erkrankungen (siehe Abschnitt der Leber und der Bauchspeicheldrüse, Prozent der Weltbevölkerung zwischen 15 „Übergewicht“). Indessen kann auch zu Nervenschäden und eingeschränkten und 64 Jahren. Am weitesten verbreitet bei ausreichender Kalorienaufnahme Gehirnfunktionen, erhöht das Risiko für ist dabei Cannabis mit geschätzt 129 ein Mangel an Vitaminen und Mineral- Krebs und macht psychisch wie körperlich bis 190 Millionen Konsumenten, gefolgt stoffen vor allem bei Kindern zu Ent- abhängig. Die Gefahr nimmt zu, sich selbst von Amphetaminen und verwandten wicklungs- und Wachstumsstörungen und anderen Menschen bei Unfällen oder Aufputschmitteln, Kokain sowie den und zu gesundheitlichen Defiziten und Gewaltausbrüchen Schaden zuzufügen. Opioiden. Von letzteren ist Heroin wohl zu kognitiven Einschränkungen führen. Sucht kann aber auch zu Depressionen, das bekannteste, dazu zählen aber auch Angstzuständen und sozialer Isolierung verschreibungspflichtige hochwirksame Fehlernährung in all ihren Formen führen. Schmerzmittel wie Morphium, Oxycodon kann nicht nur krank machen und das oder Fentanyl, die ebenfalls abhängig ma- Leben verkürzen, sie hindert die Men- Weltweit gehen gut fünf Prozent der Le- chen können. Der Gebrauch psychoaktiver schen auch daran, sich ihrem Potenzial bensjahre, welche die Menschheit durch Substanzen verursache „erhebliche gemäß zu entfalten und vermindert Krankheit oder vorzeitigen Tod verliert gesundheitliche und soziale Probleme ihre Produktivität – mit entsprechend (Disability Adjusted Life Years, DALYs), auf für die Personen, die diese konsumieren, negativen gesellschaftlichen und öko- das Konto von Alkohol. Pro Jahr sterben wie auch für Angehörige ihrer Familien nomischen Folgen. Schätzungen zu- weltweit 3,3 Millionen Menschen an den und der Gemeinschaft, in der sie leben“, folge zehren Übergewicht, Hunger und Folgen von Alkoholmissbrauch, das sind beschreibt die WHO trocken und knapp Mikronährstoffmangel zusammen vier fast sechs Prozent aller Todesfälle – die die Auswirkungen. Geschätzte 0,7 Prozent bis fünf Prozent des globalen Brutto allerdings ungleich verteilt sind: Alkohol- der globalen Krankheitslast gingen 2004 inlandsprodukts auf.36 Fehlernährung bedingte Todesfälle von Männern machen auf das Konto von Kokain und Opioiden. wirkt sich nicht nur auf die Gesundheit 7,6 Prozent, von Frauen vier Prozent aller Die sozialen Kosten illegaler Drogen und Sterblichkeit des Einzelnen aus. Todesfälle weltweit aus. Männer trinken belaufen sich in den Ländern, in denen Die Neigung zu Übergewicht oder viel mehr als Frauen: 2010 belief sich ihr Zahlen dazu vorliegen, auf zwei Prozent Mangelerkrankungen wird über „epi- Pro-Kopf-Verbrauch auf 21,2 Liter puren der Wirtschaftsleistung.35 genetische“ Mechanismen auch an die Alkohols, Frauen kamen auf 8,9 Liter.34 Nachkommen vererbt.37 12 Hohes Alter, aber nicht für alle
dafür fanden amerikanische Psychologen bei einer Feldstudie in einer ländlichen Gegend Bewegungsmangel: Immer mehr Übergewicht: Die Grenze von Normal- zu Ghanas sowie einer Auswertung von Daten Menschen üben ihre berufliche Tätig- Übergewicht liegt nach der geltenden aus neun afrikanischen Ländern: Nach Abzug keit im Sitzen aus. Autos, Rolltreppen, Definition der Weltgesundheitsorganisa- aller möglichen anderen Einflussgrößen Aufzüge, Fernbedienungen, Fertignah- tion bei einem Körpermasseindex (Body ergab sich, dass Personen, die zumindest rung, Lieferservices und andere zivi- Mass Index, BMI) von 25, berechnet als eine Grundschule besucht hatten, Ratschläge lisatorische Errungenschaften sorgen Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch zum Schutz vor Infektionen effektiver um- für mehr Bequemlichkeit – und weni- die Körpergröße in Meter zum Quadrat. setzten und häufiger Kondome benutzten als ger körperliche Aktivität. Bewegung Ab einem BMI von 30 spricht man von solche ohne jegliche Schulbildung.14 Wissen im Alltag und sportliche Betätigung krankhaftem Übergewicht, Fettleibigkeit zu besitzen und Erkenntnisse auswerten halten indessen nicht nur den Bewe- oder Adipositas. Da Fettgewebe, das sich zu können, schützt somit vor irrationalem gungsapparat fit, sie erhöhen auch überwiegend in der Bauchregion ansam- Handeln, wie es gerade in Afrika bezüglich den Energieverbrauch und vermindern melt, im Vergleich etwa zu Oberschenkel der Übertragungswege des HI-Virus bis heute so das Risiko für Übergewicht, sie polstern mit einem erhöhten Risiko für weit verbreitet ist – mit tödlichen Folgen. stärken das Immunsystem, können bei Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkran- Migräne und Depressionen helfen und kungen verbunden ist, muss bei Überge- einigen Krebserkrankungen vorbeugen. wicht auch der Taillenumfang hinzugezo- Bessergestellte rauchen immer seltener Mangel an körperlicher Aktivität ist gen werden: Die Grenze zur Adipositas der viertwichtigste Risikofaktor bei liegt hier bei 88 Zentimetern für Frauen, Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte das Rauchen der weltweiten Sterblichkeit, gilt als 102 Zentimetern für Männer.39 bei Wohlhabenden zum guten Ton. Inzwischen ist es überwiegend in sozial benachteiligten Bevölkerungs- Hauptursache für bis zu ein Viertel der gruppen verbreitet – obwohl der Verbrauch einer Brust- und Dickdarmkrebsfälle, mehr Ursache der Adipositas ist eine fatale Schachtel Zigaretten pro Tag mittlerweile richtig ins als ein Viertel der Diabetes-Erkran- Kombination aus Veranlagung, einem Geld geht. Ein vergleichbarer Wandel hat sich auch in kungen und fast ein Drittel der welt- Überangebot an Nahrung und Mangel an anderen Industriestaaten vollzogen. weiten Belastung durch ischämische Bewegung. Das im Laufe der Zeit ange- 45 Herzkrankheit.38 sammelte Fettgewebe übernimmt irgend- wann die Kontrolle über den Stoffwechsel: 40 Mithilfe eigener Hormone stört es die 35 normale Appetitregulierung im Gehirn, Wer früher stirbt, war länger arm schwächt die Wirkung von Insulin, steuert 30 Vorgänge in der Leber und setzt Entzün- 25 „Wohlstandsrisiken“ wie Rauchen, Fehl dungsreaktionen in Gang. Adipositas ist ernährung, Bewegungsmangel und Überge- eine Krankheit mit Folgen: neben Typ- 20 wicht kommen im Allgemeinen seltener vor, 2-Diabetes auch Fettleber, Bluthochdruck, 15 je besser gebildet die betrachtete Bevölke- Sozialstatus 10 rung oder Gruppe ist. Mit einer Ausnahme: hoch Adipositas ist in reichen, weit entwickelten 5 mittel Ländern vor allem bei wenig Gebildeten einbezog, entscheidet bei gleicher Veranla- niedrig 0 verbreitet, in armen Ländern hingegen entwi- gung und vergleichbarem Nahrungsangebot ckeln höher Gebildete eher eine ausgeprägte das Einkommen darüber, wie viel Körperfett 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 Fettleibigkeit, wie eine Auswertung von eine Person zugelegt hat: Durchschnittlich Daten aus 70 Ländern zeigte. Je höher das 3,8 Kilogramm waren es bei der weniger Raucheranteil in Prozent an der Bevölkerung ab 14 Jahren nach sozioökonomischem Status in Bruttoinlandsprodukt, desto mehr verschiebt privilegierten Hälfte, nur 2,9 Kilogramm bei Westdeutschland, ab 1995 Gesamtdeutschland, sich die Häufigkeit in die wenig gebildeten der reicheren.17 1965 bis 2010 Gruppen.16 Am stärksten wirkt sich der sozio- (Datengrundlage: Institut für Demoskopie ökonomische Status bei jenen Menschen aus, Allensbach15) die ohnehin leicht zunehmen: Einer briti- schen Studie zufolge, die auch Genanalysen Berlin-Institut 13
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